Raus aus dem Schlamassel

Täglich prasseln die Meldungen über rekordhohe Staatsschulden, schwankende Finanzriesen und Euro-Krise auf uns ein. Es scheint nicht so, als hätten wir das Schlimmste inzwischen hinter uns. Wir reiten uns im Gegenteil immer tiefer in den Schlamassel hinein. Die Botschaft der Märkte ist klar: So geht es nicht weiter, und vor allem nicht mit uns, den Investoren. Für schwindende Bonität müssen wir mehr Zinsen erhalten oder wir ziehen uns aus der Staatsfinanzierung zurück. Das Ausfallrisiko ist enorm gestiegen. Deshalb haben Anleger in kurzer Zeit trotz der gigantischen Rettungsschirme konsequenterweise Renditen gefordert, die deutlich zweistellig sind. Jetzt werden Inhaber von Griechenlandanleihen zu einem »freiwilligen« Schuldenschnitt gezwungen. Mit dieser Erkenntnis wird kaum noch jemand bereit sein, Staatsanleihen von Peripherieländern zu kaufen. Es sei denn, er wird dazu gezwungen.

Es stellt sich deshalb die Frage: Was ist zu tun, um die Situation nachhaltig in den Griff zu bekommen? Was einzelne Länder anbetrifft, muss einerseits die Schulden- und die Zinslast gesenkt und andererseits die Wettbewerbsfähigkeit in einem globalen Markt wieder hergestellt werden. So können wir aber nur Einzelfälle wie Griechenland bereinigen. Um die Strukturprobleme der Schuldenwirtschaft anzugehen, sind aber zusätzlich drastische Maßnahmen nötig. Darüber werden wir noch reden. Aber an dieser Stelle schon einmal die wichtigsten Stichworte: Das Haftungsprinzip in Wirtschaft und Politik muss wieder uneingeschränkt gelten, wir brauchen eine massive Aufstockung des Eigenkapitals von Banken und Versicherungen, das Prinzip des Trennbankensystems muss wieder eingeführt werden, und wir müssen vielleicht sogar die Regeln unserer repräsentativen Demokratie verbessern.

Politiker sind auch nur Menschen

Wir benötigen Politiker, die nicht dem ständigen Einfluss von Lobbyisten nachgeben. Sie müssen über echtes Fachwissen verfügen und dürfen ihre Zeit nicht mit Jubiläumsfeiern in ihrem Wahlkreis verbringen. Die idealen Volksvertreter setzen sich ernsthaft mit den Fakten anstehender Beschlussvorlagen auseinander. Sie könnten bei der ehrlichen Bewältigung unserer Probleme helfen. Solche Volksvertreter wären sogar der Schlüssel zur Lösung der Probleme. Doch so wie sich die Mehrheit von ihnen momentan präsentiert, schaden sie leider mehr.

Im Fall Griechenlands und wahrscheinlich auch Portugals ist der Zug allerdings schon abgefahren. Die Lage ist inzwischen aber auch in den meisten anderen »entwickelten« Volkswirtschaften so desolat, dass an eine geordnete Rückzahlung der Staatsschulden nie und nimmer zu denken ist. Da ist keine Rettung möglich. Von verantwortungsvoller Politik sollte man erwarten, dass sie den Bürgern die Wahrheit sagt und nachvollziehbare, realistische Notfallpläne erarbeitet. Es scheint aber, als lebten wir inzwischen in einer Eurarchie, einem Zustand der Gesetzlosigkeit in der Eurozone.

Die Regierenden der EU und ihrer Mitgliedstaaten stellen sich über das Gesetz. Sie werden uns nicht sagen, wie ernst die Lage wirklich ist. Warum? Weil man so keine Wahl gewinnen kann. Geradezu erschreckend – besser vielleicht bezeichnend – war der Satz des luxemburgischen Präsidenten Jean-Claude Juncker im Frühling 2011. Es ging um die Gespräche zur Rettung Griechenlands. Juncker wollte verheimlichen, dass solche Gespräche überhaupt stattfinden. Natürlich schaffte er dies nicht. Sein spitzbübischer Kommentar: »Wenn es ernst wird, muss man lügen.«

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»Wenn es ernst wird, muss man lügen.«

Jean-Claude Juncker, Chef der Eurogruppe und luxemburgischer Premierminister, 20.4.201167

Quelle: istockphoto.com

Juncker sagte bei einem Treffen von Entscheidern, er sei für geheime Debatten unter wenigen Entscheidern. Und um Schaden von den Finanzmärkten abzuwenden, müsse man auch lügen. Wenige Tage später, am 6. Mai 2011, trafen sich unter anderem fünf Finanzminister, Juncker und der EZB-Präsident zu einem geheimen Treffen in Luxemburg. Darauf angesprochen, ließ Juncker das über seinen Pressechef dementieren: »Es gibt kein Treffen in Luxemburg.« Eine glatte Lüge.

Bis zu einem bestimmten Maße ist es ja normal, dass in einer schwierigen Situation die Politiker nicht immer alle Karten auf den Tisch legen. Manchmal kann man einfach nicht alles sagen, ohne das Allgemeinwohl zu gefährden. Allerdings misslingt oftmals der Balanceakt zwischen »nicht sagen, was man weiß« und »nicht wissen, was man sagt«. Damit haben sich viele Politiker selbst demontiert.

Erinnern wir uns an den Herbst 2008. Die Lehman Bank ging pleite. Ganz normale Menschen bekamen Angst, ob sie denn am nächsten Tag noch an ihr Geld kommen würden. Die Erinnerung an den Ansturm der Anleger auf die britische Bank Northern Rock war noch frisch. Und auch bei uns in Deutschland bestand die Angst vor einem Run, dass die Bürger die Einlagen bei ihren Banken leer räumen – mit katastrophalen Folgen. Damals kam es nur deshalb nicht zu einem Run auf die Banken, weil der damalige Finanzminister Peer Steinbrück und die Bundeskanzlerin einen großen Bluff wagten. Beide garantierten sie am 5. Oktober 2010 die Spareinlagen bei Banken. Das beruhigte die Gemüter.

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Abbildung 37: Angela Merkel und ihr Finanzminister Peer Steinbrück bei der berühmten Pressekonferenz am 5.10.2008. Sie verhindern einen Run auf die Banken, indem sie eine Garantie für die Bankeinlagen geben. Quelle: istockphoto.com

Wörtlich erklärte Kanzlerin Merkel damals: »Wir sagen außerdem, dass diejenigen, die unverantwortliche Geschäfte gemacht haben, zur Verantwortung gezogen werden. Dafür wird die Bundesregierung sorgen. Das sind wir auch den Steuerzahlern in Deutschland schuldig. Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.« Große Worte, wenige Taten. Und ernsthaft betrachtet war und ist eine solche Garantie natürlich wertlos. Bei einem echten Run hätte das nichts gebracht. Der Staat sind wir. Und es kann ja nicht jeder sein eigenes Geld garantieren. Einmal geht solch ein Bluff gut. Beim nächsten Mal überwiegen die Zweifel.

