3.
Ein neues Schuljahr beginnt

Der erste Schultag

Ich komme mir vor wie einmal Vollwaschgang, Schleudern und dann aus dem vierten Stock auf die Straße geschmissen. Verschwitzt, dehydriert und völlig verwirrt. Erste Stunde mit meiner Klasse. Stundenplan ansagen, neue Lehrer, neue Räume, neue Kurseinteilung, neue Fächer. Alles dauert, kaum einer hat irgendwas dabei: »Tschüch, ich dachte, heute is noch nich so richtig.« – »Ich schreib den Plan dann später von Elif ab.« – »Zeugnis – oje, hab ich vergessen.« – »Abó, wieso, haben wir heute Sport?« (»Tschüch« und »abó« sind türkische Ausrufe absoluter Ungläubigkeit. Gebraucht werden sie vor allem, wenn einem unzumutbare Ungerechtigkeit widerfährt.)

Ich habe extra den Tafelanschrieb vom letzten Schultag nicht weggewischt. Da steht: »Der Unterricht beginnt in der zweiten Stunde. Alle brauchen ihr Sportzeug.« Ich hätte sie doch alle noch mal anrufen sollen. Und seit wann muss man das unterschriebene Zeugnis vorzeigen? Seit der ersten Klasse!

Nicht aufregen – sie sind halt so. Wer hatte mir noch versprochen, dass sie in der Neunten ganz anders sind? Leider sind sie nur ge-, aber nicht erwachsen.

Zweite Stunde, Kunstunterricht in der 10. Klasse. Gefühlte vierzig Schüler betreten den Raum, und es werden immer mehr.

»Ich muss hier auch noch rein.«

»Du stehst aber nicht auf der Liste.«

»Ich bin hier neu und die im Büro haben mir gesagt, dass ich zu Ihnen soll.«

Okay, Materialliste – abschreiben! Hier die erste Aufgabe für heute. Vorlesen! Da sind Blätter. Anfangen!

»Ich habe keinen Bleistift.« – »Ich hab kein Bleistift.« – »Ich hab auch keinen.« – »Ich auch nicht.«

»Leute, warum habt ihr keine Arbeitssachen mit?«

»Wir wussten ja nicht …«

Ein eher schleppender Anfang. Aber schon leiser als in meiner eigenen Klasse. Nach der Stunde rauchen, dann meine erste Freistunde. Fachlehrerkollegen, ohne Klasse und somit ohne Sorgen, kommen frisch erholt auf mich zu:«Haste mal?« – »Kannste mal?« – »Weißte mal?« Im nächsten Leben werde ich auch Fachlehrer. Da gibt man seinen Unterricht und fertig. Als Klassenlehrer ist man für alles, was seine Schüler machen und vor allem nicht machen, verantwortlich. Das nervt total.

Ich jedenfalls hänge apathisch in meinem Stuhl. Plötzlich kommt Kollege Lamprecht: »Frau Freitag, du hast eine neue Schülerin, die steht draußen.« Ich zur Schülerin: »Ja, hallo, du bist also neu? Guck mal, da laufen zwei Jungs aus deiner neuen Klasse. Abdul und Emre, nehmt sie mal mit! Seid höflich!«

Zurück im Lehrerzimmer. Ich will mich entspannen. Da kommt Sabine, eine Schülerin aus meiner Klasse: »Frau Freitag, wir haben Informatik, aber Herr Johann sagt, wir haben nicht bei ihm.«

»Warte, ich checke das mal.« Mist, der Stundenplan ist im Klassenzimmer. Auf dem Weg dorthin wird die Schülerschar immer größer, auch Schüler anderer Klassen gesellen sich zu uns. »Was ist denn mit euch?« – »Wir haben auch Informatik.«

Erst Klassenraum, dann Vertretungsplan, dann Erkenntnis: Die Schüler haben eine Freistunde. Wie ich ja eigentlich auch. Ich gehe über den Hof, steuere das Lehrerzimmer an. Ich will Kaffee.

Dann das große Chaos. Schreiende Schüler rennen auf mich zu: »Alle sagen, wir haben jetzt Mathe und dann Geschichte, aber auf dem Plan stand doch, dass wir Musik haben.« Zurück zum Klassenraum – Scheiße, habe ich ihnen den Stundenplan falsch aufgeschrieben. Sie haben montags eine Stunde mehr. Sie beschweren sich, meckern.

Ich sage: »Dafür habt ihr heute nach der sechsten Schluss, habe ich gerade erfahren.« Sie meckern trotzdem.

Als ich gerade abschließen will, steht plötzlich ein Schüler vor meinem Raum: »Frau Freitag, ich bin auch in Ihrer Klasse.«

Ich: »Nicht dein Ernst, oder?«

»Ja, doch, in echt.«

»Whatever, schreib dir den Stundenplan ab.«

Die Freistunde ist fast vorbei, noch schnell eine rauchen, dann Doppelstunde Kunst, 8. Klasse. Eine neue Gruppe. Ich Bad Cop und Good Cop in einer Person, halte ich aber gerade mal für zwei Stunden durch. Die Schüler drehen nicht durch, noch nicht. Ich hab sie ganz gut gefoppt. Sie denken: Wer weiß, vielleicht ist sie streng, mal lieber noch nicht so viel Scheiße bauen. Dann, um halb eins, habe und bin ich fertig. So fertig, dass ich erst um drei aus der Schule komme, weil ich im Lehrerzimmer mehrere Stunden brauche, um mich zu regenerieren.

Der zweite Tag wird bestimmt besser

Wenn man das Schlimmste vom Tag erwartet, dann wird es meistens gar nicht so übel. Heute war’s eigentlich doch wieder schön. Sagte ich schon, wie gerne ich Lehrerin bin?

Das Wetter war herrlich, und die Schüler hatten später sogar hitzefrei. Und zu Hause habe ich einen Brief von der Schulbehörde gefunden, die mir schreibt, dass ich mehr Geld bekommen soll. Ist doch alles super.

Und die Schüler – ach, die sind süß. Haben noch nicht geschwänzt und sich erst bei einer einzigen der neuen Lehrerinnen danebenbenommen. Ich habe ihr zu schriftlichen Arbeitsaufträgen geraten, die eingesammelt und zensiert werden sollen. Mach ich selbst nie, obwohl sie sich bei mir ja auch danebenbenehmen. Ich erzähl es aber nicht gleich im Lehrerzimmer rum. War ja auch eine neue Kollegin, die wird schon noch lernen, mit ihren Misserfolgen alleine klarzukommen. Meine Vorstellungen, wie man das alles handhaben sollte, sind halt ganz anders als das, was ich selber mache. Das ist typisch für Lehrer.

Also, das neue Schuljahr kann kommen, ich bin bereit. Dieses Jahr wird alles besser gemacht.

Für den nächsten Schultag hatte ich mir morgens vorgenommen, einfach mal netter zu sein. Ja, einfach mal nett sein.

Erste Stunde Kunst in meiner Klasse. Ich – ach was soll sein, bin ich doch mal nett zur Klasse. Also betont langsam und mit wohlig mütterlicher Stimme die neue Aufgabe erklärt. Gewartet, bis sie ruhig waren. Gelächelt, als sie noch quatschten, dankbar genickt, als Samira rief: »Nun seid doch mal ruhig! Sie will was sagen. Peter, Sabine!« Dann idiotensicher die Aufgabe verbal seziert, alle erdenklichen Probleme oder Formulierungen, die man falsch verstehen könnte, vorweggenommen: »Querformat! Guckt mal, nicht so.« – Blatt hochkant gehalten. – »Neiiin, nicht so! Sondern so.« – Blatt im Querformat. Geduldig siebenmal die gleiche Frage beantwortet. Freundlich die Blätter ausgeteilt. Mit ermutigenden Motivierungen um mich geschmissen: »Das schafft ihr schon! Das könnt ihr! Legt mal los, das ist wirklich nicht schwer!«

Dann stolz durch die Stuhlreihen geschritten und jedem persönliche Hilfe aufgedrängt. Zu Christine, die schlapp auf ihrem Stuhl hing, nicht gesagt: »Was hängste da? Du musst früher ins Bett! So kannste dir die Gymnasialaussichten von der Backe putzen.« Nein, heute: »Christine, was ist los mit dir?« Dabei sogar in die Knie gegangen – auf Augenhöhe. »Hast du Stress? Oder bist du nur müde?« Und schon bekam ich von ihr statt des üblichen Augenrollens ein komplettes Update des Mutter-Tochter-Dramas der vergangenen Sommerferien. »Ach, du Arme. Ach, das tut mir leid. Ja, ich weiß, das muss schlimm für dich gewesen sein.«

Und der Effekt: Die Klasse war sehr viel ruhiger als sonst, nicht so überdreht und irre wie am Vortag. Alle waren ausgesprochen nett und höflich zueinander: »Peter, du musst deinen Bleistift anspitzen, dann kannst du besser zeichnen, sonst klappt das nicht so gut.« Daraufhin Samira: »Hier, Peter, ich hab einen Anspitzer, brauchst du?« Dann zwischendurch göttliche Ruhe. Ein sehr seltener Zustand in der Schule. Genießen, genießen, genießen, die herrliche Stille vergeht schneller als sie kommt. Meltem: »Öhhh, voll still, vallah.« Mascha: »Ja, escht ey, voll still.« Aber sie bemerkten nicht nur die Stille, auch mein verändertes Verhalten war unübersehbar. Elif: »Frau Freitag, Sie sind heute voll nett.« Christine: »Ja, wirklich, Frau Freitag, heute sind Sie voll nett.«

Ja, ich war wirklich voll nett. Und ist es mir schwergefallen? Überhaupt gar nicht! Und war das Nettsein gut? Ja, voll! Und warum bin ich nicht immer einfach mal voll nett? Tja, wenn ich das wüsste …

Auftrag für die kommende Woche: Einfach mal wieder voll nett sein!

Eigentlich waren die ersten fünf Tage im neuen Schuljahr gar nicht so schlimm. Vielleicht trat während der Ferien doch heimlich so etwas wie Erholung ein. Kann auch sein, dass die Schüler nicht so schlecht drauf waren, wie ich befürchtet hatte. An einen Reifungsprozess während der unterrichtsfreien Zeit traue ich mich noch nicht zu glauben. Die erste Woche im neuen Schuljahr ist jedenfalls geschafft. Willkommen, wundervolles Wochenende. Heute frei, morgen frei, übermorgen wieder dabei. Langsam müssten doch alle Schulen wieder die Arbeit aufgenommen haben, oder? In jeder Schule startet das neue Schuljahr mehr oder weniger turbulent. Nur nicht bei Frau Dienstag. Da gibt es immer einen äußerst soften Anfang. Erst mal chillen, dann mal sehn, wird schon irgendwie werden. Da fangen sie mit Praktikumsbetreuung an, mit Projektwochen, mit Wander- oder Studientag. Ich sollte dorthin wechseln. Frau Dienstag ist jedenfalls immer sehr entspannt. Hat noch genügend Kraft, um mich ausreichend zu bemitleiden. Wenigstens etwas. Und nun arbeitet sie sogar an einer Erkältung. Sie hat so viel Zeit, dass sie sich jetzt Allergien anschafft.

Ein Lichtblick in meiner stressigen Anfangsphase ist jedenfalls definitiv Fräulein Krise. Die ist immer gut für tägliche Dramen und Katastrophen. Ruf ich sie abends an, um ihr von meinen Niederlagen zu berichten, dann ist es bei ihr garantiert noch schlimmer gewesen. Komme ich um 17 Uhr nach Hause, sagt sie: »Bin gerade rein. Steuerungsgruppe. Ging bis 19 Uhr.« Habe ich drei neue Schüler in der Klasse, dann hat sie garantiert fünf. Hat sich bei mir einer das Bein gebrochen, ist bei ihr einer gestorben.

Im Vergleich mit Fräulein Krise geht es mir eigentlich immer noch ganz gut. Verglichen mit Frau Dienstag könnte ich mir gleich ‘nen Strick nehmen. Also muss ich nach einem Dienstag-Gespräch immer noch Fräulein Krise anrufen. Für die ultimative und lang anhaltende Glückseligkeit müsste ich mich allerdings mal wieder mit ein paar Referendaren anfreunden. Das Leben funktioniert echt vergleichsweise.

