6.
Das zweite Halbjahr

Der Herr Geheimrat und seine Freunde

Der Vollblutlehrer hat nur Lehrerfreunde, ist mit Lehrern verheiratet und meidet allgemein den Umgang mit Nichtlehrern. Mit meinem besten Lehrerfreund, dem Deutschlehrer, war ich das Halbjahresende feiern. Dazu brauchten wir Kuchen und betraten die türkische Bäckerei vor meinem Haus. Mein Lehrerkollege ist ein großer Kuchenfreund, und da er regelmäßig zu Besuch kommt, kennt er die türkische Bäckerin lange und gut.

»Einen Bienenstich und eine Apfeltasche, bitte«, sagt er.

»Bienenstich und Apfeltasche, gerne«, antwortet die Bäckerin und beugt sich in das Gebäck. Mein Lehrerfreund, der mir zeigen möchte, wie dicke er mit der Bäckersfrau ist, meldet sich wieder zu Wort: »Und die Zeugnisse der Kinder? Waren die gut?«

»Ach, ach, nicht so gut, aber sie haben versprochen, nächstes Halbjahr wird alles besser.«

Ich denke: Pfff, versprochen.

Mein Lehrerfreund grinst breit und sagt so was wie: »Muss ja, muss ja, wird schon.«

Was denkt der eigentlich, wo wir sind? Und in welchem Jahrhundert wir leben? »Sag mal, was war das denn?«, frage ich ihn draußen. »Wie sehen die Zeugnisse der Kinder aus? Oh, der Herr Lehrer, einen Bienenstich, jawohl, Herr Lehrer, und grüßen Sie die Frau Gemahlin, ach, da kommt ja auch der Herr Geheimrat. Oh, wir haben ein Problem, lasst uns mal den Herrn Lehrer fragen und den Herrn Geheimrat, den Herrn Doktor und den Pfarrer – Mensch, wir sind doch nicht in Das weiße Band

Mein Lehrerfreund grinst nur zufrieden: »Wieso, ist doch geil.« Er scheint seine Rolle gerade voll zu genießen.

»Das hättest du wohl gern: ›Ach, der Herr Lehrer, noch einen Bienenstich, den Käsekuchen mit Sahne, Herr Lehrer?‹«

»Ja, genau, ist doch super!«

»Herr Lehrer, Herr Lehrer, gab es denn damals nie die Frau Lehrerin? Und hast du noch nicht gemerkt, dass es heute gar nicht mehr so ist? Wir Lehrer sind doch nur noch die faulen Säcke mit den langen Ferien, niemand will einen Rat von uns!«

Aber irgendwie hat er ja recht. Schön wäre es, wenn wir ein wenig mehr Ansehen genössen. Dann bräuchten wir uns auch keinen Kuchen zu kaufen, denn zum Halbjahresende würde man uns mit selbstgemachtem Gebäck und halben Schweinen überschütten: »Hier, Frau Lehrerin, eine kleine Aufmerksamkeit für Sie, und erholen Sie sich gut.«

Erste Stunde, neues Halbjahr

Ich komme rein, bin übertrieben nett. Warte, Tafelanschrieb, warte, dann hereinschleichende Schülergrüppchen. Ich: Smile!

»Guten Morgen, ihr Lieben.«

Schüler: Smile.

Ich weiter übertrieben nett. Schüler auch übertrieben nett. Wir alle total happy. Ich so glücklich, dass ich mich mit der Hälfte der Klasse gleich für die Mittagspause verabrede.

Zweite Stunde. Dieselben Schüler wie eben, nur weniger. Wir rücken voll nah zusammen und machen gemeinsam den herrlichsten Frontalunterricht, der nur funktioniert, wenn man sich voll lieb hat. Wir lieben uns alle und arbeiten wunderbar zusammen. Das heißt, ich arbeite am meisten, aber sie murren immerhin nicht, wenn sie etwas von der Tafel abschreiben sollen.

»Kriegen wir heute alle eine Eins?«, fragt Sabine.

»Wofür? Dafür, dass ich die Tafel vollgeschrieben habe?« Kurze mentale Notiz: Ich wollte doch nicht ironisch sein. »Ja, ich merke, dass ihr euch heute alle sehr anstrengt.« Beim Rausgehen sagt Esra sogar: »Hat Spaß gemacht heute.« Und ich muss zugeben: »Ja, mir auch.« Glücklich gehe ich in die Pause. Rauche und denke: Ich bin doch wirklich eine Superlehrerin. Bis Frau Schwalle kommt und mich mit Horrormeldungen über meine Klasse zutextet. Dieselben Kinder, die eben noch so übertrieben gut bei mir mitgearbeitet haben. Ich denke: Tja. Lächle sie an und sage irgendetwas, was ich gleich wieder vergesse, dann klingelt es zum Glück.

Freistunde. Lehrerzimmer. Höre mir diverses Gejammer an. Meckere ein wenig mit über die Bildungspolitik – eine sichere Art des Meckerns, denn sie tut keinem Anwesenden weh und man stärkt die Solidarität im Kollegium. Und die Chance ist recht gering, dass jemand es hört und sagt: »Frau Freitag, wenn Sie hier so schlau daherreden, dann kommen Sie jetzt gleich mal mit und verändern Sie das Bildungssystem, Sie scheinen ja ganz genau zu wissen, wie das geht.«

Innerlich erquicke ich mich noch immer am Ich-bin-Superlehrer-Gefühl.

Plötzlich ein Anflug von leichtem Kopfschmerz. Laune droht zu kippen. Es klingelt zum Unterricht. Kunst. Einige Schüler pünktlich, andere nicht. Innerlich steigt Wut auf: Warum kommen die kleinen Scheißer eigentlich jedes Mal zu spät? Jetzt holt der auch noch sein Trinken raus. Warum muss ich Harun eigentlich immer wieder sagen, dass er seine bescheuerte Baseballkappe absetzen soll. Die Mädchen checken das wohl auch nie, dass ich nicht möchte, dass ihre hässlichen Lederimitatbeutel, die sie Schultaschen nennen, auf den Tischen liegen. Jetzt holt sexy Susi auch noch ihren Lippenstift raus. Der neuste Trend ist momentan, großzügig Handcreme an alle Mitschüler zu verteilen. Das machen vor allem die Jungen, vielleicht weil sie sich nicht schminken können und auch irgendwas haben wollen, das den Unterricht stört. Ich denke: Nicht aufregen. Hinsetzen und warten. Ich bin doch der Frühling. Ich bin doch die aufgehende Morgensonne. Lächeln! Ich grinse gequält und sehe mich im Raum um – eine Mischung aus Kosmetiksalon und Restaurant. Außer mir ist kaum jemand daran interessiert, die bombenspitzenmäßige neue Aufgabe erklärt zu bekommen, die ich schon mal zur Motivation an die Tafel gehängt habe.

»Was ist, Frau Freitag, warum gucken Sie so schlecht gelaunt?«

Ich? Schlecht gelaunt – was soll das jetzt? Mein Kopf schmerzt immer mehr. An Anfangen ist gar nicht zu denken. Mützen, Taschen, Essen, Schminke und endloses Gequatsche. Ich hole tief Luft und erkläre, warum ich einen Anflug von schlechter Laune bekomme, bei dem Anblick, den die Schüler bieten. Sie murren, wiegeln ab und lassen dann doch die Einführung über sich ergehen. Als ich das Material verteilt habe, fragt Erol: »Frau Freitag, haben Sie einen Bleistift?«

Mittlerweile bin ich schon längst kein Frühling mehr, sondern notiere mir in meinem Notenheft, dass Erol WIEDER keinen eigenen Bleistift dabei hat. Er sieht das, leiht sich einen Bleistift und verlangt, dass ich den Eintrag streiche. Ich betone, dass er keinen EIGENEN Bleistift hat. Er schmeißt den geliehenen Bleistift in den Mülleimer, geht laut meckernd an seinen Platz und schmollt.

Irgendwann ist auch dieser Schultag vorbei. Ich schleppe mich schlechtgelaunt nach Hause, nehme eine Aspirin und stelle frustriert fest: Ein Sonnenstrahl macht wohl doch noch keinen Frühling.

