4.
Nach den Herbstferien

Ich hab Sie sooo vermisst. Sie mich auch?

Komisch, heute war ich zum ersten Mal nach den Ferien wieder in der Schule. Kam mir ganz ungewohnt vor. Ungewohnt, aber irgendwie auch ganz nett. Gestern noch schlecht gelaunt und dann heute ganz beschwingt-vergnügt nach Hause gekommen. Die Kundschaft war auch in Ordnung.

Begrüßt von Esra: »Ich hab Sie sooo vermisst. Sie mich auch?« Ich war froh, mich an ihren Namen zu erinnern. Aber schon nach ein paar Minuten war alles wie immer. Ich zappelte da vorne meine Performance runter, und die Schüler holten widerwillig und in extremer Zeitlupe ihr Papier raus, um noch eine Viertelstunde nach ‘nem Stift zu suchen, dann die Aufgaben nicht zu kapieren, Löcher in die Luft zu starren und am Ende auch nicht in der Lage zu sein, die Lösungen von der Tafel abzuschreiben. Aber beim Klingeln die Ersten auf’m Hof sein – business as usual.

Später am Vormittag einer der seltenen Glücksmomente des Lehrerdaseins: die perfekte Stille. Alle Schüler arbeiten konzentriert und absolut leise vor sich hin. Ich empfinde einen Anflug von Frieden. Früher hätte ich gedacht: Jetzt hab ich’s. Jetzt wird es immer so. Jetzt ist alles perfekt. Heute weiß ich, dass es nächste Woche wieder katastrophal sein kann. Woran das liegt – keine Ahnung. Man steckt ja zum Glück nicht drin, in den Schülern.

Dann irgendwann im Lehrerzimmer: Kaffee – und heute steht da Kuchen! Alle stürzen sich darauf, einige nuscheln pflichtbewusst: »Wer hat denn Geburtstag?« Allgemeines Geschnatter: »Ach, hallo, warst du wieder da, wo du immer hinfährst?« – »Ja, ach, war schön, is immer schön da.« – »Klar, zu kurz.« – »Ach, wem sagste das? Muss ja, muss ja, muss ja …« Es klingelt: »Die Pflicht ruft.« – »Auf in den Kampf.« – »Dann woll’n wir mal.«

Und wir haben einen neuen Kollegen. Einen jungen Mann. Der ist nicht gerade der Idealtyp von Lehrer, den ich mir für unsere Schüler vorstelle. Er hat keine Spannkraft. Gebeugte Haltung, seine Stimme ist leise und bricht manchmal weg. Seine Haare – kein erkennbarer Schnitt und leicht ungewaschen. Von Mode versteht oder hält er wohl gar nichts. Und dann kommt er auch noch mit einem Rucksack! Ich gebe ihm drei Wochen, dann heult er im Lehrerzimmer. In zwei Wochen wird er wie wild Tadel verteilen und das Keinen-Unterricht-machen-Können auf die Schüler schieben. Hoffentlich irre ich mich, aber eigentlich kenne ich die Schüler zu gut.

Ich rieche, also bin ich

Im Arbeitsalltag gibt es ohne Ende Action, der ist voll von Interaktion. Interaction, sozusagen. Ich könnte nie Heimarbeit machen, denn ich brauche immer Leute um mich. Wenn man an einer Schule arbeitet, dann hat man ja den ganzen Tag mit Menschen zu tun. In jeder Stunde halten sich übermäßig viele Schüler in relativ kleinen, zum Teil überhitzten Räumen auf. Wenn man die Schüler dazu noch mit schwierigen Arbeitsaufträgen oder sogar mit einer Klassenarbeit schockt, kommen sie ins Schwitzen. Und manche schwitzen echt doll und fangen an zu stinken.

Ich bemerke das zum Beispiel, wenn ich während eines Tests wachsam durch die Klasse gehe und stichpunktartig die Federtaschen kontrolliere. Einen anderen Platz für Spickzettel findet die heutige Schülergeneration wohl nicht mehr. Jedenfalls stinkt der eine oder die andere wirklich heftig nach Schweiß. Und das nicht nur manchmal. Ein Stinker stinkt eigentlich immer. Ganz schlimm sind die Stunden, wenn die Schüler vorher Sport hatten. Ich war noch nie dabei, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass auch nur ein Schüler unserer Schule nach der Sportstunde duscht. Man wäre unter Umständen nackt. Die meisten haben ja noch nicht mal Sportzeug, sondern machen in ihren normalen Sachen mit und kommen dann mit hochrotem Gesicht und völlig verschwitzt zu mir in den Unterricht. Da hilft auch kein Lüften mehr.

Schön ist auch, wenn sie anfangen, dem beißenden Schweißgestank die Duftnote eines billigen Männersprühdeos beizumischen. Das Benutzen von Deo und Parfum steht in meinem Unterricht unter Höchststrafe. Ich kann mit Kaugummis, Zuspätkommen, Renitenz und sogar mit leichter Gewalt leben, wenn aber irgendwas gesprüht wird, dann flippe ich aus. Ich schreie sofort was von Allergien, Kopfschmerzen und Körperverletzung und drohe mit Anzeigen. Deshalb hält sich der Gebrauch dieser Art von Körperpflegeprodukten in meinem Unterricht in Grenzen.

Kann jemand den jungen Herren vielleicht mal erklären, dass der Axe-Effekt nur funktionieren kann, wenn man sich vorher wäscht? Waschen scheint sich bei einigen der Schüler sowieso auf ein mittelalterliches Wir-baden-immer-am-Samstag-Ritual zu beschränken. Vielleicht tragen die auch ihre Klamotten zu lange. In der Pubertät und auch in den Wechseljahren sollte man wahrscheinlich jeden Tag ein neues T-Shirt anziehen. Aber warum bekommen die Schüler das nicht beigebracht? Riechen die Eltern nicht, dass ihre Kinder stinken? In den kleinen, völlig überfüllten Wohnungen müsste das doch auffallen.

Sollte und kann ich denn die Schüler darauf ansprechen? »Herbert, hör mal, so unter uns, du riechst streng.« Oder: »Herbert, du magst doch Mädchen, oder? Du willst doch, dass die dich gut finden, oder? Denkst du im Ernst, irgendeine steht auf deine herben Körperausdünstungen?« Vielleicht auch mal so im Vorbeigehen: »Uh, mein Lieber, du riechst heftig. Wann hast du dich das letzte Mal gewaschen?« Möglich wäre auch ein protokolliertes Elterngespräch: »Wie steht es denn zu Hause bei Ihnen und Ihrer Familie mit der Körperpflege?«

Ich will an dieser Stelle aber noch einmal betonen, dass die meisten meiner Schüler überhaupt nicht schlecht riechen. Und manchmal stinkt man ja selber.

Neulich habe ich schon in der zweiten Stunde gemerkt, dass ich wohl das falsche T-Shirt angezogen habe und dazu auch noch eine Wolljacke. Leider konnte ich dem Gestank nicht aus dem Weg gehen und müffelte so den ganzen Tag vor mich hin. Zu Hause sprang ich sofort in die Badewanne.

Ich rechne es meinen Schülern hoch an, dass sie mir nicht gesagt haben, dass ich stinke. Sie können ja mitunter recht direkt sein, die lieben Kleinen. Da kann man sich hygienische, kosmetische oder modische Fauxpas eigentlich nicht erlauben: »Was ist denn mit Ihren Haaren?« Oder, nett ausgedrückt: »Frau Freitag, warum schminken Sie sich eigentlich nicht?«

Man hat als Lehrerin nicht nur mit Schülern zu tun, die man selbst unterrichtet, sondern auch mit denen, die man täglich auf dem Hof beaufsichtigt. Das sind die Hofbekanntschaften. Die kennen meinen Namen, ich ihren nicht. Aber man quatscht halt ab und zu so rum. Eine meiner Hofbekanntschaften ist ein Schüler, der wahrscheinlich schon mehrfach sitzengeblieben ist und auch nicht viel vom regelmäßigen Unterrichtsbesuch hält.

Er ist eigentlich immer auf dem Hof, wenn ich in meinen Freistunden das Freigehege durchquere. Ich schmettere ihm immer die gleiche Begrüßung entgegen: »Na, hast du wieder Hof? Du musst ja echt Klassenbester in Hof sein.« Und wenn er mir dann gegenübersteht, sehe ich immer, dass er das ganze Gesicht voller Mitesser hat. Keine richtigen Pickel. Nur Mitesser in allen Größen. Und die hatte der exakt das ganze Schuljahr. Oft juckte es mich schon sehr in den Fingern: »Darf ich mal?« – Und dann einfach ran, die Zeigefinger anlegen und sehen, was sich da rausholen lässt.

Aber nicht nur der Körpergeruch und Pickel stellen in der Schule ein Problem dar, ich frage mich seit langem, warum meine Fingernägel in der Schule immer so dreckig werden. Jedes Mal, wenn ich nach Hause fahre und mir meine Finger ansehe, sind die schwarz, als hätte ich in der Erde gewühlt. Und warum wachsen die in der Schule so schnell? Ständig sind sie zu lang. Es kommt mir vor, als müsste ich mir täglich die Nägel schneiden.

Aber woher kommt der Dreck? Auch in Stunden, in denen ich nur mit Papier, mit Fotokopien arbeite, verdrecken sie. Ist das der Toner aus dem Kopierer? Geht das nur mir so? Haben auch andere Kollegen das Problem? Ist es die Asche aus der heißen Brennpunktschule? Der Bodensatz der Gesellschaft, den wir dort verwalten? Feinstaub? Ist Feinstaub schwarz? Sind meine Fingernägel wie Mood-Ringe, werden sie schwarz, wenn ich schlechten Unterricht mache? Ist es das Alter? Ist es der Tod, der sich schon mal in den Nägeln festsetzt? Ist es materialisierter, erstarrter Schweiß? Ist Schweiß nicht durchsichtig? Gibt es einen Trick, die Nägel dauerhaft sauber zu halten? Hilft eine Maniküre? Nagellack? French Nails? Was kosten die? Und habe ich eigentlich keine anderen Probleme als meine schmutzigen Fingernägel?

Kreativer Ausdruck

Was ist das mit meiner Klasse? Warum schreien die immer so durcheinander, wenn ich vorne stehe? Ich verstehe das nicht. Ich suche sie, weil ich noch irgend so einen Zettel austeilen muss. Ich finde sie im Chemieraum. Sie sitzen ruhig und gelassen an ihren Plätzen, und pinseln irgendwas aus dem Chemiebuch ab. Die Zeichnungen sehen auch gar nicht so schlecht aus. Ich stelle mich vorne hin, hole Luft und schon brüllen sie wieder alle durcheinander. Jeder muss mir unbedingt noch was gaaanz Wichtiges mitteilen und versucht, die anderen zu übertönen, indem er sich die Lunge aus dem Hals brüllt.

Ich sehe und höre mir dieses Schauspiel an. Wie kleine Vögel im Nest. Der Mutter-Vogel kommt mit Würmern im Schnabel angeflogen und die kleinen Vögel recken ihre Köpfe und versuchen lautstark, auf sich aufmerksam zu machen.

Nur Abdul nicht, der sitzt ruhig vor einem DIN-A3-Blatt und zeichnet mit einem schwarzen Filzer, der bald den Geist aufgibt. Abdul ist der jüngste und gleichzeitig der größte Schüler meiner Klasse. Ich halte viel von ihm, stehe mit dieser Haltung allerdings sehr allein da. Im Lehrerzimmer verteidige ich ihn ständig vor den genervten Kollegen, denn bisher versteckt er seine Genialität noch ziemlich geschickt.

Komisch, denke ich, die anderen Schüler benutzen einen Bleistift. Was hat Abdul denn eigentlich auf sein Blatt gemalt? Und da sehe ich, dass sich in der Mitte eine Art Tic Tac Toe befindet und außen herum fliegen Penisse, beschnittene Penisse. Interessant, denke ich und vergleiche sein Bild mit denen seiner Mitschüler. Die anderen haben keine Geschlechtsteile auf ihren Arbeiten. Kann also nicht die Aufgabe gewesen sein. Ich nehme mir sein Blatt: »Soso, Abdul, war das hier deine Aufgabe?« Wortlosigkeit seinerseits. Ich falte das Blatt langsam, nehme einen Kugelschreiber und schreibe hinten »Abdul«, »Chemie« und das Datum drauf. Emre fragt: »Was machen Sie jetzt damit?«

»Ich glaube, das interessiert seine Mutter, was er hier so zeichnet. Ich zeige es ihr mal, damit sie auch was davon hat.«

Abdul sagt immer noch nichts. Ich verteile die Zettel, wünsche allen ein schönes Wochenende und gehe ins Lehrerzimmer. Dort zeige ich das Blatt einigen Kollegen und amüsiere mich noch mal über die Zeichnung. Mit welcher Detailgenauigkeit Abdul gezeichnet hat und wie schön die Penisse auf dem Blatt rumfliegen – herrlich. Aber ich bezweifle, dass seine Mutter ebensolche Freude daran haben würde. Seine Mutter kommt regelmäßig zu sehr emotionalen Elterngesprächen in die Schule. Sie wird seine Zeichnung wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen. Aber am letzten Tag der 10. Klasse werde ich Abdul sein Werk feierlich zurückgeben. Darauf freue ich mich jetzt schon.

Im Lehrerzimmer trinke ich meinen Endlich-Wochenende-Kaffee und frage mich: Was läuft bei mir verkehrt, dass ich ein solches Interesse an diesem neuen Lehrer habe, der bei uns unterrichtet. Der sieht nicht gut aus, und wenn der mich direkt anspricht, dann ist es mir eher unangenehm. Trotzdem hoffe ich immer, ihn im Lehrerzimmer zu treffen. Nach einem beiläufigen »Na, wie läuft’s so?« erwarte ich dann die übelsten Abkackstorys. Und in seinem Leid will ich mich dann suhlen. Kling recht sadistisch.

Gestern fragte eine Schülerin: »Frau Freitag, was ist masochistisch? Ist das, wenn man so völlig selbstverliebt ist?«

»Nein, das ist ein Narziss. Masochistisch, das ist … also, wenn man Schmerzen mag und wenn andere gemein sind zu einem.« Die Schüler gucken mich mit großem Unverständnis an. Ich präzisiere: »Na, so wie ich. Ich bin ein Masochist, weil ich euch als Klasse habe.« In dem Moment haben sie es kapiert.

Aber zurück zu meinem doch eher sadistischem Persönlichkeitsanteil. Die ganze Woche habe ich den neuen Kollegen nicht gesehen. Aber dann gehe ich gut gelaunt nach meiner letzten Stunde in Richtung Lehrerzimmer und singe leise vor mich hin: »Wochenende, Wochenende, Wochenende …« Da sehe ich ihn um die Ecke huschen. Wahrscheinlich kommt er gerade aus dem Lehrerzimmer und geht zum Unterricht. Schnell hinterher. Vielleicht kann ich an der Tür lauschen. Ich schleiche ihm also ins Treppenhaus nach, und plötzlich kommt er mir wieder entgegen. Verwirrt guckt er mich an. Die Stunde läuft bereits seit fünf Minuten. Bei uns legen zwar die Schüler keinen Wert auf Pünktlichkeit, aber das Kollegium nimmt es damit sehr genau.

Er, etwas außer Atem: »Ich suche meinen Kurs. In meinem Raum ist jetzt jemand anderes.« Ich souverän: »Komm mit, wir gucken mal.« Unterwegs treffen wir Schüler, die in seinem Kurs sein könnten, es aber nicht sind. Ich schicke ihn zu einer Kollegin, die ihm weiterhelfen kann, und gehe dann wieder ins Lehrerzimmer.

Zwanzig Minuten vor Stundenende sehe ich ihn mit fünf Schülern über den Hof latschen. In Zeitlupe. Ich beobachte alles ganz genau. Von hinten sieht er aus wie ein Schüler. Wie abgeranzt der Rucksack ist. Der hält sich ähnlich krumm wie ich. Die Schuhe tragen auch nicht gerade zur Autoritätsverstärkung bei.