Arbeit, Arbeit, Arbeit

Gestern und heute gab es keinen Feindkontakt, wegen Wochenende. Dafür habe ich mich stundenlang auf die kommende Woche vorbereitet. Fünf Stunden, und ich bin immer noch nicht fertig. Wollen wir doch mal sehen, ob das Unterrichten nicht doch leichter fällt, wenn man sich gut vorbereitet.

Ich schwanke bei meinen Vorbereitungen immer zwischen: »Bringt eh nichts. Die haben sowieso keinen Bock, egal, was ich denen anbiete.« Und: »Die können zwar nichts, aber jetzt kommt Frau Freitag – Megateacherwoman – und wird denen mal zeigen, wo’s langgeht. Wäre doch gelacht, wenn die nicht am Ende alle Abitur machen.«

Und dann stehe ich da mit meiner tollen Vorbereitung und meinen Methoden und Medien und dem ganzen Schnulli, und es sind 35 Grad, alle haben Hunger, wollen aufs Klo oder nach Hause, oder ein Spatz fliegt im Klassenraum herum – dann kann man auch mit den schönsten Methoden nichts erreichen.

Oft frage ich mich nach der Stunde, warum ich mich eigentlich so genau vorbereitet habe. Okay, weil es mein Job ist. Logo. Aber mal davon abgesehen, wäre es nicht besser, ich amüsierte mich das gesamte Wochenende von Freitag nach dem letzten Klingeln bis Montagmorgen um fünf? Ausgelassen und glücklich käme ich dann in die Schule und würde mich lässig durch den Tag schummeln. »Frau Freitag, Sie sind aber heute nett.« – »Ja, vallah, sie hatte voll gute Laune.« Klar, ich war ja auch übers Wochenende in Rom oder auf ‘nem Rave oder in einem Wellnesshotel, Paddeln, Campen oder Ballonfahren. Habe zwei Tage nicht an die Schule und die Patienten gedacht und mich enorm erholt. Ich könnte auch direkt aus der Disco in die Schule kommen. Hat doch als Schülerin auch geklappt.

Fräulein Krise hat mal ein halbes Jahr so getan, als stünden die Sommerferien vor der Tür, dabei war es Winter. Frau Dienstag verlängert das Feriengefühl, indem sie – wie gesagt – erst sehr verspätet anfängt. Und ich, ich sitze hier den ganzen Tag schlechtgelaunt am Schreibtisch. Highlight des Tages – die Lindenstraße.

Fräulein Krise, Frau Dienstag, lasst uns mal nächstes Wochenende nach Binz fahren. Oder nach Venedig oder Malle. Scheiß auf Vorbereitung – lass mal alles aus’m Ärmel schütteln. Improvisieren lautet die Devise. Erst mal slow anfangen, mit Montagmorgenkreis und Frühstücken und Quatsching und so. Die Schüler dort abholen, wo sie sind – vom Hof, von zu Hause, aus dem Bett. Den Schülern fällt der Unterschied sowieso nicht auf.

Neue Klassen, neues Glück

Heute die letzte neue Gruppe kennengelernt. 7. Klasse, Kunst, Doppelstunde. Schon wenn sie den Raum betreten, kann der erfahrene Pädagoge die unterschiedlichen Schülertypen erkennen.

Die Sitzenbleiber kommen betont lässig und langsam reingeschlurft, sie setzen sich möglichst weit weg von der Tafel und von mir, in die hinterste Reihe. Dort kippeln sie die gesamte Stunde. Nichts dazugelernt könnte man meinen, denn mit diesem Verhalten haben sie bereits das letzte Schuljahr versemmelt. Warum setzen sie sich dann nicht einfach nach vorne und tun wenigstens so, als wollten sie in diesem Schuljahr alles besser machen?

Dann kommen die Irgendwie-will-ich-Quatsch-machen-aber-wenn-der-Lehrer-mich-hart-anguckt-kriege-ich-Schiss-Kinder – die muss man nur mal streng angucken, und dann sind die auch wieder ruhig und machen, was man sagt.

Dann sind da die Sonderlinge, oft mit Brille und Zahnspange. Früher hatten diese Kinder so abgeklebte Brillengläser. Sie sind gerne schlecht angezogen und müffeln manchmal. Niemand aus der Klasse will was mit ihnen zu tun haben. Ihr größtes Ziel: unsichtbar sein – bloß nicht auffallen. Deshalb machen sie sofort alles, was man ihnen sagt. Außer olfaktorisch hat man mit ihnen keine Probleme.

Außerdem sind da die gutgelaunten, grinsenden Mädchen, die alle voll lieb zueinander sind: »Hier, du kannst mit in mein Buch gucken.« Sie sind pünktlich und höflich, befolgen alle Regeln und sind gut in Kunst. Sie sind die Stützen der Klasse.

Dann kommen ihre schlechtgelaunten Gegenspielerinnen. Die gutaussehenden, frühreifen Schule-ist-langweilig-Mädchen. Vor denen haben die lieben Schülerinnen Angst. Die hübschen Biester sind nur an ihrem Äußeren interessiert. Schminken sich schon seit der 4. Klasse und reden ständig über Jungs. Sie haben immer Probleme und keinen Bock auf egal was. Die musst du kriegen, sonst kannst du das Schuljahr vergessen. Angeführt werden sie von Sitzenbleiberinnen. Die auf deine Seite zu holen ist aber eigentlich gar nicht so schwer, denn sie stehen total auf Lob und Zuwendung: »Du hast einen guten Strich, da erwarte ich viel von dir in Kunst. Dein Farbgefühl ist super, dass sieht man ja schon an der Zusammenstellung deiner Klamotten.«

Und schließlich sind da noch die Jungs aus der ersten Reihe. Auch heute wieder, zwei ganz bezaubernde Exemplare, direkt vor meiner Nase. Sie heißen Kevin und Martin. Die machen erst mal genau das, was du ihnen sagst, und dann versuchen sie, mit Petzen und Schleimerei bei dir zu punkten: »Der Mohamad ist immer so, der stört auch in den anderen Unterrichtsstunden.« – »Christine kommt immer zu spät.« – »Gucken Sie mal, der Dirk hat keinen Bleistift dabei.« Und zwischendurch immer: »Was muss ich für eine Eins tun?« – »Sagen Sie unserem Klassenlehrer, dass ich heute lieb war?« – »Sagen Sie ihm, dass ich gut mitgearbeitet habe?«

Sie sind nur an ihren Noten interessiert und nicht am Unterricht. Sie machen einen Strich und fragen sofort: »Welche Note wäre das bis jetzt? Ist das schon eine Eins?« Meistens haben sie wenig Geduld und nur mittelmäßiges Talent. Sie denken, dem Lehrer ein Ohr abzukauen, würde für eine gute Note reichen. Aber da sind sie bei Frau Freitag an der falschen Adresse. Beim dritten »Was muss ich für eine Eins machen?« lag mir auf der Zunge: »Endlich mal die Klappe halten und was halbwegs Vernünftiges aufs Papier bringen!« Die Jungs aus der ersten Reihe sollte man schnell woanders hinverpflanzen, dann hat man wenigstens im Unterricht seine Ruhe.

Die wahren Talente können in allen Schülergruppen schlummern. Bei den lieben Mädchen und auch bei den Biestern gibt es immer wieder herausragende Zeichnerinnen, selbst die Sitzenbleiber haben ab und zu ein Händchen für Kunst. Nur die, die wie Kevin und Martin ständig nach einer Eins fragen, haben nichts drauf. Und das wissen sie eigentlich auch selber, obwohl sie denken, sie könnten mir mit ihren ständigen Fragen suggerieren, dass sie eine bessere Note verdient hätten.

»Kevin ist doch kein Name, sondern eine Diagnose« – ein super Titel, schade nur, dass er nicht von mir ist. Da haben sie also eine Studie gemacht und Lehrerinnen und Lehrern fiktive Klassenlisten vorgelegt. Natürlich haben alle die Marie, die Nele, den Leon und den Finn als gute, leistungsstarke Nichtstörer kategorisiert und in Kevin, Schantal, Justin und Mandy die Alles-schwierig-bis-kaputt-Macher gesehen. Und die Lehrer seien sich ihrer Vorurteile gar nicht bewusst, sagt die Studie.

Aber jetzt mal ehrlich, hatte irgendjemand schon mal einen Leistungsträger in der Klasse, der Kevin hieß?

An meiner Schule gibt es vor allem andere Namen – klar, Kevins stören auch meinen Unterricht, aber sie werden von den Mohameds ziemlich schnell in ihre Schranken gewiesen.

Warum nennen Eltern ihr Kind eigentlich Mohamed? Nach dem Propheten, der Hauptperson ihrer Religion. Weil sie ihr Kind nicht Allah nennen dürfen, aber genauso viel von ihm erwarten, weil sie ihn als gottgesandten Heilsbringer sehen. So wird er dann sechs Jahre lang von der gesamten Sippe verhätschelt und auf Händen getragen.

Dann kommt dieses Königskind in die Schule, und dort sitzen plötzlich auch noch andere Gottessöhne. Damit kommt der einzelne Hamudi (Koseform von Mohamed) gar nicht klar und stresst seine Umwelt für mindestens zehn Jahre. Also Vorsicht, die Momos sind noch anstrengender als jeder Kevin.

Liebe Eltern, denkt bei der Namensgebung eurer Kinder ein bisschen mehr nach. Ist doch egal, wie der Opa hieß. Braucht wirklich jede Familie einen Mohamad und einen Ali? Ist später auch nicht gerade hilfreich bei der Jobsuche. Und wenn ihr eure Söhne schon nach dem Propheten nennt, dann erzieht sie doch bitte etwas besser. Ist doch peinlich, wenn ausgerechnet jemand mit diesem Namen eine mehrere Kilo schwere Schülerakte hat. Sollte der nicht seinem Namen »alle Ehre« machen? Redet mal mit eurem Nachwuchs, erklärt euren Kindern ruhig, was ihre Namen bedeuten. Ich hatte mal eine Schülerin, die hieß Kurdistan. Irgendwann beschwerte sie sich bei mir: »Frau Freitag, Momo sagt immer, mein Name sei ein Land.« Ich daraufhin: »Na ja, irgendwie, also, Kurdistan ist eigentlich kein richtiges Land. Na ja, das ist so ein Land wie Palästina.«

Neulich erfuhr ich von einer Kollegin aus einer Grundschule, dass es einen neuen Modenamen bei Erstklässlern gibt, die nach 2001 geboren sind. Super, mit diesen heranwachsenden Osamas werden wir an den weiterführenden Schulen in ein paar Jahren bestimmt einen Bombenspaß haben.

Vielleicht sollte man sich einfach mehr mit den unproblematischen Schülern beschäftigen. Die gibt es nämlich auch. Wenn wir über unseren Berufsalltag reden, dann erzählen wir doch immer von den Schwierigen, von den Nervtötern, von den Nixtuern, den Alles-kaputt-Machern. Von den Schülern, mit denen man am meisten Arbeit hat und die einem den Unterricht, den Tag und den Spaß am Beruf zerstören.

Konzentrieren wir uns deshalb einmal auf die netten Schülerinnen und Schüler. Die, deren Namen wir leider am Schuljahresende noch immer nicht kennen oder die wir ständig verwechseln – gerade weil sie nicht stören. Deren Eltern wir nicht kennen, weil wir sie nie anrufen oder zum Gespräch einladen müssen. Überhaupt reden wir nur selten mit den lieben, netten Schülern, weil sie ja immer da sind und alles tun, was man von ihnen verlangt. Sie machen ihre Hausaufgaben, lernen, schreiben gute Arbeiten – was sollte es also zu besprechen geben? Probleme scheinen die nicht zu haben, denn sie tanzen nie aus der Reihe. Wenn sie mal eine Stunde oder in einer Miniphase des Unterrichts unkonzentriert sind, dann spreche ich sie schon mal an: »Das bin ich von dir aber nicht gewohnt. Mach nicht so, das ist doch gar nicht deine Art. Von dir erwarte ich aber mehr.« Diese Schüler dürfen nicht negativ auffallen, denn sie bilden das wacklige Gerüst, auf dem ich so tue, als fände bei mir geregelter Unterricht statt. Sie müssen immer die perfekten Schüler sein. Sie dürfen sich nicht verändern, dürfen nicht in die Pubertät kommen, schlecht gelaunt sein oder faul und unverschämt werden.