Der Lehrer und der Samstag

Und nach fünf Tagen darf ich endlich wieder zu Hause bleiben. Der Lehrer ist am Samstag müde, weil er am Freitag noch dachte: Jetzt beginnt ein neues Leben – das Wochenende. Am Freitagnachmittag dreht der Lehrer immer voll auf. Statt sich auszuruhen und aufzuräumen, quatscht er sich die Woche von der Seele und läuft hochtourig überdreht in den frühen Abend. Da will der Lehrer dann die Freizeitaction, auf die er die ganze Woche verzichtet hat. Plötzlich will der Lehrer leben.

Er telefoniert mit allen drei Leuten, die er noch kennt. Die Hälfte von denen sind auch Lehrer. Dann raucht und trinkt der Lehrer und labert und labert. Obwohl er nur so wenige Freunde hat, verprellt er diese auch noch, indem er sie beim Pokern gnadenlos verlieren lässt und sich dann so lange in seinem Sieg suhlt, bis sie genervt das Lehrerdomizil verlassen.

Alleine bleibt der Lehrer in seiner unaufgeräumten, dafür enorm verrauchten Wohnung zurück und kann nicht einschlafen. Er wälzt sich von links nach rechts und denkt über sich, sein Leben und seine Pokerstrategien nach. Klar gewinnt er beim Pokern. Blufft er sich doch auch täglich durch seinen Beruf.

Samstagmorgen wacht der Lehrer auf und fühlt sich extrem unausgeschlafen. Anstatt wie in der Werbung im Bett zu frühstücken und die Zeitung zu lesen, setzt sich der Lehrer gleich wieder vor den Fernseher und raucht. Erste Anzeichen von Verwahrlosung. Der Lehrer bildet sich allerdings ein, dass er mit dieser Hartz-IV-Lifestyle-Imitation seiner Klientel näherkommt, Professionalisierung nennt er das. Kopfschmerzen und leichte Übelkeit befallen ihn dort auf der Couch. Er fühlt sich wie ein Entschuldigungszettel seiner Schüler. Draußen nervt die Sonne, die dem Lehrer suggeriert, dass er den ersten Frühlingstag und überhaupt den ganzen Frühling versäumen wird, wenn er sich nicht sofort auf die Straße begibt.

Draußen sind überall zufriedene Kleinfamilien oder gutaussehende Singlemenschen, die sich geschäftig durch den Vormittag bewegen. Zielstrebig und glücklich, denn sie haben bestimmt alle noch super Nachmittagspläne, bevor sie dann auf ihre Megasamstagnachtpartys gehen.

Der Lehrer schleicht einsam um ein Parkhaus und denkt: Spazierengehen, Spazierengehen, Spazierengehen, Vitamin D, Vitamin D, Vitamin D. Heimlich wünscht er sich Regen, damit er sich wieder in seine verrauchte Bude verziehen kann. Ein elender Wettersklave ist er geworden.

Zu Hause denkt er: Essen, Rauchen, Couch und schläft erschöpft vom Nichtstun ein. Erwacht, und der Tag ist vorbei. Man versteht eigentlich nicht, warum sich der Lehrer immer wieder so übertrieben auf das Wochenende freut, wenn er dann mit dem Samstag doch überhaupt nichts anzufangen weiß. Und nach dem Samstag kommt ja auch noch der Sonntag. Wäre der Lehrer religiös, hätte er wenigstens an diesem Teil des Wochenendes weniger Probleme.

Gar keine Probleme hätte ich, wenn ich Fachbuchredakteur wäre. Ich arbeite in einem Schulbuchverlag und bin für die neuen Deutschbücher der Realschulen zuständig. Ich schlafe erst mal gemütlich bis acht und mache mich dann gut gefrühstückt auf den Weg in die Redaktion. Dort ist es nett, sonnig, alles sehr modern. Ich begrüße die Sekretärin, die mir die Post und einen Kaffee reicht. Dann schlendere ich in mein Büro.

Großer Schreibtisch, voll mit herrlichstem Bürokram, und ein super Computer mit vielen bunten Post-its am Bildschirm. Erst mal E-Mails checken, Kaffee trinken, Termine angucken. Was steht denn heute an? Meine Lieblingskollegin kommt rein und erinnert mich an das Meeting um 10.30 Uhr im kleinen Konferenzraum. Bis dahin blättere ich in den neuen Ausgaben der Fachzeitschriften, beantworte zwei, drei E-Mails und esse einen Apfel.

Beim Meeting werden gesund belegte Brötchen gereicht, Mineralwasser und Saft in kleinen Flaschen stehen bereit. Wir besprechen das neue Deutschbuch. Klasse 5, 6, und 7 sind schon raus. Heute: Brainstorming für die Themen im Buch und das Arbeitsheft Klasse 8. Flip-Chart, Whiteboard, Beamer – name it, we have it! Aufgrund meiner langjährigen Schulerfahrung bin ich unter den Kollegen klar im Vorteil. Man hört genau zu, wenn ich etwas sage. Man fragt mich nach meiner Meinung – immer. Ich bin die Verbindung zwischen Verlag und Wirklichkeit. Niemand außer mir hat schon mal mit Jugendlichen gearbeitet.

Der Chefredakteur sagt: »Okay, Leute, was haben wir? Wo wollen wir hin? 8. Klasse. Vierzehn, fünfzehn Jahre.« Kurze Pause. Blick in die Runde. Dann: »Frau Freitag, worum geht es in dem Alter? Ich dachte an Tier- und Umweltschutz.«

Ich lehne mich zurück, schließe die Augen: »Tierschutz, Umweltschutz …« Ich tue so, als würde ich nachdenken, nehme mir eine Flasche Wasser und gieße sie in Zeitlupe ein. Dann springe ich plötzlich auf, bewege mich zielstrebig zum Beamer: »8. Klasse, wenn Sie nichts dagegen haben, zeige ich Ihnen etwas. Ich habe da eine Kleinigkeit vorbereitet.« Jemand macht das Licht aus und auf der Wand erscheint eine rote Fläche, dann ein riesiger Schriftzug: Der gemeine Achtklässler! Lady Gaga singt »Pokerface« und dann erscheinen Jugendliche auf einem Schulhof. Alleine, in Gruppen, gut gelaunt, im Streit, Mädchen, Jungen. Die Musik schafft die richtige Atmosphäre. Alles sehr MTV und trotzdem realistisch. Ich stelle mich neben den Beamer: »8. Klasse, das ist: Verliebtsein, der erste Kuss, Klamotten, Gewichtszunahme, Musik, Streit mit den Eltern, überhöhte Handyrechnungen, Absturz der Schulleistungen, Pickel, Streit mit den Freundinnen, Muskelaufbau bei den Jungen, Solarium, scheiß Eltern, scheiß Lehrer, scheiß Schule und keine Ahnung, was man später machen soll. Tierschutz? Umweltschutz? In der 8. Klasse geht es nur um die eigene Person!« Die letzten Worte lasse ich besonders dramatisch klingen.

Tosender Beifall bricht aus. Der Chef springt auf und umarmt mich: »Frau Freitag, Sie haben uns mal wieder gerettet. Was würden wir ohne Sie machen?« Und zu den anderen: »Los, los, Leute, ihr habt gehört, was die Jugend bewegt! An die Arbeit, bis Donnerstag will ich erste Entwürfe sehen!«

Zufrieden gehe ich in mein Büro und entwerfe ein Kapitel zum Thema Erörterung: Gangsta-Rap – okay oder nicht okay? Um 13.30 Uhr gehe ich in die Kantine und esse einen fettarmen Salat, scherze mit den Kollegen aus der Presseabteilung, lasse mir noch mal zu meiner Präsentation gratulieren und dümple dann noch bis um 17.30 Uhr in meinem Büro rum. Dann fahre ich direkt zum Yoga. Abends bin ich fürs Kino verabredet und sehe einen französischen Film in Schwarz-Weiß.

Um Mitternacht komme ich leicht angetrunken und zufrieden in meine Wohnung, wo ich von zwei netten Katzen begrüßt werde. Glücklich schlafe ich nicht nur ein, sondern auch bis zum nächsten Morgen durch.

Meinen Urlaub verlängere ich durch Überstunden und verbringe ihn auf traumhaften Inseln. Mein Leben könnte so schön einfach sein.