»Wenn ich so spät dran wäre, würde ich aber rennen«, sage ich zu einer Kollegin, die mir nicht so richtig zuhört. Ich hole mir einen Kaffee und setzte mich mit irgendwelchen unwichtigen Formularen an einen Tisch. Na, der wird doch nach der Stunde wieder ins Lehrerzimmer kommen, die paar Minuten kann ich auch noch warten.

Und tatsächlich, beim Klingeln steht er leicht verwirrt vor mir. »Setz dich doch. Hast du deinen Kurs noch gefunden?« Er nickt und erklärt mir, wo die Schüler waren. Langweilig!

»Und, wie läuft’s so?«, frage ich. Es soll sehr beiläufig klingen, deshalb sehe ich gar nicht von meinen Formularen auf. Er erzählt, dass es bei den Zehnten ganz gut geht. Glaube ich ihm nicht. Allerdings hätte er in der 9. Klasse Probleme. Glaube ich ihm sofort. Er vermutet, dass es daran liegt, dass die Klassenlehrerin krank ist und schon länger fehlt. Ich weiß, dass es überhaupt nicht daran liegt. DAS LIEGT GANZ ALLEIN AN DIR! Das bekommst du nie hin. Und das ist nur der Anfang. Die werden dich fertigmachen. Die lassen kein Stück heile an dir.

»Hmmm, kann sein«, nuschele ich.

»Da sind einfach welche drin, die immer wieder stören. Die scheinen gar kein Interesse am Unterricht zu haben …« Es folgen endlose Tipps und Vorschläge von mir, die ich selbst nie anwende und die ihm wahrscheinlich auch nichts nützen werden. Er hört sich alles ganz genau an. Fragt nach. Überlegt. Mittlerweile kommen Kollegen und mischen sich ein. Die Geschichtslehrerin meiner Klasse kommt auf mich zu. Ich referiere gerade wieder über Konsequenz, klare Regeln und Ähn liches, da unterbricht sie mich: »Frau Freitag, deine Klasse – UNMÖGLICH! Unterricht ist mit denen nicht zu machen. Die spinnen. Ich halte das nicht mehr aus. Ich schreibe jetzt sofort Briefe an die Eltern.«

»Hm, mach das.« Dann wende ich mich wieder meinen Formularen zu, die anderen Lehrer verziehen sich. Der Neue sitzt mir gegenüber und denkt über irgendwas nach.

»Was machst du eigentlich am Montag, am Wandertag?«, wechsele ich geschickt das Thema. »Ach, ich weiß nicht.« Es ist Freitag, 13 Uhr. Er weiß noch nicht, wo er am Montag mitgehen soll! Tickt der noch ganz sauber? »Na, da musst du dich doch drum kümmern!«, sage ich mit leicht strengem Unterton und gehe mit ihm zu den Listen. »Guck mal, hier sind alle Klassen. Du suchst dir am Besten eine aus, in der du auch unterrichtest.« Er nickt. Bevor ich gehe, stelle ich zufrieden fest, dass er mit einem Kollegen einen Treffpunkt für Montag verabredet.

Im Bus denke ich: Was ist mit mir los? Wäre das so schlimm für mich gewesen, wenn der am Montag frei gehabt hätte? Warum freut sich ein Teil von mir, wenn das Unterrichten bei ihm nicht klappt? Vielleicht sollte ich mal eine Therapie machen. Therapeut ist ja eigentlich auch ein geiler Job – da kommen jeden Tag Leute, du hörst dir deren Probleme an und bekommst auch noch Geld dafür. Das könnte mir auch gefallen.

Aber Aberglaube gehört dazu!

Als Lehrer ist man ja auch ein Stück weit (typisches Lehrervokabular) Bürokrat. Ich hefte alles in Leitzordnern ab. Eine schöne Sammlung Klassenlisten habe ich auch schon. Jede Klasse, die ich in meinem Leben unterrichtet habe, befindet sich in einer Klarsichtfolie in einem Ordner mit der Aufschrift »Amtliches«. Man weiß ja nie. Vielleicht werde ich mal zu einem Klassentreffen eingeladen, und dann wäre es peinlich, wenn ich die Namen der Schüler nicht mehr kenne.

Außerdem pflege ich seit Jahren die Hoffnung, irgendwann meine Schüler im Fernsehen wiederzusehen: »Yunus A. – Wolfsburgs neue Hoffnung«, »Samira, willkommen im Band-Haus« oder »Der bildungspolitische Sprecher der Grünen Hakan Ü. sagte gestern …«. Nur hoffentlich heißt es nicht: »Der türkischstämmige Emre B. erschoss gegen 22 Uhr seine Schwester Aylin vor ihrem Elternhaus. Sie wollte mit ihren Freundinnen eine Diskothek besuchen.«

An eine Stunde in einer bestimmten 10. Klasse kann ich mich besonders gut erinnern. Ich komme in den Raum und die Schüler sind ganz aufgeregt. Einige Mädchen, aber auch ein paar Jungen wirken leicht hysterisch. Alle reden durcheinander. Mit dem Unterricht zu beginnen, ist nicht möglich. Pädagogisch geschult fällt mir sofort der Satz »Störung geht vor« ein.

»Sagt mal, was ist denn hier eigentlich los? Fatih, jetzt erzähl mal ganz in Ruhe!«

»Also, da war ein Mädchen in Holland und die hat immer Musik gehört. Krass laut in ihr Zimmer. Die Mutter war im Wohnzimmer und hat gebetet. Sie hat gesagt: ›Mach Musik aus.‹ Macht sie aber nicht. Und dann hat sie wieder gesagt: ›Mach Musik aus und komm beten.‹ Und dann ist das Mädchen rübergegangen, hat Koran genommen und zerrissen. – Und dann hat Allah sie zu einer Ratte gemacht.«

Stille. Die Schüler starren mich an. Warten auf meine Reaktion. Was soll ich jetzt zu so einem Schwachsinn sagen?

»Und das glaubt ihr? Das ist doch Unsinn.« Jetzt ereifern sich wieder alle. »Das stimmt! Hier«, schreit Fatih aufgebracht und wedelt mit seinem Handy. »Wollen Sie mal sehen?«

Ein Bild von einem verwandelten Rattenmädchen. Ob ich das sehen möchte? Mir wird etwas mulmig. So wie beim Horrorfilm, kurz bevor die Zombies angreifen. Klar will ich das sehen. Auf dem Display erscheint ein Mädchen, das wie eine Mischung zwischen einer Ratte und einem Känguru aussieht. Lustig ist, dass sie noch ihre Haare hat. Schön hinter die Ohren geklemmt. Ich grinse. »Und das glaubt ihr? Das ist doch ein Fake. Überlegt doch mal. Wer könnte denn ein Interesse daran haben, dass ihr diese Geschichte glaubt? Was ist denn die Moral? Was sollt ihr denn daraus lernen? Ihr werdet bestraft, wenn ihr zu laut Musik hört und nicht betet. Das ist doch bestimmt von irgendeiner religiösen Gruppe verbreitet worden, damit ihr nicht zu westlich lebt.« Die Schüler sind nicht überzeugt. »Aber sie hat Koran zerrissen. Das ist Sünde«, sagt Esma. »Ja. Das sollte man nicht tun. Aber deshalb wird man doch nicht zur Ratte verwandelt.«

Fatih macht mir einen Vorschlag: »Okay, Frau Freitag, ich bringe morgen einen Koran mit und den zerreißen Sie dann. Dann werden wir ja sehen.« Damit scheinen auch die anderen Schüler einverstanden zu sein. Ich soll den Koran zerstören? Den darf ich doch als dreckige Ungläubige noch nicht mal anfassen. »Nein, nein, nein! Ich werde hier weder den Koran, noch die Bibel und auch nicht den Talmud zerreißen. Und jetzt habe ich auch genug von der ganzen Sache. Nehmt eure Bücher raus, wir machen jetzt Unterricht.«

Im Lehrerzimmer erfahre ich, dass in jeder Klasse die Handybilder rumgezeigt wurden. In allen Klassen und Jahrgängen Hysterie und wilde Diskussionen. In einigen 8. Klassen weinten sogar ein paar Mädchen. An Unterricht war nicht mehr zu denken.

Zu Hause stürze ich mich sofort ins Internet und finde schnell, was ich suche. Spiegel Online hatte einen schönen Artikel dazu verfasst. Am nächsten Tag komme ich in die Klasse und wedele mit dem Ausdruck. Stolz lese ich alles vor und zeige den Schülern sogar noch andere Bilder von ähnlichen Mensch-Tier-Figuren, die alle von einer australischen Künstlerin stammen. Aber selbst mit diesen Bildern kann ich sie nicht überzeugen: »Frau Freitag, Sie verstehen das nicht, weil Sie Deutsche sind.«

Ist Luxemburg ein Bundesland?

Geschichtlich scheine ich aber auch nicht alles zu verstehen, denn auf die Frage »Wer hat denn die Mauer gebaut?« bekomme ich in jeder Klasse immer die gleiche Antwort. »Hitler hat die Mauer gebaut.«

In der zweiten großen Pause bin ich endgültig verwirrt. Können sich so viele Schüler irren? Habe ich irgendwas falsch verstanden? Hat Hitler die Mauer gebaut? Ist Luxemburg ein Bundesland? Sind München und Stuttgart Bundesländer? Wie kommen die Schüler darauf? Warum müssen sie die deutschen Bundesländer nicht auswendig lernen? Sollen meine Schüler wirklich dumm sterben? Machen wir Lehrer uns nicht strafbar, wenn wir sie so unwissend entlassen und ihnen auch noch bescheinigen, dass sie zehn Jahre unsere Schule besucht haben?

In einer 10. Klasse: »So, Erdal, was weißt du denn über den Mauerfall?«

»Gar nix. Interessiert mich nicht.«

»Aber du wohnst doch hier. Das ist die Geschichte von Deutschland. Da musst du doch was drüber wissen. Stell dir mal vor, du bist irgendwo im Ausland und sagst, du kommst aus Deutschland. Und dann fragt dich jemand nach der Mauer und du hast keine Ahnung, das wäre doch total peinlich.«

»Frau Freitag. Da war ich noch gar nicht geboren!«

Ich versuche es wieder einmal mit den Bundesländern. »Miriam, komm, sag mal ein paar Bundesländer.«

»Bayern.«

»Ja, super. Bayern, gut. Komm, dir fallen doch bestimmt noch mehr ein.« Nichts.

»Mann, Frau Freitag!«

»Ja, was denn, Miriam. Stell dir mal vor, du wirst das beim Einstellungsgespräch gefragt. Du kriegst doch gar keinen Job,

wenn du so was nicht weißt.«

»Kein Problem, Frau Freitag, ich heirate einen reichen Mann.«

Langsam bin ich echt genervt: »Aber Miriam, welcher reiche Mann möchte denn eine dumme Frau heiraten.« Miriam schmollt. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob sich da nicht der eine oder andere reiche Mann finden ließe. Miriam ist sehr hübsch, immer top geschminkt und kann unheimlich verführerisch gucken, da stünden ihre Aktien auf dem Heiratsmarkt bestimmt gut.

Mal ehrlich, ist es denn ein Wunder, dass die Schüler nichts lernen? Die Lehrpläne müssen überarbeitet werden! Alles muss schülerrelevanter werden, mehr Lebensweltbezug! Mehr Klafki! Momentan klafft doch nur eine riesige Schlucht zwischen den Lehrplänen und dem, was die Schüler wirklich interessiert, was sie wollen und können. Wir brauchen neue Unterrichtsfächer!

Hier meine Vorschläge: Die neuen Hauptfächer sind Unterrichtstören, Zuspätkommen und Kein-Arbeitsmaterial-Dabeihaben, was sich aus den Teilbereichen Nicht-am-Sport-teilnehmen-weil-Sportzeug-Vergessen und Gar-nichts-Mithaben zusammensetzt. Im Fach Mitschüler-Ärgern mit den Teilbereichen Schlagen und Mobbing kann jeder Schüler mitarbeiten. Das neue Unterrichtsfach Lügen überfordert nur wenige Schüler, und es gibt auch nur zwei Ich-war’s-nicht-Tests pro Halbjahr. Und eine schlechte Note in Counterstrike oder Facebook kann mit guten Leistungen in den Fächern Es-mit-dem-Solarium-Übertreiben oder in Schlecht-geschminkt-Sein ausgeglichen werden. Besonders schülerorientiert, gerade in den weiterführenden Schulen, sind natürlich die neuen Fächer Schlafen, Chillen und Mit-dem-Nachbarn-Reden.

Prüfungen gibt es allerdings nur in Arbeitsverweigerung und Schwänzen. In den Wahlfächern Den-Lehrer-Fertigmachen und Schuleigentum-Zerstören hat jeder Schüler die Möglichkeit, seinen individuellen Interessen und Fähigkeiten nachzugehen. Natürlich gibt es Förderunterricht für schwierige Fächer wie Nur-Scheiße-Labern und Gar-nichts-Checken.

Als AGs werden dann Deutsch, Mathe und Englisch angeboten. Kunst, Musik und Sport braucht sowieso kein Mensch, weil die Kreativität ja bereits fächerübergreifend in alle neuen Unterrichtsfächer einfließt.

Ich bin sicher, die neuen Fächer werden von den Schülern sofort angenommen und die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems wäre schon nach einem Jahr vollzogen, denn jeder Schüler besteht das Abitur; Zensurenkonferenzen werden eine wahre Freude für jeden Schulleiter. 100 Prozent Lernzuwachs, 200-prozentige Planerfüllung. Alle haben das Klassenziel erreicht. Schüler und Lehrer gehen wieder gerne zur Schule. Die Jahrgangsbesten wollen alle Lehrer werden. Auf RTL und PRO7 laufen Castingshows wie »Germany’s next Top-Teacher«, und wer rausfliegt, weint: »Das war mein Traumberuf. Schon immer!«

Du Spast

Die Schüler haben ein neues Wort. Das Wort heißt: Knecht. Wer früher ein Opfer, ein Hund, eine Missgeburt oder ein Spast war, ist heute ein Knecht. Gebraucht wird dieser Ausdruck einfach nur als eine Art Feststellung.

Erol zu Mohamad: »Hakan glaubt, dass es World of Warcraft auf türkisch gibt.« Mohamad: »Knecht.«

Oder Kevin zu Sabine: »Stefan geht zu Mathe.« Sabine: »Knecht.«

Nun könnte man denken, schön, dass die Schüler wieder alte deutsche Begrifflichkeiten benutzen. Nach Knecht kommt vielleicht noch Magd, Abt oder Amme. Sind sie also endlich in Deutschland angekommen? Benutzen mittelalterliche Wörter und merken es nicht mal. Ich schätze, dass die Schüler gar nicht wissen, was ein Knecht ist. Leider habe ich sie noch nicht gefragt, aber ich bin schon sehr gespannt, welche Definitionen sie mir anbieten werden. Unsere Schüler haben nämlich die Angewohnheit, Wörter zu verwenden, deren Bedeutung sie nicht kennen, oder noch besser: deren Bedeutung sie völlig falsch interpretieren.

Eine der Lieblingsbeschimpfungen aller Schüler ist ja Spast. Jedes Mal, wenn ich das Wort höre, frage ich die Schüler: »Weißt du denn, was ein Spast ist?« Und ich bekomme immer die gleiche Antwort: »Ja, klar. Ein Spast ist ein kleiner Vogel.«

Da steht ein riesiger arabischer Schüler vor mir, wahrscheinlich mit Totschläger und Messer in der Tasche und einer fetten Schüler- und Polizeiakte, und denkt, ein Spast sei ein kleiner Vogel. Und das Komische daran ist doch, dass er »kleiner Vogel« auch noch allen Ernstes als Schimpfwort benutzt.

»Soso, meinst du wirklich, dieses Schimpfwort ist so schlimm, dass sich jemand darüber ärgert?«

Meistens fällt ihnen darauf nichts mehr ein, und sie fragen etwas verunsichert: »Was heißt es denn?«

»Na, kleiner Vogel heißt es jedenfalls nicht. Aber benutz ruhig weiter Wörter, deren Bedeutung du nicht kennst, das zeugt von unheimlicher Intelligenz.«

Damit lasse ich sie stehen, und wahrscheinlich flüstern sie mir ein »Ist die hässlich!« oder »Hurentochter!« hinterher. Was eine Hurentochter ist, wissen sie alle.