Politiker sind in erster Linie Menschen, die ihren ganz persönlichen Interessen folgen, also ihre eigene Agenda haben. Deshalb sollte man sich immer fragen: Welchen Motiven folgen die Menschen bei ihrem Handeln? Das gilt für Konsumenten, Investoren, Unternehmer, Banker ebenso wie für Politiker. Politiker und Notenbanker wollen Macht, oft versteckt hinter dem Euphemismus Gestaltungsspielraum. Sie streben einen wohlwollenden Eintrag in die Geschichtsbücher an, und – keine Frage – auch finanzielle Absicherung.

Die kurzen Amtsperioden der Politiker verstärken natürlich dieses ebenso kurzfristige Denken. Komplexe Probleme werden gerne in die Zukunft verschoben. Denn in dieser Zeit ist man selber nicht mehr im Amt. Das gilt auch für Notenbanker, die inzwischen zwangsläufig zu Politikern mutiert sind.

Viele Politiker haben die komplexen Entwicklungen der letzten Jahre und der gefühlte Mangel an Alternativen überfordert. Aufgewachsen mit dem Postulat des Primats der Politik, geht in ihrem Selbstverständnis Politik über alles. Damit lässt sich sogar das Biegen und Brechen von Gesetzen rechtfertigen. Begründung: Auch die Kurse an den Finanzmärkten interessierten sich nicht für Rechtsgrundlagen. Diese von Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy formulierte Analogie ist zynisch ganz ungewollt. Die Kurse von Wertpapieren ergeben sich durch Angebot und Nachfrage Zigtausender Investoren, institutioneller Anleger wie Pensionskassen, Fonds, Kirchen, Stiftungen und natürlich auch Privatinvestoren. Sie stimmen über die Solvenz eines Landes ab, indem sie dessen Anleihen kaufen oder verkaufen. Dieser höchst demokratische Prozess wird von Nicolas Sarkozy mit Rechtsbeugung verglichen.

Wir erleben einen Rettungsaktionismus, bei dem jede hypothetische Gefahr jeden Eingriff rechtfertigt und die Verantwortlichen von einer Alternativlosigkeit in die nächste stolpern. Wenn es keine Alternativen mehr gibt, dann brauchen wir auch keine Politiker mehr. Welche Verstöße haben wir bis jetzt schon gesehen? Der Bruch der Nichtbeistandsklausel im EU-Vertrag ist Konkursverschleppung. Genau dasselbe sind Staatshilfen für taumelnde Länder sowie Anleiheaufkäufe solcher Staaten durch die EZB. Die EZB ist deswegen auch nicht mehr unabhängig, seit sie verbotenerweise Staatsanleihen aufkauft.

Das Centrum für Europäische Politik kommt zu dem Ergebnis, dass der von der EU beschlossene Euro-Rettungsschirm sowohl gegen EU-Recht als auch gegen das Grundgesetz verstößt.68 Denn die Öffentlichkeit sei über Dauer und Höhe der Hilfsmaßnahmen getäuscht worden, das Europäische Parlament habe dem Beschluss nicht zugestimmt. Ganz ähnlich wie das Centrum für Europäische Politik hat beispielsweise der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg fortlaufende Rechtsverstöße kritisiert.69

Wir müssen uns fragen, ob unsere Form von Demokratie überhaupt ohne Schulden funktioniert. Diese Frage muss man stellen dürfen. So, wie wir heute Demokratie betreiben, geben wir Versprechen, die nicht durch Einnahmen gedeckt sind. Solche Versprechen können wir gar nicht halten. Oder wir halten sie nur mit Schulden. Dann bürden wir künftigen Generationen Lasten zu Gunsten der heutigen Empfänger auf. Gängige Praxis ist eine Klientelpolitik: Politiker geben hier etwas für Beamte, dort für Landwirte, da für Hoteliers, da für Arbeitslose. Jetzt erobern wir eine neue Dimension. Es wächst eine Klientel heran, die die gesamte Gesellschaft dominieren wird: die Alten. Diese Lasten können wir mit dem bisherigen System nicht bezahlen. Zu hoch türmen sich für die nächsten Generationen die Verpflichtungen aus unfinanzierten Renten- und Gesundheitslasten auf.

Man fragt sich manchmal, ob sich die Politiker überhaupt ein echtes Interesse an einer Lösung unserer Probleme leisten können. Denn vor allem für Parlamentsneulinge ist das entscheidende Ziel die Wiederwahl beim nächsten Urnengang. Unpopuläre, aber notwendige Entscheidungen können wir da nicht erwarten – weder gegenüber den Wählern noch gegenüber der Parteispitze. Viele Politiker kennen zwar die Erfahrung einer innerparteilichen Ochsentour. Aber sie besitzen keine Vision für unser Land, kein Konzept, keine Strategie und sind in der aktuellen Finanzkrise auch fachlich überfordert.

Diese Politiker werden daher keinen radikalen Schritt herbeiführen. Stattdessen müssen wir uns Schritt für Schritt von gewissen lieb gewordenen Dingen verabschieden. Der Lebensstandard wird sinken. Daran führt kein Weg vorbei. Nicht nur in Griechenland, auch bei uns. Leider sind wir weniger weit von einer solchen Entwicklung entfernt, als wir alle glauben und hoffen.

Das ist keineswegs dick aufgetragen. Die Politiker müssen anfangen die Wahrheit zu sagen – auch wenn es verflucht unangenehm wird. Sprüche wie »Die Rente ist sicher« sind Beschwichtigungen des Wahlvolks auf Kosten zukünftiger Generationen. Verfasser solcher Sätze sind Sozialromantiker, keine Problemlöser. Sie bedienen die Wähler mit Geschenken, ohne an die langfristigen Konsequenzen zu denken. Politiker sollten sich Familienunternehmer zum Vorbild nehmen, wie sie generationsübergreifend denken und handeln. Dazu braucht es nicht nur fundierte Kenntnisse und Weitblick, sondern auch Mut, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Leider sind wir nach über 60 Jahren Wohlstand und Kontinuität jetzt in einer Phase mit enormen Herausforderungen angekommen. Es fehlt uns leider das politische Personal, das aus eigener Erfahrung weiß, wie sich harte Zeiten anfühlen, und wie man die Bevölkerung darauf vorbereitet.

Im Interesse unseres Staatswesens müssen die Politiker ihre Macht einschränken. Sie müssen sich in die Exekutive zurückziehen. Nur ein Land praktiziert das konsequent seit vielen Jahrzehnten: die Schweiz. Wir brauchen deutlich mehr direkte Demokratie. Ziel muss es sein, dass die Exekutive den Willen des Volkes umsetzt – nicht wie bei uns, dass die Exekutive dem Volk seinen Willen aufzwängt. Schauen Sie sich nur an, wie die Einführung des Euro abgelaufen ist. In Deutschland wurde das Volk nicht befragt, es herrschte die pure Angst vor einer Ablehnung. Die Bürger hätten ja anderer Meinung sein können als ihre Repräsentanten.