Eine gar nicht so schlechte Idee kam heute von Abdul: »Frau Freitag, stimmt es, dass Lehrer mehr Geld verdienen, wenn sie viele Tadel geben?«

»Häh? Wie kommst du denn darauf? Abdul, wenn das so wäre, dann hättest du jetzt schon mindestens drei. Einen fürs Zuspätkommen und zwei für diese bekloppte Frage.«

Ein Teil meines Gehirns nimmt den Gedanken allerdings auf und erfreut sich an der Vorstellung, das Gehalt durch Ordnungsmaßnahmen aufzubessern. Kopfpauschalen aufs Vor-die-Tür-Schicken, für jedes Anschreien gibt es einen Zehner extra. Da klingelt die Kasse. Den fettesten Bonus erhält der Kollege, der es schafft, am Ende des Schuljahres möglichst viele Schüler von der Schule verwiesen zu haben. Jeden Nachmittag versammeln wir uns zu Klassenkonferenzen und haben Dollarzeichen in den Augen.

»Los Leute, wer stimmt für die Versetzung in die parallele Kerngruppe? Ich will nächste Woche in den Skiurlaub, also jetzt mal die Finger hoch.«

Dann wieder Unterricht: »Frau Freitag, Sie sind voll streng geworden. Früher haben Sie nie Tadel gegeben, jetzt immer. Aber Ihre Jacke ist schön. Neu? Echtes Leder?«

»Samira! Reden, ohne dran zu sein: Tadel!«

Ich muss schon zugeben, an diese Art der leistungsbezogenen Vergütung könnte ich mich gewöhnen.

Wer spinnt denn nun?

Unglaublich, aber wahr: Mehmet steckt in einem Paralleluniversum fest. Er lebt in einer anderen Realität als wir anderen. Oder er versucht, mich in den Wahnsinn zu treiben.

Mehmet war nicht nur am Montag nicht in der Schule, sondern auch mehrere Male nicht im Deutschunterricht. Wir haben eine neue Deutschkollegin, Frau Böckstiegel, und deshalb wurde der Kurs, in dem Mehmet eigentlich ist, aufgeteilt. Das passierte schon vor vier Wochen. Mehmet hat also seitdem bei Frau Böckstiegel. Der alte Deutschlehrer Herr Johann ist heilfroh, dass Mehmet weg ist, denn er hat eine Mehmet-Aversion.

Nachdem Frau Böckstiegel sich bei mir beschwert hat, frage ich nach: »Mehmet, in welchem Deutschkurs bist du jetzt eigentlich?«

»Ich bin doch bei Herrn Johann.«

»Ach ja? Du bist doch schon seit ein paar Wochen bei Frau Böckstiegel.«

»Nein, Frau Freitag, ich bin bei Herrn Johann«, sagt Mehmet sehr überzeugend.

Ich bin verwirrt: »Aber Herr Johann sagt, dass ihr aufgeteilt wurdet, und jetzt bist du bei der neuen Lehrerin.«

»Bin ich aber nicht. Wer ist diese Frau Böckstiegel? Die kenne ich gar nicht.«

»Ja, die kennst du nicht, weil du seit Wochen den Deutschunterricht schwänzt. Anscheinend schon so lange, dass du noch gar nicht gemerkt hast, dass du in einem neuen Kurs bist.«

»Nein, ich schwänze nicht.«

»Ach, du warst also am Dienstag und gestern bei Herrn Johann im Deutschunterricht, ja?«

»Ja.«

»Du hast im Raum gesessen, an einem Tisch, auf einem Stuhl und hast am Unterricht teilgenommen?«

»Ja.«

Jetzt wird es echt interessant, weil mir Herr Johann schon mehrfach gesagt hat, wie gut sein Kurs läuft, seitdem Mehmet nicht mehr dabei ist. Also frage ich: »Was habt ihr denn gestern gemacht?«

»Irgendwas mit Drama. Und Wörter raussuchen im Buch«, sagt Mehmet.

Es klingelt zur großen Pause. »Soso, Drama … Mehmet, warte mal kurz.« Alle Schüler verlassen den Raum.

»Komm mal kurz mit, Mehmet«, sage ich und gehe direkt zu Herrn Johann ins Lehrerzimmer. »Kollege Johann, ich wollte mal fragen, wie Mehmet gestern in Deutsch war.«

Der Kollege guckt erst mich, dann Mehmet an: »Mehmet? Der ist doch jetzt bei Kollegin Böckstiegel, der war schon seit vier Wochen nicht mehr in meinem Unterricht.«

Mehmet bleibt ganz ruhig. Ich frage Herrn Johann: »Und habt ihr gestern was mit Dramen gemacht und was im Buch, so Wörter raussuchen?«

»Nein, wir haben ein Diktat geschrieben«, sagt Herr Johann.

Ich gehe mit Mehmet auf den Hof: »So, Mehmet, du hast es gehört. Warum lügst du mich so dreist an?«

»Ich hab nicht gelogen. Ich war gestern da. Ich schwöre«, antwortet Mehmet ernst.

»Mehmet, denkst du, du bist in einem Paralleluniversum, in dem man sich die Realität so hinbiegen kann, wie man will?«

»Ich schwöre, Frau Freitag, ich war da«, fängt er noch einmal an.

Ich lasse ihn einfach stehen und gehe rauchen. Sein Wahnsinn fängt schon an, sich auf mich zu übertragen.

Wir müssen menschlicher werden

Immer wieder frage ich mich, warum uns die Schüler nicht als Menschen wahrnehmen. Liegt es vielleicht daran, dass ich durch Schüler wie Mehmet bereits total wahnsinnig rüberkomme?

Wenn ich sie auf der Straße oder im Bus treffe, tun sie so, als sähen sie einen Außerirdischen, der gerade gelandet ist. In ihren Blicken kann ich lesen: Frau Freitag geht einkaufen? Lebensmittel? Sie ist doch Lehrerin, wozu braucht sie Lebensmittel?

Ich war als Schülerin ja nicht anders. Ich habe meinen Lehrer mal auf einem Fahrrad gesehen. Ein für mich seltsames, fast erschreckendes Bild, das sich auf Ewigkeiten in mein Hirn gebrannt hat wie der Anblick eines spektakulären Autounfalls.

Warum sehen uns die Schüler nicht auch als Menschen, sondern nur als fleischige Erfüllungsgehilfen der Bildungspolitik? Sind wir für die Schüler Bioabfall der Schule? Die Antwort ist ganz einfach: Wir sind für sie nur Lehrer und keine Menschen, weil wir immer nur lehrerlich und nie menschlich reagieren. Wir nennen das »pädagogisch«. Aber die Schüler denken: Er nun wieder – typisch Lehrer. Hier ein paar Beispiele:

Schüler kommt zehn Minuten nach dem Klingeln in den Unterricht.

Lehrerreaktion: »Schüler, der Unterricht hat bereits vor zehn Minuten begonnen. Du bist zu spät. Das ist nicht das erste Mal. Die Verspätungen werden auf deinem Zeugnis erscheinen, und das ist dein Bewerbungszeugnis. Du musst dich bemühen, pünktlich zu sein …«

Menschliche Reaktion: »Du bist ja schon wieder zu spät. Das nervt so dermaßen, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich habe bereits mit dem Unterricht angefangen. Vielen Dank für die Störung! Jetzt raus, und mach die Tür hinter dir zu, damit wir hier weitermachen können.«

Schüler A beleidigt immer wieder Schüler B.