In meiner Klasse gibt es davon vielleicht sechs oder sieben. Sechs oder sieben Schülerinnen und Schüler, die einfach so funktionieren und um die ich mich so gut wie gar nicht kümmere. Wenn sie einmal mit irgendeinem Problem zu mir kommen, dann fordere ich von ihnen, es auf schnellstem Weg alleine zu lösen. Ich habe keine Zeit, keinen Nerv und keine Lust, mich auch noch intensiv um die lieben, netten Schüler zu kümmern.

Ist das nicht krass? Der Lohn für gutes Verhalten und regelmäßige Mitarbeit besteht darin, ignoriert zu werden. Warum ignorieren wir nicht mal die Störer? Fräulein Krise schreit bei solchen Vorschlägen: »ETEP, ETEP! Entwicklungstherapie-Entwicklungspädagogik: Da soll man das genauso machen, nur das positive Verhalten verstärken.« Aber was machen die Störer eigentlich, wenn sie ignoriert werden? Hat das schon mal jemand probiert? Und hat unser ganzes pädagogisches Gekümmere schon mal was gebracht? Sind diese Deppen nicht am Ende doch sitzengeblieben, von der Schule geflogen, im Jugendarrest gelandet und ohne Schulabschluss abgegangen?

Wenn die Störer nicht den Unterricht stören, dann schwänzen sie. Zurzeit gebe ich mich mal wieder meinen persönlichen Statistiken hin. Am liebsten ist mir dabei das Ausrechnen der Fehlzeiten meiner Klasse und das Anlegen von Ranglisten. Ich habe ein etwas kompliziertes, aber sehr übersichtliches System entwickelt, die Verspätungen und die Fehlstunden meiner Schüler festzuhalten. Alle vier Wochen schreibe ich den Eltern Briefe und berichte ihnen darin genau, wie oft ihre Kinder geschwänzt haben. Und manche Eltern rufe ich sogar fast täglich an.

Den Schülerinnen und Schülern halte ich ihre Vergehen sofort vor, meistens, wenn ich sie auf dem Hof treffe. Dabei bekomme ich die interessantesten Storys erzählt, die mir aber mittlerweile völlig egal sind. Geschwänzt ist geschwänzt. Außerdem informiere ich die Klasse jede Woche über den Stand der Dinge: Wer hat bisher wie oft gefehlt. Dazu bekommen sie jedes Mal einen Vortrag darüber, dass sie sich doch irgendwann mit ihren Zeugnissen um eine Lehrstelle bewerben werden müssen. Abschließend ein: »Macht nicht so! Strengt euch an, das muss unbedingt sofort aufhören.« In der darauffolgenden Stunde gehe ich auf den Hof, und da sitzen wieder welche, die gerade schwänzen. Wenn ich sie erwische, bringe ich sie persönlich in den Unterricht.

All diese Maßnahmen kosten Zeit, Kraft, und meinen Nerven tun sie gar nicht gut. Ich rege mich über jede einzelne geschwänzte Stunde und sogar über die Verspätungen tierisch auf. Das geht nun schon seit zwei Jahren so. Und was bringt das alles? GAR NICHTS! Ich bin die Einzige in meiner Klasse, die sich erfolgreich irgendwo bewerben könnte. Ich habe keine unentschuldigte Stunde, ich war immer pünktlich.

Nach mir kommen vier Schüler, die auch immer da waren und rechtzeitig kamen. Einige von denen waren aber schon mal einen oder einen halben Tag krank. Dann gibt es sieben Leute, die ein bis zwei Stunden geschwänzt haben und zwei- bis dreimal zu spät kamen. Wenn das so bleibt, kann ich über ihre Fehltritte hinwegsehen.

Aber dann sind da die anderen, die, die gezielt nicht zu bestimmten Unterrichtsstunden gehen. Fünf bis sechs Fehlstunden bis zur vierten Woche des Schuljahres, und ich vermute, dass die Kollegen in der ersten Schulwoche gar nichts aufgeschrieben haben, denn da ist meine Liste ganz leer.

Und schließlich gibt es meine vier Problemfälle: Am Ende der dritten Woche hat einer acht, einer neun, die Dauerschwänzerin des letzten Schuljahres auch jetzt schon wieder zwölf und Hodda sechzehn Fehlstunden. In einer Woche! Und die ist jeden Tag in der Schule. Die geschwänzten Stunden verbringt sie auf dem Hof oder raucht mit irgendwelchen zwielichtigen Jungs vor dem Schulgebäude.

Zweiundachtzig unentschuldigte Fehlstunden insgesamt. In drei Wochen. Für eine Klasse. Ist das normal? Liegt das an mir? Was kann ich dagegen tun? Den Eltern rate ich zu Handyentzug und Ausgangssperren. Aber was kann ich machen? Wie gesagt, ich gehe ja täglich mit gutem Beispiel voran. Oder rege ich mich ganz umsonst auf? Gehört das Schwänzen einfach dazu? Und falls das so ist, wie schaffe ich es dann, mich nicht mehr so enorm darüber aufzuregen?

In der Hauptstadt soll es ein Internat für Schulschwänzer geben. (Ich bevorzuge den schönen Ausdruck »Schuldistanzierte«.) Vielleicht wäre das ja die Lösung. Etwa sechzehn Jugendliche – vor allem solche mit Migrationshintergrund – sollen dort leben und lernen. Das kostet jeden Monat 2 400 Euro pro Schüler. Klingt erst mal ziemlich teuer. Angeblich ist es aber billiger als ein Platz im Knast. Wir verbuchen das also unter dem Motto »Teure Prävention ist besser als ewige Folgekosten«, und ich bin voll dafür.

Wer wird denn dort arbeiten? Steht das schon fest? Wie gerne würde ich das im Bildungsfernsehen sehen – 24-StundenLive-Stream aus der Schulschwänzer-Villa. Leider bezweifle ich, dass es klappt, denn die Schüler sind meiner Meinung nach schon zu alt und zu verkorkst. Da muss man viel früher anfangen. Die Schulen in den Brennpunktbezirken müssten die besten der Republik sein. Die mit der teuersten Ausstattung, mit den engagiertesten und besten Lehrern und vor allem mit einem himmlischen Schüler-Lehrer-Verhältnis – 1:5 wäre doch schön.

Ich bin davon überzeugt, dass die Gemeinden auf lange Sicht Geld sparen würden. Kann das mal jemand ausrechnen, was es kostet, wenn ein Drittel meiner Klasse sich später erst mal von einer staatlich finanzierten Maßnahme zur anderen hangelt, um dann schließlich ein Leben lang Hartz IV zu beziehen. Und addiert doch bitte bei zwei bis drei Schülern die Kosten für mehrjährige Gefängnisaufenthalte. Ist das denn nicht viel teurer, als ein Super-Duper-Schulprojekt? Man muss das ja nicht gleich überall machen. Probiert das mal an ein oder zwei Schulen in jeder Großstadt aus und vergleicht dann die Aus gaben – alle reden doch immer von Nachhaltigkeit. Und vor allem, lasst die Konzepte für die neuen Schulen nicht von irgendwelchen Schreibtischfuzzis entwickeln, sondern von Lehrern, die bereits Erfahrungen mit schwierigen Schülern haben. Auch wenn wir nicht die besten Pisaergebnisse liefern oder tolle Bücher über das ideale Lernen schreiben, sind wir trotzdem die Spezialisten für unsere Schülerklientel.

Liebe Bildungssenatoren, gebt mir und Fräulein Krise ein halbes Jahr bezahlte Entwicklungszeit, und wir liefern euch ein Konzept, das sich gewaschen hat. Ich fürchte nur, niemand hat daran Interesse, gerade Migranten wirklich eine Chance zu geben, am Ende landen die noch in Positionen, in denen man sie gar nicht haben möchte.

Mein Klassenkampf

Meine Schüler sind genau die, die immer im Fernsehen als die armen Opfer des Schulsystems dargestellt werden. Chancenlos und benachteiligt. Ich sehe allerdings nur, dass sie die Chance hätten, einen guten Schulabschluss zu machen, aber – sie gehen ja nicht mal zum Unterricht! Das hört jetzt auf! The empire strikes back! Frau Freitag hat die Schnauze voll. Jetzt wird den Schwänzern aus meiner Klasse der Garaus gemacht.

Ich komme also auf den Hof, und da sitzen die Mädchen und ein paar Jungs gemütlich auf den Bänken und quatschen. Ich werfe einen Blick auf ihren Stundenplan: Sport. Gehe zum Vertretungsplan. Vertretung bei Frau Kriechbaum. Wutschnaubend stürze ich mich auf sie: »Warum seid ihr nicht bei Frau Kriechbaum?« Gestammel und Fadenscheiniges wird mir entgegengebracht. »Tja, eine weitere Fehlstunde für euch. Pech.« Im Lehrerzimmer trage ich die Schüler in meine Fehlstundenliste ein. Es klingelt, ich gehe zu meinem Unterricht. Ich war bisher immer bei meinem Unterricht. Ist gar nicht so schwer. Man muss einfach nur hingehen. Warum können meine Schüler das nicht?

Nach der Stunde mache ich wieder einen Kontrollgang auf dem Hof, und da sitzen die doch tatsächlich immer noch an der gleichen Stelle. »Sagt mal, spinnt ihr? Ihr habt doch jetzt Physik!« – »Frau Schwalle lässt uns nicht rein.« Wortlos drehe ich mich um, kurz vorm Explodieren. Na wartet, ihr bekommt heute alle einen Brief nach Hause. Und dann wollen wir doch mal sehen. Jedem Einzelnen werde ich eine Schulversäumnis-anzeige androhen. Wenn die Eltern das Wort Anzeige lesen, werden sie meinen Schülern bestimmt endlich mal Dampf unterm Hintern machen. Ich erzähle meiner Klasse ja nun schon seit Jahren, wie so eine Anzeige funktioniert und dass die Eltern unter Umständen bis zu 2 500 Euro bezahlen müssen. Das schockt sie jedes Mal – für fünf Minuten – höchstens bis zur nächsten Stunde.

Bevor ich nach Hause gehe, laufe ich noch mal über den Hof – geht doch nichts über einen gut organisierten Überwachungsstaat. Mehmet spielt fröhlich Basketball. Mittlerweile hat er nicht nur zwei Vertretungsstunden und Physik geschwänzt, nein, jetzt schwänzt er gerade auch noch die Geschichtsstunde, die schon seit zwanzig Minuten läuft. »Mehmet! Mitkommen!«

Schuldbewusst trottet er hinter mir her über den Hof. »Hat die Stunde schon angefangen?« Der Hof ist menschenleer. Ich drehe mich zu ihm um. »WILLST DU MICH VERARSCHEN?« Er geht zum Unterricht, ich wutschnaubend zurück ins Lehrerzimmer. Fünf Minuten später kommt Kollege Werner zu mir – mit Mehmet im Schlepptau: »Du, Frau Freitag, der ist doch von dir, oder? Der hat da oben wie bescheuert gegen die Tür gewummert.« – »Danke«, sage ich mit versteinertem Gesicht und zu Mehmet: »Okay, dann rufe ich jetzt deine Mutter an, die soll kommen und dich abholen.«

Die Mutter kommt, wir führen ein nettes Gespräch, Mehmet ziemlich kleinlaut, der Vater wird auch informiert. Mehmets Wochenende ist im Arsch. Und ich gehe wenig später fröhlich nach Hause und schreibe sofort Elternbriefe an fast alle Schüler meiner Klasse. Komisch, wie das meine Laune verbessert hat.

Ihr stört mich bei meiner Arbeit!

Manchmal ist irgendwie der Wurm drin und man kackt in jeder Stunde meisterhaft ab. Wirklich in jeder. Fängt schon mit der ersten an. Ich schreibe einen Vokabeltest, drei Leute sind beim Klingeln da, nach fünf Minuten kommen sechs gackernde Teenagermädchen reingeflogen und kichern sich auf ihren Plätzen erst mal in aller Ruhe weiter aus. »Huch, tschüch, Test, abó, wusst ich nich, mach nich so …« Habe ich aber gnadenlos weiter so gemacht, und sie durften Zeugnis ihrer Unkenntnis ablegen. Alle eine Fünf oder eine Sechs. Nach dem Test geht das heitere Gequatsche weiter. Ich will einen Text lesen, scheint keinen zu interessieren. Sie schlagen nicht mal das Englischbuch auf. Ich warte, gucke böse, zerplatze innerlich, warte weiter … und dann setze ich mich hin: »Okay, so kann ich hier nicht unterrichten. Ihr stört mich bei meiner Arbeit. Das kann nicht wahr sein, dass ihr jetzt schon so unruhig seid. Nicht in der ersten Stunde.« Sie starren mich etwas ungläubig an. Huch, Metaebene?