Ich weiß, es wird einmal ein Wunder
geschehen …

… jemand, der was zu entscheiden hat, wird auf mich zukommen und mir folgende erlösende Sätze sagen: »Liebe Frau Freitag, kümmern Sie sich jetzt mal nicht so sehr um die Schulleistungen der Schüler. Auch die Fehlzeiten sind nicht so wichtig, dann kommen die Schüler eben zu spät, was soll’s? Wir hatten neulich einen Bildungsgipfel, und dort haben wir mit großer Mehrheit beschlossen, dass Leistung nicht mehr zählt. Nehmen wir doch mal Sie, liebe Frau Freitag. Wir beobachten Sie nun schon seit einiger Zeit …«

»Echt?«

»Ja. Und wir sehen ja, wie Sie sich täglich abmühen, den Schülern was beizubringen. Und auch wir haben bemerkt, wie wenig bei denen hängen bleibt. Nun seien wir mal ehrlich: Was ist das für eine Verschwendung Ihrer Lebenszeit! Sie rackern sich ab für nichts und wieder nichts. Deshalb bin ich froh, Ihnen ganz offiziell mitteilen zu dürfen, dass sich jetzt alles ändern wird. Rahmenpläne laufen aus. Die Benotung wird abgeschafft. Es wird keine Zeugnisse mehr geben. Sie können den Tag mit den Jugendlichen gestalten, wie Sie wollen. Tun Sie sich da keinen Zwang an. Gehen Sie jeden Tag Schlittschuhlaufen, ins Kino, kochen Sie, tanzen Sie mit den Schülern, machen Sie eine Radiosendung. Wenn die Schüler keine Lust haben, in die Schule zu kommen, dann dürfen sie ruhig zu Hause bleiben. Sie können gehen, wann sie wollen. Und keine Sorge, wir arbeiten auch gerade an den schriftlichen Ausführungen. Demnächst geht eine Ausführungsverordnung dazu an alle Schulen. Unter uns gesagt: Wir haben ja mit Ihrer Schülerklientel sowieso noch nie irgendwelche hochtrabenden Ziele verfolgt. Aber wir sehen jetzt, dass wir Sie und Ihre Kollegen nicht länger dafür verantwortlich machen dürfen. Ich persönlich kann mir gar nicht vorstellen, wie das sein muss, jeden Tag diese Schüler zu unterrichten, der ganze Druck, sie zu einem Schulabschluss zu bringen, und dann kommt so wenig dabei raus. Das muss doch sehr frustrierend sein, oder?«

»Hmmm.«

»Ja, liebe Frau Freitag, sehen Sie, wir lassen Sie nicht im Regen stehen. Die Reformen werden die Schullandschaft verändern. Und wir brauchen doch gar nicht so viele Menschen mit guten Ausbildungen, es gibt ja gar nicht genügend Jobs. Da müssen wir uns auch nicht vormachen, dass Ihre Klientel mit diesen halbgaren Realschulabschlüssen irgendwas zu unserer Gesellschaft beitragen kann. Muss sie ja auch gar nicht. Funktioniert doch auch so. Nur, dass nicht mehr alle so frustriert sind. Die Schüler nicht, weil sie sich nun mit den Dingen beschäftigen können, die Ihnen wirklich Spaß machen. Und die Lehrer werden zufriedener sein, weil sie nach einem Vormittag zwischen Pokern und Schal-Stricken mit interessierten Schülern glücklich nach Hause gehen können. Na, was halten Sie davon?«

»Klingt gut. Aber ich kann das gar nicht so recht glauben. Ab wann sollen denn diese Veränderungen kommen?«

»Meines Wissens gilt das ab sofort, äh, unverzüglich. Und nun gucken Sie nicht so entsetzt, Frau Freitag, gehen Sie erst mal schön nach Hause, nehmen Sie ein Bad, trinken Sie einen Tee und dann können Sie schon mal anfangen, ihre Unterrichtsmaterialien zu schreddern. Die brauchen Sie nicht mehr. Ach, und habe ich erwähnt, dass die Ferien verlängert werden? Um jeweils eine Woche. Das haben Sie sich verdient.«

Wenn ich so überlege, dann finde ich schon, dass ich ein Recht auf diese Arbeitserleichterungen hätte. Vielleicht sind wir Lehrer doch nicht für alles verantwortlich. Ist denn der Busfahrer dafür verantwortlich, wenn Herr Meier nicht in den Bus steigt, deshalb zu spät zur Arbeit kommt und dann seinen Job verliert? Die Schule ist eben keine Castingshow – oder doch? Wer trägt denn eigentlich die Verantwortung für das Gelingen und das Scheitern in diesem ganzen Wirrwarr? Ich kann doch nur Angebote machen. Ich kann doch nur den Tisch schön decken und lecker kochen, essen müssen doch die Schüler selbst, oder etwa nicht?

Wäre ich Frau D! Soost wäre alles leichter: »Das ist dein Traum. Du willst hier gewinnen. Du willst ein Teil von Popstars sein. Fang jetzt verdammt noch mal an zu arbeiten!« Ich möchte auch nach jeder Stunde einen Schüler aus dem Kurs rausschmeißen dürfen: »Tja, Samira, die anderen waren einfach besser als du. Dein Leben geht weiter, aber nicht hier.« Und dann könnten sie sich heulend in den Armen liegen und sich theatralisch verabschieden. Ich hätte auch feuchte Augen bei einigen, bei manchen würde ich innerlich hämisch grinsen.

So könnte mir das gefallen. Es gäbe auch nur zwei Gewinner am Ende. Nach einem Schuljahr zwei Schüler zum Realschulabschluss zu führen, das würde ich vielleicht noch hinkriegen. Und dann könnte ich am Ende mit stolzgeschwellter Brust den Siegern in den Armen liegen und mich feiern lassen.

Aber noch mal zum Busfahrer: Ich wäre schon schuld daran, wenn Herr Meier einsteigen will, um pünktlich zur Arbeit zu kommen, es aber nicht kann, weil ich mit meinem Bus Verspätung habe. Oder wenn ich eine ganz andere, nicht angegebene Strecke fahre. Aber ich wäre nicht für die Schwarzfahrer verantwortlich. Ich dürfte auch Leute von der Beförderung ausschließen, die sich im Bus nicht benehmen. Ich müsste niemanden zum Ziel bringen, der den Bus beschädigt oder mir die Scheiben mit dem Totschläger zertrümmert.

Ich würde jeden Tag stur meine Strecke abfahren, die Türen öffnen und schließen, ab und zu die Rampe rausholen und wer schön artig einsteigt, sich hinsetzt und benimmt, der wird von mir auch pünktlich ans Ziel gebracht. Und die anderen eben nicht. Wer gar nicht einsteigen will, der verrottet halt an der Haltestelle. Es könnte doch alles so einfach sein.

Wissen ist Macht

Und Macht macht echt Spaß. Heute habe ich ein herrliches Elterngespräch geführt. Also nicht direkt ein Elterngespräch, eher ein Mutter-mit-Übersetzerfreundin-Gespräch. Es ging um Abdul im Allgemeinen und seine Nichtleistungen im Besonderen. Die Mutter versteht zwar einigermaßen Deutsch, spricht aber nur Arabisch. Die Übersetzerfreundin-Tante – sie war auch schon mal die Cousine, bei den Verwandtschaftsverhältnissen der arabischen Großfamilien blickt keiner so richtig durch – ist jedenfalls immer dabei. Mutter mit Kopftuch, die Freundin sehr modern und sehr temperamentvoll. I love it! Immer wenn ich von Abdul erzähle, davon, was er alles macht, wenn ich von den schlechten Sachen berichte und davon, wie er die guten Sachen gar nicht erst versucht, dann liefern die mir eine Show, die sich gewaschen hat. Ich sage was, dann fragt die Tanten-Freundin nach, schüttelt entsetzt den Kopf und berichtet dann wild gestikulierend der Mutter. Die fuchtelt genauso aufgebracht mit den Armen rum und stimmt eine Art arabisches Klagelied an. Es wurde auch schon oft geweint.

Heute frage ich so zum Einstieg: »Und, hat Abdul was von unserem Ausflug erzählt? Dass wir bei dieser Organisation waren?«

Tante: »Ja ja, das hatte doch vier Euro Eintritt gekostet.«

»Nein. Das war umsonst.«

»Waaas? Kein Eintritt?« Arabisch, Arabisch, Arabisch. Mutter guckt mich mit weit aufgerissenen Augen an und wird auf Arabisch ganz wild.

Ich frage: »Hat denn Abdul gesagt, dass das Geld gekostet hat?«

»Ja, der hat gesagt vier Euro Eintritt. Und letzte Woche, der Ausflug, 3,50 Euro?«

»Neee, da waren wir Wandern, das war auch ohne Geld.«

Jetzt verengen sich die Augen der Tante und sie grinst, während sie alles der entsetzten Mutter übersetzt. Die weiß gar nicht mehr, was sie sagen soll, und schnappt nach Luft. Abdul kann sich freuen, wenn die beiden heute nach Hause kommen. Ich sage: »Na, Taschengeld braucht er ja jetzt erst mal nicht. Das kann ja jetzt verrechnet werden.« Dann geht es ihm weiter an den Kragen. Seine schlechten Zensuren. In mehreren Fächern Ausfälle. »Haben Sie denn den Brief nicht bekommen, den ich Ihnen geschickt habe?«

»Brief? La-a. La-a.«

Ich glaube, das heißt »nein«. Auch ohne Übersetzung wird klar, dass der Brief nicht bei seinem Adressaten angekommen ist. Dann reden wir eine Weile über Abduls mangelhafte Leistungen und seine enorme Faulheit. Minutenlang wird lamentiert und arabisch gejammert. Irgendwann schlage ich vor: »Sperren Sie das Internet! Bis Weihnachten, und es wird erst wieder angemacht, wenn er von jedem Lehrer drei positive Rückmeldungen hat. Schriftlich.« Das finden die beiden gut. Im Geiste sehe ich Abdul, wie ihm diese Hiobsbotschaft übermittelt wird. Draußen Dauerregen und kein Internet.

Wir sind alle zufrieden, und beim Verabschieden erinnere ich sie noch mal an die nicht erhobenen Eintrittsgelder. Und ich bekomme wieder diesen herrlich fiesen Enge-Augen-der-kann-was-erleben-Blick von der Tante. Als sie weg sind, fällt mir das schöne Penisbild von Abdul ein. Das hätte ihnen bestimmt gut gefallen.

Müssen denn alle ein Kopftuch tragen?

Letzte Woche hat mich in der zweiten Stunde der Schlag getroffen. Meine Klasse trödelt in den Raum, und plötzlich sehe ich Funda und traue meinen Augen nicht. Funda ist groß und hübsch. Eine Erscheinung. Mit Stolz und Selbstbewusstsein repräsentiert sie einen wichtigen Teil der Powermädchengang meiner Klasse. Das Schönste an ihr sind ihre Haare. Für diese dunkle Lockenpracht würde ich mit meinen immer dünner werdenden Spaghettihaaren glatt töten. Aber als Funda reinkommt, trägt sie ein rosa KOPFTUCH. Ich bin ja einiges an Verwandlungen gewöhnt, aber in diesem Moment bin ich geschockt wie selten. Ich möchte auf sie zu springen, an dem blöden Tuch reißen und schreien: »Was soll der Scheiß?« Sofort ist sie umringt von den drei anderen Kopftüchlerinnen. An dem Tuch wird anerkennend rumgezupft, und Funda genießt die Aufmerksamkeit. Die Jungen beobachten das Geschehen aus sicherem Abstand. Was sie von der Sache halten, erschließt sich mir nicht. Vielleicht denken sie: »Mama!«

Meine gute Laune ist weg. Schlecht gelaunt frage ich Funda nach der Tanz-AG, die sie seit einigen Monaten leitet. Sie sagt, dass sie nicht mehr tanzen würde. Ich frage entsetzt, warum. Sie sagt: »Wegen Kopftuch.«

Ich unterrichte eine dröge Stunde und eile in der Pause sofort ins Lehrerzimmer. Die Kollegen verstehen meine Aufregung nicht, denn ich meckere nur rum: Islamisierung, unglaublich, was soll das? Eine Scheiße ist das. Frustriert falle ich irgendwann in einen Stuhl, esse mein Brot, starre an die Wand und denke: Ich habe ja gar nichts gegen meine Kopftuchmädchen. Ich liebe sie, aber das geht jetzt zu weit. In der 9. Klasse das »Kopftuch nehmen«, was soll das? Nicht mehr tanzen – dabei war das ihr Leben. Was kommt jetzt? Heiraten, Kinder kriegen? Ich will nicht mehr. Vielleicht bekommt die Familie Geld dafür, dass sie ein Kopftuch trägt, das habe ich irgendwo mal gehört. Wie viel wird das sein?

Nach der Schule sehe ich Funda am Tor. Ich gehe auf sie zu, um noch mal mit ihr zu reden. Die Eltern schienen immer so liberal – ob die sie dazu gezwungen haben? Funda: »Meine Mutter holt mich heute ab.« Ich frage: »Sag mal, Funda, was soll das eigentlich, mit dem Kopftuch?«

»Ich hab so was an der Kopfhaut.«

Ich verstehe nicht.

»Also, keine Angst, Frau Freitag, ist nicht Krebs. Aber sie mussten das lasern und die haben alle Haare abgeschnitten. Und jetzt trage ich das Kopftuch, bis die wieder nachgewachsen sind.«

Und plötzlich sehe ich die abrasierten Haare am Rand. Jetzt kommt auch Fundas Mutter. Ich begrüße sie und merke, wie mir ein riesiger Stein von meiner schlechten Laune fällt.

»Mensch, Frau Öyioglu, ich war echt überrascht, als ich Funda heute sah.«

»Ja, es gab sehr viele Tränen gestern wegen der Haare.«

»Und ich dachte schon, na, Sie wissen schon …«

Fundas Mutter zeigt auf das Kopftuch und lacht: »Frau Freitag, das ist nicht unser Plan. Unser Plan ist das Abitur.«

Funda steht da und grinst. Ich könnte sie umarmen. »Mensch, Funda, da hast du aber Glück, dass du Moslem bist. Was würde ich denn machen, wenn sie mir meine Haare abrasieren? Funda, wie kurz ist das denn? Kann ich mal sehen?« Funda grinst verlegen und flüstert ihr typisches »Mann, Frau Freitag …«

Eine Klasse ohne graue Masse

Wenn ich die Schüler meiner Klasse, Funda, Samira, Abdul und die ganzen anderen, nicht so gerne hätte, wäre mein Beruf unerträglich. Nach einem längeren Gespräch mit Fräulein Krise bin ich wieder mal froh, dass ich meine und nicht ihre Klasse habe. Ihren Erzählungen zufolge hat sie ein Konglomerat aus Schrott zu unterrichten, das man getrost und unrecycelt entsorgen könnte. Klingt hart, aber wie die mit meinem hochgeschätzten Fräulein Krise umspringen, geht gar nicht. Die wissen dieses pädagogische Juwel einfach nicht zu schätzen.

Meine Klasse nervt aber auch total. Ununterbrochen labern sie, schreien, kommen zu spät, rebellieren gegen die Kollegen. Was bin ich eigentlich für ein Freak, dass ich sie trotzdem alle mag? Mein Freund sagte neulich: »Du hast da aber auch eine Persönlichkeitsdichte in deiner Klasse.« Und das stimmt, es gibt eigentlich nur zwei, von denen man eventuell den Namen vergessen könnte. Die anderen gehen einem täglich so auf die Ketten, dass man ihre Namen im Tiefschlaf buchstabieren kann und ihre Gesichter einem noch in der Mitte der Sommerferien vor den Augen tanzen.