Lehrerreaktion: »Schüler A, lass bitte Schüler B in Ruhe, der hat dir gar nichts getan. Ich möchte diese Ausdrücke hier nicht hören. Ihr versteht euch doch sonst so gut. Was ist denn heute mit euch los?«

Menschliche Reaktion: »Was hast du gerade zu ihm gesagt? Hihi, ist ja witzig. Ja, stimmt, er ist auch voll dick. Aber guck dich mal genauer an. Du hast ja die übelsten Pickel. Und was willst du mit seiner Mutter machen? Warte mal, ich geb dir ihre Telefonnummer. Hier, ich wähle schon mal. Sag ihr das doch gleich selbst.«

Lehrer sagt, Schülerin soll den Raum verlassen. Schülerin geht nicht. Lehrer nimmt die Tasche der Schülerin und will die schon mal vor die Tür stellen. Schülerin springt auf und schreit: »FASS DIE NICHT AN!«

Lehrerreaktion: Tasche loslassen. Schlechtes Gewissen: Als Lehrer darf ich das Eigentum der Schüler nicht berühren. Gang zum Pult, Eintrag ins Klassenbuch …

Menschliche Reaktion: »Warum soll ich deine billige Plastiktasche nicht anfassen? Ist die kontaminiert oder was? Und was duzt du mich überhaupt, du blöde Schlampe? Pass mal auf, wie du mit mir redest!« Die Tasche greifen und vor die Tür schmeißen. Dann die Schülerin am Arm nehmen (muss ja nicht doll sein) und rausführen.

Schülerin beleidigt Lehrer. Flüstert vor sich hin: »Ist die hässlich. Voll behindert. Ich hasse sie. Wie sie aussieht …«

Lehrerreaktion: So tun, als hörte man es nicht. Weiter unterrichten. Sich den ganzen Nachmittag schlecht fühlen. Später darüber grübeln, was die Schülerin gegen einen hat. Was hat man falsch gemacht?

Menschliche Reaktion: Hingehen und wortlos eine scheuern.

Vielleicht müssen wir alle menschlicher werden, damit die Schüler über ihr Verhalten nachdenken. Im richtigen Leben können sie schließlich auch keine pädagogische Reaktion auf ihr Verhalten erwarten. Deshalb ist Authentizität doch geradezu unsere Pflicht. Ich fange gleich Montag damit an!

Kindergeld kürzen?

»Zweimal nicht die Hausaufgaben gemacht – 50 Prozent des Kindergeldes kürzen!«, sagt Thilo Sarrazin. Was halten wir denn nun davon?

Als ich das hörte, dachte ich: »Zweimal nur? Solche Streber kriegen bei uns doch gleich das Abitur. Und wie wäre es mit: Viermal keine Hausaufgaben – kein Kindergeld mehr? Was wäre mit: Nie die Hausaufgaben machen, keine Blätter, Stifte, geschweige denn Hefter oder Bücher mit in die Schule bringen? Was wäre mit: Sechsundsiebzig unentschuldigten Stunden in einem Halbjahr? Mit: Immer den Unterricht stören, wenn man mal im Unterricht ist? Was würde das kosten? Bisher nur meine Nerven. Aber ich hätte gar nichts dagegen, darauf Strafzölle zu erheben.

Hier mein Vorschlag: Wir drehen alles um. Es gibt nicht einfach Kindergeld wie bisher, das Geld muss verdient werden. Die ganze Woche pünktlich gekommen gleich 5 Euro. Dann gibt es Geld für: Das Arbeitsmaterial mal mitbringen, vielleicht auch für gute Mitarbeit und natürlich für Hausaufgaben machen. Ich glaube, dann würde ich wieder welche aufgeben können.

Hat jemand ein wirksames – ich wiederhole: wirksames – Mittel gegen Unpünktlichkeit? Das kriege ich nämlich nicht hin. Nachsitzen habe ich probiert. Bin ich nicht dafür, das bestraft nur mich, da es den Schülern entweder nichts ausmacht oder sie nicht kommen.

Noch mal zu Thilo Sarrazin: An welche Art von Schüler denkt er eigentlich, wenn er seine Vorschläge macht? An meine jedenfalls nicht. Ich werde seinen Vorschlag mal mit meinen Schülern diskutieren. Mal sehen, was die sagen. Wenn es nach ihnen ginge, gäbe es sowieso nur noch schariaartige Strafen in der Schule.

Ich frage Ferhat aus meiner Klasse, ob er die Diskussion über Integration in den Medien verfolgt hätte.

»Ja, das ist voll schwierig mit der Integration. Meine Mutter lernt Deutsch und arbeitet auch, aber sie bekommt keinen deutschen Pass.«

»Nein? Warum nicht? Du hast doch auch einen, oder?«, frage ich.

»Ja, schon lange. Mein Vater will nach ihr einen beantragen, aber bei ihr dauert das voll lange. Die Deutschen wollen das irgendwie nicht. Da müssten die Politiker mal mehr machen.«

»Ja. Stimmt. Kann denn deine Mama schon gut Deutsch sprechen?«

»Ja, ist schon ganz gut. Ich spreche mit ihr immer zu Hause und dann übt sie.« Ferhats Eltern kommen aus dem Libanon. Beide Eltern arbeiten, er spricht sehr gut Deutsch und ein Kopftuch trägt er auch nicht – vielleicht ist er ja die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Und sein Vater ist Elektriker, nicht mal Gemüsehändler.

In der nächsten Stunde versuche ich es wieder: »Hat eigentlich jemand von euch die Diskussion um Sarrazin mitbekommen?«

»Sarrazin?«

»Ja, Thilo Sarrazin. Weiß jemand, wer das ist?«

»Sarrazin, ich weiß!«, meldet sich Yusuf. »Sarrazin ist doch so eine Säure.«

Ich schüttele den Kopf und versuche ihnen zu erklären, wer Sarrazin ist, aber meine Bemühungen gehen in einem allgemeinem Gebrabbel unter, bis Ines sagt: »Frau Freitag, geben Sie’s auf, Ihnen hört jetzt keiner mehr zu.«

In der letzten Stunde unterrichte ich ältere Schüler und frage in eine herrliche Stille hinein: »Sagt euch der Name Sarrazin etwas?«

»Ja!«, ruft Lucy. »Da geht es um Integration.« Sie wendet sich an ihre Mitschüler: »Das sollte euch interessieren.« Jetzt sind alle ganz Ohr und lassen sich die groben Details von ihr erklären. Auch Baris hat schon davon gehört, und alle Schüler scheinen sich bereits eine Meinung über die Integration bzw. Nichtintegration gebildet zu haben. Ich frage, was sie von dem Vorschlag halten, den Eltern das Kindergeld zu kürzen, wenn ihre Kinder nicht in die Schule gehen. Zustimmung von allen. »Ja, das würde was ändern. Die Eltern werden dann voll sauer und dann kriegen die Kinder Stress.«

Ich frage, ob man auch Geld streichen sollte, wenn jemand nicht Deutsch lernen will. Alle sind sich einig, dass man Deutsch beherrschen muss, wenn man in Deutschland leben will. Allerdings sagt Baris, man solle eher Anreize schaffen, als Geld abzuziehen. Salina sagt: »Mehr fördern, nicht immer nur fordern. Aber ist doch auch kein Wunder, dass die türkischen Frauen hier kein Deutsch lernen, das brauchen die ja gar nicht, hier ist doch eh alles auf Türkisch. Die sprechen ja jeden hier in der Gegend auf Türkisch an.«

Baris: »Ich gehe neulich mit meinem Freund in eine Dönerbude, und da fragt der Verkäufer ihn auf Türkisch, was er essen möchte. Dabei war mein Freund blond und konnte auch gar kein Türkisch.«

So quatschen wir uns von der Ghettoisierung über den beidseitigen Irrglauben der ersten Gastarbeiter-Generation – »Alle dachten, die arbeiten hier nur und gehen dann wieder nach Hause …« – bis hin zur traurigen Tatsache:«Die Schüler sehen halt in der 8. und 9. Klasse noch nicht, dass sie was lernen müssen, damit sie später einen guten Beruf bekommen, die wollen halt jetzt Fun haben.« Lucy sagt, dass man es mit einem ausländischen Namen später schwer hat, einen Job zu bekommen. Ich gebe zu bedenken, dass in vielen Bereichen gerade Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen besonders gefragt seien. Baris sagt, man müsste mehr Lehrer mit Migrationshintergrund haben. Genau meine Meinung. Ich frage ihn sofort, ob er nicht Lehrer werden möchte. Möchte er leider nicht. Aber genau diese Kinder bräuchten wir. In den Schulen, als Lehrer, im Jugendamt, im Jobcenter, in den Ausbildungsbetrieben – überall.