Hamburgs früherem ersten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi wurde die Frage gestellt: »Haben die Wähler möglicherweise besser verstanden als die Politiker, was da auf dem Spiel steht.« Antwort: »… es gibt viele Dinge, bei denen wir keine Volksabstimmung machen würden, weil wir sehen, dass die Dinge zu kompliziert sind, um sie jetzt zu erklären.«70 Vergessen wir nicht, der Euro war kein »Wunsch« des deutschen Volkes, sondern das Ergebnis eines Kuhhandels zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand rund um die deutsche Wiedervereinigung. Die politische Meinung der Bürger und der Politikbetrieb sind viel zu weit auseinandergedriftet.

Ähnlich war es in der Weimarer Republik, wo das Militär ein Staat im Staate war, keine Anbindung mehr an die demokratische Verfassung hatte. Heute haben die etablierten Parteien oft nur noch den eigenen Machterhalt im Sinn und kein Interesse an langfristigen Lösungen der entscheidenden gesellschaftlichen Fragen. Zumindest dann nicht, wenn es kurzfristig die Wahlchancen mindert. Ex-Kanzler Gerhard Schröder und Joschka Fischer hatten in Teilbereichen der Arbeits- und Sozialpolitik mit der Agenda 2010 diesen Mut. Das folgende Strafgericht von Wählern und Partei-»Freunden« ist für die heutige Politikergeneration ein warnendes Beispiel.

Heute stehen wir mit der Schuldenkrise vor der mit Abstand größten Herausforderung seit der Gründung der Bundesrepublik. Und genau in dieser prekären Lage mangelt es uns an Politikern mit Sachverstand und Rückgrat. Im August 2011 hat der Dramatiker und Schriftsteller Botho Strauß einige passende Bemerkungen dazu geäußert. »Auf dem Gebiet, von dem sein Wohlergehen am meisten abhängt, ist das Volk ein Stümper«, erklärte Strauß. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Bevölkerung rein sachlich die Probleme gar nicht versteht. Deshalb könnte man ihr jeden Bären aufbinden. Intuitiv hat das Volk aber doch das Gefühl, es stimmt irgendwas nicht. Dieses Unbehagen drückt Strauß in seinem Urteil über den Politiker aus: »Die Autorität, die er vielleicht kraft seines Amtes noch besitzt, leidet in der Regel, sobald er den Mund aufmacht. Jedermann ist des Gewäschs überdrüssig.« Vielleicht dramatisiert Strauß hier in der Wortwahl ein wenig. Die Richtung seiner Analyse stimmt aber auf jeden Fall.

Natürlich kann man nicht alle Politiker über einen Kamm scheren. Das gilt im Übrigen auch für Banker. Doch viele Politiker paaren mangelnde Fachkompetenz mit politischen Dogmen. Sie preisen den Euro als Krönung des europäischen Intergrationsprozesses und bescheinigen den Griechen beachtliche Erfolge bei der Sanierung, obwohl das Gegenteil offenkundig der Fall ist. Das spricht entweder für Dummheit, Ignoranz oder Hinterlistigkeit gegenüber den deutschen Steuerzahlern und Wählern.

Aber warum gründen ernsthafte Bürger keine Bürgerpartei? Sie hätte gegen die von den Medien unterstützten Alt-Parteien wohl kaum eine Chance. In Deutschland wird alles wirklich Liberale, nicht Angepasste sofort in eine reaktionäre Ecke gestellt. Einen solchen Spießrutenlauf möchten sich nur wenige wirklich antun.

Wenn es jemand einmal versucht hat, dann drohte er bislang immer zu scheitern. Ein Beispiel ist der ehemalige Bundesverfassungsrichter Professor Paul Kirchhof, der im Team von Kanzlerin Angela Merkel nach der Bundestagswahl 2005 Finanzminister werden sollte. Aber es folgte die erbarmungslose Verunglimpfung eines sachkompetenten Quereinsteigers. Demagogie schlägt Sachkenntnis. Dies gilt auch in der Finanzkrise.

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Abbildung 38: Die Bewegung »Occupy Wall Street«, hier vor der EZB in Frankfurt, spiegelt das wachsende Unbehagen mit dem Finanzsystem und den Politikern wider. Quelle: Philipp Vorndran.

Ganz langsam aber beginnen sich die Menschen zu organisieren. Die Occupy-Wall Street-Bewegung beispielsweise ist Ausdruck der Sorge breiter Teile der Mittelschicht um ihre Zukunft. Interessant zu sehen, wie die Bewegung von den USA ausgehend auch in Europa und in Deutschland immer größere Wellen schlägt – auch wenn es Anfang 2012 etwas ruhiger um Occupy geworden ist. Die Mittelschichtler zählen zu den Verlierern des Systems. Sie verstehen es einfach nicht mehr.

Obwohl sich die Proteste gegen Banken richten, sind sie auch Ausdruck eines Politikversagens. Das im Juli 2011 verabschiedete Rettungspaket für Griechenland zeigt es klar. Der Europäische Rettungsfonds wird Anleihen begeben, deren Erlöse in die Krisenländer fließen sollen. So ist aus der Wirtschafts- und Währungsunion eine Haftungs- und Transferunion geworden. Dass die Bürger der Geberländer das dauerhaft mitmachen, muss man bezweifeln. Die populäre These zukünftiger Stimmungsmacher könnte lauten: »Warum sollen wir für die Schuldenexzesse in Griechenland, Portugal oder anderen Staaten zahlen? Sanieren wir doch endlich unsere Schulen und nicht die Bilanzen von solchen Ländern!« Das ist die Sprache der Straße. Die Frage nach dem Durchhaltevermögen der Euro-Stützungspolitiker ist schon längst nicht mehr die entscheidende. Denn die lautet unter den heutigen Umständen: Wie lange noch hält unser politisches System?

Den Hintergrund der »Occupy«-Bewegung bilden aber im Kern andere Motive. Es ist etwa der Unmut über immer weiter auseinanderdriftende Einkommen und Vermögen. Die teilweise irrsinnig hohen Boni der Investmentbanker unterfüttern diese Einschätzung. Da ist auch etwas dran. Im Kern geht es tatsächlich um eine wachsende Ungleichverteilung zu Gunsten vor allem der oberen Zehntausend, wie man gerne sagt. Das fällt auch den Menschen auf der Straße auf und treibt sie genau dorthin. Sie sagen schlicht: Die haben uns hineingeritten und werden dafür noch so grotesk belohnt? Das ist nachweisbar und fällt auch immer mehr Ökonomen auf. So urteilt beispielsweise der Vermögensverwalter Marc Faber »Das Wachstum der Geldmengen hat die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen vergrößert und die sozialen Spannungen erhöht.«71 Seiner Einschätzung nach reagieren die Regierungen darauf mit mehr Gesetzen, Vorschriften und noch mehr Geldmengenwachstum – was noch mehr Ungleichheit produziert. Auch der unabhängige US-Ökonom Gary Shilling kommt zu diesem Ergebnis.72

Schauen wir uns einmal die Daten aus den USA dazu an, weil sie besonders aussagekräftig sind.