Ich schleudere ihnen eine Moralpredigt entgegen, die sich gewaschen hat. Sie endet mit der Frage: »Was wollt ihr eigentlich später mit eurem Leben anfangen? Einen Schulabschluss wollt ihr ja offensichtlich nicht.« Dann frage ich gezielt einzelne Schüler und Schülerinnen.

Abdul: »Frau Freitag, bei uns ist das irgendwie anders. Bei mir in der Familie hat keiner einen Abschluss. Oder wenn, dann nur einen Hauptschulabschluss. Aber die Eltern geben denen trotzdem Geld, wenn die Schule vorbei ist. So 5 000 bis 10 000 Euro.« Ich traue meinen Ohren nicht und schreie: »Na klar, Abdul, du meinst, deine Eltern geben dir 10 000 Euro, wenn du hier ohne irgendeinen Abschluss von der Schule abgehst? Das glaubst du doch selber nicht. Woher sollen die denn so viel Geld nehmen?« Jetzt mischen sich die Mitschüler ein: »Warum sollen deine Eltern dir Geld geben, wenn du alles verkackst?«

Abdul sucht nach Auswegen: »Ich könnte auch so eine Ausbildung zum Bäcker machen. Bei meinem Vater. Der ist Bäcker. Da kann ich das auch ohne Schulabschluss.« Ich kläre ihn auf, dass sein Vater kein Bäckermeister sei.

»Doch ist er.«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Doch, der macht das schon seit dreizehn Jahren, und wenn ich dann Bäcker bin, dann verdiene ich so zwischen 3 000 und 5 000 Euro im Monat.«

»Wie bitte? Ein Bäcker – 5 000 Euro, komm mal klar, Abdul, komm mal in der Realität an. Ein Lehrer verdient 2 000 Euro, da kriegt doch ein Bäcker nicht 5 000!« Abdul guckt verwirrt.

Samira dreht sich zu ihm und flüstert: »Willst du denn Bäcker sein?« Abdul kaut auf seiner Unterlippe und denkt nach. Diese neuen Fakten scheinen seine Zukunftspläne enorm durch einanderzubringen.

Als ich Mehmet nach seinen Zukunftsplänen frage, bekomme ich folgendes Szenario: »Ich mach erst mal viel Geld.«

»Wie denn, ohne Schulabschluss?«, frage ich.

»Ich hätte da zehntausend Möglichkeiten.«

»Illegale Dinge, oder was?«

»Nein, legal.«

»Nenn mir nur eine einzige Möglichkeit, wie du ohne Abschluss viel Geld verdienen willst.«

Seine zehntausend Ideen behält er für sich und murmelt nur: »Dann heirate ich eben und bekomme zehn Kinder.« Nach dem Statement kann ich mich zurückhalten, denn jetzt wird er von seinen Mitschülern verbal zerfleischt.

Ich frage mich allerdings immer noch: In welchem Alter kommen Jugendliche eigentlich in der Realität an?

Ein paar Tage später kommt mir der Zufall zu Hilfe. Abdul hat einen Termin bei unserem hauseigenen Berufsberater. Zufällig sehe ich, wie er in das Berufsberaterbüro geht und stürze sofort hinterher: »Kann ich kurz mal was fragen? Wir hatten neulich eine kleine Wissenslücke: Abdul denkt, dass ein Bäcker unheimlich viel verdient. Sie wissen doch sicher, wie viel da netto rauskommt.« Der etwas schüchterne Berufsberater: »Also ein Bäcker …« Abdul versucht sich mit »Ich meinte Konditor« zu retten. – »Also, ein Bäcker oder ein Konditor, das ist nicht viel, 1 500 brutto, das sind dann vielleicht … 950 Euro netto.« Abdul flüstert: »Ich meinte ja auch, wenn der Laden einem gehört.« Ich: »Aber Abdul, wo willst du denn einen Laden hernehmen?« Und zum Berufsberater: »Na ja, ist ja auch egal, vielleicht finden Sie mit ihm ja einen neuen Traumberuf.« Ha, dachte ich. 950 Euro, so viel wie im Referendariat. Tzzz, 5 000 Euro, Traumtänzer …

Ich will Feuerwehrmann werden, weil ich gerne Leute helfe

Nicht nur Abdul, meine ganze Klasse hat seltsame Vorstellungen vom Berufsleben. Am Freitag fragt mich Mehmet: »Frau Freitag, kann man sein Praktikum auch als Stewardess machen?« Stewardess – er sieht bestimmt süß aus in einem kurzen Lufthansakleidchen. »Weiß ich nicht genau«, antworte ich. »Wahrscheinlich kannst du am Flughafen arbeiten, aber die werden dich im Praktikum nicht fliegen lassen. Kann ich mir jedenfalls nicht vorstellen.«

»Ja, stell dir mal vor«, mischt sich Abdul ein, »deine Mutter ruft dich auf Handy an, und du sagst, du fliegst gerade nach Istanbul.«

»Was macht ihr denn eigentlich bei der Berufsvorbereitung? Schlagen die euch keine Praktikumsplätze vor? Und fragt die doch mal, wie viel man in der Ausbildungszeit verdient. Die sollten so was doch wissen.«

Samira: »Das ist voll langweilig, der Unterricht bei denen. Die wollen immer nur wissen, was wir so privat machen. Die wollen uns aushorchen.« Sabine mischt sich empört ein: »Ja, die sind voll neugierig. Und was hat das mit dem Praktikum zu tun?« Wahrscheinlich versuchen die armen Kerle nur, etwas über die Interessen und Fähigkeiten meiner Schüler herauszubekommen. Langsam befürchte ich, dass niemand meiner Klasse je sagen wird, welche Berufe es gibt und was man in den einzelnen Berufen so macht.

Ein Freund von mir veranstaltet mit Klassen außerhalb der Schule Bewerbungstraining und kann oft gar nicht fassen, wie wenig Ahnung die Schüler von der Berufswelt haben. Neulich hat er von einem griechischen Jungen erzählt, Realschüler, der sich in einem griechischen Restaurant als Koch bewerben wollte.

Das Einstellungssimulationsgespräch lief so:

»Nennen Sie doch mal ein paar griechische Gerichte.«

»Oh. Schwer. Also auf jeden Fall Tsatsiki. Und dann diese kleinen Würstchen. Die macht meine Mutter immer im Ofen.«

»Und wie heißen die?«

»Keine Ahnung. Aber lecker!«

»Stellen Sie mir mal ein typisches griechisches Drei-Gänge-Menü zusammen.«

»Oh. Schwierig.« Pause. »Das ist aber eine schwere Frage, also, als Vorspeise … Salat.«

»Was soll denn da drin sein in dem Salat?«

»Normaler Salat. Dann vielleicht Tomaten.« Pause. »Und Gurken.«

»Sonst noch was?«

»Nein. »

»Käse?«

»Nein.«

»Aha, kommen wir zum Hauptgericht …«

»Fleischplatte mit Kartoffeln!«

»Und zum Nachtisch?.«

Lange Pause. »Schwierig.« Pause. »Muss kein griechisches Gericht sein.« Pause. »Kuchen.«

Hätte dieser junge Mann wohl einen Ausbildungsplatz bekommen? Oder der, der sich bei der Polizei bewerben wollte?

»Woher weiß denn ein Polizist, was richtig und was falsch ist?«

»Das weiß der eben.«

»Und woher?«

»Keine Ahnung.«

»Steht das vielleicht irgendwo? Vielleicht in irgendeinem Buch?«

»Vielleicht. Auf jeden Fall wäre dieses Buch dick.«

Und was ist mit dem Mädchen, dass unbedingt Pharmazeutische Fachangestellte werden möchte und denkt, sie muss Mathe können, um das Haltbarkeitsdatum auf den Medikamenten auszurechnen. »Woher wissen Sie denn, welches Medikament ein Patient braucht?«

»Das weiß ich dann schon.«

»Schreibt das nicht ein Arzt auf?«

»Nein, das kann ich dann auch.«

Wussten Theo Guttenberg, Frank Steinmeier und Angela Merkel in der 9. Klasse bereits, was sie mal werden wollen? Oder wussten nur ihre Eltern, dass aus denen noch was werden SOLL? Und weiß man mit fünfzehn überhaupt schon, was man als Erwachsener machen möchte? Theos Eltern haben bestimmt nie gesagt: »Hauptsache, du findest gute Frau. Muss aber Jungfrau sein. Abiturschule ist egal. Hauptsache heiraten, und danach machst du viele Söhne.« Wäre es nach meinen Eltern gegangen, ich wäre heute Friseuse oder Hausmeister. Und ich wollte wahlweise Trapezkünstlerin, Archäologin, Kapitän oder Briefträgerin werden.

Meine Schüler wissen gar nicht, was sie mal werden wollen. Okay, einige wollen berühmt werden. Das ist ja schon mal was. Hätte ich auch nichts gegen. Ich sage ihnen immer: »Ich hebe alle eure Kunstarbeiten auf, wenn ihr dann mal berühmt seid und in der Zeitung steht, dann kann ich die an BILD verkaufen. Aber macht bitte nicht nur durch irgendeinen bescheuerten Einbruch oder mit Ehrenmord von euch reden.«

Und ich sage den Mädchen in jeder Klasse: »Wäre schön, wenn eine von euch Kosmetikerin werden könnte, ich habe doch immer so viele Pickel.« Ich habe geschworen, Hakan zu konsultieren, bevor ich mir ein Auto kaufe, der kennt sich voll krass aus. Leider hängt er zurzeit in einer Maßnahme fest, aber ich vertraue seinem Sachverstand total.

Letztes Jahr hatte ich eine Schülerin, die von einer Gymnasiumschule zu uns kam. Daniela hatte gute Zensuren und wir sprachen oft nach dem Unterricht über Auslandsaufenthalte und darüber, wie das Studieren funktioniert. Sie will Plastische Chirurgin werden. Ich setze alle meine Hoffnungen in sie. Sie hat mir Rabatte versprochen. Eine Kosmetikerin, dir mir billiges Botox spritzen kann, würde mir aber in den nächsten Jahren erst mal reichen.

Die Berufswahl ist echt schwierig, und ich bin froh, dass ich das hinter mir habe. Ich beneide meine Schüler nur selten darum, dass ihnen noch alles offensteht.

Die Eltern kümmern sich meiner Meinung nach zu wenig darum. Und die Schüler wissen ja gar nicht, was es so alles gibt. Wenn die wenigstens sagen würden: »Irgendwas mit Medien.« Aber ich bezweifle, dass von Guttenberg vor 25 Jahren sagte: »Irgendwas mit Krieg will ich später auf jeden Fall mal machen.«

Frau Freitag ermittelt

Was ich an meinem Lehrerdasein besonders liebe ist, dass ich ab und zu kriminalistisch tätig werden kann. Neulich gab es wieder einen Fall zu klären.

Als ich morgens ins Lehrerzimmer komme, spricht mich Kollege Werner an, wo denn drei meiner Schülerinnen (unter anderem Samira) gestern in der fünften und sechsten Stunde gewesen seien. In der zweiten Stunde hätte er noch das Vergnügen gehabt, sie zu unterrichten, aber später seien sie nicht mehr aufgetaucht. Es ist manchmal echt günstig, wenn ein Kollege mehrmals am Tag in einer Klasse unterrichtet. Sonst würde man oft gar nicht bemerken, dass die Schülerzahl gegen Nachmittag stark abnimmt. So auch gestern.