»Baris, warum willst du nicht Lehrer werden? Guck mal, die ganzen Ferien. Lehrer ist echt ein toller Beruf. Ist easy und macht Spaß.« Da lachen die Schüler und zeigen mir einen Vogel. »Lehrer? Niemals!« Und sie wissen ja am besten, wovon sie sprechen.

Frau Freitag und ihre vier Bodyguards

Eine neue Gruppe, mitten im Schuljahr. Neues Glück, aber auch Gefahr: Werden sie leise und nett sein? Was ist, wenn sie voll stören und nicht machen, was ich sage? Was ist, wenn sie mich ständig mit ihrem alten Lehrer vergleichen? Das hört man ja besonders gerne: »Bei Herrn Meiermüller-Schmidt war es viel besser wie bei Ihnen. Wir wollen wieder Herr Meiermüller-Schmidt haben. Nicht bei Sie.« Wie kann ich Autorität vortäuschen? Diese berühmte natürliche Autorität könnte jetzt auch ruhig mal kommen.

Die Stunde beginnt. Die Schülerinnen trudeln ein. Nur Mädchen – ist das jetzt gut oder schlecht? Sind nicht viele, aber genug. So etwas wie zu wenig Schüler gibt es eigentlich gar nicht, oder Frau Dienstag? Die Frage ist eher, ab wie vielen Schülern in einer Lerngruppe man sich als richtiger Lehrer fühlt. Bei fünf Schülern und einer Lehrerdoppelspitze käme ich mir vor wie im Erziehungscamp von Frau Noble.

Jedenfalls habe ich alles vorbereitet. Tafelanschrieb, Aufgabenstellung, Listen und so weiter. Man will ja in der ersten Stunde nicht mit dem Rücken zur Gruppe stehen und ihnen die Möglichkeit geben, einem auf den Arsch zu stieren oder Grimassen zu schneiden.

Die Mädchen hören ruhig zu, was ich zu sagen habe. Ich denke schon: Super, läuft ja wie am Schnürchen, das wird ab jetzt meine Wohlfühllieblingsstunde, als plötzlich eine mir unbekannte Schülerin anfängt, Faxen zu machen. Eigentlich macht sie nichts Schlimmes, aber sie ist eben nicht so ruhig wie die anderen, und das fällt auf. Dauernd holt sie Kram aus ihrer Tasche, reicht den rum und versucht so, andere Schülerinnen in ihr Stören mit einzubeziehen.

Vier Mädchen sind aus meiner Klasse. Laute, störende Schülerinnen, mit denen es immer wieder Ärger gibt. Richtig kleine Diven sind das. Jede ihr eigener kleiner Superstar. Immer bedacht auf den großen Auftritt. Aber jetzt sind sie ruhig. Hören mir zu. Quatschen nicht, hören noch nicht mal Musik. Nur diese eine Schülerin krepelt weiter vor sich hin. Ich überlege, was ich machen soll. Ganz offensichtlich versucht sie auszu testen, wie weit sie bei mir gehen kann.

Ich will gerade was sagen, da dreht sich plötzlich Mariam aus meiner Klasse zu ihr um und schreit: »Jetzt halt endlich deine Klappe! Sei leise!«

Dann dreht sich auch Sabrina um: »Jetzt benimm dich! Das ist meine Klassenlehrerin!«

Die störende Schülerin sagt irgendwas, das ich nicht verstehe. Mariam schreit sie daraufhin an: »Rede nicht so über sie! Nur weil sie nette Lehrerin ist, denkst du, du kannst dich hier so benehmen?«

Plötzlich schreien alle Mädchen aus meiner Klasse auf sie ein. Ich stehe da und sehe mir dieses Schauspiel an. So doll hatte die gar nicht gestört. Jedenfalls hat es mich gar nicht so sehr tangiert. Aber die Mädchen stürzen sich wie Bestien auf sie und schreien und schreien. Ich flüstere ruhig ihre Namen, damit sie sich wieder beruhigen, und sehe zu, dass wir mit der Arbeit beginnen.

Die restlichen vierzig Minuten wird in absoluter Ruhe herrlich konzentriert gearbeitet.

Am Ende gibt es sogar von einer Schülerin den Ritterschlag: »Tschüch, is schon vorbei? Ging voll schnell.«

Ich werde die Mädchen mal fragen, ob sie nicht nächstes Schuljahr in alle meine neuen Gruppen mitkommen möchten. Vielleicht schaffen die es sogar, die ständige Beschäftigung mit unterrichtsfernen Dingen einzudämmen. Wie zum Beispiel …

Außen hui

Schminke. Schminke ist fast so wichtig wie Handy. Für mich war Schminke immer der Inbegriff von »Nichts im Hirn«. Eine Jugend zu verleben, in der man sich gar nicht und nie geschminkt hat, heißt aber auch, dass man als Erwachsener nicht weiß, wie das geht.

Selbst wenn ich wollte, wüsste ich überhaupt nicht, wie ich mich durch Kosmetik verschönern könnte. Oft habe ich es bereut, dass ich mich auf das Abitur und nicht aufs Schminken konzentriert habe. Nun habe ich zwar einen Job, sehe aber immer bleich, pickelig oder müde aus. Da ließe sich bestimmt was hinbiegen, so augenschattentechnisch oder Smokey-Eyesmäßig.

Meine Schülerinnen sind da schlauer. Bewusst interessieren sie sich nicht für irgendeinen schnöden Schulabschluss, sondern perfektionieren ihr Können im Bereich »Besser aussehen, als man aussieht«. Und da sich viele muslimische Mädchen nicht schminken dürfen oder es zumindest nicht gerne gesehen wird, wenn sie ihre Gesichter herausputzen, als gingen sie in irgendein Etablissement, wird sich einfach in der Schule aufgebrezelt. Dazu sind die ersten beiden Stunden in den Augen der Mädchen auch da. Schließlich muss der Lidstrich bis zur ersten Hofpause sitzen.

Bevor jemand fragt: Nein, Schminken im Unterricht ist an meiner Schule nicht erlaubt. Und wenn ich es schaffe, dann nehme ich den Schülerinnen ihre Utensilien auch ab. Ich habe bereits eine ansehnliche Sammlung billigster Kosmetikartikel. Aber das Schminken hört trotzdem nicht auf. Ich frage mich oft, ob das Make-up, das Mariam benutzt, wirklich orangefarben ist und sie es sich bewusst kauft und draufschmiert, um auszusehen wie ein Kürbis. Die meisten Mädchen sehen aus wie Zirkuspferde. Nur manche beherrschen die Kunst des Minimalismus, des »Weniger ist mehr«. Dabei steht »Weniger ist mehr« bei allem, was die Schule betrifft, sonst sehr hoch im Kurs.

Kürzlich besuchten wir unterschiedliche Ausbildungswerkstätten, und bei den Friseuren lag überall Schminke rum. Die Schülerinnen sahen das als Einladung zur Selbstbedienung, und diese ungünstige Verquickung von Zufällen führte zu folgender Situation: »Jaaa, Frau Freitag schminken!« Gesagt – getan. Zuerst machte sich Sabrina ans Werk und pinselte mir die unmöglichsten Grüntöne über die Augen. Mein ganzes Gesicht wurde mit einer klebrigen Make-up-Masse zugekleistert und Sabrina bestand auf einem nach oben gezogenen Lidstrich. Das Ergebnis war so schockierend, dass sie laut zu lachen anfing und sagte, dass das die Rache für den letzten Elternbrief sei.

»Quatsch, Sabrina, du kannst das einfach nicht«, stellte Mariam fest, schminkte mich sofort wieder ab und dann neu. Diesmal mit silbernem Glitzer um die Augen rum: »Voll schööön, Frau Freitag.« Ein Pfund Wimperntusche und Puder dazu. »Und, wie gefällt es Ihnen?«, fragte sie stolz.

Und was sollte ich da sagen? Ich sah aus, als ginge ich gleich zur Arbeit in eine Table-Dance-Bar. »Oh, schön. Ja, sieht gut aus.«

»Ja, jetzt werden sich alle auf der Straße nach Ihnen um drehen.« Damit hatte sie wahrscheinlich gar nicht so unrecht – so schrill wie ich aussah, würde das auch Fremden auffallen.