Von 1970 bis 2008 hat sich das Jahreseinkommen der untersten 90 % der amerikanischen Arbeitnehmer inflationsbereinigt um 1 % reduziert. Die Kompensation der 10 % Bestverdienenden hat hingegen deutlich zweistellig zugelegt. Noch extremer gestaltet sich die Situation beim obersten Promill, hier stieg das Jahreseinkommen um unglaubliche 385 %.73

Doch solche Spreizungen, die eine Gesellschaft nur begrenzt aushalten kann, sind nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt, sondern sehen wir in vielen Ländern.74

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Abbildung 39: Einkommensverteilung der US-Arbeitnehmer. Quelle: The Washington Post, 18. Juni 2011.

Einkommensnivieau

Anzahl der US-Bürger

Durchschnitts-Einkommen (in USD pro Jahr)

Veränderung 1970–2008

Top 0.1 %

152.000

5.600.000

385 %

Top 0.1–0.5 %

610.000

878.139

141 %

Top 0.5–1 %

762.000

443.102

90 %

Top 1–5 %

6.000.000

211.476

59 %

Top 5–10 %

7.600.000

127.184

38 %

Unterste 90 %

137.200.000

31.244

-1 %

Tabelle 8: Reiche Amerikaner werden immer reicher. Quelle: The Washington Post, 18. Juni 2011.

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Abbildung 40: Mit Slogans wie diesem macht »Occupy Wall Street« auf sich aufmerksam. Quelle: Eigene Darstellung.

Da verwundert es auch nicht mehr, dass es im Sommer 2011 ganz ungewöhnliche Initiativen von Reichen in den USA und auch in Europa gegeben hat. Der amerikanische Super-Investor und Multimilliardär Warren Buffett beispielsweise forderte: Besteuert uns Reiche endlich höher! Sein Ziel hat er wohl schneller erreicht als gedacht. Präsident Obama jedenfalls versucht Buffetts Wunsch mit einer sogenannten »Buffett-Tax« für Einkommensmillionäre umzusetzen.

Der von Warren Buffett für sein Einkommen genannte Steuersatz von 17 % beruht allerdings auf zahlreichen Ausnahmen im US-Steuergesetz. Insbesondere werden Kursgewinne niedrig besteuert. Wer einen hohen Anteil seines Einkommens aus Kursgewinnen bezieht, unterliegt auch einem niedrigen Steuersatz. Da umgekehrt Kursverluste nicht direkt mit anderen Einkommensarten verrechnet werden können, stiege bei ähnlicher Betrachtung in Kursverlustjahren der Einkommenssteuersatz ins Unendliche. So sehr Buffetts Vorstoß an sich zu begrüßen ist, so wenig trifft er auf Hochverdiener in Deutschland und vielen anderen Staaten zu.

Bleiben wir in der Politik: Es geht also um Fragen über die Finanzkrise hinaus, um soziale Fairness und die Fundamente der Gesellschaft. In den vergangenen Monaten melden sich immer mehr Stimmen mit radikalen Änderungsvorschlägen zu Wort. Es geht um Auswege aus dem Dilemma. Das ist klarerweise vermintes Gelände, und man wird politisch schnell inkorrekt. Es gibt Überlegungen wie diese: Nur noch Steuerzahler sollten wählen dürfen. Nach dem Motto: Über das Schicksal des Landes soll nur derjenige mitentscheiden, der dieses Land auch finanziert und die Kosten trägt. Solche Überlegungen gehen an den Kern des demokratischen Verständnisses. Ein solcher Vorschlag fände wohl zu Recht keinen politischen Konsens. Aber warum dürfen Hundertjährige zur Wahl gehen und Kinder unter 18 haben keine Stimme? Auch die willkürliche Beschränkung des Wahlrechts durch seine Kopplung an das Erreichen des 18. Lebensjahrs widerspricht der Idee von »one man, one vote«.

Wir brauchen eine offene Diskussion um die zukünftige Struktur unserer Demokratie, weil wir eine friedvolle Gesellschaft erhalten wollen – die jetzt gefährdet ist. Eine weitere Verschiebung der Macht in die Schaltzentralen der EU würde die Demokratie noch weiter schwächen. »One country, one vote« bedeutet dann, dass wenige Einwohner eines kleinen Landes das ganze System zu ihren Gunsten verändern können. In einer echten Demokratie müssen 50 Millionen Wahlberechtigte aber 20-mal mehr Stimmen haben als 2,5 Millionen Wahlberechtigte.

Es ist Zeit, über alternative Modelle nachzudenken. In Neuseeland und Australien beispielsweise diskutiert man die sogenannte Demarchie, nach dem Motto: Alles andere ist besser als Berufspolitiker, wir verlosen die Parlamentssitze. Aus dem Bevölkerungsregister werden beispielsweise 500 Parlamentarier für eine Legislaturperiode von 5 Jahren gelost. Es gibt keine Wiederwahl. Das ist wie beim Schöffengericht. Jeder Fünfte der Gelosten sagt vielleicht: Das interessiert mich nicht, ich rühre keinen Finger. Aber die anderen werden sich wahrscheinlich engagieren, sind stolz, für ihre Heimat entscheiden zu können. Und da das Ergebnis einer solchen Verlosung die Gesamtbevölkerung relativ gut widerspiegelt, kann das Parlament nicht »mal voller und mal leerer, aber immer voller Lehrer« sein. Die sarkastische Redewendung über die deutschen Verhältnisse besitzt ja ein Körnchen Wahrheit.75 Das Parlament muss ein Abbild der Gesamtbevölkerung im Kleinen sein, mit deren Interessen und Wünschen.

Interessanterweise macht man sich auch in China Gedanken über einen möglichst schmerzlosen Übergang von der aktuellen Parteidiktatur zu repräsentativen Bevölkerungsvertretungen. Die Chinesen testen in kleinen, lokalen Einheiten kreative Modelle. Die durchwegs gut ausgebildete Parteiführung sagt sich, irgendwann einmal werden wir eine demokratieähnliche Regierungsform nicht mehr aufhalten können. Dann sollten wir wenigstens die ersten Lernschritte und Fehlentwicklungen im Westen einfach überspringen.

Banken in die Tasche greifen

Veränderungen im politischen System sind eine Sache. Aber auch im Finanzsektor gibt es viel zu tun. Wir machen uns beispielsweise stark für private Gläubigerbeteiligung. Wenn Regierungen, EU-Protagonisten, Banker, aber oft auch Medienvertreter darüber reden, hört es sich manchmal so an, als sollten sich Banken im Rahmen einer philanthropischen Aktion an der Rettung eines Landes beteiligen.