»Komisch, also in der zweiten Stunde waren sie noch da, sagst du? Hmmm …«

»Ja, und in der sechsten Stunde hat Frau Schwalle sie dann auf dem Lidl-Parkplatz gesehen. Wann hast du denn heute in deiner Klasse? Dann komme ich nämlich einfach mal rein.«

Anscheinend gibt es in unserem Kollegium noch andere Hobbydetektive. Ich sage: »Ich hab die jetzt gleich, bin gespannt, was die mir auftischen werden.«

Die Klasse trudelt ein, wir plaudern gemütlich, bis es klingelt. Ich gebe mich betont freundlich – einfach öfter mal nett sein! – und hake so ganz nebenbei die Anwesenheitsliste ab. »Marcella, Ayla und Samira, wo wart ihr eigentlich gestern in der fünften und sechsten Stunde?«

Marcella: »Samira war schlecht, und da sind wir in den Freizeitbereich gegangen. Und da hat sie sich dann hingelegt.«

Der Freizeitbereich ist der Ort, an dem die Schüler die Pausen und ihre Freistunden verbringen können. Dort kann man Billard oder Tischtennis spielen. Ich habe da noch nie ein Krankenbett gesehen. Zur Genesung taugt dieser Teil der Schule meines Wissens nicht.

»Wenn ihr schlecht war, hättet ihr doch ins Sekretariat gehen müssen und nicht in den Freizeitbereich …«

Samira: »Ich geh doch nicht ins Sekretariat! Niemals!«

»Also, wer war denn im Freizeitbereich? Welcher Erzieher war da?«

Samira: »Gar keiner.«

Ich stutze, seit wann lassen die Erzieher den Freizeitbereich unbeaufsichtigt? Das habe ich ja noch nie gehört. Die Mädchen merken, dass Samiras Behauptung unglaubhaft klingt, und denken noch mal nach. »Ich glaube, Micha war da«, sagt Ayla. Alles klar, Micha, der netteste Erzieher. Jetzt überlegen sie bestimmt, wie sie ihn einweihen können, damit er ihnen ein Alibi verschafft. »Und ihr seid euch ganz sicher, dass ihr da wart, ja?« Sie nicken wie die Unschuldslämmer.

Fünf Minuten später geht die Tür auf und der Kollege Werner steht da, mit Zetteln in der Hand. »So, hier sind drei Tadel, die bringt ihr bitte morgen unterschrieben wieder mit. Ich habe auch noch die Begründung drangeheftet, zu eurer Information.« Starre Stille. Sie lesen und sagen nichts. Überführt. Der Kollege geht zufrieden wieder raus.

Ich sage: »Ihr wart gar nicht im Freizeitbereich, ihr wart außerhalb des Schulgeländes! Auf dem Lidl-Parkplatz.«

Samira schreit: »Nein, das stimmt nicht, woher wollen Sie das wissen?«

»Herr Werner war doch gerade hier, und der hat euch ge sehen.«

Samira überlegt: »Aber Herr Werner kann uns doch gar nicht gesehen haben, der war doch da im Unterricht.« Ich denke: Stimmt, die haben ja in seiner Stunde gefehlt. Plötzlich geht Samira ein Licht auf: »Das war die Schwalle, die hat uns verpetzt!«

»Die Hässlichkeit«, flüstert Ayla.

Ich überhöre die Beleidigung und setze zur Moralpredigt an: »Ihr habt mich also angelogen.« Samira: »Nein, wir haben nicht gelogen, wir haben nur nicht alles erzählt.« Marcella: »Das hätten Sie als Kind auch nicht gemacht.« Nein, denke ich, wahrscheinlich nicht.

Was mich aber den ganzen Tag noch beschäftigt hat: Waren sie nun vorher im Freizeitbereich, oder haben sie mich doch angelogen? Morgen frage ich Micha. Und wenn der sich nicht erinnern kann, dann mache ich eine Gegenüberstellung mit den dreien und allen Erziehern und Erzieherinnen, die gestern im Dienst waren. Wäre doch gelacht, wenn ich diesen Fall nicht lösen könnte.

Ein paar Tage später habe ich die ganze Sache schon fast wieder vergessen, auch dass ich den Schwänzerkindern Briefe nach Hause geschickt habe. Aber die kamen anscheinend an, denn ich erhielt bereits den ersten Rückruf eines verstörten Erziehungsberechtigten. Na, endlich bewegt sich was. Von meiner Klasse wurde ich dementsprechend begrüßt: »Vielen Dank, Frau Freitag, vielen Dank für die Post …« Samira: »Abóóó, Frau Freitag, ich habe meiner Mutter erst den Tadel gezeigt und dann kam sie noch mit dem Brief. Tschüch, war die sauer, jetzt habe ich voll Ärger zu Hause.« Marcella: »Meine Mutter hat das unterschrieben, weil mein Vater war Nachtschicht, aber heute Abend bekomme ich voll Ärger, weil er hat mich heute morgen schon so böse angeguckt und nicht mit mir geredet.«

Während die Schüler dann friedlich vor sich hinarbeiten, höre ich immer wieder: »Abó ja, ich gehe jetzt immer Unterricht.« – »Ich auch, ich schwänze nie mehr.« – »Ich will auch mehr machen für die Schule.« Herrlich, hoffentlich hält das noch eine halbe Woche an.

Nach meinem Unterricht will ich die unterschriebenen Tadel in das Fach von Herrn Werner legen, plötzlich regt sich der Kriminalist in mir. Was, wenn die Girls das alles nur erfunden haben? Was, wenn die sich ausgedacht haben, dass sie mir einfach erzählen, wie viel Ärger sie bekommen haben, und eigentlich haben sie die Tadel gar nicht vorgezeigt, sondern selbst unterschrieben? Sofort rufe ich bei Samira an: »Hier ist Frau Freitag, die Klassenlehrerin von Samira, könnte ich mit Samiras Vater sprechen. Ja, wegen des Tadels.«

»Ja, hat sie gezeigt. Wir haben darüber gesprochen und sie hat schon Arschvoll bekommen. Aber wissen Sie, wir waren ja auch Kinder …«, sagt er.

»Ja«, antworte ich, »ich weiß, na, hoffen wir mal das Beste für die Zukunft.«

Nicht alle sind Hirntote

Ich befürchte, dass meine Schüler wie die absoluten Hohlbirnen wirken. Das sind sie aber nicht. Wirklich nicht! Ich halte sehr viel von meiner Schülerschaft, bewundere sie dafür, was sie täglich leisten und wie gut sie sich zum größten Teil in unserem antiken Schulsystem entwickeln. Nie würde ich auch nur einen oder eine aus meiner Klasse gegen einen ehrgeizigen wohlerzogenen Gymnasiasten eintauschen wollen. Denn meine Schüler können mich jeden Tag aufs Neue überraschen. Im Positiven und leider auch im Negativen. Langweilig ist es zum Glück nie. Das kann wahrscheinlich nicht jeder von seinem Arbeitsalltag sagen. Und anstrengend sind wahrscheinlich die meisten Jobs. Aber für die Schüler ist die Schule ja auch anstrengend. Ich würde nicht mal eine Woche als Schüler aushalten. Die haben so unheimlich viele Stunden und müssen sich alle fünfundvierzig Minuten auf einen neuen Irren einstellen. Der eine will dies, der andere regt sich über das auf. Neulich habe ich mit meiner Klasse über Schüler gesprochen, die nur über das Internet unterrichtet werden. Ich fand es super und dachte, sie wären begeistert von der Vorstellung, jeden Tag zu Hause zu bleiben. Sie fanden es furchtbar und stellten fest, dass es viel zu langweilig wäre und sie eigentlich gerne zur Schule gehen. Dort treffen sie ja auch ihre Freunde, und es ist immer was los.

Man darf auch nicht vergessen, dass die Schüler sich in der Hochphase der Pubertät befinden. Die normalisieren sich auch wieder und werden später ruhiger und zuverlässiger. Wahrscheinlich haben wir die falsche Idealschülerschaft vor Augen. Wir gehen immer von Standards aus, die wir vielleicht einfach vergessen sollten. Der ideale Schüler ist bei uns ein heiliger Alles-Mitmacher, den es wahrscheinlich nicht mal an den elitärsten Gymnasien gibt. Wir sollten einfach mal anfangen, die Schüler so zu sehen, wie sie sind, und uns dann überlegen, wie wir sie am besten auf ihr späteres Leben vorbereiten können. Wir sollten uns nicht immer aufregen, wenn fünf Leute zu spät kommen, sondern uns darüber freuen, dass der Rest pünktlich ist. Nicht darüber meckern, dass viele so schlecht Deutsch sprechen, sondern stolz darauf sein, bilinguale Schüler zu unterrichten. Nicht multikulti, sondern kosmopolitisch und international sind unsere Schulen. Warum ist es besser, Französisch zu können als Arabisch? Warum ist Italienisch höherwertiger als Türkisch? Und welcher Lehrer ist mit seiner Familie schon mal in ein anderes Land gezogen und muss sich täglich in zwei Kulturen bewegen?

Ach, theoretisch ist das doch alles ganz einfach, aber in ein paar Stunden stehe ich selbst wieder vor irgendeiner Klasse und rege mich darüber auf, dass sie keine Hausaufgaben gemacht haben.

Herbst

Wenden wir uns wieder den wirklich wichtigen Aspekten der Bildung zu! Ist eigentlich irgendjemandem schon mal aufgefallen, wie unpassend sich Schüler kleiden? Gerade wenn die Jahreszeiten wechseln, fällt mir das auf. Den Herbst scheinen viele meiner Schüler ignorieren zu wollen, indem sie einfach konsequent ihre Sommerklamotten weitertragen. Ich sehe nicht eine leichte, aber doch wärmende Übergangsjacke. Sie kommen in dünnen langärmligen T-Shirts, manche sogar kurzärmlig. Das andere Extrem: Neulich auf dem Weg zur Schule sehe ich einen Jungen mit Schultasche und Wollhandschuhen. Und wenn es regnet, dann bleiben sie schön zu Hause, oder hat schon mal jemand einen Schüler mit einem Regenschirm oder im Regenmantel gesehen?

Irgendwo habe ich gelesen, dass ein Indiz für die Zugehörigkeit zur, ähm …bildungsfernen Schicht, Arbeiterklasse, Unterschicht sei, sich im Sommer zu warm und im Winter zu kalt anzuziehen. Bildungsfern – das kann man auch sein, wenn man viel Geld verdient. Arbeiterkinder sind unsere Schüler nicht, ihre Eltern haben ja keine Jobs. »Hartz-IV-Kinder« – gibt es so einen Ausdruck überhaupt? Na ja, egal, sollte die Theorie jedenfalls stimmen, dann müssten unsere Schüler zurzeit in Hotpants und Bikinioberteil zur Schule kommen.

Wo sind die Mütter, die morgens kontrollieren, dass man auch schön die Jacke zumacht oder die Jacke überhaupt mitnimmt? Wenn ich im Winterschneesturm mit Schal und Mütze in einem fetten Daunenmantel auf dem Hof meiner Aufsichtspflicht nachkomme, rennt da immer ein Haufen Schüler im T-Shirt rum. Aber dann sitzen die gleichen Schüler in einem völlig überhitzten Klassenraum und weigern sich, ihre Handschuhe auszuziehen. Sind die Schüler bei uns schon so verroht, dass sie Temperaturunterschiede überhaupt nicht mehr wahrnehmen? Erst im Mai hat Emre seine Winterjacke abgelegt, aber jetzt wird es bis Januar dauern, bis er sie wieder rauskramt.

Ich freue mich jetzt schon auf meine Wintermantras: »Mach die Jacke zu, du erkältest dich«, und: »Zieh bitte die Jacke aus, hier ist es warm.«

Und liebes H&M, wie wäre es mal mit richtig coolen Übergangsjacken oder, noch besser, stylischen Regenmänteln? Und bitte bringt mal neue Pullis raus. Ich kann diese Streifenteile nicht mehr sehen.

Aber kleiden sich Lehrer eigentlich immer besonders modisch? Und warum können wir unsere Berufskleidung nicht steuerlich geltend machen? Ich habe ja, wie wahrscheinlich jeder Lehrer, meine Schulklamotten und meine Privatkleidung. Privat: so ganz leger. Aber in der Schule, da bin ich Lehrerin, da darf nix auf den T-Shirts stehen. Bei Fräulein Krise kam mal ein Kollege mit einem Böhse-Onkelz-T-Shirt in die Schule. Finde ich persönlich unpassend.