»Was wird Ihr Freund sagen?«

Der Freund guckte mich an und lachte sich schlapp: »Oh Mann, deine Mädchen und ihre billige Teenagerschminke. Das musst du dir aber sofort runterwaschen.«

Irgendwie war ich von der Reaktion ein wenig enttäuscht, denn ich fand, ich sah gar nicht so schlecht aus – vielleicht ein wenig zu viel Glitzer, aber sonst …

Einfach mal ein Krankenhaus besuchen

Wenn man sich mit der Klasse aus dem Schulgebäude wagt, bleibt es nicht aus, dass etwas passiert. Wir sind einen Tag lang in Werkstätten, in denen den Schülern die raue Arbeitswelt nähergebracht werden soll.

Eigentlich hatte ich mich schon auf das Mittagessen gefreut, da kommt Mehmet plötzlich blutend an. Mit geschulten Augen stelle ich fest, dass er auch einen kleinen Fußmarsch aushalten wird. Ich latsche also mit Mehmet ins Krankenhaus. Mehmet ist noch nicht so lange in unserer Klasse. Erst war er auf einer Gymnasiumschule, dann an einer Realschule, dann an einer anderen Realschule und jetzt ist er bei uns gelandet. So ganz schlau werde ich noch nicht aus ihm. Ich habe den Eindruck, dass er nicht ganz sauber ist.

Mit seiner Lehrerin alleine unterwegs zu sein ist für ihn wahrscheinlich unangenehmer als für mich. Spätestens im Warteraum wird klar: Ich bin nicht Mehmets Mutter. Und das liegt nicht nur daran, dass er mich siezt, sondern auch daran, dass wir uns angeregt unterhalten. Ich beginne unseren kleinen Ausflug mehr und mehr zu genießen.

Das Krankenhauspersonal guckt Mehmet an, als sei er ein Außerirdischer. Wahrscheinlich verarzten die dort nicht viele Jugendliche mit Migrationshintergrund. Man lässt uns lange warten. Dann bringt uns eine Schwester in einen sterilen Untersuchungsraum. Mehmet: »Voll Operationssaal und so. Mit Fernseher und so.«

Mir wird schlecht in diesem Raum. Ich schlage vor, dass Mehmet sich auf die Liege legt, damit ich mich auf den einzigen Stuhl im Raum setzen kann. Nun liegt er da, und ich sitze an seinem Fußende. Es entsteht eine therapeutische Atmosphäre, in der wir über Gott und die Welt plaudern. Streng genommen könnte man sagen, dass ich ihn ausfrage, da ich die Gesprächsthemen bestimme. In der Stunde, die wir in diesem Raum zusammen warten, verändert sich mein bisheriges Bild von Mehmet.

Ich hätte nie gedacht, dass er gut kochen kann und sogar backt. Er erklärt mir die Zubereitung eines Pilzgerichtes mit Sahne so detailliert, dass ich ihn bitten muss, über etwas anderes zu reden, da ich dem Hungertod nahe bin.

Wir reden über Mode. Mehmet beschreibt, nach welchen Gesichtspunkten er seine Klamotten kauft. »Also, die Schuhe müssen zu den Hosen passen und die Jacke zum Käppi.« Wir reden über Mädchen. »Mit den Mädchens kann man sich viel besser unterhalten als wie mit den Jungs. Wir gehen immer spazieren, dies, das.«

Wir reden über die Pokerräuber. Das waren mehrere Jugendliche mit Migrationshintergrund, die eigentlich auch auf unsere Schule hätten gehen können. In die Presse kamen sie, weil sie mit Pistolen und Macheten ein großes Pokerturnier überfielen und sich dabei unheimlich blöd anstellten. Die Polizei sagte damals: »Die Dummheit hat eine neue Dimension erreicht.«

Ich sage: »Einen roten Pulli anzuziehen, wenn man einen Überfall plant, ist doch wohl sehr bekloppt, oder? Vielleicht haben die sich ja auch noch Namensschilder gemacht.«

Mehmet erstaunt: »Ja, haben sie?«

Ich erfahre interessante Details: »Wir haben auch eine Machete. Für die Küche. Meine Mutter kocht damit.« Ich sehe Mehmets Mutter vor mir, wie sie mit Kopftuch und langem Mantel in einer kleinen Küche steht und eine Machete über dem Kopf schwingt. Wir einigen uns darauf, dass sie ein Hacke beil benutzt und keine Machete.

Ich spreche noch seinen missglückten Solariumbesuch von neulich an. Mehmet hatte danach Verbrennungen dritten Grades. Er sagt, jetzt muss man seinen Ausweis vorzeigen. Eigentlich darf man ja erst ab achtzehn unters Solarium.

Mehmet erzählt mir, dass er zurzeit vom Unglück verfolgt sei. »Ich hatte diese Marco-Polo-Jacke, kennen Sie? Und die habe ich in M gekauft. Und dann hat meine Mutter die gewaschen mit 70 Grad oder 170 Grad und dann war sie XS. Und dann das mit dem Solarium und dann beim Friseur, er schneidet mir die Augenbrauen mit der Maschine, und alles wird voll schief. Und Frau Freitag, gestern, ich kaufe mir ein Eis, mach es auf, und das ganze Eis fällt runter.«

Und jetzt liegt er verletzt auf diesem Krankenhausbett und muss sich stundenlang mit seiner Lehrerin abgeben. Er ist wirklich vom Pech verfolgt.

Irgendwann kommt ein Arzt und guckt Mehmet kurz an. Dann versorgt eine Schwester Mehmets Wunde. Der Arzt verabschiedet sich mit den Worten: »Danke, dass Sie nicht mit der Feuerwehr gekommen sind und somit das Gesundheitssystem nicht unnötig belastet haben.«

Ich sage, dass ich versucht hätte, einen Hubschrauber zu bestellen, und das würde ich jederzeit wieder tun, denn ich möchte nicht später verklagt werden, weil der ganze Arm meines Schülers amputiert werden musste.

Wussten Sie schon?

Aber nicht nur bei kleinen Krankenhausexkursionen, auch in mündlichen Prüfungen und sogar im normalen Unterricht erfährt man immer wieder Interessantes. Schüler interpretieren die Welt anders als Erwachsene. Fakten kommen in ihren Hirnen irgendwie anders an. Da werden Verknüpfungen hergestellt, die man schwer nachvollziehen kann. Hier etwas vom jugendlichen Weltwissen:

Die Berliner Mauer wurde von den Amerikanern gebaut. (Abschlussprüfung)
Die Berliner Mauer wurde von Hitler gebaut. (Abschlussprüfung)
Vulkane sind entstanden, weil Allah es so wollte. (Abschlussprüfung)
Im Schweinefleisch ist ein Stoff enthalten, der die Eifersucht hemmt. Deshalb dürfen Moslems kein Schwein essen, denn sonst könnten sie nicht mehr auf ihre Schwestern aufpassen. (Abschlussprüfung)
Die weißen Blutkörperchen sind in den Pickeln. (Unterricht Fräulein Krise)
London ist die Hauptstadt von Florida. (Unterricht Frau Freitag)
Heterosexuell ist Sex mit Tiere. (Pausenaufsicht Frau Freitag)
Ein Bäcker verdient 5000 Euro. (Träumerei von Abdul)
Drei Banditos kamen mir zu Hilfe und haben fünfzig Jugendliche in die Flucht geschlagen. (Erzählung von Mehmet)
Eine Leiche wurde mit kaltem statt mit warmem Wasser gewaschen. Da hat sich die Leiche aufgesetzt und gefragt: »Warum wäscht du mich mit kaltem Wasser?« (Unterricht Fräulein Krise)
Es ist auch nicht gut, wenn man nur Stulle essen tut. (Abschlussprüfung zum Thema Ernährung, Frau Dienstag)
Ich schaffe auf jeden Fall den Realschulabschluss. (Träumerei einer ganzen Klasse, Frau Freitag)
Frau Merkel zahlt alle Hartz-4-Gelder (persönlich).
(Fehleinschätzung eines Schülers, Unterricht Frau Freitag)

Ich könnte hier noch ewig weitermachen. Es wird echt nicht langweilig. Und es gibt noch viel zu tun für uns. Aber wo soll man anfangen bei Schülern, die davon überzeugt sind, dass es den Fernseher schon seit 10 000 Jahren gibt? Ich finde, jeder Schüler müsste in der Grundschule gezwungen werden, alle WAS IST WAS-Bücher auswendig zu lernen. Und danach übernehmen wir dann.