Die Banken und die Versicherungen haben aus Gewinnstreben Bonds aus Griechenland, Portugal, Irland, Spanien und Italien gekauft. Das ist völlig legitim. Später stellte sich heraus, dass die vermeintlich sichere Rendite doch riskant ist. Im Fall Griechenlands gestaltete sich die Sache noch grotesker. Hier hatten sich die Banken im Sommer 2011 in einem ersten Anlauf zu einer Umschuldung bereit erklärt, die de facto einem Schuldenschnitt von 21 % gleichkam. Die Anleihen notierten damals aber bereits bei 40 bis 50 % des Nennwerts. Im Klartext heißt dies: Wir sind ja »großzügig« und akzeptieren einen Verlust von 21 % statt der am Markt in Kauf zu nehmenden 50 %. Stellen Sie sich einmal vor, ein dreister Anleger würde der Regierung in Berlin ein Geschäft anbieten: Bitte kauft Ihr als Bundesrepublik mir meine Wertpapiere zum doppelten Marktpreis ab. Der Anleger würde zu Recht ausgelacht.

Fairerweise muss man den institutionellen Anlegern etwas zugestehen: Versicherungen wurden durch die ihnen von Staats wegen aufgelegten Anlagerichtlinien geradezu in Staatsanleihen getrieben. Solche Papiere waren von den Aufsichtsbehörden als risikolos anerkannt und mussten damit nicht mit Eigenkapital unterlegt werden. Die Regulatoren haben also mit ihren Anlagevorschriften ein Stück weit zum Debakel beigetragen. Deshalb kann es nicht verwundern, dass sich manche institutionelle Anleger nach dem Motto verhalten: Die Politik hat uns praktisch zu unserem Unglück gezwungen, jetzt soll sie sich gefälligst auch um eine Lösung kümmern. Für einen unabhängigen Vermögensverwalter gilt hingegen ein klarer Grundsatz: Jedes Investment, dass man für seine Kunden einsetzt, muss man als Treuhänder selbst einer eigenen und intensiven Analyse unterzogen haben. Das Abstützen einer Investmententscheidung alleine auf Regulatoren und Rating-Agenturen ist schlicht und einfach unverantwortlich.

Zeitweise hatten wir nach dem ersten Griechenland-Rettungspaket vom Juli 2011 im Herbst eine neue private Gläubigerbeteiligung in der Diskussion. Da ging es bereits um einen Haircut von 50 %. Bei Redaktionsschluss des Buches im Februar 2012 ist auch das überholt. Wir sprechen jetzt über einen Schnitt von geschätzten 53,5 %, der zwar de facto einem 80 %igen Haircut entspricht aber nur für private Gläubiger gilt und Griechenland nicht wirklich entschuldet. Auch das geht natürlich nicht weit genug. Um das Land wieder auf die Beine zu bekommen, müssten die Gläubiger auf rund 80 % ihrer Forderungen verzichten.

Zunächst sah es sogar so aus, als könnten Banken und Versicherungen ihren Wunsch zumindest teilweise vom Haftungsprinzip entbunden zu werden, (so wie die EZB oder der IWF) durchsetzen. Dieser Wunsch ist verständlich. Es kann allerdings nicht sein, dass dauerhaft einige Investorengruppen aus dem Haftungsprinzip ausgenommen werden wollen, weil sie sich als systemrelevant deklarieren und deshalb Narrenfreiheit für sich in Anspruch nehmen. Das ist so, als würde man erklären: »Die Straßenverkehrsregeln gelten für alle, außer für dich und mich.« Zu welchen absurden Konsequenzen würde das führen? Die Investoren wollen nicht einstehen für ihre Entscheidungen, die Politiker und Ökonomiekraten auch nicht. Für sie ist alles unverbindlich. Um es klar zu sagen:

Ohne Wiedereinführung des Haftungsprinzips wird es keine nachhaltige Lösung des Schuldenproblems geben. Die Staaten werden momentan noch immer von den großen Banken erpresst. Getreu der Devise: »Wir sind ja systemrelevant.«

Und diese systemrelevanten Banken stehen trotz ihres unmoralischen Handelns am Ende auch noch besser da als kleine Institute, die ihre Hausaufgaben gemacht haben. Fragen Sie doch einmal Ihre Sparkasse oder Volksbank vor Ort, wie durch die Staatsinterventionen der Wettbewerb verzerrt wird. Es ist unfassbar: Wer seine Aufgaben vor der Krise erledigt hat, der wird bestraft; wer auf Teufel komm raus gezockt hat, der kann heute mit dem Hinweis auf die implizierte Staatsgarantie Marktanteile gewinnen.

Wir begegnen immer wieder dem Schlagwort »systemrelevant«. Sind Banken das wirklich? Und was müsste man dann tun? Eine Begriffsklärung tut not. Es geht um das Risiko, dass eine Bankinsolvenz das ganze Finanzsystem niederreißen könnte. Verluste einer Bank werden wie bei jedem anderen Unternehmen zunächst vom Eigenkapital abgedeckt. Ist es aufgezehrt, muss neues aufgenommen werden. Klappt das nicht, ist das Unternehmen pleite. Erst wenn dies droht, darf der Staat eingreifen. Er führt der Bank frisches Eigenkapital zu, indem er neu emittierte Aktien kauft, und sichert damit den Fortbestand des Instituts. Später kann er seine Anteile wieder veräußern. Die Banken jedoch wollen sich vom Verursacherprinzip abkoppeln und fordern die Verlustübernahme vom Staat ohne vorherigen Durchgriff auf das Eigenkapital. Deshalb haben wir bereits im Sommer 2011 die Idee eines Eigenkapitalstabilisierungsfonds aufgebracht.

Das Eigenkapital der europäischen privaten Großbanken beträgt in etwa 1.000 Milliarden Euro. Damit könnte man im Fall einer Pleitewelle in einem ersten Schritt schon effektiv stützen. Ein Rechenbeispiel: Angenommen es käme zu einem Schuldenschnitt von 80 % in Griechenland und jeweils 50 % in Irland und Portugal. Das würde Abschreibungen von ca. 450 Milliarden Euro bezogen auf den Nominalwert der Anleihen bedeuten. Davon entfallen ungefähr 120 Milliarden Euro auf europäische Privatbanken. Die Abschreibungen auf die Staatsanleihen dieser drei Länder stellen für die Banken also kein ernsthaftes Problem dar. Einen Teil der Anleihen haben die Institute bereits unter dem Nominalwert von 100 gekauft. Die meisten Institute könnten die Abschreibungen verkraften, einige müssten zusätzliches Eigenkapital aufnehmen. Die griechischen Banken, wahrscheinlich auch die auf Zypern und später in Portugal, müssten komplett rekapitalisiert werden. Insgesamt sollte die Hälfte des Abschreibungsvolumens als Einschuss in den Fonds ausreichen. Das wären rund 60 Milliarden Euro.