Liebe Junglehrer, Aufdrucke wie: »Wählt die CDU – jetzt!«, »Motörhead fetzt«, aber auch: »Ökostrom – die bessere Alternative, auch wenn’s Atomstrom ist«, gehören eher in die Kategorie Privat. Kauft euch einfarbige T-Shirts fürs Unterrichten. Nicht zu eng und nicht zu weit ausgeschnitten. Und Achtung: Die ganz billigen halten dem Angstschweiß, den man bei Vertretungsstunden entwickelt, nicht lange stand, die fangen an zu stinken. Da hilft nur: wegschmeißen und neue kaufen. Also lieber gleich ein paar Euro mehr investieren. Ach ja, liebe Junglehrerinnen: BH nicht vergessen!

Frau Dienstag schwört auf Blusen. Vorne zugeköpft ist gar nicht schlecht, denn man darf nicht vergessen, dass man – vor allem beim Frontalunterricht – ja allen Blicken ausgeliefert ist. Und auch wenn die Schüler nicht zuhören oder mitmachen, eines tun sie ganz sicher – sie werden dich von oben bis unten mustern. Und wenn das Hemd zu durchsichtig oder der Pullover dreckig ist, dann weiß das gleich die ganze Schule. Apropos Pullover: Liebe nicht mehr ganz so junge Lehrerinnen, bitte keine Pullover mit Teddybär-Applikationen tragen!

Meine Idealvorstellung vom perfekten Lehreroutfit ist eine hautenge Art Rüstung, wie ein Korsett aus irgendeinem tragbaren Metall. Könnte so geschnitten sein wie eine Stewardessenuniform, in dunkelgrau, und da müssten so Stäbe drin sein, die einen aufrichten, damit man immer ganz gerade steht. Habe ich aber noch nicht gefunden, und so begnüge ich mich mit den spießigsten Kostümchen, die ich in den Damenoberbekleidungsabteilungen der Kaufhäuser finde. Ich habe mir sogar extra eine Brille mit Fensterglas gekauft, damit ich lehrerinnenmäßiger aussehe. Und trotzdem fragte mich letztes Jahr ein Schüler, ob ich eine Praktikantin bin. Haare unbedingt hochstecken, am besten Dutt. Und die Schuhe nicht zu flach, die Schüler müssen dich schon am Klackern deiner Absätze erkennen.

Und die Herren …was ist nur los mit euch Lehrern? Warum seid ihr so schlecht angezogen? Meint ihr wirklich, den Schülern fällt nicht auf, dass ihr nur zwei labbrige Cordhosen besitzt, mehrere Tage dasselbe Hemd tragt und eure braunen Lederslipper irgendwie nicht mehr angesagt sind … An der Schule werden modische Trends gesetzt! Macht mal mit! Und was soll das eigentlich immer mit diesen speckigen Schweinsledertaschen?

Ständige Überraschungen

Es regnet in Strömen. Ich denke: Na, wird wohl keiner zur ersten Stunde kommen – regnet ja, könnten sie ja nass werden. Aber um acht sind alle da, und die Hälfte der Schüler hat einen Regenschirm, die andere wasserdichte Übergangsjacken.

Dann kommt Herr Werner in der Pause auf mich zu und er zählt, wie toll meine Klasse gestern mitgemacht hätte. Nicht nur vom Verhalten her, auch ihre Beiträge seien super gewesen. Und Frau Hinrich sagt, dass alle pünktlich und lieb waren. Normalerweise werde ich von Frau Hinrich, die meine Klasse in Deutsch unterrichtet, immer mit der Anzahl der fehlenden Schüler begrüßt. »Guten Morgen Frau Hinrich.« – »Frau Freitag, wieder haben sieben Schüler gefehlt und drei kamen zu spät.«

In der zweiten großen Pause führe ich ein Elterngespräch mit einer Mutter, die sich selber eingeladen hat und mir damit leider meine Pause nimmt. Allerdings verläuft das Gespräch gut und endet mit vielen Versprechungen und gegenseitig vereinbarten Kontrollmechanismen: Ich soll in Zukunft immer sofort anrufen, wenn was ist. Der Sohn wirkt in der Schule so, als hätte er keine Eltern, aber die Mutter ist sehr interessiert am schulischen Werdegang ihres Kindes – trotz großer Verständigungsprobleme. Sie spricht kaum Deutsch, hat dafür aber gleich eine Übersetzerin zum Gespräch mitgebracht. Das ist bei uns an der Schule nichts Außergewöhnliches. Man freut sich allerdings besonders, wenn die Übersetzer schon volljährig sind.

Aber dann der krönende Abschluss des Tages – Kunstunterricht in meiner Klasse. Während die anderen arbeiten, hockt sich Esra neben das Lehrerpult. Esra trägt Kopftuch, aber nicht ständig dasselbe, sondern jeden Tag ein anderes und immer mit Glitzer und farblich abgestimmtem Schmuck dazu. Mein Freund nennt diesen Stil Disco-Islam.

»Frau Freitag, Samira und ich lesen doch gerade Anne Frank und das ist ja sooo schrecklich, wie die die Juden behandelt haben.« Ich erinnere mich dunkel daran, dass die Deutschlehrerin mit meiner Klasse ein neues Buch anfangen wollte: »Lest ihr das jetzt in Deutsch?«

»Nein, das haben wir uns aus der Bücherei ausgeliehen. Und das ist so ein gutes Buch. Aber alles so schrecklich. Die Juden durften ja nicht mehr rausgehen abends.«

»Ja, ich weiß. Esra, verstehst du jetzt, warum wir nicht wollen, dass ihr ›Jude‹ als Schimpfwort benutzt? Weil die Deutschen doch damals so gemein zu den Juden waren.«

»Ja, ich mach das auch nicht mehr.« Damit trottet sie wieder an ihren Platz. Ich starre ihr verwirrt hinterher. »Weil die so gemein waren« – habe ich das eben echt gesagt? Leicht untertrieben, aber egal, Hauptsache, sie lesen. Und dann auch noch Anne Frank und zwar freiwillig – wer hätte das gedacht?

Warum gehst du nicht an eine andere Schule?

Neulich war ich noch voll spät abends draußen. Bei einem Konzert – also nicht Motörhead und dann bis morgens saufen und direkt in die Schule. Mehr so was Ruhiges. So lehrerfeelgoodmäßig. Und ich bin auch schon um halb elf gegangen und dann schnell ins Bett und Licht aus. Aber auf dem Konzert habe ich mit einem jungen Mann gesprochen, der gerade sein Abitur nachmacht. Auf dem zweiten Bildungsweg. Der ist übrigens nicht um halb elf gegangen und hatte am nächsten Morgen auch Schule. Jedenfalls haben wir so gequatscht, und ich musste wieder die übliche Leier abspulen: »Ich bin Lehrer, ja, macht Spaß, ja, ist anstrengend, ja, ich mach das gerne …« Und da sagt er, dass er auch überlegt, später auf Lehramt zu studieren. Und wir quatschen und quatschen und ich berichte ein wenig aus meinem Berufsalltag. Achte darauf, diesmal nur Positives zu berichten. Wir müssen ja schließlich dafür sorgen, dass es an unseren Schulen bald Nachwuchs im Kollegium gibt. Ich versuche also, meinen krassen Alltag möglichst gut darzustellen. Da er sich noch nicht so gut auskennt, erkläre ich den Unterschied zwischen der Arbeit an meiner Art von Schule und der Arbeit am Gymnasium – so wie ich mir das vorstelle. Ehrlich gesagt, habe ich außer ein paar Erzählungen gar keine Ahnung von Gymnasien. Er fragt mich nach der Belastung und wie denn meine Woche so aussieht, wann ich nach Hause komme und wie ich mich dann so fühle und vor allem, ob ich nach der Schule noch viel vorbereiten müsste. Ich sage dann immer, dass ich eigentlich zu Hause nicht so super viel machen muss, da unsere Schüler alles nur sehr langsam checken und man sich eher in Spiralen bewegt: was vorbereiten, durchführen, Schüler checken nichts, am nächsten Tag noch mal Übungen dazu, dann wieder einen Zentimeter vor, dann wieder einen Meter zurück und so weiter. Fazit: Die Vor- und Nachbereitung hält sich in Grenzen, dafür ist der Unterricht selbst oft hyper anstrengend. Manchmal komme ich nach Hause und denke: Bitte gebt mir den Gnadenschuss – ich sterbe sowieso gleich. Dann bin ich so fertig, dass ich ohnehin nichts mehr vorbereiten könnte. Ich sitze eigentlich immer nur am Sonntag am Schreibtisch und arbeite. Dafür ist der Unterricht an den Gymnasien wahrscheinlich in der Durchführung leichter, aber die korrigieren ewig und müssen sich wahrscheinlich auch intensiver vorbereiten.

»Da musst du eben wissen, was du willst. Ob du an einem Gymnasium oder woanders arbeiten willst«, sage ich dem jungen Mann. Ich erzähle, dass ich auch in der 11. Klasse unterrichte: »Das ist voll easy. Die machen alles, was du willst, und sind immer leise. Irgendwie ist es aber auch langweilig.«

»Langweilig?«

»Ja, die brauchen einen gar nicht.«

Er wundert sich: »Aber wenn der andere Unterricht so anstrengend ist, warum gehst du denn nicht an ein Gymnasium?«

Ich überlege. Ja, warum tue ich mir das eigentlich alles an? Warum gehe ich nicht an ein Gymnasium? Und dann fällt mir plötzlich die Antwort ein: »Weil ich keine Schüler unterrichten kann, die was lernen wollen.« Komisch, oder?

Sachen die ich immer wieder sage

  • Guten Morgen.
  • So, Leute. Lasst mal anfangen, ist schon fünf nach.
  • Sei mal leise.
  • Merkst du’s nicht, du redest immer noch.
  • Pack das Handy weg.
  • Nicht hier im Raum essen. Der Tisch wird fettig.
  • Kaugummi raus, Mütze ab, Jacke ausziehen.
  • Fast richtig. Versuch’s noch mal.
  • Guten Morgen. Das hat Christine gerade gesagt.
  • Nützt es was, wenn ich mich mit deinem Vater darüber unterhalte?
  • Nur in den Pausen aufs Klo.
  • Pack das weg. (DAS ist meistens Schminkzeug)
  • Noch nicht einpacken.
  • Hat noch nicht geklingelt.
  • Fang doch jetzt mal an, die anderen sind schon fast fertig.
  • Stühle hochstellen.
  • Heb das bitte auf. – Von mir ist das auch nicht.
  • Lass ihn/sie in Ruhe.
  • Sprich nicht in dem Ton mit mir.
  • Schrei nicht so, ich stehe doch direkt neben dir.

Bei guter Laune oder Schulinspektion hänge ich an die Sätze auch ein BITTE.

Ich sage aber auch oft:

  • Super, hast du das alleine gemacht?
  • Toll, schon fast richtig.
  • Neuer Haarschnitt? Steht dir gut.
  • Schöner Pulli.
  • Danke, dass du das aufhebst.
  • Danke, mir geht es auch gut.
  • Danke, aber das zieht mir die Füllungen aus den Zähnen.
  • Lehrer sollten sich nicht auf Facebook mit Schülern befreunden.
  • Ich weiß noch nicht mal, was MSN ist.
  • Ich bin wahrscheinlich älter als deine Mama.
  • Wenn du dir jetzt wirklich in die Hose machst, kaufe ich dir in der Pause eine Cola.
  • Ach ihr Armen, ihr habt noch drei Stunden … Ich gehe jetzt nach Hause.
  • Nein, ich fahre nicht weg.
  • Ja, ich fahre in den Winterurlaub.
  • Wooochenendeee!

Nimm du doch meine Klasse …

Die Kollegen meckern wieder. Gestern komme ich ins Lehrerzimmer und werde bombardiert mit: »Deine Klasse spinnt ja wohl.« Vorher hatte ich eine Stunde in meiner Klasse und alle kamen relativ pünktlich, haben sich gut benommen und sogar friedlich gearbeitet. Weil die Stimmung gut war, kamen auch diverse Schüler zu mir, um mir ihre Probleme zu erzählen. Und die sind – gelinde gesagt – massiv. Da geht es um Krasseres, als kein Prinzessinnenschloss von Playmobil zum Geburtstag zu bekommen oder eine Woche nicht fernsehen zu dürfen. Solche Probleme hat keiner meiner Kollegen. Ich kann es immer gar nicht fassen, was die erleben – erleben müssen. Normale Jugend ist das nicht. Ich wundere mich eigentlich oft, dass die trotz dieses harten Aufwachsens relativ normal ticken.