Woran liegt das? Ist das Zufall? Warum haben andere Klassen diese graue Masse? Diese Haufen von Mädchen, die alle gleich aussehen und bei denen nur eine oder zwei den Ton angeben und die anderen folgen. Oft denke ich, dass ich jedem einzelnen zu viel Raum gegeben habe, um ihre schrägen, lauten, ausufernden Persönlichkeiten zu entfalten. Vielleicht hätte ich sie viel mehr deckeln müssen. Jetzt habe ich eine Klasse voller Selbstdarsteller, die die meiste Zeit vergessen, dass ich eigentlich der Chef bin. Zu Hause auf meinem Schreibtisch steht ein Bild von meiner Klasse, da stehen und sitzen sie so harmlos rum, wie der Fotograf es wollte. Aber wenn man näher rangeht, dann sieht man in jedem einzelnen Gesicht, dass sie zwar für eine Minute ruhig stehen, aber schon in der nächsten Stunde den Unterricht, den Lehrer und den Raum auseinandernehmen können. Wann stellt sich bei ihnen der Idealzustand ein? Ich habe nicht mehr viel Zeit. Die sind schon in der Neunten. Wann kann ich endlich die Früchte meiner Arbeit ernten? Oder bleiben sie giftige Beeren, die zwar gut aussehen, aber zum Tode führen? Habe ich einfach total falsch gearbeitet? Falsche Prioritäten gesetzt? Sollten guter Humor und eine nette Gemeinschaft nicht die obersten Unterrichtsziele einer Klassenlehrerin sein?

Gestern berichtete die Physiklehrerin, Frau Schwalle, die zwei Wochenstunden in meiner Klasse unterrichtet, von ihrem Unterricht. In der ersten Stunde hätten die Schüler sehr gut mitgemacht – das hörte ich zum ersten Mal seit Schuljahresbeginn. Während sie das sagte, gab sie mir eine Liste mit den Schülerinnen und Schülern, die gefehlt hatten. Ich dachte: Klar waren die gut. Die drei Queens hatten ja auch gefehlt. Allerdings wollte ich das Lob nicht gleich relativieren und sagte deshalb nichts. In der fünften Stunde hatte sie wieder meine Klasse, und da waren alle laut und wie immer. Irgendwann sagte Abdul: »Samira, heute morgen warst du nicht da, und da waren alle leise und haben gut mitgemacht.« Samira war sofort ein geschnappt und verließ den Raum. Nach fünf Minuten kam sie wieder. Die Klasse saß da – mucksmäuschenstill. Daraufhin rannte Samira wütend raus und kam gar nicht mehr zurück.

Ich kann mir diese Szene gut vorstellen. Schade, dass ich nicht dabei war, und schade, dass ich nicht der ganzen Klasse für diese Aktion eine gute Note auf ihren Zeugnissen geben darf. Und schade, dass ich mir meine Klasse nicht einfach nur im Fernsehen ansehen kann. Denn es ist ja nicht immer nur lustig bei uns in der Schule. Es kann ja auch wirklich krass sein. Zum Beispiel dann …

Wenn es Kampf gibt

Wenn es Kampf gibt, dann liegt was in der Luft. Wenn es Kampf gibt, dann wird getuschelt. Wenn es Kampf gibt, sind alle todernst, niemand lacht. Wenn es Kampf gibt, ist was los.

Wenn Mädchen kämpfen, schwelen Konflikte. Wenn Mädchen kämpfen, werden alte Sachen aufgekocht. Wenn es Kampf unter Mädchen gibt, dann weil die eine Scheiße labert, weil sie hinterm Rücken redet, weil sie Mütter beleidigt, weil sie uns sagt, wir seien die größten Bitches auf der Schule, weil sie mir Missgeburt und Hurentochter sagt.

Wenn Mädchen streiten, müssen sich alle einmischen, weil sie meine beste Freundin ist, weil ich sie zurückhalten wollte, weil sie mich auch beleidigt hat. Ich wollte nur mit ihr reden, warum sie so macht. Sie kennt mich doch gar nicht. Ich kenne diese Mädchen gar nicht. Warum erzählt sie so Scheiße über mich? Ich wollte nur reden, sie hat mir eine geklatscht. Sie hat mir Schelle gegeben. Ich habe ihr nur ein Box verpasst. Ich wollte keinen Streit. Ich wollte nur reden. Warum hat die sich eingemischt. Die hatte gar nichts mit der ganzen Sache zu tun.

Wenn es Kampf gibt, dann in der Pause. Kampf ohne Zuschauer gibt es nicht. Kampf magnetisiert, alle stehen außen rum und schreien: »Kampf, Kampf, Kampf!«

Die eine stand da und hat auch zugetreten, die hatte gar nichts damit zu tun. Wir wollten nur reden, dann hat sie meine Haare gezogen. Ich wollte nur meine Freundin helfen.

Wenn es Kampf gibt, sitze ich stundenlang mit der Schulleitung zusammen. Je mehr man hört, umso verwirrender wird alles. Wenn es Kampf gibt, dann wollten alle nur schlichten, und ein Mädchen liegt weinend im Krankenhaus.

Körperliche Auseinandersetzungen finden meistens in den großen Pausen auf dem Hof statt, während wir Lehrer gemütlich bei Kaffee und Salamibrötchen über unsere Rückenschmerzen klagen oder vom Urlaub erzählen. Leider kann man aus dem Lehrerzimmer direkt auf den Hof gucken. Ab und zu kommt es dann eben vor, dass sich plötzlich eine riesengroße Menschentraube bildet. Alle Schüler rennen dann dorthin. Ich denke immer: Vielleicht machen die ein Breakdancebattle und stehen nur um die Tänzer rum.

Wer die Schülermasse zuerst sieht, muss auch handeln: »Oh, da braut sich was zusammen.« Einige Kollegen lassen sich nie aus der Ruhe bringen: »Ich hab Pause.« Als Klassenlehrer betet man sofort: Bitte, lass es nicht Mehmet sein oder Abdul, bitte, lieber Gott, mach, dass Samira den Streit von neulich bereits friedlich mit den Mädchen aus der Parallelklasse geklärt hat.

Und dann gehen wir raus. Gemeinsam mit den Kollegen, die auf dem Hof Aufsicht haben, nähern sich von allen Seiten die Lehrkörper. Einige Schüler weichen bereits bei unserem Anblick zurück. Aus Erfahrung wissen sie, jetzt ist die Action gleich vorbei. Dann geht man in die Schülermasse und sieht entweder in sich verknotete Kämpfer auf dem Boden oder zwei Kontrahenten, die sich mit wutverzerrtem Blick Gemeinheiten entgegenschleudern: »Ich bring dich um!« – »Warte nur bis nachher, ich hole meine Brüder und Kusengs!«

Festgehalten werden die beiden Kämpfer von ruhigen, starken Tonangebern. Klassenchefs, die Autorität haben auf dem Hof. Diese Schüler wissen genau, wann sie die Kämpfenden auseinanderzerren müssen. Sie gucken sich den Kampf eine Weile an, und wenn es zu brutal wird oder wenn sich Lehrer nähern, dann trennen sie die Streitenden voneinander.

Sobald wir Lehrer die Kontrahenten erreicht haben, klären wir, wer in den Konflikt verwickelt war. Ob es Verletzte gibt und so weiter. Wir nehmen die Beteiligten mit, manchmal auch ein paar Zeugen und gehen mit ihnen ins Sekretariat. Damit ist für die anderen Schüler die Sache beendet, und sie erinnern sich daran, dass in der Zwischenzeit bereits der Unterricht begonnen hat.

Findet man die armen Klassenlehrer der Beteiligten, übergibt man die Kampfhähne und freut sich, nichts weiter mit der Sache zu tun zu haben. Ist man selbst der Klassenlehrer, verflucht man dieses Amt und schwört sich, dass man nie wieder eine Klasse übernehmen wird, denn dann folgen für einen noch endlose Befragungen, Telefonate mit Eltern, mit der Polizei, man muss Aktennotizen anfertigen und Zeugenaussagen aufschreiben. Das kostet viel Kraft und frisst jede Pause und Freistunde.

Und das Schlimme: Die, die sich gestern noch geschlagen haben, sieht man am nächsten Tag wieder lachend gemeinsam über den Hof schlendern.

»Es gibt doch auch noch andere Sachen«

Da die meisten Pausen bei uns aber eher friedlich verlaufen, hat man im Lehrerzimmer immer die Gelegenheit zum kleinen Plausch. Vor ein paar Tagen habe ich mich mit einer neuen Kollegin unterhalten – man könnte schon fast Junglehrerin sagen, sie ist unter 50. Sie so und ich so, und sie dann wieder, und ich dann: »Echt?« Und sie: »Ja, voll!« Und ich: »Äh?« Und dann hat es geklingelt, ich bin in den Unterricht, sie auch, aber ich musste noch lange über unser Gespräch nachdenken.

Sie sagte nämlich irgendwann: »Es gibt ja auch noch ein Leben nach der Schule.«

Was meint sie? Ich gucke zum älteren Kollegen, der müde in seinem Kaffee rührt. Würde er nicht rühren, könnte er auch tot sein.

Ein Leben nach der Schule? Klingt wie Ausländisch. Was will sie damit sagen?

Sie fröhlich: »Ja, es gibt doch noch die eigenen Kinder, Lesen, Verreisen, Garten, Origami, Theater, Kino, Makramee, Musik, Freunde.« Sie hört gar nicht auf, mir Dinge aufzuzählen, die mir irgendwie bekannt vorkommen, die aber in meinem Alltag so gut wie gar nicht mehr auftauchen.

Ein Leben neben oder nach der Schule – was soll das sein? Telefonate mit Fräulein Krise und Analysen mit Frau Dienstag? Wenn ich nach der Arbeit kopfüber noch mal so richtig tief in das Schulerlebte eintauche und in den Vormittagsereignissen bade? Lesen? Zählen da auch schon die Englischarbeiten der 8c zu? Verreisen – meint sie Klassenfahrt? Wie kann denn diese Frau noch leben – sie ist doch Lehrerin, und außerdem noch ganz neu an der Schule. Die muss sich doch vor- und nachbereiten und nachts von allem träumen. Darf die das? Privatleben haben? Jetzt schon?

Als ich anfing, war ich fleischgewordenes Unterrichtsmedium. Menschlicher Fortsatz des Overhead-Projektors. Ein Teil der Tafel. Wenn ich nicht im Unterricht war, dann habe ich ihn vorbereitet oder darüber gesprochen, und ehrlich gesagt hat sich daran auch noch nichts geändert. Auf meiner Stirn steht: Lehrerin! Bräuchte da aber gar nicht zu stehen, denn jeder erkennt meinen Beruf an meiner Kleidung, meiner Mimik, Gestik und an jedem Wort, das meine Lippen verlässt. Dafür werde ich bezahlt, ich bekomme doch auch in den Ferien Geld. Deshalb muss ich doch auch in den Ferien Lehrerin sein. Ich bin immer mein Beruf. Immer im Dienst. In der Schule und vor allem außerhalb der Schule. Ich maßregele jedes Kind und jeden Jugendlichen auf der Straße. Wirft jemand Müll neben den Papierkorb, zwinge ich ihn, den Abfall aufzuheben, und halte einen kurzen knackigen Vortrag zum Thema Normen und Werte, fachübergreifend mit Elementen aus dem Umweltschutz.

Also, ich bin immer Lehrerin und ich kann mir das auch gar nicht anders vorstellen. Ich bin doch auch immer Frau. Privatleben ist mir fremd und unheimlich. In meinem Freundeskreis habe ich ja auch nur Lehrer. Niemand in meiner Familie ist nicht Lehrer. Ich dachte immer, dass es allen Kollegen so geht. Und da kommt diese Junglehrerin, gerade mal ein paar Monate dabei, und erzählt mir was von Hobbys und anderen Interessen …

Ich habe bis zur nächsten Pause gewartet und mich dann aber doch für das einzig Richtige entschieden. Ich bin zur Schulleitung und habe denen alles erzählt. Privatleben! Pah, wo kommen wir denn da hin? Wenn das jeder hätte …

Schon wieder ein Neuer

Ich bin ganz aufgeregt. Am Montag kommt noch ein neuer Kollege. Hoffentlich ist das nicht auch wieder so einer mit außerschulischen Interessen. Er wird auch in meiner Klasse unterrichten. Ein Neuer! Unbefristet, dauerhaft, für immer eingestellt. Ein Mann! Ich frage im Lehrerzimmer rum: »Hast du den schon gesehen?« Die Kollegen wissen mal wieder gar nichts. Keinen einzigen von denen hätte ich für meine Stasitruppe ausgewählt. Neugier fehlt denen völlig. Ich frage den Schulleiter: »Herr Kaleu … es kommt ja ein neuer Kollege. Wann fängt der an? Nächste Woche?« Es soll ganz beiläufig klingen.

Er nur: »Ja.«

»Und, haben Sie den schon kennengelernt?«

»Frau Freitag, ich habe den doch eingestellt.«

Ich möchte endlich meine Frage beantwortet kriegen: Sieht der gut aus? Gutaussehende Kollegen sind an meiner Schule ziemliche Mangelware. Extreme Bückware, könnte man auch sagen. Gutaussehende Kolleginnen gibt es wie Sand am Meer. Das finden auch die Schüler: »Ihr habt nachher bei Frau Müller.«

Ahmet: »Frau Müller? Ist das die geile Blonde?«

Aber noch nie habe ich so was über einen Kollegen gehört. Ich möchte, dass meine Schülerinnen sich verliebt in der ersten Reihe drängeln und dem Kollegen an den Lippen hängen. Sie sollen immer und dauernd die Hausaufgaben machen, damit er sie bei der Rückgabe derselben anlächelt: »Gut gemacht, Samira.« Dann soll er die Jungs beim Rausgehen abklatschen: »Und baut keine Scheiße.« – »Wir doch nicht, Coach«, sollen sie rufen. Ich will begeisterte Erzählungen aus seinem Unterricht hören: »Bei Herrn Blabla macht es voll Spaß!« – »Ja, vallah, der is krass mies.« (»Mies« ist der Superlativ von »gut«.) – »Ja, Beste, ich schwör!« Und dann soll er ins Lehrerzimmer schweben, gute Laune versprühen und jeder älteren, ach, was sag ich, jeder Kollegin Komplimente machen: »Frau Schwalle, Sie sehen aber heute entzückend aus.«

Mit Komplimenten gehen die Kollegen untereinander höchst sparsam um. Ich höre nur ab und zu: »Du siehst aber schlecht aus, bist du krank?« Oder: »Was ist denn mit dir los, hast du heute schon in den Spiegel geguckt?« Allerdings erinnere ich mich an eine Begebenheit vor etwa vier Jahren. Ich ging zum Lehrerzimmer und kam an einigen älteren Schülern vorbei, die ich noch nie gesehen hatte: »Frau Freitag, wollten Sie mal Model werden?« Ich bleibe wie angewurzelt stehen: »Jungs, ach, das ist ja … You made my day!« Und schon waren meine Schritte leichter, ich tänzelte ins Lehrerzimmer und erzählte jedem davon.

Ich setze meine ganze Hoffnung auf den neuen Kollegen: »Sabine, was schreibst du denn Samira da auf die Augenlieder?« Samira ganz aufgeregt: »Gucken Sie!« Sie schließt die Augen, da steht LOVE und auf dem rechten Lid YOU! »Wir haben gleich bei Herrn Blabla. Dem neuen Lehrer.«

Dann soll der Schulleiter zu mir kommen: »Frau Freitag, Herr Blabla wird ihr neuer Stellvertreter. Der kommt auch mit auf die Klassenfahrt.« Ich sage betont gleichgültig: »Okay«, und denke sofort: Ach, wir können doch auch ein Doppelzimmer nehmen, dann kann Justin in ein Einzelzimmer, mit dem will sowieso niemand zusammenwohnen, weil er stinkt und klaut.

Abends sitzen wir dann auf der Terrasse bei Wein und Zigarren, lauschen dem Schnarchen der lieben Kleinen und genießen die toskanische Sommernacht. »Ach, Frau Freitag, ich muss schon sagen, wie Sie die Klasse im Griff haben – meine Hochachtung. Von Ihnen kann ich noch viel lernen.« Ich erröte schweigend.