Die Schule ist kein Jobcenter

Mal angenommen, ich ginge zum Friseur, um mir die Haare schneiden und färben zu lassen. Es dauert Stunden und ist teuer. Das Resultat ist furchtbar. Ich fange an zu heulen, weil ich so schrecklich aussehe: »Was haben Sie denn gemacht? Das sieht ja schlimm aus! Ich möchte mit Ihrer Chefin sprechen!«

Die Chefin kommt: »Ups, das tut mir leid. Aber wir haben solche Schwierigkeiten, ausgebildete Friseure oder Friseurinnen zu finden, da mussten wir auch unausgebildete Vertretungskräfte einstellen.«

Schluchzend frage ich die Dame, die meinen Kopf total verhunzt hat: »Was sind Sie denn von Beruf, wenn Sie nicht Friseurin sind?«

»Ich bin ausgebildete Erzieherin.« Ich kann es nicht glauben und gehe.

Kann sich jemand vorstellen, dass Jurastudenten im Krankenhaus arbeiten? Denkmalschützer in Restaurants kochen? Mathematiker Flugzeuge fliegen? Und weshalb darf jeder Krethi und Plethi Vertretungsunterricht an unseren Schulen machen?

Da tummeln sich Studenten, Architekten und alle möglichen anderen Leute zwischen den Lehrern.

»Ach, Sie waren schon mal verreist, dann können Sie doch sicher den Erdkundeunterricht der 8. Klassen übernehmen. Sie haben einen Hund? Machen Sie doch bitte auch Bio.«

Warum darf eigentlich jeder unterrichten? Ist die Kunst des Unterrichtens so easy zu erlernen, dass man sie sich übers Wochenende aneignen kann? Und die zensieren dann meine Schüler, die wiederum bekommen schlechte Zensuren und bleiben sitzen. Oder sie bekommen schlechten Unterricht und lernen nichts. Vielleicht bekommen sie ja auch guten Unterricht, aber die Chancen, dass jemand, der nie ein Didaktik seminar besucht hat, ein Naturtalent in der Unterrichtsgestaltung ist, sind doch eher gering. Ich finde, die Schüler und auch wir Lehrer haben das nicht verdient. In den Schulen sollten nur ausgebildete Lehrkräfte arbeiten. Die Schule sollte kein Tummelplatz für Studenten und Lebenskünstler werden, die woanders nichts finden.

Impressionen eines Montags

»Frau Freitag, wie lange wollen Sie hier eigentlich noch arbeiten?«

»Bis ich sterbe, warum?«

»Na, wird das denn nicht langweilig? Ist doch immer das selbe hier.«

»Aber Mariam, in den meisten Jobs macht man jeden Tag dasselbe. Was willst du denn später mal machen?«

»Zahnarzthelferin.«

»Na, da hast du doch auch nicht gerade viel Abwechslung.«

»Doch. Andere Zähne.«

Dschingis ist neu. Er ist ziemlich klein und ziemlich süß. Dschingis fällt mitten in meiner Einführung vom Stuhl. Grundlos. Er hatte noch nicht einmal gekippelt. Dann springt er auf und tanzt durch die Klasse, stümperhaft beatboxend. Während er tanzt, gibt er Cihat einen Nackenklatscher und reißt Cindys Federtasche vom Tisch. Ich stehe vorne, es ist meine achte Stunde und ich kann nicht mehr: »Dschiiingis! Raaauuus.«

»Neiiin. Bitte, letzte Chance!«

»Nix letzte Chance, ich kann nicht mehr! Ich kann dich nicht mehr ertragen!«

Irgendwann hole ich ihn wieder rein. Er schmiert irgendwelchen Scheiß auf sein Blatt – nichts, was auch nur annähernd mit der Aufgabe zu tun hätte. Es klingelt. Ich nehme seinen Rucksack und stelle ihn neben meinen Schreibtisch. »Stühle hoch und tschüß und schöne Ferien. Dschingis, du bleibst noch hier.«

Er windet sich jammernd, Hundeblick, er setzt an: »Letzte …« Ich halte ihm seinen Rucksack unter die Nase: »Hausaufgabenheft!«

Er gibt mir sein Heft, ich kliere irgendwas über sein schlechtes Verhalten rein und zwinge mich zu einem pädagogischen Tonfall: »Dschingis. Hast du eigentlich ADHS?«

»Warum fragen das alle? Nein, hab ich nicht. Ehrlich!«

»WAS? Du hast noch nicht mal ADHS? UND WARUM BENIMMST DU DICH DANN SO? Jetzt werde ich ja echt gleich sauer. Mit ADHS könnte ich ja noch umgehen. Aber so!?«

»Frau Freitag, ich verspreche Ihnen, nach den Ferien lernen Sie einen neuen Dschingis kennen, ich schwöre.«

Sein Wort in Allahs Ohren. Dschingis ändert sich laufend vor und zurück – mehrmals in einer Stunde. Zur Sicherheit werde ich mir ein wenig Ritalin besorgen und ihm mal ’ne Cola spendieren.

Was so alles an einem Tag passieren kann …

Ich habe Dschingis, aber Frau Dienstag hat es auch nicht leicht. Frau Dienstag hat sich vorgestern an einem Schüler verletzt. Fräulein Krise hatte gestern eine Schlägerei, mit Polizei und so. Ich hatte heute schon eine schriftliche Aufgabe in der 10. Klasse mit vielen falschen Artikeln – oder sagt man heute schon »das Mittelpunkt«? Außerdem hatte ich miese Mädchenkeilerei auf dem Hof wegen:«Sie hat Schlampe gesagt …« – »Sie soll mal aufpassen, wie sie mit mir redet, und wer denkt sie, wer sie ist …« War alles mit Mädchen aus meiner Klasse, aber ich habe mich mal zurückgehalten, weil so was immer nur in Arbeit ausartet. Die Informationen habe ich mir dann später heimlich bei Schülern aus anderen Klassen geholt. Meine Mädchen habe ich gefragt: »Und, ist alles geklärt?«

»Abó, Frau Freitag, da ist gar nichts geklärt. Gar nichts! Dieses Mädchen wird noch so Schläge bekommen, ich schwöre.« Ich sitze diesen Konflikt kohlmäßig aus. Mal sehen, ob der noch so heiß ist, wenn die Ferien vorbei sind.

Yusuf aus der 8. Klasse fragt mich, ob Emre in meiner Klasse ist. Ich nicke.

Yusuf: »Frau Freitag, Emre kann nicht gut rappen.«

Stimmt, denke ich. Ich habe mir seine Songs schon auf You-Tube angehört. Alles noch sehr dünn. »Der hat keinen guten Flow.« Pause. »Flow. Wissen Sie, was das ist?«

Ich hole mir einen Stuhl und setze mich zu Yusuf. »Klar weiß ich, was Flow ist.« Schließlich habe ich doch intensiv im Internet recherchiert. Ich will doch FREESTYLEN lernen.

»Aber Yusuf, erklär mir das noch mal mit dem Flow, wie geht denn ein guter Flow?« Ich kriege eine Gratislektion von ihm. Schließlich freestylt er schon seit vier Jahren. Flow, das ist die rhythmische Bewegung der Stimme zum Beat beim Rappen. Bushido und Sido sind für Yusuf gar keine richtigen Rapper, weil die nicht freestylen, also direkt frei und in Reimen rappen können. Er kann das. Habe ich mich auch schon oft im Unterricht von überzeugen lassen müssen.

ICH WILL DAS AUCH KÖNNEN! Das ist meine Mission für die Ferien! Freestylen üben. Auch wenn ich mich dazu wieder in ein Jugendzentrum schmuggeln muss. Ich MUSS das einfach lernen. Und dann blas ich die weg!

Schulfremde in the House

Zu Hause habe ich mich gleich hingesetzt und meinen ersten Rap-Song geschrieben:

Die Tür geht auf, du bist zu spät. »Und wer ist er?«, frage ich streng.