Da droht bei einigen Mädchen die Zwangsheirat im Geburtsland der Großeltern, Alkohol- und Drogenkonsum mancher Eltern gefährdet die »Erziehungsarbeit« zu Hause, und ich hatte sogar schon Schüler, deren Vater oder Mutter ermordet wurde. Jeder Psychologe würde sagen, dass ein Totaldurchdrehen bei solchen Erlebnissen durchaus normal wäre.

Manchmal wünschte ich, die Schüler würden mir dieses ganze Elend nicht erzählen. Aber passieren würde es ihnen ja trotzdem, nur ich könnte abends besser abschalten und nachts ruhiger schlafen.

Recht geschockt gehe ich also ins Lehrerzimmer und werde gleich belagert: »Die haben wieder, die haben nicht, keine Hausaufgaben … blabla.« Ich höre mir alles an und lasse es irgendwie an mir abprallen oder eher an mir runterrutschen. Stoisch stehe ich da, während mich zwei Kolleginnen mit Gejammer und Beschwerden übergießen. An manchen Stellen sage ich: »Hmmm … Ja … Gibt’s ja gar nicht …« Ich verspreche, mit meiner Klasse zu reden, und beschließe in dem Moment schon, mal gar nichts zu machen. Warum soll ich meine Klasse dauernd anmeckern? Nützt doch sowieso nichts. Fräulein Krise sagt mir ja fast täglich, dass es egal ist, ob man meckert, Briefe schreibt oder die Schüler pädagogisch einlullt. Ändern tut das nichts.

Meine Klasse kann ja gut mitmachen. Das weiß ich, und das haben mir die Kollegen auch schon oft gesagt. Warum die das so selten machen, weiß kein Mensch. Aber eines weiß ich: Wenn ich sie am Mittwoch anmeckere oder rumjammere, dann benehmen sie sich am Freitag nicht automatisch besser.

Vielleicht sollten die Kollegen die Schüler mehr loben, wenn sie gut mitmachen. Die immer mit ihrem »Nicht gemeckert ist genug gelobt«. Oder sollte ich denen mal erzählen, was bei den Schülern privat los ist – und dass eine nicht gemachte Hausaufgabe dazu in keinerlei Relation steht? Ich weiß es nicht. Es gibt natürlich noch die Ich-bin-Klassenlehrer-und-ich-verstecke-mich-immer-Taktik. Einige Kollegen – vor allem solche, die schwierige Klassen haben – sehe ich überhaupt nicht im Lehrerzimmer. Oder ich biete den Meckerkollegen meine Klasse an: »Du hast recht. Die benehmen sich total schlecht. Das liegt an mir. Ich hab es einfach nicht drauf. Übernimm du meine Klasse. Du könntest die bestimmt auf den richtigen Weg bringen. Zug reinbringen. Tacheles reden. Mal richtig durchgreifen. Ich wundere mich sowieso, warum DU nicht Klassenlehrerin bist, wo du doch so viel kompetenter bist als ich.«

Oder die paradoxe Intervention: »Ja, die sind total übel. Das war ganz schön harte Arbeit, die so hinzukriegen. Bei mir benehmen sie sich gut, aber ich sage denen täglich, dass sie bloß nicht bei den Kollegen mitmachen sollen. Schminken tut ihr euch bitte in Mathe und vergesst nicht, bei Frau Schwalle so richtig die Sau rauszulassen. Immer dran denken: ziviler Ungehorsam – immer und überall!«

Ich geb’s ja offen zu: Ich bin schuld!

Frau Dienstag regt sich selten auf. Sie ist unheimlich anpassungsfähig. Selbst Schulschließungen bringen sie nicht aus dem Konzept. Bisher wurde jede Schule, an der sie gearbeitet hat, geschlossen. Dass es an ihr liegen könnte, darauf kommt sie gar nicht.

Muss eine Schülerin von ihr in die Psychiatrie, dann hat sie damit nichts zu tun. Trinkende Mütter, schwangere Achtklässlerinnen – alles nicht ihre Schuld. Geht sie alles nichts an. Nachts schläft sie wie ein Stein. Abschalten – für sie kein Problem. Wenn sie aus dem Schultor geht, ist sie Privatperson. An der eigenen Haustür hat sie schon vergessen, dass sie Lehrerin ist. Ich bewundere und beneide sie dafür. Warum fühle ich mich immer für alles verantwortlich?

Wenn Sabine zu spät zu Deutsch kommt, dann verstecke ich mich vor Frau Hinrich, damit ich nicht angemeckert werde. Wenn Samira und Ayla kein Sportzeug dabei haben, dann entschuldige ich mich schon vor dem Unterricht beim Fachlehrer. Wenn Murat und Justin bei mir eine Fünf geschrieben haben, dann rufe ich noch am gleichen Nachmittag ihre Eltern an und entschuldige mich dafür, dass ich ihren Söhnen nichts bei gebracht habe.

Nächstes Jahr muss ich wieder einen Brief an die Wirtschaft schreiben und bedauernd erklären, dass ich es wieder nicht geschafft habe, ausbildungsfähige Schulabgänger zu produzieren. Für die verkackten PISA-Ergebnisse habe ich mir einen Monat Stubenarrest verordnet. So, jetzt ist es raus. Und ich möchte nie mehr hören, die Schulen übernähmen keine Verantwortung für die Bildungsmisere.

Allerdings drücke ich mich nun schon seit Tagen wieder erfolgreich darum, einen Haufen Arbeiten zu korrigieren. Also eigentlich soll ich sie nicht korrigieren, sondern durchsehen und zensieren. Leider besteht diese Arbeit jedoch nicht nur aus Multiple-Choice-Aufgaben, sondern auch aus längeren Textpassagen. Die Schüler sollten sich zu einem bestimmten Thema äußern, und das sieht dann so aus, dass sie – unter enormem Zeitdruck – alles hinklieren, was ihnen zu diesem Thema einfällt. Sie denken vorher nicht nach, machen sich auf keinen Fall erst Notizen oder Stichpunkte zu dem, was sie eigentlich mitteilen wollen, sondern schleudern einfach alles aufs Papier. Von dieser Anstrengung sind sie dann so geschwächt, dass sie ihre Texte nicht noch einmal durchlesen können. Zitat Frau Dienstag: »Ich fühle mich bei der Durchsicht von Arbeiten wie ein Kanalarbeiter, der sich durch ihre Scheiße wühlt.«

Ich kann den Schülern noch so oft sagen, dass sie sich die Aufgaben genau durchlesen sollen und dann wirklich nur das hinschreiben sollen, wonach ich gefragt habe. Sie hauen mir doch wieder den ganzen unverdauten Wust an Fakten um die Ohren, den sie noch irgendwo aus ihren Hirnen herauskramen können. Und was soll ich bitte damit machen? Auf einer Seite Text steht dann bis zu 90 Prozent Murks, und nur zwei Sätze beantworten die gestellte Frage. Zählt das noch als fast richtig? Total falsch? Netter Versuch, leider daneben? Ich umkringele die zwei richtigen Sätze und schreibe daneben, dass da die richtige Antwort steht. Die Falschheit der Fakten um die beiden Sätze herum zwingt mich allerdings dazu, die Aufgabe mit null Punkten zu bewerten. Ist »fast richtig« nicht auch nur ein anderer Ausdruck für falsch? Auf jeden Fall sage ich ständig »fast richtig« und meine jedes Mal »falsch«.

Beim Korrigieren erinnere ich mich daran, wie ich mich fühlte, wenn ich als Schülerin eine Arbeit zurückbekommen habe. Manchmal hat meine Deutschlehrerin »GUT!« an den Rand geschrieben. Darüber habe ich mich immer sehr gefreut. Früher stand unter der Arbeit auch immer noch ein persönlicher Satz: »Du hast dir viel Mühe gegeben. Deine Charakterisierung ist dir gut gelungen.« Auch darüber habe ich mich gefreut. Aber was soll ich meinen Schülern unter eine Fünf schreiben? »Du hast dich zwar gar nicht bemüht, aber sieh es mal so: Es war ja die erste Arbeit, vielleicht lernst du für die nächste mal.« Oder: »Du hast Glück, nach oben ist alles offen.«

Manchmal amüsiere ich mich über den Wirrwarr, den die Schüler abgeben, aber meistens werde ich einfach wütend: »Oh, Sabine, was schreibst du da für einen Mist! Australien wurde doch nicht von Kolumbus entdeckt.« – »Super, Serçan, das wird dann wohl wieder eine Sechs, warum hast du denn nicht wenigstens versucht, die Schreibaufgabe zu machen?« Irgendwie sind einem die Schüler dann ganz nah. Wenn ich ihre kleinen kritzeligen Handschriften sehe, das hektisch Durch gestrichene, der rechts daneben geschriebene zweite Versuch, der genauso verquer ist wie der erste. Die Fahrigkeit am Ende der Arbeit, wenn sie dermaßen unter Stress geraten, dass die Handschrift immer größer wird und die Rechtschreibregeln jegliche Dringlichkeit verlieren.

Frau Dienstag hat recht: All die Probleme und Katastrophen, die uns täglich auf der Arbeit begegnen, SIND unsere Arbeit. Das muss ich einfach mal einsehen. Meine Arbeit beginnt nicht erst, wenn ich in der Klasse den Idealzustand hergestellt habe, der eigentlich eine Illusion ist, den ich nie erreichen werde. Seit Jahren renne ich – und wahrscheinlich der größte Teil meines Kollegiums – der Vorstellung hinterher, dass wir uns nur richtig anstrengen müssten, dann hätten wir schon irgendwann eine liebe ruhige Klasse vor uns sitzen, die unbedingt etwas lernen will. Da wir – egal, was wir auch versuchen – diese Traum-klasse nie vorfinden und die vorhandenen Schüler nie zu dieser Streber-Truppe machen können, sind wir täglich frustriert. Anstatt jetzt pragmatisch zu sein und zu sagen: »So sind unsere Schüler eben, und nun müssen wir das Beste draus machen«, denken wir ständig: »Wieder keiner die Hausaufgaben gemacht, die müssen erst mal auf Spur gebracht werden, die werden immer schlimmer.«

Fräulein Krise sagte mir schon vor Jahren: »Wir können uns die Schüler nicht backen und müssen eben mit dem arbeiten, was wir bekommen.« Das heißt natürlich nicht, dass wir nicht täglich versuchen sollten, ihnen so viel wie möglich beizubringen. Aber wir sollten aufhören zu glauben, dass erst einmal eine Art Idealzustand hergestellt werden müsste. Wenn ich mich daran halten und die Schüler so sehen würde, wie sie wirklich sind, mit all ihren Defiziten, aber auch ihren Kompetenzen, dann würde ich wahrscheinlich sehr viel zufriedener nach Hause gehen.

Ein Lehrer, der an einer gut funktionierenden Schule arbeitet, geht selbstverständlich davon aus, dass ihm täglich Schüler gegenübersitzen, die etwas erreichen wollen und deshalb willens sind, etwas von ihm zu lernen. Ich sollte eigentlich wissen, dass wir an unserer Schule nur sehr wenige Schüler mit einer solchen Einstellung haben, und trotzdem gehe ich jeden Tag zur Schule, stelle mich da vorne hin und denke: So, nun bringe ich euch was bei – und bin dann immer wieder überrascht, wenn sie darauf keinen Bock haben. Ein Arzt erwartet doch auch nicht, dass plötzlich nur noch gesunde Leute in seinem Wartezimmer sitzen.

Super, ich glaube, ich bin gerade einen Riesenschritt in Richtung totale Glückseligkeit gegangen. Mit dieser neuen Erkenntnis entferne ich mich außerdem kilometerweit vom drohenden Burn-out. Ich werde die Schüler einfach so sehen, wie sie sind und dort abholen, wo sie sind. Keine falschen Vorstellungen mehr! Die sind nicht die Elite des Bildungssystems! Werden sie auch noch lange nicht sein. Ihre Verpeiltheit liegt nicht an mir. Meine Arbeit ist eine ganz andere als die in Salem. Nicht besser oder schlechter, sondern einfach anders. Wenn ich das wirklich verinnerlicht habe, dann dürfte doch eigentlich nichts mehr schiefgehen. Damit hätte ich die psychischen Aspekte des Burn-outs gebannt. Aber was ist mit den körperlichen Gebrechen?