Nur noch dreimal schlafen, dann lerne ich den Supertypen kennen.

Aber halt, was ist, wenn ihn die Schüler gar nicht so toll finden, wie ich hoffe? »Wir wollen nicht bei Herrn Blabla haben, der hat Mundgeruch!« – »Der starrt den Mädchen auf den Arsch, ich schwöre.« – »Nein, ich schwöre, das macht der bei den Jungs. Der ist schwul.« – »Wir wollen keinen schwulen Lehrer. Meine Mutter sagt auch, dass schwule Lehrer nicht unterrichten dürfen.« – »Der ist Jude.« – »Ich schwöre, der ist aus Judistan, da sind die alle so scheiße. Mein Bruder hat auch gesagt …« – »Lass mal zum Schulleiter gehen, so einer darf hier gar nicht unterrichten …«

Nein, nein, nein!!! So wird das nicht. So darf das nicht werden. So war es in den letzten zwei Jahren dauernd. Mir reicht das jetzt! Ich will einen jungen, talentierten, gutaussehenden, durchtrainierten, charmanten, hilfsbereiten, aufregenden, humorvollen, teamfähigen …

»Ja, werden Sie denn nicht pädagogisch tätig, wenn jemand einen Lehrer, den er nicht mag, als Einwohner von Judistan bezeichnet?«

Ich sage es mal ganz direkt: Arabische Schüler, aber auch türkische und eigentlich mittlerweile alle benutzen »Jude« als Schimpfwort. Dementsprechend ist die Unterstellung, jemand würde aus dem Fantasieort Judistan kommen, auch eine Beleidigung.

»Ja, passiert denn da nichts gegen? Machen die Lehrer da nichts gegen? Was ist mit den pädagogischen Konsequenzen?«

Als ich zum ersten Mal mitbekam, wie ein Schüler zu einem anderen »Jude« sagte, dachte ich ziemlich naiv, ich hätte mich verhört, und fragte deshalb nach. In den letzten Jahren habe ich unterschiedliche Reaktionen gezeigt. Hier eine kleine Auswahl:

1. Möglichkeit: Das Wörtlichnehmen

Einer macht oder sagt irgendwas, was einem anderen nicht gefällt. Reaktion: »Lass das, du Jude.« Ich dann: »Warum sagst du ›Jude‹ zu ihm?«

»Weil er meine Stifte runtergeschmissen hat.«

»Aber er ist doch gar nicht jüdisch.« An den anderen Schüler gewandt: »Du bist doch Moslem, oder?«

»Ja.« Beide Schüler sind verwirrt.

»Warum sagst du dann nicht: ›Lass das, du Moslem‹?« Das alles in einem warmen pädagogisch wertvollen Tonfall. Man redet so lange weiter, bis die Schüler sich genervt abwenden: »Ja, ja, schon gut.« Diese Methode zeichnet sich durch eine extrem kurze Nachhaltigkeit aus. Sie hält genau bis zum nächsten Konflikt.

2. Möglichkeit: Das direkte Gespräch

Man beobachtet in einer Lerngruppe, dass ein Schüler oder eine Schülerin ständig »Jude« als Beschimpfung benutzt. Nach dem Unterricht geht man zu ihm oder ihr und sucht das erzieherische Gespräch:«Sag mal, Ahmet, ich habe beobachtet, dass du immer ›Jude‹ zu deinen Mitschülern sagst. Warum tust du das?«

»Weil die stressen.«

»Okay, aber warum sagst du dann ›Jude‹? Hast du etwas gegen Juden?«

»Ja, die sind alle scheiße.«

»Kennst du denn jemanden, der einen jüdischen Glauben hat?« Reaktion: Der Schüler kennt natürlich niemanden. »Was hast du denn gegen Juden?«

»Die haben unser Land weggenommen und Krieg gemacht.«

»Aber das waren doch nicht alle Juden. Du meinst die Israelis.«

»Na gut, dann eben die Israelis.«

»Und das waren auch nicht alle israelischen Leute, sondern die Politiker. Also könnte man sagen, du hast etwas gegen die Entscheidungen der israelischen Politiker.«

»Ja.«

Diese Methode hört sich toll an, ist aber genauso wirkungslos wie die erste.

3. Möglichkeit: Allianz mit den Kollegen

Beim Studientag sah ich meine Chance. Es sollte im weitesten Sinne um Unterrichtsstörungen gehen, und natürlich ging es die ganze Zeit um das unmögliche Verhalten unserer Schülerschaft. Irgendwann brachte ich das Thema Antisemitismus in die Diskussion ein. »Und das Krasseste ist doch wohl, dass die Schüler sich gegenseitig mit ›Jude‹ beschimpfen!« Die Kollegen gucken mich an. Schweigen. Ein Kollege: »Echt? Also, das ist mir noch nicht aufgefallen.« Ein anderer: »Mir auch nicht.« Ich glaub, ich spinne.

Dann aber der Erdkundelehrer: »Doch, doch, das stimmt, was Frau Freitag sagt.« Ich beruhigt. Er dann aber: »Ja, das machen die in deiner Klasse. Da habe ich das auch schon mal gehört.«

»Wie jetzt, das soll nur bei mir so sein? Und ihr habt das noch nie gehört? Rainer, bei dir in deiner Klasse sagen das Ahmet, Momo und Emre. Gabi, bei dir Kevin, Zeynab und Esra …«

Rainer: »Echt? Ist mir noch nie aufgefallen.«

Gabi: »Na, wie auch immer, was ist jetzt mit dem Zuspätkommen, lasst uns mal weitermachen, sonst werden wir heute nie fertig.«

Ganz recht, das ist die bisher schlechteste Methode gewesen.

4. Möglichkeit: Die natürliche Reaktion

Es heißt doch immer, der Lehrer soll authentisch bleiben. Bei dieser Methode zeige ich mich als total authentische Lehrkraft, denn ich reagiere so, wie ich eben reagiere.

Ausgangssituation wie immer, dann sagt einer: »Du Jude.« Auftritt Frau Freitag. Ich hole tief Luft und schreie in maximaler Lautstärke los: »WAS HAST DU DA GERADE GESAGT? ›JUDE‹? GEHT’S NOCH? WAS BILDEST DU DIR EIN?«

Der Wortlaut ist eigentlich egal. Das totale Ausflippen ist wichtig. Die Lautstärke und die Aggressivität, gemischt mit absoluter Empörung, als hätte man diese Art der Beleidigung zum ersten Mal gehört.

Die Schüler waren geschockt. Sagten gar nichts mehr. Irgendwann fragte mich dann einer leise: »Frau Freitag, sind Sie Jude?«

Ich dann, immer noch schreiend: »NEIN, ICH BIN E-V-A-NG-E-L-I-S-C-H, ABER AUCH WENN ICH VOM MARS KÄME, WÜRDE ICH DAS HIER NICHT DULDEN.« Und dann noch als kleines Bonbon: »Hier wird ›Jude‹ nicht als Schimpfwort benutzt, wir sagen hier auch nicht ›Kanacke‹, ›Polacke‹, ›Paki‹, ›Zigeuner‹ oder ›Nigger‹! VERSTANDEN?«

Diese Methode verhindert wenigstens, dass die Schüler, die das miterlebt haben, sich in meiner Gegenwart noch mal mit »Jude« beschimpfen.

5. Möglichkeit: Anzeige wegen Volksverhetzung

Als ich meine Klasse bekam, beschimpften sie sich ständig mit »Jude«. Nachdem ich die gerade beschriebenen, doch recht wirkungslosen Methoden angewendet hatte, überlegte ich mir was Neues. Ich druckte den Schülern den Paragraphen über Volksverhetzung aus, las ihn inklusive des Strafmaßes emotionslos vor und stellte folgende Regel auf: Wenn jemand noch einmal »Jude« als Schimpfwort benutzt, gibt es ein Gespräch beim Schulleiter und die Eltern werden informiert. Sollte es ein weiteres Mal vorkommen, stelle ich bei der Polizei eine An zeige wegen Volksverhetzung. Emotionslos, sachlich und mit einem Gesichtsausdruck, der keine Zweifel zuließ.

Was passiert ist? Schlagartig haben die Schüler angefangen, sich nur noch mit anderen Ausdrücken zu beleidigen. Rutscht einem Schüler doch noch aus Gewohnheit ein »Ju-« aus dem Mund, halten die anderen sofort die Luft an. Ich ziehe dann nur eine Augenbraue hoch und fixiere den Schüler, der sich sofort in Entschuldigungen windet: »Tut mir leid, tut mir leid, wollte ich nicht, mach ich nicht wieder. Schwöre, vallah, in escht.«

Was mich neben dem Antisemitismus meiner Schüler noch stört, ist die Lautstärke. Manche Schülerstimmen haben eine unerträgliche Frequenz, Tonlage Folter. So auch alle Mitglieder der Familie El-Lachma. Die Familie hat gefühlte hundert Kinder, alles Söhne, alle mit unerkanntem und deshalb unbehandeltem ADHS (falls jemand ADHS nicht kennen sollte: so dermaßen nerviges Zappelverhalten, dass man sich vergessen möchte), und in jeder Klasse scheint ein Sohn der El-Lachmas zu sitzen. Heute in der zweiten Stunde hatte ich bereits das Vergnügen mit dem ältesten Sohn – der ist mittlerweile recht vernünftig, schreibt nur immer die Hausaufgaben ab. Und gerade hatte ich eine Doppelstunde mit dem Kleinsten, Yusuf.

Wahrscheinlich hat er in der Schule und zu Hause das Problem, dass ihm keiner zuhört und sich keiner mit ihm beschäftigt. Von der Sekunde an, in der er den Raum betritt, bist du von ihm genervt. Er kann keine Minute die Klappe halten. Vielleicht hat er auch eine Schilddrüsenüberfunktion, allerdings vermute ich, dass er einfach nur den Plan verfolgt, mich in den Wahnsinn zu treiben. Aber auf dem direktesten Weg. Und ich doofe Kuh gehe auch noch voll drauf ein. Liefere mir mit ihm jede Stunde Wortgefechte, die man hier gar nicht wiedergeben kann.

Das Harmloseste ist noch die Frage, ob er wahlweise ein Radio, einen Clown oder ein Tier verschluckt hat. Manchmal bellt er, heute machte er Vogelgesänge nach. Er kann auch nur schlecht rappen. Alles, was er macht, regt mich auf.

»Yusuf, was ist mit dir? Welche Krankheit ist das? Was hast du?«

»Ich weiß nicht? Vielleicht Diabetes?«

»Du weißt doch gar nicht, was Diabetes ist! Du musst zum Logopäden«, ich stocke kurz, habe ich Logopäde gesagt? Ich wollte sagen, dass er Logorrhoe hat. Aber die Schüler wissen eh nicht, was das ist, und da kann ich sein Dauergequatsche auch ruhig als ›Logopädie‹ bezeichnen. »Ja, du hast LOGOPÄDIE.«

»Immer ich, Sie meckern immer nur mich an. Gucken Sie, die anderen quatschen doch auch.«

»Die anderen gehen mir aber nicht so auf die Ketten wie DU! Deine Stimmlage macht mich verrückt. Willst du mir sagen, dass du hier nicht die ganze Zeit störst?«

»Doch, aber die anderen …«

»Siehst du, schon wieder quatschst du. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen. Halt doch endlich mal die Backen!« Ein paar Sekunden Ruhe, dann wieder Vogelgeräusche. Ich wende mich ab und wische die Tafel. Runterkommen! Runterkommen! Nicht so aufregen, du machst dich doch voll lächerlich. Uahhh, jetzt singt er auch noch.

Ich schleiche mich wieder zu ihm, diesmal von hinten. Und schreie ihm ins Ohr: »SEI DOCH MAL LEISE!« Er zuckt erschrocken zusammen. »Aua, mein Ohr. Mir platzt ja das Trommelfell.«

»Und ich hab schon einen Tinnitus von deinem ewigen Gelaber und Rumgeschreie.«

»Aber Frau Freitag, ich bin doch Araber. Haben Sie nicht gesehen, bei Kaya Yanar? Wir Araber sind so laut.«

»Aber Yusuf, es gibt doch auch leise Araber.«

»Ja, aber das sind dann wahrscheinlich Ägypter. Wir sind ja Palästinenser.« Gut, dass er es sagt, wäre ich im Leben nicht drauf gekommen. »Yusuf, aber nicht alle Palästinenser schreien ständig so rum oder bellen.«

»Hmm«, er denkt nach, »vielleicht kommt das auch von zu Hause.«

»Ja, könnte sein«, antworte ich, etwas netter.

Als Geste der Versöhnung lasse ich ihn die Arbeitsmaterialien, die ich ausgegeben habe, einsammeln und lobe ihn, dass er in den letzten drei Minuten des Unterrichts etwas ruhiger war. Irgendwie ist er ja auch süß, auf seine Art. Wenn man ihn fermentieren könnte, gäbe er ein super Blutdruckmittel ab.

Es gibt keine Ausländer in Deutschland!

Meine Schüler sind für mich Deutsche. Alle! Auch Blutdruck-Yusuf. Hier geboren, nicht hier geboren, geduldet, mit Pass, ohne Pass, befristet, unbefristet, und hätte ich Illegale, dann wären auch die Deutsche für mich. Ich unterrichte keine Ausländer! Ich bin keine Ferienschule, wo Ausländer im Sommer Spanisch lernen und dann wieder in ihr Inland fahren. Alle, die hier wohnen und die hier zur Schule gehen, sind für mich meine Schüler, und ich unterrichte an einer deutschen Schule, dann sind die Schüler für mich Schüler einer deutschen Schule, also deutsche Schüler. Was für eine Religion die haben, ist mir persönlich egal. Wo die Großeltern mal gewohnt haben auch. Wir hatten in der Grundschule ein Mädchen in der Klasse, die kam aus Ostfriesland. Und hieß die Schülerin mit ostfriesischem Hintergrund?

Nach wie vielen Generationen darf ich denn meine Schüler offiziell als deutsche Schüler bezeichnen? Ja, sie sprechen schlecht Deutsch. Ja, sie sind (fast) alle hier geboren. Die, die nicht hier geboren sind, sprechen noch am besten Deutsch. Und die Schüler ohne Migrationshintergrund, also diese »Blutsdeutschen«, sprechen genauso schlecht wie ihre Mitschüler.

Wir haben an den Schulen ein Schichtenproblem und kein Migrantenproblem. Ich kann es nicht mehr hören: Die – wir. Die Deutschen – die Ausländer. Migranten – Nichtmigranten. Und dann immer dieser berühmte »Hintergrund«. Reden wir doch mal über den Vordergrund! Und da ist es doch schnurzpiep-egal, warum die schlecht Deutsch sprechen. Sie tun es einfach, und man sollte nach vorne sehen und überlegen, wie man das ändern kann. Meiner Meinung nach tun wir den Schülern keinen Gefallen, wenn wir sie als inzwischen vierte Generation, die hier geboren wurden und die das Herkunftsland ihrer Eltern höchstens aus dem Urlaub kennen, immer noch als Ausländer titulieren. Mich befremdet das und ich will das nicht. Das entfernt mich von den Schülern. Ich fühle mich ehrlich gesagt immer ausgeschlossen, wenn sie von sich als Ausländern sprechen. Wir wohnen doch alle hier, im selben Land – und leben fast alle von den Steuergeldern, die hier in diesem Land bezahlt werden.

Es ist echt an der Zeit, dass man sich von Begriffen wie »Ausländer«, »ausländische Schüler« und auch diesem ganzen Hintergrundskram verabschiedet. Okay, bei Lehrerzumessungen kann das noch eine Rolle spielen, aber im Umgang mit den Schülern muss es echt egal sein, wo der Opa herkommt. Wie würden sich denn die Kollegen fühlen, wenn es hieße: »Na ja, die hat die Klasse nicht im Griff, die Oma kommt ja auch aus Bayern. Aus einem bayerischen Dorf …«

Der dicke Dirk

Ach, herrje, diese Montage … Sagte ich schon, wie schön ich das finde, dass man mir erst eine Doppelstunde in einer 8. Klasse und dann noch eine Doppelstunde in der 7. Klasse verordnet hat? So viel Zutrauen in meine pädagogischen Fähigkeiten macht mich jeden Montag aufs Neue glücklich. Man gibt mir diese schwierigen Klassen. Man muss viel von mir halten.