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Abbildung 41: Banken können Verluste auffangen: Eigenkapital-Stabilisierungsfonds. Quelle: Flossbach von Storch, Nationale Finanzministerien, Bloomberg, Bank für internationalen Zahlungsausgleich, Stand: Juli 2011.

Durch zusätzliche Kreditverluste der Banken in den genannten Ländern könnten sich die Abschreibungen natürlich noch erhöhen. Aber mit 100 Milliarden Euro sollten wir auskommen. Nehmen wir noch einen Härtefall dazu. Sagen wir, Spanien muss auch umschulden. Geht Spanien pleite und müsste einen Schuldenschnitt von 40 % vornehmen, kämen weitere 75 Milliarden Euro an Abschreibungen auf die Banken zu. Dann müsste der Fonds maximal 175 Milliarden Euro bereitstellen.

Vergessen wir aber nicht die richtige Reihenfolge. Zuerst könnte auf das Eigenkapital der Banken sowie ihre ausstehenden Bankanleihen und andere verlusttragende Kapitalformen zurückgegriffen werden. Erst dann rettet der Staat beziehungsweise der vorgeschlagene Eigenkapital-Stabilisierungsfonds. Dann würden die Anleihen der Bank ja praktisch zu Staatsanleihen, was ihre Sicherheit betrifft. Der Staat würde also den Inhabern von Bankanleihen noch einen zusätzlichen Gefallen tun. Er würde ja die Bonität und damit den Preis ihrer Anleihen erhöhen. Deshalb schlagen wir vor, dass die Konditionen auf die einer Bundesanleihe mit gleicher Laufzeit umgestellt werden. Der Bankanleiheninhaber würde also so gestellt, als ob er von Anfang an in eine Staatsanleihe investiert hätte. Tabelle 9 zeigt ein Beispiel dafür.

Anleihe

Kaufdatum

Zins

Laufzeit

Rückzahlungskurs

Rendite

Bankanleihe alt

1/2006

5 %

10 Jahre

100 %

5 %

Staatsanleihe

1/2006

3,5 %

10 Jahre

100 %

3,5 %

Bankanleihe neu

1/2006

5 %

10 Jahre

84 %

3,5 %

Tabelle 9: Umstellung von Bankanleihen bei Staatspleiten: Ein Beispiel für eine Gleichstellung mit Staatsanleihen. Quelle: Eigene Darstellung, Flossbach von Storch.

Warum spielen diese Ideen in der allgemeinen Diskussion keine Rolle? Offensichtlich haben die drei wichtigsten Beteiligten daran kein Interesse. Die Banken hätten nach einer Staatspleite und der Stützung durch einen solchen Fonds die Geldgeber automatisch in ihren Entscheidungsgremien sitzen. Das hieße geringere Gehälter für das Management plus stark fallende Aktienkurse. Wir haben das bei der Commerzbank gesehen. Die Politiker wiederum wollen nicht für eine Staatspleite Verantwortung übernehmen. Auch die Europäische Zentralbank möchte das Problem nicht mit einem Schnitt beenden. Sie hat schließlich mehr als 200 Milliarden Euro ausfallgefährdeter Staatsanleihen aufgehäuft und mehr als 100 Milliarden Euro fragwürdiger Sicherheiten in ihren Büchern.

Anfang 2011 haben wir unsere Idee eines Banken-Rekapitalisierungsfonds zum ersten Mal vorgestellt. Das wäre jedenfalls ein gangbarer Weg.

Gut getrennt ist halb gewonnen

Die Bankenbeteiligung bei Staatspleiten ist wichtig. Das haben wir beschrieben. Aber damit sind die Bankenprobleme noch nicht vom Tisch. Es wartet noch ein Strukturproblem auf seine Lösung. Denn in einem Punkt ist Banker gleich Politiker: Auch er kann im Ernstfall nicht die Wahrheit sagen. Wichtige Banken weisen ein gewaltiges Bilanzvolumen auf, aber relativ dazu nur wenig Eigenkapital. Das macht sie anfällig für einen Run ihrer Kunden. In der Lehman-Phase 2008 war das ein heißes Thema. Ganz vereinfacht gesagt: Sinkt das Vertrauen in eine Bank, erhält sie keine Finanzierung mehr. Die Einleger ziehen ihre Einlagen ab und die Bank kommt ins Schwimmen. In den angeschlagenen Euroländern sehen wir das ja deutlich: Die Kunden räumen die Konten leer.

Ein solcher Run wäre der größte anzunehmende Unfall für eine Bank – absolut tödlich. Die Bank muss eine solche für sie lebensbedrohliche Situation um jeden Preis verhindern. Wenn sie verschiedene Geschäftsbereiche unter ihrem Dach vereint, bietet ihr dazu beispielsweise die eigene Vermögensverwaltung einen gewissen Spielraum – im Ernstfall auf Kosten der Kunden oder wie so oft zu Lasten der Aktionäre.

Wahrscheinlich steckt im Bonmot des Berliner Bankiers Carl Fürstenberg mehr als nur ein Körnchen Wahrheit: »Die Aktionäre sind dumm und frech, dumm, weil sie anderen Leuten ohne ausreichende Kontrolle ihr Geld anvertrauen, und frech, weil sie dafür außerdem noch eine Dividende verlangen.« Das gilt im besonderen Maße für Bankaktionäre, schauen sie doch zu, wie die Bankmanager hohe Risiken fahren und hohe Boni kassieren – obwohl für sie selbst nichts übrig bleibt.

Das reflektieren auch die Kurse der Bankaktien. Wenn man die Entwicklung von Großbankenaktien wie Deutsche Bank, Commerzbank oder UBS über die vergangenen zwei Jahrzehnte betrachtet, dann haben die Aktionäre per saldo nichts verdient – was man von den Top-Mitarbeitern nicht gerade behaupten kann. Sie haben die Bank zu einem Selbstbedienungsladen gemacht, und zwar zu Lasten der Masse der Belegschaft, Aktionäre und der Steuerzahler.

Die logische Folge solcher Exzesse ist der Vertrauensverlust ins Banksystem. Den Banken fällt es zunehmend schwer, am Kapitalmarkt langfristige Mittel aufzunehmen. Die Investoren zweifeln immer mehr an der Qualität ihrer Vermögenswerte. Niemand weiß genau, wie viel Staatsanleihen und Kreditversicherungen die Banken auf ihren Büchern haben und mit welchen unmittelbaren und mittelbaren Verlusten im Falle von Staatspleiten zu rechnen ist. Lediglich Pfandbriefe lassen sich zu akzeptablen Renditen platzieren. Bei denen können die Banken Sicherheiten etwa in Form von Immobilien stellen. Inzwischen müssen Banken bei ihren Anleiheemissionen höhere Renditen als gute Industrieunternehmen wie VW oder BASF zahlen. Eine lukrative Kreditvergabe an solche Unternehmen ist damit nicht mehr möglich. Verkehrte Welt. Heute betteln Banken darum, solchen Adressen Geld leihen zu dürfen, weil es dort sicherer aufgehoben ist als im Bankensystem.