Heule, heule, Wirbelsäule

Ich habe, seit ich denken kann, einen kaputten Rücken. Bucklig gekrümmt krepele ich durch mein Leben. Jeder Arzt stellt, mit einer mir nicht nachvollziehbaren Genugtuung, immer wieder fest, dass sich meine Wirbelsäule wie ein schräges Fragezeichen verbogen hat, und fragt, ob das nicht wehtun würde. Ja, verdammt, das tut weh. Und wie das wehtut!

Seit Jahren liege ich abends auf dem Boden und mache uncoole Wirbelsäulengymnastik. Aber das kratzt die Wirbelsäule überhaupt nicht. Biegt sie sich wieder zurück? Nein, sie denkt gar nicht dran. So geht das seit Dekaden. Und dann werde ich plötzlich Lehrerin. (Kaum vorstellbar, aber ich glaube, ich bin gar nicht als Lehrerin geboren, sondern bin es irgendwie geworden. Wenn die Schüler mich fragen, warum ich diesen Beruf gewählt habe – für sie ist diese Berufswahl ja überhaupt nicht nachzuvollziehen – dann sage ich immer: »Das war eine Aneinanderkettung von so unglaublichen Zufällen, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen.«)

Als Lehrerin muss man jeden Tag von zu Hause in die Schule kommen und dabei Sachen mitnehmen. Diese Sachen transportiert man in einer Tasche. Und die ist manchmal ziemlich schwer. Warum eigentlich? Was schleppe ich denn da jeden Tag mit mir rum?

Das sind zum Beispiel so wichtige Dinge wie Notenheft, Kalender, Federtasche (die man eigentlich nicht braucht, da ein Kugelschreiber reichen würde), dann Hefter, in denen man die Kopiervorlagen und die von den Kindern angefertigten und von mir korrigierten Schrifterzeugnisse transportiert (dafür eignen sich Sammelmappen mit Gummibändern an den Ecken), und dann eventuell eine Fachzeitschrift, die man sich bestellt, nie liest, aber aus schlechtem Gewissen tagelang mit sich rumträgt, ein schrottiger Roman, für dessen Titelbild man sich im Bus schämt, der einem aber dabei helfen soll, sich nach der Schule geistig von der Arbeit zu entfernen. Klappt bei mir allerdings nur bedingt, denn ich lese gerne Geschichten über die missglückte Integration von muslimischen Einwandererkindern in der vierten Generation.

Und wenn ich mir den Boden meiner Tasche näher betrachte, kommen da noch ganz unnütze Dinge zutage: Eine Schere und ein Klebestift, die Einladung zur Gesamtkonferenz vom letzten Sommer, eine Tüte Gummibänder, die ich Emre abgenommen habe, Sonnencreme und ein altes T-Shirt, Kaugummis, deren Verpackung bereits zerfetzt ist und die nun ganz dreckig und ungenießbar sind. Der Boden meiner Tasche ist übersät mit Radiergummistücken, TicTacs, Magneten und Büro klammern. Diese Sachen schleppe ich jeden Tag von meiner Wohnung in die Schule, und dabei hängt der Riemen der Tasche immer über meiner linken Schulter. Komischerweise tut mir der Rücken auch immer auf der linken Seite weh. Ich werde den Gedanken nicht los, dass es zwischen meiner schweren Schultasche und meinem kaputten Rücken einen Zusammenhang gibt. Doch was soll ich mit dieser Einsicht anfangen?

  1. Ich könnte die Tasche regelmäßig ausleeren und wirklich nur das Wichtigste mitnehmen. – Scheitert wahrscheinlich daran, dass ich es einfach nicht machen werde.
  2. Ich könnte die Tasche mal eine Weile auf die andere Schulter hängen. – Scheitert daran, dass ich das schon mal versucht habe und die da immer runterrutscht, weil ich schon so schief bin, dass die rechte Schulter eigentlich nicht mehr da ist.
  3. Einen Rucksack kaufen. – Oh, Gott! Oh, nein! Scheitert auf jeden Fall an dem Wort RUCKSACK!
  4. Den Beruf wechseln. Es gibt ja viele Berufe, in denen man nichts mit zur Arbeit nehmen muss. Busfahrer, Bäcker, Politiker (obwohl, die Akten und so?), Verkäuferin oder Supermodel (da braucht man sich noch nicht mal die Haare zu machen, das machen ja alles die Make-up- und Hair-Stylisten).
  5. Ich könnte auch in die Schule ziehen, dann bräuchte ich meine Sachen nicht mehr von hier nach da zu transportieren. – Scheitert wohl an: »Wenn das alle machen würden …«
  6. Einen Rollkoffer in Miniformat kaufen. So tun, als wäre ich Stewardess, und das Teil lässig hinter mir herziehen. – Wird daran scheitern, dass ich mich mit dieser Art Gepäck nicht auskenne. Diese Köfferchen verkauft man wahrscheinlich nur an Stewardessen.
  7. So weitermachen wie bisher und in ein paar Jahren mit Bandscheibenvorfall in Frührente gehen.

Ich weiß ja, dass es diese Lehrerrolltaschen gibt, aber ich bin doch kein Pilot. Und einen Rucksack kann ich auch nicht nehmen – ich bin doch kein Schüler. Ich kann doch nicht wie die plötzlich mit einem schwarzen Eastpack ankommen. Und wenn, dann würde ich den doch auch wieder auf nur einer Schulter tragen.

Früher war das alles leichter. Wir sind mit Plastiktüten zur Schule gegangen. Aber das musste schon eine coole Tüte sein. Nicht Aldi oder Edeka oder so was Nichtiges. Nein, mindestens ein angesagter Plattenladen oder eine Tüte aus einem Comic laden oder einem coolen Klamottengeschäft. Wenn die Tüte sich dann langsam auflöste, wurde sie mit Tesa geklebt und nach einer neuen Ausschau gehalten. Neulich habe ich mir Christiane F. ausgeliehen – die mit den Kindern vom Bahnhof Zoo –, und in dem Film ist sie auch immer mit einer Plastiktüte rumgerannt. Vielleicht war das bei uns damals auch so ein Junkiestyle.

Oder ich mache es wie meine Schülerinnen und Schüler: Die Mädchen haben nur Handtaschen – die müssen ja auch nur ihr Schminkzeug und ihr Handy transportieren – und die Jungen bringen gar nichts mit. Nur einen Kugelschreiber, in der Hosentasche.

Aber neben dem kaputten Rücken lauern im Lehrerberuf noch diverse andere körperliche Gefahren. Sind Hormone eigentlich ansteckend? Das kann doch nicht gesund sein, wenn man täglich so vielen jugendlichen Hormonen ausgesetzt ist. Haben eigentlich alle Ethnien ähnlich starke Hormonausschüttungen in der Pubertät oder pubertiert der Mitteleuropäer hormonell weniger stark als der Südeuropäer? Was passiert in Afrika, am Nordkap und in Asien? Ist uns der Nahe Osten auch in dem schwierigen Alter zwischen zehn und achtzehn wirklich so nah?

Und was macht das mit unseren Lehrkörpern? Gegen den Arsch einer 16-Jährigen hätte ich ja nichts einzuwenden, aber warum bekomme ich nur deren Pickel? Halt, stimmt nicht, die Stimmungsschwankungen scheinen auch ansteckend zu sein. Super, den Müll, den dürfen wir haben, aber die guten Sachen …

Mein Freund sagt, das sei eine gewagte These. Aber ich meine ja gar nicht, dass meine Schüler irgendwie stärker pubertieren als andere, ich frage mich ja nur, ob ihr Pubertieren auch mich körperlich verändert?

Wie auch immer, Lehrerin ist schon ein krasser Job. Da ist man sein ganzes Berufsleben immer mit Personen zusammen, die sich in einem körperlichen und seelischen Ausnahmezustand befinden, und denen soll man dann auch noch was Sinnvolles beibringen. Wenn sie dann endlich normal werden, sind sie schon längst raus aus dem Schulsystem, kommen uns als vernünftige junge Erwachsene in der Schule besuchen und bedauern, dass sie damals nicht auf uns gehört und im Unterricht besser aufgepasst haben. Ich höre schon Frau Dienstag sagen: »Das ist halt unser Job.« Und Fräulein Krise: »Frau Freitag, das habe ich dir doch schon tausend Mal gesagt.«

Kann alles sein, aber ich finde es trotzdem immer wieder bemerkenswert und irgendwie auch ganz schön hart. Und außerdem frage ich mich schon die ganze Zeit: Wann kommen eigentlich die Herbstferien?

Wenn es nicht bald eine Pause gibt, kann ich für nichts mehr garantieren. Zumindest nicht für regelmäßig stattfindenden Unterricht. Oder ich muss eine Gefahrenzulage beantragen, denn das Lehrerleben ist schon gefährlich, da schwebt noch vor dem Burn-out immer der Bandscheibenvorfall über einem, von Hörsturz und Stimmbandknötchen mal ganz abgesehen. Ich könnte noch stundenlang weiterjammern – macht irgendwie auch Spaß, wenn man erst mal so drin ist.

Mit den richtigen Leidensgeschichten kann man auch im Lehrerzimmer neue Freunde finden. Warum sperre ich mich eigentlich immer so dagegen, mir die Krankheiten meiner Kollegen anzuhören? Vielleicht sollte ich ihnen auch mal die Chance geben, mich und meine Wirbelsäulenverkrümmung besser kennenzulernen. Meine angeborene Legasthenie kann ich sowieso nur bedingt verstecken (Lipgloss und neue Rechtschreibung = maßlos überschätzt).

Ein Freund sagte mal auf die Frage, was für ihn denn der Sinn des Lebens sei: »Leeeiiiden!«, und machte dabei auf meiner Couch einen Purzelbaum rückwärts. Ach, apropos: Fräulein Krise hat ihre Schüler mal gefragt, was ein Purzelbaum sei. Wussten sie nicht. »Baum für Katzen?« Ist vielleicht auch ein Wort, das aussterben wird.

Man sagt doch auch, dass die Schüler heute nicht mehr rückwärtslaufen können. Aber das stimmt nicht, ich habe schon oft in einer neuen Lerngruppe erzählt, dass Wissenschaftler ihnen nicht zutrauen, andersrum zu gehen. Wir probieren das dann immer gleich aus, und bisher ist dabei noch keiner gestürzt.

Ich möchte deshalb eine neue These aufstellen: Ich behaupte, dass es in den meisten Kollegien nur wenige bis gar keine Lehrer gibt, die einen Purzelbaum vorwärts und rückwärts machen können – und das, obwohl viele am Leiden so großen Gefallen finden.

Professionelle Unlogik

  • Ich mache lieber dreckig als sauber.
  • Man kann doch auch aus der Flasche trinken.
  • Warum einen Teller schmutzig machen, aus dem Topf schmeckt es doch genauso gut.
  • Mülltrennung, pah, wird doch nachher sowieso alles wieder zusammengekippt.

So inkonsequent ist Frau Freitag zu Hause. Aber wehe, die lieben Schüler springen auf diesen Zug auf:

  • Warum sollen wir das abschreiben? Kopieren Sie’s uns doch einfach.
  • Sagen Sie uns doch schnell die Antwort. Sie wissen die doch.
  • Ist so heiß, lassen Sie uns doch einfach früher gehen.
  • Können wir die Arbeit nicht nach den Ferien schreiben?
  • Nachher wird sowieso gefegt, wozu gibt es schließlich Putzfrauen?
  • Können wir die Bücher nicht hier lassen?
  • Jetzt haben wir das Buch vier Stunden nicht gebraucht, da habe ich es heute gar nicht erst mitgebracht.
  • Wir haben doch heute nur drei Stunden, da brauche ich keine Schulsachen.

Und die schönste Schülerlogik:

  • Ich schwöre, ich werde mich verbessern. Werden Sie sehen!

Den ganzen Nachhauseweg rege ich mich über die Schüler auf, diese faulen kleinen Biester! Aber wenn ich dann im Wohnzimmer wieder auf der Couch liege, denke ich bloß: Aschenbecherausleeren – total überbewertet.