Du kommst herein, du guckst mich an: »Na, sehn Sie doch, das ist mein Kuseng.«

Schulfremde ham im Gebäude nichts zu suchen.

Nein, da nützt kein Betteln und schon gar kein Fluchen.

So, Leute, Bücher raus und Klappe halten.

Kann jemand mal das Licht hinten anschalten?

Und dein Kuseng soll sich mal verzieh’n.

Ach, er hat sich von dir nur die Monatskarte geliehen?

Schülermonatskarten sind aber nicht übertragbar.

Nee, echt nicht, auch nicht dieses Exemplar.

Und die ist ja auch schon abgelaufen, die ist von Januar.

Jetzt ham wir März.

Nee, mein ich ernst, ist echt kein Scherz. Kann der Kuseng jetzt bitte geh’n?

Ach, der ist an der Hand verletzt? Na, lass mal sehen.

Ah, der hat sich auf dem Hof mit einem geschlagen?

Na, dann kann er den leichten Handschmerz auch ertragen.

So, der Kuseng soll jetzt endlich abhauen.

Der wird uns hier nicht die gesamte Stunde versauen.

Der Kuseng geht jetzt bitte sofort nach Hause!

Nein, der bleibt nicht hier bis zur nächsten großen Pause!

Ach, dein Kuseng muss nur noch kurz was klären.

Pass mal auf, ich werd mich nachher bei deinem Klassenlehrer über dich beschweren.

Und dann rufe ich deinen Vater an.

Was hast du gemurmelt: Rede nicht, Lan?

Pass mal auf, wie du dich mir gegenüber verhältst!

Und, ey, Kuseng, es nützt dir nichts, dass du deinen Fuß in die Tür stellst.

So, raus jetzt und weg mit dem Fuß aus der Türspalte!

Was sagst du: Ham sie ne Macke, Alte?

Nennst du mich Alte, du Dreckskuseng?

Ja, tu ich, und pass mal jetzt auf: Say hello to my little friend: PENG!

Abó, er hat Frau Freitag erschossen.

Da liegt sie, überall Blut und die Augen geschlossen.

Tschüch, er hat voll Frau Freitag getötet, ich schwöre.

Ach, nee, sie lebt noch, sie flüstert was, seid mal leise, damit ich sie höre:

»Ich sterbe. Jetzt gleich. Das merke ich schon,

Aber sag deinem Kuseng, er ist ein HURENSOHN!«

Ich habe den Song sogar schon mit Beats unterlegt aufgenommen. Leider fehlt mir, genau wie Emre, noch jeglicher Flow. Vielleicht können wir beide mal bei Yusuf Nachhilfe nehmen.

Äh?

Heute ist mir etwas ganz Seltsames passiert. Ich stehe wie gewohnt auf, dusche, frühstücke mit dem Frühstücksfernsehen und gehe um sieben Uhr aus dem Haus. Eigentlich ist alles wie jeden Morgen.

Aber dann … Das Schultor ist abgeschlossen. Na ja, denke ich, wird der Hausmeister wohl vergessen haben aufzumachen. Vielleicht bin ich ja heute auch früher losgegangen als sonst. Ich gehe zu meinem Raum, schließe auf und bereite meinen Unterricht vor. An der Tafel ein schönes Tafelbild, nicht zu viel und nicht zu wenig. Dann warte ich. Fünf vor acht. Drei vor acht. Acht. Es klingelt. Aber niemand kommt. Wo sind die denn alle? Die können doch nicht alle zu spät kommen … Ich warte bis um 8.15 Uhr und gehe dann runter. Der Hof ist auch leer. Komisch. Die anderen haben wahrscheinlich schon längst mit dem Unterricht angefangen. Aber wo ist meine Klasse? Vielleicht stand was auf dem Vertretungsplan, das ich übersehen habe. Mist, wahrscheinlich hätte ich später kommen können, weil meine erste Stunde nach hinten verschoben wurde. Das ist mir schon mal passiert.

Ich stehe vor dem Vertretungsplan, als der Hausmeister auf mich zukommt: »Frau Freitag, was machen Sie denn hier?«

»Ich suche meine Klasse.«

»Na, da wird wohl keiner kommen. Sind doch Ferien.«

»Ferien? Was für Ferien?«, frage ich verwundert.

»Na, Osterferien«, sagt er.

»Osterferien? Seit wann denn das?«, frage ich.

»Schon seit Freitag. Und heute ist Mittwoch.«

»Seit Freitag? Kann doch gar nicht sein. Ich habe doch gestern noch so schönen Unterricht gemacht. Und am Montag, da war doch alles ganz schrecklich. Das weiß ich doch noch. Mit Dschingis und so.«

Der Hausmeister schüttelt den Kopf. »Nein, nein, Frau Freitag, heute ist der dritte Ferientag, und gestern und vorgestern waren auch schon Ferien.«

Er schiebt mich sanft zum Schultor. »Und Sie fahren jetzt schön wieder nach Hause und erholen sich.«

»Aber ich muss doch unterrichten. Die Kinder warten doch«, stammele ich, während wir uns dem Ausgang nähern. Eine Stunde später komme ich verwirrt nach Hause. Ich trinke einen Kaffee und gucke kurz irgendeinen Blödsinn im Fernsehen. Leider muss ich dann aufhören, denn die Arbeit ruft. Ich will doch morgen einen Test schreiben und die Arbeitsblätter vom Wochenplan muss ich auch noch zensieren …

Haufen

Ich habe einen rie-si-gen Schreibtisch. Bestimmt mehrere Meter lang. Trotzdem habe ich momentan nur etwa 60 Zentimeter freie Fläche. Was liegt hier eigentlich so rum? Ganz an der Seite sind zensierte Kunstarbeiten der Schüler, die ich eigentlich mal wieder mit in die Schule nehmen sollte. Daneben ein Stapel mit unzensierten Kunstarbeiten, die ich eigentlich zensieren sollte. Dann mehrere Ausgaben von Fachzeitschriften, die ich in dem Glauben abonniert habe, dadurch eine bessere Lehrerin zu werden. Sie mir bloß liefern zu lassen, scheint nicht zu reichen. Vielleicht sollte ich sie mal auspacken und lesen. Oder wenigstens ins Regal stellen.

Dann gibt es noch die Stapel mit den amtlichen Papieren, meine Gehaltsabrechnungen, Fortbildungsnachweise, Lohnsteuersachen, Rentenkram und so weiter. Diese Papiere sollte ich vermutlich lesen und sie dann so verstauen, dass ich sie auch wiederfinde. Dann sind da noch einige Haufen mit Schülertexten, die ich noch nicht zensiert habe, und Kopien von Elternbriefen, die eigentlich in die Schülerakten gehören.

Ich sehe ein paar Zeilen für Raptexte: »Eltern unterschreiben keine Klassenarbeit, Eltern wissen aber alle: Wir sind von der Schulbuchzuzahlung befreit.« Daneben liegen einige Bücher, die ich mir geliehen habe und die ich demnächst mal zurückgeben sollte, außerdem ein Haufen Arbeitsblätter, die ich kopieren wollte oder schon kopiert habe.

Und dann gibt es noch die zwei Haufen des Grauens – ganz hinten in der Ecke liegen die, und zwar, ungelogen, seit letztem Schuljahr. Nie sehe ich nach, was da genau liegt. Ich sollte die Haufen nehmen und einfach wegschmeißen. Das wäre der ultimative Befreiungsschlag. Bis ich so weit bin, muss ich allerdings noch sehr viel Yoga machen.

Ich werde jetzt anfangen abzurüsten. Stapel für Stapel werde ich abbauen, bis ich einen japanischen Schreibtisch habe und Feng Shui wieder lacht. Genau dafür hat man die Feiertage mit den vielen Spielfilmen erfunden, um seinen Schreibtisch zu entrümpeln. Fräulein Krise wird vor Neid platzen. Das spornt mich noch mehr an. Und wenn ich schon dabei bin, werde ich heute Nachmittag noch schnell den Rest des Schuljahres vorbereiten. Und morgen mach ich dann noch den Lohnsteuerjahresausgleich, damit schocke ich Frau Dienstag. Herrlich, die Ferien können so schön sein. Wozu verreisen, wenn man doch auch zu Hause so viel Spaß haben kann.