Was muss sich also in Zukunft ändern? Um ein solches System am Leben zu erhalten, braucht es immer zwei. Wir bezeichnen die beiden Seiten vereinfachend mit »der skrupellose Schlaue« und »der gutgläubige Naive«. Die Beziehungspaare in unserer Fragestellung sind Manager und Politiker, Manager und Aktionär, Manager und Kunde. Skrupellos schlau sind hier beispielsweise die Bankmanager, gutgläubig naiv die Politiker. Doch auch die umgekehrte Konstellation hat es gegeben. So waren einige Bankmanager naiv genug, die offiziellen Bonitätsnoten der Ratingagenturen ihren Anlageentscheidungen zugrunde zu legen oder den Aussagen der Politiker bezüglich der Rettung Griechenlands Glauben zu schenken.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich die Verhaltensmuster der Beteiligten ändern. Deshalb bestehen zwei Möglichkeiten. Entweder führt man Regeln ein, die nicht von dem Schlauen innerhalb von wenigen Minuten ausgehebelt werden können. Das ist in einer globalen Welt sehr, sehr schwierig. Oder man begrenzt den maximalen Schaden. Dann verkleinert man das Spielfeld und schafft mehr Konkurrenz. Wahrscheinlich müssen wir in beide Richtungen gleichzeitig gehen.

Als erstes brechen wir die Großbanken in ihre rechtlich und finanziell unabhängigen Geschäftsfelder auf und verbieten jegliche personellen und kapitalmäßigen Verflechtungen. Investmentbanking sowie Privatkunden- und Firmenkundengeschäft und Asset Management müssen wieder getrennt voneinander operieren. So wurde es beispielsweise in den USA 1933 durch den zweiten Glass-Steagall Act beschlossen.76 Investmentbanking bedeutet Wertpapieremissionen und -handel, vor allem für Großkunden. Das zweite Geschäftsfeld meint Einlagen- und Kreditgeschäft sowie Zahlungsverkehr. Die Vermögensverwaltung als dritte Aktivität bietet ihre Dienste privaten und institutionellen Kunden an. Das Stichwort für diese Aufspaltung lautet Trennbankensystem. Wenn sich beispielsweise das Investmentbanking irgendein neues Derivateprodukt ausdenkt, im Zweifelsfall zum Schaden des Kunden, hat sie nicht auch noch gleich mit der eigenen Privatkundenabteilung den Absatz sicher.

Für die Bereiche Privatkunden- und Firmenkundengeschäft und Asset Management ist eine Finanzierung über den Kapitalmarkt und das Einlagengeschäft kein Problem. Aber was wird dann aus dem Investmentbanking? Die Risiken dieses Geschäfts in seiner heutigen Form kann man nur sehr begrenzt über den Kapitalmarkt finanzieren. So haben sich die Zeiten gewandelt. Noch Anfang der 1990er Jahre bedeutete Investmentbanking vor allem das Emissionsgeschäft und kundengetriebenen Wertpapierhandel, Fusions- und Akquisitionsberatung. Die Investmentbank verstand sich als Dienstleister für ihre Kunden. Dann begannen sie verstärkt, am Handelstisch zu zocken. Das Investmentbanking sollte wieder zu seinen Ursprüngen zurückkehren, möglicherweise organisiert als Partnerschaft und nicht als börsennotierter Konzern.77

Risiko-Junkies gehören auf Entzug

Last but not least, benötigen Banken eine sehr viel höhere Eigenkapitalunterlegung. Deswegen fordern wir zwei Dinge:

Wichtig ist eine gestaffelte Eigenkapitalunterlegung für Vermögensanlagen, denn je höher das Risiko, umso mehr Eigenkapital wird als Risikopuffer benötigt. Alle Vermögensformen weisen ein Risiko auf. Null Risiko gibt es nicht. Das realisieren endlich auch die Investoren mit der Diskussion um mögliche »Haircuts« bei Staatsanleihen.

Außerdem brauchen wir eine Risikoobergrenze, die die Gesamtbilanz ohne jede Anpassung ins Verhältnis zum Eigenkapital setzt. Eine echte Eigenkapital-Quote von 10 % bedeutet einen maximalen Hebel von 10, egal mit welchen Anlagen das erreicht wird. Bei 50 Milliarden Euro Eigenkapital darf die Bilanzsumme dann maximal 500 Milliarden Euro betragen.

Der Regimewechsel würde allerdings auch ein Problem schaffen: Staatsanleihen wären weniger attraktiv als heute. In der alten Welt müssen Staatstitel nicht mit Eigenkapital unterlegt werden. In der neuen Welt wäre der Staat dagegen einen dankbaren Käufer seiner Emissionen los. Damit ist sicher ein großer Teil der unseligen Symbiose zwischen Banken und Regierungen erklärt.

Solch radikale Maßnahmen sind allerdings bei den Bankern nicht sehr beliebt. (Noch)-Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann hat sich am 12. Oktober 2011 gegen eine Zwangskapitalisierung der Banken gewehrt. Er meinte, nicht die Banken seien das Problem, sondern die hoch verschuldeten Staaten. Hier sind wir wieder beim Schwarzer-Peter-Spiel. Die Rettung von Banken, Versicherungen und einige Konjunkturprogramme im Nachgang der Lehman-Krise haben die Verschuldung in vielen Ländern doch erst auf dieses Niveau gehievt. Die Banken tragen eine Teilschuld an der hohen Staatsverschuldung, die sie jetzt beklagen.

Ein weiterer Grund für die unerwarteten Risiken bei den Staatsanleihen ist der Euro. Bisher behauptete man: Staatsanleihen können nicht ausfallen, denn der Souverän ist immer und auf jeden Fall zahlungsfähig. Im Notfall druckt er einfach Geld und begleicht jeden Nominalbetrag per Knopfdruck. Für die Anleger ist das nach Abzug der Inflation wenig tröstlich – Weimar lässt grüßen. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Natürlich steht dieser Ausweg nur einem Staat offen, der Anleihen in seiner eigenen Währung begeben kann. Und genau dies ist den 17 Euroländern verwehrt, denn jedes von ihnen hat sich in einer fremden Währung verschuldet: dem Euro.