Vor lauter Glück schleppe ich mich jeden Montagnachmittag völlig ermattet nach Hause und kann gerade mal noch an meinem Kaffee schlürfen. Aber auch nur, wenn er mir gereicht wird.

Ist es eigentlich eine biologische Notwendigkeit oder eine göttliche Fügung, die sich so äußert: »Ihr Siebtklässler, seid nicht wie Menschen! Benehmt euch wie tollwütige Hunde! Und solltet ihr in die Nähe von Unterricht kommen – zerstört ihn!«

Mein Unterricht in der siebten Klasse erstreckt sich von der Stunde vor der Mittagspause bis in die Stunde nach der Mittagspause. Der dicke Dirk muss schon in der ersten Stunde – also vor der Pause – ziemlich lange vor der Tür stehen, weil er seinen Mund einfach nicht halten kann. In seiner Abwesenheit versuche ich die Kunstaufgabe zu erklären. Es geht um Farbe.

»Was sind denn wohl die Grundfarben?«, frage ich und lasse jeden mal zu Wort kommen. Jeder darf drei Farben nennen. Ich höre: rot, grün, schwarz, blau, weiß, braun und sogar bunt. Die nächsten zwanzig Minuten erarbeiten wir gemeinsam, was die Grundfarben sind. Na ja, ich lenke, ich zerre sie in die richtige Richtung.

Nach einer weiteren Viertelstunde habe ich mehrere Kugelschreiber, zwei Gummibänder, eine Colaflasche und einen Spiegel auf meinem Schreibtisch liegen, den dicken Dirk vor der Tür stehen, keine Stimme mehr, aber auch zwei herrliche Sätze an der Tafel: Grundfarben sind Farben, die sich nicht mischen lassen: rot, gelb und blau. Und: Alle anderen Farben kann man mit den drei Grundfarben mischen. Unterricht wie aus den 50er Jahren. Vor lauter Lebensweltbezug können sich die Schüler nur noch schwer am Platz halten.

Dann ist Pause und alle hauen endlich ab auf den Hof. Ich wiederhole mein übliches Mantra vor dem Klingeln: »Nehmt euer Essen mit! Nehmt eure Getränke mit! Vergesst eure Jacken nicht!« Dann ist endlich Ruhe. Aber schon nach 40 Minuten kommen sie wieder. Aufgeputscht von ihren seltsamen Pausenaktivitäten. Meistens rennen sie rum und hauen sich.

Nach der Pause kommt auch der dicke Dirk wieder rein, setzt sich aber nicht auf seinen Platz, sondern ganz nach hinten zu Mohamad. Und mit Mohamad tuschelt er rum, und ich sehe, dass sie da irgendwas haben, irgendwas, was sie wahrscheinlich nicht haben sollen. Ich gehe zu ihrem Tisch und sehe zwei große weiße Papiertüten mit sehr fettigem Inhalt, denn die Tüten haben überall durchsichtige Fettflecke. Mein Adrenalin steigt: FETT! In meinem Raum, auf meinen Tischen! Eine Todsünde! Ich öffne die eine Tüte mit dem Zeigefinger, um den Inhalt genauer zu inspizieren – BÖREK! Die zweite Todsünde. Nach den Frau-Freitag-Gesetzen, die sich an der Scharia orientieren, steht auf Börek mindestens ein Tobsuchtsanfall. Dirk guckt mich etwas schuldbewusst an: »Ich hab voll Hunger.«

»Dirk, du hattest 40 Minuten Zeit zu essen, du wirst hier jetzt nicht essen!«, zische ich durch die Zähne. Mohamad nimmt sofort seine Tüte und stopft das fettige Ding in seinen Rucksack. Dirk nicht. Er greift in die Tüte, reißt sich ein Stück von der Kalorienbombe ab und schiebt es sich in den Mund. Jetzt reicht es mir.

»DIRK! Entweder du packst diesen Scheiß sofort weg und fängst an zu arbeiten, oder du kannst den Raum verlassen, bekommst eine Sechs für die Stunde und deine Klassenlehrerin wird anschließend sofort informiert.«

»Ich hab Hunger, ich muss essen!«, windet sich Dirk. Ich schicke ihn wieder raus. Sein Börek nimmt er mit.

Nach zehn Minuten scheint er satt zu sein und will wieder rein.

»Nein, du bleibst jetzt draußen.«

»Aber ist langweilig hier.«

»Ist mir egal«, sage ich und schließe die Tür vor seiner Nase.

Etwas später gehe ich noch mal zu ihm: »Dirk, jetzt mal unter uns …du siehst nicht gerade aus, als würdest du verhungern, wenn du nichts isst.« Dirk ist total übergewichtig. Und bei der Statur so einen Börekaufstand zu machen, das ist für Dicke echt untypisch.

»Dirk, du hattest 40 Minuten Zeit, etwas zu essen.«

»Nein, ich hatte keine Zeit.«

»Wieso denn nicht?«

»Ich musste einen Kampf gucken.« Ich schüttele nur den Kopf und schließe die Tür wieder vor seiner Nase.

Drinnen warte ich auf das Ende der Stunde, stürze mich in das Aufräummanöver, spiele mit den Schülern in den letzten Minuten noch Vier-Ecken-Raten, damit sie meinen barschen Ton während des Saubermachens wieder vergessen, und irgendwann werden wir alle vom Klingeln erlöst.

In meinem Raum darf einfach nicht gegessen und getrunken werden, weil die Schüler ihren Eistee immer umschmeißen und ich keine Börekkrümel auf den Tischen haben möchte. Alle Schüler, die bei mir Unterricht haben, wissen das. Auch der dicke Dirk. Trotzdem kommt es ab und zu doch wieder anders.

Neulich in einer Klasse von – na ja, sagen wir – leicht minderbemittelten, aber schon älteren Schülern packen zwei zu Beginn der Stunde als Erstes ihre Trinkpäckchen aus. Wie ich diese Dinger hasse. Die sind mir ein Dorn im Auge, denn es spritzt immer was von diesem wässrigen Gesöff auf die Tische und verklebt alles. Noch schlimmer ist nur Eistee in 1,5-Liter-Packungen, der ständig umfällt und eine noch größere Schweinerei verursacht. Jedenfalls will Ahmet gerade den Strohhalm durchpieken, da fliege ich schon über die Tische, schreie »NEIN!« und entreiße ihm die Packung. Ich stelle sie auf das Regal hinter meinem Schreibtisch. Eigentlich ein sehr sicherer Ort, der für jeden unter zwanzig tabu ist. Ich denke: Super – Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. Aber eine halbe Stunde später ist die Packung Orangensaftersatz weg, und ich finde sie leer neben dem Papierkorb. Mist. Wie konnte das passieren? Weil ich diesen Kriminalfall nicht lösen kann, da ich nichts mitbekommen habe, schmeiße ich unauffällig die Packung in den Papierkorb und tue so als, wäre nichts geschehen. Innerlich bin ich schon leicht überhitzt.

Kriminalistisch hellwach sehe ich, dass der Partytisch eine Runde Bonbons verteilt. Aha, diese grünen, die schmecken genauso wenig wie dieser Schrottorangensaft. Mal sehen, wo das Papier nachher landet. Jedenfalls weiß ich jetzt schon, wer das Papier später aufheben wird. Diesmal nicht ich!

Der King in dieser Lerngruppe, Ali (Zitat: »Ich bin Pablo Escobar, ich kann das Papier nicht aufheben«), kommt grundsätzlich mit einer Flasche Cola in den Unterricht. Ein ganz typisches Verhalten aller Schüler unserer Schule: Nach einer Hofpause in den Raum zu kommen und zunächst gemütlich frühstücken wollen.

Ich sage dann immer wieder: »Missjöh, du hattest gerade 25 Minuten frei, da konntest du doch essen.«

»Da hatte ich zu tun.«

Wenn ich allerdings eine Doppelstunde habe, unterbrochen von einer großen Pause, dann verlässt niemand den Raum ohne sein Schulbrot. Das muss beim Rausgehen vorgezeigt werden. Aber offenbar machen das die Kollegen nicht, denn die armen Kleinen kommen immer völlig verhungert aus den Pausen.

Sind die Schüler anderer Schulen auch so verfressen? Tun sie auch so, als stürben sie, wenn man ihnen die Nahrungsaufnahme während des Unterrichts verbietet?

Außerhalb der Schule geht ja gar nicht!

Meine eigene Klasse nervt mich nicht nur mit Essen und Trinken während des Unterrichts, ab und zu blamieren sie mich auch. Wenn sie mich blamieren, hasse ich sie! Wenn sie mich blamieren, denke ich: Eure Abschlüsse sind mir scheißegal, ihr Deppen! Wandert doch in ein langweiliges Hartz-IV-Leben. Ich werde keinen Finger mehr für euch krumm machen. Ihr könnt mir den Buckel runterrutschen. Kommt, fragt mich mal nach einer Klassenfahrt. Kommt, fragt mal, dann lache ich euch nur ins Gesicht und sage: »Klassenfahrt? Mit euch? Auf KEINSTEN!«

Wenn sie mich mal wieder blamiert haben, dann marschiere ich im Stechschritt vor ihnen her und warte nur an den Straßen, weil das meine Pflicht ist. Wenn sie mich dann ansprechen, antworte ich nur einsilbig und gehe sofort in eine andere Richtung, sobald wir das Schulgebäude betreten haben. Erst mal eine rauchen. Erst mal runterkommen. Mich bei den Kollegen ausheulen.

Wie haben die Sie denn jetzt schon wieder blamiert, Frau Freitag?

Indem sie sich wie Vollidioten benommen haben. Wir waren in der Öffentlichkeit, und das vertragen sie schlecht. Sie benehmen sich im öffentlichen Raum wie gehirnamputierte, kulturlose Affenmenschen. Wenn ihnen jemand was erzählen will, was sie eigentlich interessieren sollte – denn es ging um sie, um ihre verdammte Zukunft –, dann quatschen sie miteinander, hören heimlich Musik, spielen mit ihren Handys, schreien irgendwelchen Mist in den Raum, und ich sitze dazwischen, ermahne sie dreimal, (zweimal nett, einmal etwas lauter), aber es nützt nichts. Dann gebe ich auf und gucke mir das Schauspiel an, schäme mich, fange innerlich an, sie zu hassen, hoffe, dass die Zeit schnell vorbeigeht und entschuldige mich bei dem Schulfremden, der meiner Deppenklasse etwas beibringen wollte.

Den ganzen Rückweg zur Schule denke ich: »Arschlochkinder, Arschlochkinder, Arschlochkinder.« Manche merken, dass ich sauer bin, und halten sich von mir fern. Marcella merkt einfach gar nichts mehr und schreit auch noch im Bus rum, bis ich frage, ob sie mich nicht schon genug blamiert hätte und nicht wenigstens zwei Stationen die Klappe halten könne.

Ihre Antwort: »Aber, Frau Freitag, es weiß doch niemand, dass Sie zu uns gehören.«

»Doch, das wissen alle!« Denn das sieht man an meinem Gesicht.

Und jetzt überlege ich schon seit Stunden, wie ich ihnen morgen gegenübertreten soll. Erst habe ich an eine herzzerreißende Ansprache gedacht: »Ich bin sehr enttäuscht, ich fühlte mich total blamiert.« Und so weiter. Aber jetzt denke ich, dass ich morgen die Fräulein-Krise-Methode anwenden werde. Ich werde mich bei ihnen entschuldigen. Dafür, dass ich ihnen zugemutet habe, an einen Ort zu gehen, an dem sie sich mit ihrer Zukunft beschäftigen sollen. Sorry, kommt nie wieder vor. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich schwöre, ich werde euch nie wieder auf Ausbildungsmöglichkeiten oder Berufswahl ansprechen. Ich verspreche es euch, nie wieder!

Dann am Tag danach. Auftritt Frau Freitag: Freundlich empfängt sie ihre Klasse, hört sich geduldig dies und das an, antwortet sanftmütig und bittet die lieben Kleinen, sich nach dem Klingeln auf ihre Plätze zu begeben.

»Ich möchte gerne noch etwas zu gestern sagen.« Die Klasse schweigt. In manchen Augen sehe ich so etwas wie ein leicht aufflackerndes Schuldbewusstsein. »Ich möchte mich bei euch entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich gestern mit euch bei dieser Veranstaltung war. Ich dachte irgendwie, dass euch das interessiert. Aber das war mein Fehler und nicht eurer. Ich dachte, dass ihr in der 9. Klasse ein Interesse an eurer Berufswahl hättet, aber dann fiel mir ein, dass die meisten von euch ja gar keine Berufsberatung brauchen. Miriam, du heiratest ja sowieso einen reichen Mann, warum solltest du da einen Beruf lernen. Abdul?«

Ich bin gerade voll im Flow, da unterbricht mich Peter, der direkt vor meiner Nase sitzt »Aber Frau Freitag, wenn man verheiratet ist, dann muss man doch auch einen Beruf haben, das kostet doch auch alles Geld, also, die Hochzeit, das Brautkleid, der Kuchen …«

»Bei Moslems braucht man aber kein Geld, da bezahlt das alles die Familie«, klärt ihn Elif auf.

Weg war mein Flow. Ich flüstere Peter zu, dass man natürlich auch arbeiten kann und sollte, wenn man verheiratet ist. Zum Glück sitzt Miriam ganz hinten und bekommt von der kurzen Unterbrechung nichts mit. Also versuche ich, mit meiner Predigt fortzufahren: »Und du, Sabine, klar bist du frustriert. Deine Schwester macht gerade das Abitur, dein Bruder den Realschulabschluss, und du wirst nicht mal die 9. Klasse schaffen.«

»Schaff ich wohl«, brummelt Sabine in ihren Schal.

Nach und nach erkläre ich allen Schülern, warum ich total verstehen kann, dass sie sich nicht mit der eigenen Berufswahl auseinandersetzen.

Als ich fertig bin, meldet sich Abdul: »Frau Freitag, warum glauben Sie eigentlich, dass wir das alles nicht schaffen?«

»Abdul, weil ich eure Noten gesehen habe.«

»Aber Sie machen immer alles an diesen Noten fest.«

Süß. Ich grinse: »Ja, woran soll ich das denn sonst fest machen? Eure Noten sind doch das Entscheidende für euren Abschluss.«

»Ja, aber Sie denken ja immer, wir hätten noch diese Noten von vor dem Elternsprechtag. Sie sollten unsere Noten mal jetzt sehen. Abó, Sie würden staunen.« Abdul lehnt sich zufrieden zurück »Ja, Frau Freitag kriegt voll Schock, wenn sie die Noten sieht.«

Samira meldet sich. »Frau Freitag, ich schwöre, auf dem nächsten Zeugnis wird niemand mehr so viele Ausfälle haben, dass er sitzenbleiben muss.«

»Na, das wäre ja was …« Ich fange an, davon zu träumen, wie ich bei der Zensurenkonferenz lauter Realschulprognosen verlesen darf und mich die Kollegen alle missgünstig angucken und tuscheln.

»Okay, dann legen wir mal los. Heute: die indirekte Rede. Wer hat so was oder so was Ähnliches schon mal gehört?«

Sofort gehen die Finger hoch, und wir verbringen eine super Grammatikstunde, in der wir alle viel gelernt haben.

Warum nicht so?

Bald ist die Schule vorbei. Momentan macht der Unterricht eigentlich Spaß, wahrscheinlich aber nur, weil man weiß, dass er bald vorbei ist. Noch drei Tage.