Wie könnte eine vernünftige Staffelung der Eigenkapitalunterlegung nach Vermögensanlage aussehen? Bei der ersten Stufe der Risikobegrenzung steigt die Eigenkapitalunterlegung mit dem Risiko der Anlage. Denkbar ist vielleicht eine Abstufung in drei bis vier Schritten. Grundsätzlich gilt: Keine Anlage ist risikolos, auch eine Staatsanleihe nicht. Das haben wir spätestens in der Finanzkrise erfahren müssen. Maximales Risiko kommt den Unternehmensbeteiligungen, Aktien, Krediten an Immobilienentwickler zu. Das wäre gedanklich die höchste Stufe.

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Abbildung 42: Fällige Staatsschulden im Jahr 2012. Quelle: Bloomberg, Stand per 30. Dezember 2011.

Aus heutiger Sicht wäre die Bundesrepublik Deutschland der sicherste Emittent und vielleicht mit 5 % Eigenkapital zu unterlegen. Länder mit etwas schlechterer Qualität wie Frankreich oder Belgien würden mit 10 % folgen. Dann kommen Unternehmensanleihen mit geringerer Qualität oder zweifelhafte Staaten, wo wir möglicherweise 20 % ansetzen müssten. Auf der letzten Stufe folgt das klassische Risikokapital mit Möglichkeit eines Totalverlustes. Hier wären mindestens 25 % Eigenkapital notwendig.

Ein solcher Prozess wäre zwar nachvollziehbar, besäße aber den Nachteil, sehr mechanistisch zu sein. Außerdem stellte es wohl ein kaum überwindbares Politikum dar, wenn für bestimmte Länder höhere Eigenkapitalunterlegungen gefordert und ihre Banken entsprechend benachteiligt würden. Wir sind Kaufleute und damit zuerst immer auf der Suche nach marktwirtschaftlichen Lösungen. Und wir sind davon überzeugt, dass es Alternativen zur rein formalistischen Berechnung der Eigenkapitalunterlegung gibt. Wir würden den Ball an die Banken zurückspielen.

Die Grundidee ist ganz einfach: Bestimmte Geschäftsrisiken sind für alle Beteiligten gleich, also für Banken, für Versicherungen, für private oder institutionelle Anleger. Auf den Punkt gebracht könnte man sagen, dass die Banken ihre Aktiva mit dem gleichen Prozentsatz unterlegen sollen, den sie im Geschäft mit ihren Kunden fordern. Um beim Beispiel Bundesanleihen zu bleiben: Der Kunde hält Bundesanleihen und die Bank beleiht diese als Sicherheit für einen Kredit mit 95 %. Das sollte auch in der Bankbilanz gelten, das heißt, Bundesanleihen müssen dann mit 5 % Eigenkapital unterlegt werden. Wenn die Bank Bundesanleihen nur mit 80 % beleiht, dann muss sie für ihr eigenes Engagement in Bundesanleihen ebenfalls 20 % Eigenkapital vorhalten. Dahinter steht der Gedanke einer exakt gleich hohen Ausfallwahrscheinlichkeit des »Pfands« bei Kunde und Bank.

Jede Bank wäre zusätzlich verpflichtet ihre Beleihungsgrenzen für einzelne Vermögenswerte regelmäßig zu veröffentlichen, beispielsweise monatlich. Somit verfügten wir über eine gewisse Transparenz, denn jeder könnte die Konditionen der Institute vergleichen, und jeder könnte auch sofort ablesen, ob das eine oder andere Institut einen »heißen Reifen« im Eigengeschäft fährt. Nehmen wir einen Extremfall: Eine Bank beleiht alle Vermögenswerte zu 95 %, bietet also Kampfkonditionen. Dann würden die Kunden und Analysten sofort folgern: Diese Bank will Kreditgeschäft um jeden Preis betreiben. Auf jeden Fall gehen die Warnlampen an, und die Analysten werden den Motiven auf den Grund kommen wollen.

Wenn der Markt transparent wäre und alle Institute regelmäßig solche Tabellen veröffentlichen würden, besäßen vor allem auch die Kunden viel bessere Einsicht in die Qualität ihres Partners. Vielleicht verzichtet ein Kunde dann sogar auf die Adresse mit den höchsten Einlagenkonditionen, weil er befürchtet, es mit einem aggressiven Geschäftsmodell zu tun zu haben. Früher hätte das geheißen: Finger weg von isländischen Banken mit ihren extrem hohen Einlagenzinsen. Es endete eben im Desaster. Der Markt bringt die Lösung.

In der Praxis würde man schnell sehen, wie sich am Markt bestimmte Prozentsätze durchsetzen würden. Wir gehen in diesem Gedankenexperiment also nicht technokratisch vor. Wir fordern keine festgelegten Unterlegungen nach Risikoklassen. Das wäre immer willkürlich. Transparente Konditionen stellen eine rein marktwirtschaftliche Lösungsidee dar. Der Markt entscheidet: Dieser Bank kann man trauen und dieser weniger.

Eine weitere Grundidee hinter dieser Lösung ist natürlich auch, dem Kunden wieder mehr Eigenverantwortung für seine Anlageentscheidungen zu übertragen. Einlagen bis zu einem Betrag von 100.000 Euro sind zwar durch das Einlagensicherungs- und Anlegerentschädigungsgesetz garantiert – das ist auch gut so, denn Kleinsparer sollen geschützt werden. Aber Kunden mit größeren Summen müssen ein hinreichendes Maß an Eigenverantwortung tragen. Wieder geht es um Haftung. Wer die Bank mit den höchsten Zinsen wählt, muss sich auch über das Risiko einer Bankpleite Gedanken machen. Anschauungsunterricht bot die dänische Bank Fjordbank Mors. Das Geldinstitut bekam im Sommer 2011 ein Problem, weil die Finanzaufsicht eine Erhöhung der Eigenkapitalquote von 9,7 auf 16 % forderte. Dazu kamen Abschreibungen auf faule Kredite. Auch hier waren die Kunden bis zur Einlagenhöhe von 100.000 Euro abgesichert. Aber alle Beträge darüber mussten einen Abschlag in Höhe der Vergleichsquote hinnehmen.

Anleger müssen endlich verstehen, dass es keine risikolosen Investments gibt. Würden den Kunden diese Risiken aktiver vor Augen geführt und die Grenzen der Einlagensicherung nachhaltiger beleuchtet, dann würden die Kunden sich im Zweifel auf die konservativen Angebote konzentrieren und nicht den Höchstzinsen hinterherlaufen. Genau das Gegenteil ist aber momentan noch der Fall. Kein Wunder, denn das Finanzministerium verkündet auf seiner Homepage die gute Hoffnung, dass »auch in schwierigen Zeiten … die Sparer ihr Geld getrost bei den Banken lassen« können.78

Fazit

Es geht also immer wieder um Haftung und die Wiedereinführung des Haftungsprinzips. Bei den Bankern, bei den Politikern, bei den Investoren und auch beim Bürger. Alle wollen gerettet werden, wenn eine Bank oder ein Staat bankrottgeht. Wir haben das sinnvolle Maß an Eigenverantwortung abgeschafft. So geht es nicht weiter.