Ich kriege schon jetzt dieses warmherzige Gefühl, das man hat, wenn man zu den Kollegen sagt: »Tschüß, schöne Weihnachten und guten Rutsch.« Aber sonst ist mir noch nicht so richtig weihnachtlich zumute. Ich verzichte dieses Jahr auf jegliche Deko, wir sind ja sowieso nur vier Christen in der Klasse, die Weihnachten feiern, und ich überhöre sogar das Wort »Julklapp«.

Allerdings kommt Kathrin aus meiner Klasse heute auf dem Hof zu mir: »Frau Freitag, würden Sie mit Ihrer schrecklichen, lauten, nervtötenden Klasse ein Frühstück machen?«

»Wenn ihr das organisiert, dann komme ich gerne. Kriegt ihr das hin?« Sie nickt und geht. Na ja, Hunger habe ich ja immer, vor allem, wenn es kalt ist. Und frühstücken heißt auch, nicht unterrichten zu müssen.

Meine Klasse liebt Frühstücken. Sie könnten glatt jeden Tag frühstücken. Ich könnte ein Restaurant oder Café mit ihnen betreiben, statt sie zu unterrichten.

Fräulein Krise kommt jeden Tag in unser Café, und sobald sie den Raum betritt, schwirren die Schüler um sie herum und lesen ihr jeden Wunsch von den Augen ab. »Wie immer Fräulein Krise? Kaffee und ein Eibrötchen?« Fräulein Krise lässt sich mit schwerem Ausatmen auf einen dieser total bequemen Sessel fallen, aus denen man nicht mehr hochkommt. Abdul und Emre wissen das und bieten sich immer an, die Gäste aus dem Möbel zu ziehen. »Fräulein Krise, erzählen Sie von Ihrer garstigen Klasse!« – »Ja, bitte, Fräulein Krise! Was haben die gesagt zu der schlechten Deutscharbeit? Haben Sie denen die Hölle heiß gemacht? Hat Ömer zugegeben, dass er den Tesa-Abroller geklaut hat?«

Ich sitze neben Fräulein Krise und trinke den ganzen Tag schwarzen Kaffee und rauche – das Besondere an unserem Café: Bei uns darf geraucht werden. Frau Dienstag kommt auch oft vorbei, sie trinkt aber nur Tee und isst nie etwas (Magersucht im Endstadium). Frau Dienstag hat übrigens aufgehört zu unterrichten und eine Schlosserei aufgemacht. Die läuft hervorragend. Sie ist reich und hat unsagbar schwarze Fingernägel.

Ab und zu zwinge ich die Schüler, sich die Hände zu waschen (wegen der Hügiäne), und wenn wir schließen, zähle ich das Geld und gehe glücklich nach Hause. Meine Schüler kommen immer und sind auch immer pünktlich, sie haben tolle Ideen für die Deko und das Essensangebot. Es gibt jeden Tag ein anderes Gericht aus der südeuropäischen Küche, aber auch Pasteten aus Palästina, Kuchen aus dem Kosovo und Allerlei aus Albanien.

Die Schüler sagen: »So macht Schule Spaß. So handlungsorientiert.« Sie sprechen perfekt Pädagogisch, weil wir gemeinsam ein Buch über unser Schul-Café-Restaurant geschrieben haben. Außerdem tingeln wir dauernd durchs Fernsehen und erzählen davon bei Anne Will und den anderen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie ja immer schön »isch« und »vallah« sagen sollen und nie Artikel benutzen dürfen, denn das wird von ihnen erwartet. Aber höflich sollen sie sein und gut aussehen. Die Mädchen schminken mich vor den Fernsehauftritten immer. Ich sehe gut aus im Fernsehen. Sagen mir auch viele Eltern. Die Kollegen allerdings schweigen sich aus.

Na ja, fangen wir erst mal mit einem Frühstück am Donners tag an …

Tipps für neue Kollegen

So, der neue Kollege ist da. Er spricht komisch. Manchmal versteht man ihn kaum. Die Schüler sagen: schwul. So wie manche Kolleginnen um ihn herumschwirren, sage ich: hetero. Ich halte mich da schön raus, hat er sich bei mir doch gleich am zweiten Tag in die Nesseln gesetzt. Da sagte er etwas über meine Klasse, ohne zu wissen, dass ich die Klassenlehrerin bin. Und was bildet der sich ein, nach einer Stunde mit nur einem Teil meiner Klasse überhaupt irgendein Urteil abgeben zu können. Seitdem bin ich höflich distanziert. Der soll mal schön die Bälle flach halten.

Hier ein paar Todsünden für neue Kollegen:

1. Lästern
Nie darf man als neuer Lehrer über irgendwelche Kollegen herziehen, wenn man das gesamte Lehrerzimmergefüge noch nicht durchschaut. Man weiß nie, wer mit wem kann und wer nicht!

2. Den Schlendrian zeigen
Nie durchblicken lassen, dass man seinen Unterricht nicht ordentlich vorbereitet hat. Also nicht in der Pause hektisch am Kopierer drängeln und irgendwelche Arbeitsblätter vervielfältigen.

3. Überengagiert sein
Schlimmer noch als zu larifari zu sein, ist zu großer Einsatz. Aufwendige Stundenvorbereitungen, mit denen man dann in den Unterricht stiefelt, kommen bei erfahrenen Kollegen, die sich dem Unterrichtsminimalismus verschrieben haben, gar nicht gut an. Und bloß nicht vom eigenen tollen Unterricht erzählen.

4. Meinungen zur Schülerklientel
Bitte nicht vorschnell die Schülerschaft beurteilen und sagen, dass das alle unpünktliche Idioten sind. Auch wenn sie das sind. Das steht einem Neuen nicht zu. Nicht zu schnell die Schüler für irgendwas loben. Auch nicht einzelne Schüler. Es könnte ein Kollege am Tisch sitzen, der gerade mit diesem Schüler gar nicht klarkommt, und dann wird der Neue mit diesem Kollegen gar nicht mehr klarkommen.

5. Alles ändern wollen
Nicht im Lehrerzimmer rumtönen, wie toll dies und das an der alten Schule war, und irgendwas verbessern wollen. Bloß nicht irgendwelche verkeimten Ecken säubern, Sammlungen sortieren oder vermüllte Räume aufräumen. Auf gar keinen Fall darf man sich als Neuer in der Gesamtkonferenz zu Wort melden, um irgendwas vorzuschlagen.

6. Selbstüberschätzung
Bloß nicht bei der Vorstellung so einen Quatsch sagen wie: »Ich will hier mal frischen Wind reinbringen.« Oder, wie an meiner Schule passiert: »Ich bin hier, um Sie zu unterstützen.« Das kam gar nicht gut an. Als Neuer schön die Klappe halten und abwarten. Beobachten, versuchen zu verstehen, sich ruhig, hilflos und blöd geben – leichte Verpeiltheit kommt besser an als zu großes Selbstvertrauen. Sprüche wie »Das wird schon«, »Das kriege ich schon hin«, »Da mach ich mir keinen Stress« gehen gar nicht. Denn es wird nicht, hinkriegen tun wir Alten es ja auch nicht und Stress steht in unserer Arbeitsplatzbeschreibung.

Also, ihr lieben neuen Kollegen, ihr denkt vielleicht, dass ich hier übertreibe, aber unterschätzt nicht die alten, frustrierten Kollegien. Da sitzt der eine oder die andere und zieht vielleicht die einzige Freude am Vormittag daraus, euch das Leben zur Hölle zu machen.

Und beachtet bitte im Umgang mit den Schülern, die ihr zum Beispiel bei euren Aufsichten auf dem Hof antrefft: Nicht jeder Schüler geht auf eure Schule. Es gibt auch schulfremde Schüler! Der schönste Schulbesuch ist der Besuch einer fremden Schule.

Vor kurzem standen plötzlich zwei sehr unangenehm aussehende junge Männer in der Tür, die offensichtlich nicht zu unserer Schule gehörten. Die musste ich entsorgen. So was kann leider auch ins Auge gehen. Zu einem schulfremden Schüler war ich mal etwas zu vorlaut, da sah ich mich schon mit Messer im Bauch auf dem Schulflur verbluten. So ein Tod ist echt unnötig.

Auch hier ein kleiner Tipp für die Neuen: Schulfremde Schüler, vor allem männliche, spielen sich gerne auf, bewegen sich extrem langsam und sollten nie angefasst oder vor einem breiten Publikum lächerlich gemacht werden. Macht es also nicht wie ich damals:

»Bist du hier auf der Schule?«

Schulfremder: »Ja.«

»In welcher Klasse?« Keine Antwort. Ich deshalb: »Verlass bitte sofort das Schulgelände.«

»Du weißt nicht, wer ich bin.«

»Doch, du bist jemand, der nicht auf diese Schule geht und keine guten Manieren hat.«

Daraufhin kam er ganz nah an mich ran, und wir hatten einige Sekunden eine Eins-A-Wild-West-ich-fixiere-dich-solange-bis-du-den-Blick-senkst-Situation. Mit einem riesigen Publikum, das den Atem angehalten hat. Er ist dann in Zeitlupe davongeschlichen. Aber es war ziemlich brenzlig und dumm von mir.

Am liebsten hätte ich gesagt: »Außerdem hast du einen extrem kleinen Kopf, wodurch die Baseballkappe total lächerlich aussieht, in ihrer Lächerlichkeit aber zu deiner bescheuerten weißen Hose passt. Grauenhaft, wie du die Hose in die Socken gesteckt hast. Und die Schuhe, die sind so hässlich, da fällt selbst mir nichts mehr ein. Und ein kleiner Tipp noch: Drück dir mal die Pickel aus.«

Das Publikum hätte gegrölt und auf dem Schulhof wäre ich eine Legende geworden. Aber wie gesagt, wahrscheinlich eine tote Legende.

Ein Busenwunder

»Höhö, Christian hat voll Titten«, sagt Tarek. Tarek wiegt wahrscheinlich 190 Kilo.

»Das kommt ja vom Richtigen«, höre ich mich sagen. Tarek springt auf, sein Stuhl fällt um. Alle im Raum drehen sich zu ihm um. Er reckt das Kinn und stemmt seine Hände in die Seite: »Ich habe mehr Titten als Sie!«

»Ja, hast du.« Stille. Wo er recht hat, hat er recht.

»Sie haben überhaupt keine Titten. Absolutes Flachland.« Tarek steht immer noch aufgebracht hinter seinem Tisch und schreit: »Ü-ber-haupt keine Titten!« Das stimmt so nun auch nicht. Tarek kann sich gar nicht mehr beruhigen.

Ich will in dieser Stunde mit den Schülern Trickfilme machen. Stop-Motion-Filme. Mit Digitalkameras. Das hatte ich auch schon am Morgen in einer 8. Klasse versucht. Die haben zwar Kunst gewählt und man sollte annehmen, dass die besonders an Kunst interessiert wären, wenn sie zwei Jahre lang jede Woche vier Stunden Kunst haben. Aber das Erste, was sie mir zu Beginn des siebten Schuljahres kollektiv mitgeteilt haben, war: »Wir wollten zu Sport, aber da war voll, und jetzt mussten wir zu Kunst.« Da dachte wohl jemand bei der Beratung: »Kunst und Sport – das sind doch total ähnliche Fächer.«

Jedenfalls kann ich nicht sagen, dass dieser Kurs vor Kreativität sprüht, aber ich versuche immer wieder, Sachen zu finden, die ihnen Spaß machen könnten. Bisher habe ich aber noch nichts gefunden. Jede Woche werde ich mit der gleichen Frage begrüßt: »Können wir nicht mal was Schönes machen?« Mittlerweile suche ich Themen, die mir Spaß machen oder von denen ich denke, sie hätten mir als Schülerin Spaß gemacht. Und zurzeit ist das, Trickfilme herstellen, unbewegte Gegenstände über den Tisch laufen zu lassen, eine Verfolgungsjagd der Kaffeemaschine mit dem Salz oder die Umrundung des Tisches durch den Stuhl. Ich habe einen Riesenspaß dabei. Heute Morgen habe ich den Schülern voller Begeisterung mehrere Fotokameras mitgebracht und gedacht, jetzt werden sie richtig loslegen, das wird ihnen so viel Spaß machen, die werden sich gar nicht mehr einkriegen und mich lieben, weil ich so geile Sachen mit ihnen mache. Schüler aus anderen Kursen werden zu mir kommen und sagen: »Wir wollen auch Trickfilme machen!«

Frank, Christian und Micha Müller grabschten sich ein Gerät und stritten sich dann darüber, wer fotografieren darf. Ahmet, Lisa, Gabi und Silvie ließen die Kamera in der Mitte ihres Gruppentisches liegen und unterhielten sich einfach weiter.

»So, nun legt mal los, fangt einfach mal an. Probiert mal rum. Wie gesagt, eine Sekunde Film sind vierundzwanzig Bilder und ihr braucht mindestens zwölf.« Niemand hörte mir zu.

»Frau Freitag, was sollen wir jetzt machen?«

»Na, ich hatte euch doch letzte Woche gesagt, dass ihr euch was überlegen sollt. Habt ihr denn Gegenstände von zu Hause mitgebracht? Silvie, du wolltest doch Figuren mitbringen.«

»Vergessen.«

»Na, dann nehmt doch erst mal Stifte oder eure Hefter oder irgendwelche anderen Schulsachen.« Widerwillig fotografierten sie ihre Hefter und drei Stifte. »Ihr könntet doch zum Beispiel was schreiben. Die Stifte kommen so angelaufen und schreiben oder malen was.«

»Haben Sie ein Blatt?« Ich gab ihnen Papier und ging zu einer anderen Gruppe. »Haben Sie Stifte?« Ich reichte ihnen eine Packung Filzer. Sie legten mit den Stiften HALLO.

Ich schloss den Laptop an und startete das Programm, mit dem wir gleich ihre Filme ansehen konnten. Auf jegliche Planung oder Vorüberlegungen in Form von Storyboards hatte ich bewusst verzichtet, denn die Ideen würden beim Machen entstehen, dachte ich. Wenn sie ihre ersten Filme gesehen hätten, würden sie Verbesserungsmöglichkeiten erkennen und neue Ideen bekommen. So war es bei mir auch gewesen, ich hatte die ganze Nacht hindurch immer neue kleine Filme gedreht.

Schon nach zehn Minuten kam die erste Gruppe ans Pult: »Wir sind fertig. Hier ist die Kamera.«

»Wie, ihr seid fertig?«

»Na, der Film ist fertig, können wir den jetzt gucken?« Ich schloss die Kamera an den Laptop an und übertrug 80 Bilder von der Kamera. Ein Hefter drehte sich einmal um die eigene Achse, dann kamen drei Filzstifte aus einer Federtasche und schrieben nacheinander H, A, L, L, O.

»Na ist doch super, seht ihr, wie ein richtiger Film. So, nun macht mal weiter, hier ist die Kamera.«

Verwirrte Gesichter. Die Gruppe hatte sich den Film wortlos angesehen und nun saßen alle wieder an ihren Tischen. »Was weiter? Wir sind doch fertig.«

Ich guckte sie überrascht an: »Wie fertig? Das war doch nur zum Probieren. Jetzt macht mal was Richtiges, denkt euch doch jetzt noch mal was Längeres aus.«

»Äh? Der Film ist doch fertig.«

Bewegungslos klebten sie auf ihren Stühlen, keiner wollte aufstehen, um die Kamera zu nehmen, die ich ihnen die ganze Zeit hinhielt. »Also, ihr meint, das ist jetzt alles? Das ist der einzige Film, den ihr machen könnt? Jetzt könnt ihr euch nichts Neues mehr ausdenken? Jetzt ist alles gesagt? Zehn Minuten, fertig, und jetzt noch die restliche Doppelstunde rumsitzen und quatschen? Oder was?« Lisa zog gelangweilt ihren Liedstrich nach, Ahmet fummelte an den Knöpfen seines MP3-Players. Silvie sagte: »Können wir nicht was anderes machen? Nie machen wir mal was Schönes.«

Ganz ruhig bleiben, die können nichts für ihr anregungs armes Umfeld. »Überlegt doch mal, was man noch filmen könnte.«

»Waaas denn?«, fragte Gabi. »Wir sind doch schon fertig.«

Plötzlich legte Lisa ihr Schminkzeug weg. »Ah, ich weiß was, wir könnten alle Schränke aufmachen und filmen, wie alles aus den Schränken rauskommt.«

»Nee, Unordnung machen geht nun gar nicht. Denkt doch mal nach, vielleicht läuft dein Schminkzeug über den Tisch oder die Schminke kämpft gegen die Federtaschen und deren Inhalt.« Lisa schien zu denken, ich merkte nicht, wie sie die Augen verdrehte. »Oder ihr schreibt oder malt was.«

»Haben wir doch schon«, sagte Ahmet.

»Ja, ihr habt ›Hallo‹ geschrieben.« Langsam reichte es mir. »Hallo, ja, ihr habt ›Hallo‹ geschrieben, damit ist ja auch schon alles gesagt, weitere Möglichkeiten für Trickfilme sind damit ausgeschlossen. Mit dem ›Hallo‹ bleiben in der visuellen Welt gar keine Fragen mehr offen, das ist ja der absolute künstlerische Schlussstrich unter alle Fragen der Kreativität. Stimmt. Damit habt ihr alles gesagt. Und ihr habt recht, ihr seid fertig. Kein Problem, bleibt einfach sitzen und wartet, bis es klingelt.« Ich musste Luft holen, biss die Zähne zusammen und zischte: »Und am Ende der Stunde möchte ich von jedem einzelnen von euch wissen, was ihr am Donnerstag machen werdet. Eine selbst gewählte Aufgabe, die ihr in den nächsten Stunden bearbeitet – und die dann zensiert wird.«

Nach der Doppelstunde Kunst lenke ich mich mit zwei Stunden Deutsch, einer Stunde Ethik und einer Hausaufgabenstunde ab und denke um 14 Uhr bereits wieder: Ja, Trickfilme, ist doch was ganz Tolles! Die werden es lieben!

Und tatsächlich: Ich muss nicht einmal die Kameras verteilen, sie werden mir von den Neuntklässlern sofort aus der Hand gerissen. Ali Escobar und seine Fans stehen schon an der Tafel, und Ali zeichnet eine Figur. Mustafa und Mohamad streiten sich noch darüber, wer fotografieren soll: »Passt auf, dass die nicht runter fällt!«

Nina sitzt mit einem Mädchen, das ich nicht kenne, an einem Tisch in der hinteren Ecke. Ich gehe zu ihr: »Du gehörst nicht in diese Klasse, verlass bitte sofort den Raum.«

»Aber Frau Freitag, das ist doch Susi, die ist in der Klasse.« Susi war in diesem Schuljahr noch nicht einmal in meinem Unterricht, und ich kenne sie nur als Namen, den ich jeden Donnerstag auf den Fehlzettel schreibe. »Ach so. Du bist Susi. Schön, dass du auch mal kommst.« Die Mädchen fotografieren ihre Handys auf dem Tisch.

Hannes, Ulf, Micha und Tarek sitzen an einem anderen Tisch und überlegen noch, was sie filmen wollen. »Können wir die Pinguine haben? Brauchen Sie die noch?« Die Pinguine habe ich mit dem Kunstkurs im letzten Jahr aus Pappmaché gemacht. Daran haben die ungefähr sechs Monate gearbeitet, dann wurden sie ausgestellt und letzte Woche aus den Ausstellungsräumen zurück in meinen Raum gebracht. Jetzt liegen sie in einem Karton vor den Schränken.

»Können wir die kaputtmachen?«

»Nein, auf gar keinen Fall. Ich hatte euch doch gesagt, dass ihr euch was mitbringen sollt, wenn ihr was zerstören wollt.«

»Haben Sie nicht einen alten Computer?«

»Nein.«

Widerwillig holen Hannes und Ulf Federtaschen und Hefter aus ihren Schultaschen und fangen an zu fotografieren. Nach zehn Minuten: »Die Batterien sind alle.« Mist, daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Dann kommt Nina mit der Kamera: »Fertig, unser Film ist fertig, können wir den jetzt gucken?« Ich klappe den Laptop auf.

»Haben Sie MSN?«

»Nein, hier gibt es keine Internetverbindung.« Ich überspiele 20 Bilder von der Kamera auf den Computer. Nina und Susi setzen sich neben mich und kauen intensiv auf ihren Kaugummis.

»So, hier, guckt, euer Film.« Man sieht zwei Handys, die sich so gut wie gar nicht bewegen. »Hm. Habt ihr die denn nicht verschoben? Na ja, ihr könnt das ja noch mal probieren.«

»Nein, heute habe ich keine Lust mehr. Wir ham doch schon was gemacht«, sagt Nina. »Frau Freiiitag?«

»Ja?«

»Kriegen wir eigentlich für heute auch Noten?«, fragt Susi.

»Na ja. Ja. Wieso? Ach so, weil du noch nie da warst. Na ja, so berauschend war euer Film ja eigentlich nicht.«

»Die Batterien sind leer.« Ali hält mir die Kamera hin. Oh Scheiße, was soll ich denn jetzt machen. »So, setzt euch alle mal hin.« Noch zwanzig Minuten bis zum Klingeln. »Also, das tut mir leid, dass jetzt keine Batterien mehr da sind, die muss ich erst aufladen. Aber schön, dass ihr schon mal angefangen habt. Ich schreibe jetzt mal auf, wer nächste Woche zusammenarbeiten will.« Zeitschinden. »Also, Nina und Susi, und wer noch?«

»Nur wir beide.«

»Aber ich habe nicht so viele Kameras. Na ja, und Ulf, mit wem willst du arbeiten?

»Alleine.«

»Hannes und Tarek, wer soll in eurer Gruppe sein? Micha und Ralf? Und habt ihr schon eine Idee, was ihr machen wollt?«

»Ich mach ’n Porno«, sagt Tarek. Ich gehe nicht weiter darauf ein. »Ich mach ’n Porno, ich mach ’n Porno, mach ’n Porno«, Tarek verliert sich in diesem Singsang. Ich versuche, ruhig zu bleiben, nicht aufregen, nicht reagieren, gleich klingelt es, gleich gehen sie … »Porno, Porno, Porno, Porno …«

»NEIN, TAREK! Du drehst hier KEINEN PORNO, das kannst du zu Hause mit deiner Mutter machen!«

Wow, das war deutlich. Tarek verstummt, die anderen Schüler schreien los, Mohamad stürzt nach hinten zu Mustafa: »Hast du gehört, was Frau Freitag gesagt hat?« Hannes kichert, Tarek ist schon mal aufgesprungen. »Was, was? Was ist mit meiner Mutter?« Ah gut, er hat es nicht verstanden. Aber er wird es gleich erfahren. Was nun? Jetzt muss ich schnell sein.

»Weißt du, Tarek, wir sind hier in der Schule, da hast du nicht so zu reden, du musst dich mir gegenüber respektvoll verhalten, und ich will so etwas hier nicht hören, dass du einen Porno drehst.«

»Hab ich ja gar nicht gesagt, ich hab gesagt, dass ich einen Porno mitbringen werde.«

»Und was soll das jetzt? Was willst du hier mit ’nem Porno?«

»Da können Sie sich einen drauf runterholen.«

Ein ganz neues Jahr!

Dieses neue Jahr nervt mich jetzt schon. Was hat es mir denn bisher gebracht? Einen völlig nutzlosen 1. Januar, einen fetten Bauch, der mich wahrscheinlich das ganze Jahrzehnt begleiten wird, ein ganz unsäglich schlechtes Fernsehprogramm, eine ziemlich unaufgeräumte Wohnung, die sich mal wieder nicht von selbst aufräumt, ein finnisches Selbstmordwetter und Schreie aus meiner Schultasche, die ich erst seit dem Jahreswechsel richtig höre: »Öffne mich, öffne mich, hier liegen noch unkorrigierte Arbeiten …« Konsumieren geht auch nicht, weil man mir nichts verkaufen will, beziehungsweise weigert die Bekleidungsindustrie sich seit längerem, Anziehsachen herzustellen, die mir gefallen, dabei habe ich wirklich jeden Pullover aus den Regalen genommen. Der Freund scheint in diesem Jahrzehnt nur noch schlafen zu wollen und Fräulein Krise und Frau Dienstag befinden sich zurzeit wohl gemeinsam in der manischen Phase ihrer Depression. Sie wollen einfach nicht wahrhaben, wie scheiße alles ist. Fräulein Krise – Meisterin der Verdrängung: »Ich lege auf, wenn du das Wort sagst, das mit ›S‹ beginnt und mit ›ule‹ aufhört.«

Frohes neues Jahr. Ha, dass ich nicht lache. Frohes Jahr – Witz! Wie schön war doch das alte Jahr: Wochenlang frei wegen irgendwelcher Prüfungen, einmal war die Heizung kaputt und ich konnte zu Hause bleiben, Hochsteckfrisur, Unterricht mit dem Lieblingsschüler, paradox interveniert ohne Ende, Ferien – im letzten Jahr gab es dauernd Ferien. Wo sind die Ferien jetzt? Hätte ich einen normalen Beruf, könnte ich jetzt bestimmt bis zum Frühling Resturlaub nehmen, aber so …

Und morgen wieder die ganzen Knalltüten. Lehrerzimmer: »Frohes Neues!« – »Ja, frohes Neues!« – »Ach, war herrlich gewesen …« – »Ja dir auch!« – »Ach, muss ja.« – »Na ja, ach, ach …« – »Du siehst aber erholt aus!« – »Ach, ja, klar, Kanaren, wie immer …« Und ich mittendrin. Bleich, fett, nur noch eine Hose passt, Pickel, schlecht gelaunt und wahrscheinlich gänzlich unvorbereitet schleiche ich in die Klasse.

Auftritt der Schüler – alle zu spät: »Ich bin erst um drei Uhr ins Bett.« – »Hab verschlafen …« – »Ich wusste gar nicht, dass die Schule heute schon anfängt …« Dann endloses Gequatsche, weil man sich ja zwei Wochen nicht gesehen hat. Ich werde ignoriert. Unterricht, wie ging das noch mal?

Ich will in einem Büro arbeiten. Mit Akten. Erst mal Kaffee machen, erst mal E-Mails lesen, erst mal chillen, ach, schon Mittag? Kantine, dann eine Akte bearbeiten, gerne was mit Stempeln, kein direkter Kundenverkehr. Auf keinen Fall telefonieren. Mir die Heiligen Abende der Kollegen anhören: »War schön gewesen, der Kleine war da und Opa hat den Weihnachtsmann gemacht. Es gab Würstchen und Ente und Gans.« Dann wieder eine Akte: stempel, stempel, stempel, dann in die Ablage. Ein wenig über die Kollegen im zweiten Stock herziehen und dann Feierabend. Nach Hause kommen, auf die Couch und an gar nichts mehr denken. Und am Dienstag wieder: Erst mal Kaffee machen, erst mal E-Mails lesen – das wäre definitiv mein Paradies. Auch ohne Weintrauben. Oder was total Sinnvolles machen: Bäcker, Arzt oder Klempner …

Aber eigentlich, wenn ich es mir recht überlege, möchte ich doch nur Lehrerin sein. Sonst hätte ich gar nicht diesen Alltag. Bin ich froh, dass ich kein normaler Arbeiter bin, der sich seinen Alltag durch selbst gewählte Urlaubstage unterbrechen muss. Ich weiß jetzt auch, was mein Problem ist: Nicht dass ich arbeiten muss, bereitet mir Kopfzerbrechen, ich komme einfach nicht mit den Ferien klar.

Abschaffen sollte man die aber auch nicht, ich muss mich ja auch zwischendrin erholen. Aber vielleicht könnte es ja eine Ferienplatzbeschreibung geben, so wie es auch eine Arbeitsplatzbeschreibung gibt. Eine Art Stundenplan für die Ferien wäre hilfreich.

Ferienstundenplanvorschlag für Frau Freitag

Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag
Frühstück
In der Wohnung
rumdümpeln (im Bademantel)
Frühstück
In der Wohnung
rumdümpeln (im Bademantel)
Frühstück
In der Wohnung
rumdümpeln (im Bademantel)
Frühstück
In der Wohnung
rumdümpeln (im Bademantel)
Frühstück
In der Wohnung
rumdümpeln (im Bademantel)
Schlechtes Fernsehprogramm ansehen
Stricken
Schlechtes Fernsehprogramm ansehen
Stricken
Schlechtes Fernsehprogramm ansehen
Stricken
Schlechtes Fernsehprogramm ansehen
Stricken
Schlechtes Fernsehprogramm ansehen
Stricken
Kleiner Snack
Ans Aufräumen denken (auf keinen Fall durchführen)
Kleiner Snack
Ans Aufräumen denken (auf keinen Fall durchführen)
Kleiner Snack
Ans Aufräumen denken (auf keinen Fall durchführen)
Kleiner Snack
Ans Aufräumen denken (auf keinen Fall durchführen)
Kleiner Snack
Ans Aufräumen denken (auf keinen Fall durchführen)
Telefonieren
Duschen
Lesen (wenig)
Telefonieren
Duschen
Lesen (wenig)
Telefonieren
Duschen
Lesen (wenig)
Telefonieren
Duschen
Lesen (wenig)
Telefonieren
Duschen
Lesen (wenig)
Kaffee und Kuchen,
Besuch haben,
laber, laber …
Kaffee und Kuchen,
Besuch haben,
laber, laber …
Kaffee und Kuchen,
Besuch haben,
laber, laber …
Kaffee und Kuchen,
Besuch haben,
laber, laber …
Kaffee und Kuchen,
Besuch haben,
laber, laber …
Essen
Couch/TV
Stricken
Schlafen
Essen
Couch/TV
Stricken
Schlafen
Essen
Couch/TV
Stricken
Schlafen
Essen
Couch/TV
Stricken
Schlafen
Essen
Couch/TV
Stricken
Schlafen

Ferienstundenplanvorschlag für Frau Dienstag

Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag
Putzen
Frühstück
Aufräumen
Reparieren (Spülmaschine)
Putzen
Frühstück
Aufräumen
Das Auto reparieren (Kotflügel links)
Putzen
Frühstück
Auto (Reifen- und Ölwechsel)
Freiwilligendienst im Altersheim
Putzen
Frühstück
Wohn- und Arbeitszimmer streichen
Putzen
Frühstück
Marmelade und Senf machen
Gemüse einkochen
Tapezieren
Backen
Unterricht vorbereiten
Unterricht vorbereiten
Methoden erfinden
Bibliothek
Mediathek
Unterricht vorbereiten
Steuern machen
Firma gründen
Unterricht vorbereiten
Jahresplanung machen
Akten digitalisieren
Fürs Wochenende vorkochen
Pökeln
Pflanzen umtopfen
Duschen
Eine kleine Jacke nähen
Lesen (wenig)
Essen (einen Apfel)
Meditation
Einen Hosenanzug nähen (beige mit roten Stickereien) Kühlschrank abtauen
Waschen und Bügeln
Breakdancekurs
Auto waschen
Kindheitsfotos digitalisieren
Tee
Einen Schreibtisch bauen und lackieren
Einkaufen gehen
Tee
Zwei Sommerkleider nähen
Dazu passende Strümpfe Stricken
Tee
Kräuter anpflanzen
Zwei Sahnetorten backen
Klöppelkurs geben
Tee
Inventur (Firma)
Fortbildung vorbereiten
Wanddurchbruch (von der Küche ins Wohnzimmer)
Tee
Trapeztraining
Vorlesedienst im Kinderheim
Essen (sehr wenig)
Karate
Lesen (sehr viel)
Schlafen
Essen (Salat)
Aufräumen
Lesen (viel)
Schlafen
Essen (Reis)
Nachtwanderung
Lesen (ein Buch)
Schlafen
Essen (Knäckebrot)
DLRG
Lesen (1000 Seiten)
Essen (Sellerie)
Clubbing
Nicht schlafen
         

Und am Wochenende: wie gewohnt. Das Wichtigste am Ferienstundenplan ist: Er muss unbedingt eingehalten werden. Und das Tolle ist, dass jeder seinen individuellen Plan bekommt.