Deutschland im Herbst 2015

Staatsschulden sind zu einer Droge geworden. Und die Regierungen vieler Länder verabreichen sich in den letzten Jahren immer höhere Dosen davon: Die USA sind mit 20 Billionen Dollar verschuldet, nach gut 15 Billionen Ende 2011, die Rest-Eurozone, also ohne die ausgeschiedenen Länder Portugal und Griechenland, mit 13,5 Billionen Euro. Allein in den letzten vier Jahren haben wir weitere 3,5 Billionen Euro draufgesattelt. Wir haften weiter mit, denn Deutschland ist auch im Jahr 2015 noch Teil der Eurozone. Griechen und Portugiesen hingegen haben wieder ihre eigene Währung.

Es ist kein Trost, dass wir nicht alleine sind. Briten und Japaner haben ihre Schulden sogar noch stärker aufgebläht. Eine globale Schuldenlawine stürzt auf uns zu, die Lawinenverbauungen haben versagt, unsere Häuser im Tal sind nicht mehr weit. Und während die Lawine anrollt und bedrohlich immer näher kommt, diskutiert die Politik noch über Lawinenprävention und restriktivere Bebauungspläne.

Aber Schulden an sich sagen wenig aus. Die Staatsverschuldung im Verhältnis zur Wirtschaftskraft, dem sogenannten Bruttoinlandsprodukt, schon mehr. Und diese Schuldenquoten sind im Herbst 2015 niedriger als Ende 2011. Ein Wunder? Nur auf den ersten Blick. Der Staat hat einen Pakt mit der Inflation geschlossen. Das geht so: Die Wirtschaft wächst jährlich um 10 %, das reale Wachstum steigt aber nur um 2 %, der Rest ist Inflation, das sind also 8 % Geldentwertung pro Jahr. Diese hohe Inflation schrumpft die realen Staatsschulden.

Inflation klingt gefährlich. Aber sie war erst einmal kein Problem. Die Notenbanken hatten zwar zügellos Staatsanleihen aufgekauft und damit die Geldmengen aufgebläht – doch zunächst ohne Folgen. Schließlich stellte sich der Ketchup-Effekt ein: Man schlägt mehrere Male auf den Flaschenboden, nichts kommt heraus. Plötzlich aber entlädt sich die ganze Soße auf den Teller. Die Ketchup-Inflation spritzte zum ersten Mal 2014 in die Wirtschaft. Auf 6 % Prozent schoss die Inflation in der Eurozone nach oben, inoffiziell sind es sogar fast 10 %.

Wie es dazu kam? Die Weltkonjunktur stand 2012 auf der Kippe. Deshalb warfen die Regierungen der USA, Europas und Japans alle Pläne zur Haushaltskonsolidierung über Bord und gingen mit neuen Konjunkturprogrammen in die Offensive. Die Alternative schien einfach unannehmbar. Eine simultane Sparpolitik in allen großen Wirtschaftsräumen der Welt hätte die globale Konjunktur in eine schmerzhafte Rezession, vielleicht sogar eine Weltwirtschaftskrise gestürzt. Dies galt es unter allen Umständen zu verhindern.

Vor allem US-Notenbankpräsident Ben Bernanke drang auf kreditfinanzierte Ausgabenprogramme. In seiner legendären Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos hatte er eine »Reflationierung« als das geringere Übel beschrieben. Bernanke bot seine Unterstützung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die Vermeidung einer sich selbsterfüllenden Depressionsspirale an. Das führte zum größten Ankaufprogramm für Staatsanleihen und immobilienbesicherte Titel in der Geschichte der Vereinigten Staaten. So konnte die US-Regierung ihr ambitioniertes Konjunkturprogramm »Rebuilding America« finanzieren. Andere Länder folgten diesem Beispiel.

Auch China musste seine Wirtschaft mit kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen im XXL-Format stützen, als die Immobilienblase in der Volksrepublik zu platzen drohte. Die parallele Einführung einer staatlichen Grundrente reduzierte das Vorsorgesparen und setzte Mittel für den Konsum frei. So konnte China 2014 noch einmal an die zweistelligen Wachstumsraten früherer Zeiten anknüpfen. Der Preis dafür war allerdings hoch. Die Inflationsrate von offiziell 12 und inoffiziell 18 % führte zu großen Unruhen unter der Bevölkerung. Das Reich der Mitte musste den Staatsanleihenmarkt für ausländische Investoren öffnen, um die Konjunkturmaßnahmen zu finanzieren. Doch auch den ausländischen Investoren verging der Appetit auf niedrig verzinsliche China-Anleihen. Schon 2013 überwand die chinesische Staatsschuldenquote offiziell die Marke von 50 %; inklusive aller indirekten Staatsschulden betrug sie sogar mehr als 100 %. Die chinesische Zentralbank musste als Käufer der letzten Instanz einspringen. Seither hat sie nach westlichem Muster Staatsanleihen für umgerechnet 900 Milliarden Euro gekauft.

Das hatte Folgen für die chinesische Währung: Erstmals begann der Renminbi zu fallen. Die Amerikaner protestierten heftig – und wehrten sich mit erhöhten Zöllen und Einfuhrquoten. Schon vorher hatten die US-Unternehmen unter der Konkurrenz ihrer Wettbewerber aus der Eurozone gelitten. Das Übel des Protektionismus nahm seinen Lauf. Jeder suchte gegenüber seinen Handelspartnern die eigene Währung abzuwerten. Dies führte zu einem wahren Wettlauf bei der Schuldenfinanzierung durch die Notenbanken, sprich den Aufkauf von Staatsanleihen. Der daraus resultierende Vertrauensverlust in die Währung hatte mit den Worten von Bundeskanzler Peer Steinbrück den »willkommenen Nebeneffekt«, den Aufwertungsdruck aus dem Euro zu nehmen. Dabei war dieser ohnehin nur temporär, denn letztlich waren die großen Währungsblöcke für die Anleger eher eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Einmal fiel der Dollar, dann wieder der Euro. Am stärksten ging es mit dem ehemals so starken Yen bergab.

Mittlerweile war das Vertrauen in alle Papierwährungen massiv gesunken. Immer häufiger lösten Menschen ihre Sparguthaben auf und kauften dafür Möbel, Autos, Uhren und dergleichen. Inhaber größerer Vermögen begannen ihr Geld zunehmend in Kunst, Antiquitäten, Oldtimer und natürlich in die als Inflationsschutz so beliebten Immobilien zu investieren. Das kam der Wirtschaftsentwicklung zugute. Ökonomen feierten die Wachstumsrate von real 3 % für 2014 als neuen Wirtschaftsboom. Finanzminister Jürgen Trittin freute sich über steigende Steuereinnahmen. Der Geldsegen kam ihm gelegen: Er konnte das Investitionsprogramm »Ökologische Grunderneuerung Deutschlands« bezahlen und die Milliardentransfers nach Brüssel finanzieren.

So lag das deutsche Haushaltsdefizit zuletzt nur bei 2 % des Sozialprodukts. Allerdings ohne die Einzahlungen in den Eurorettungsschirm ESM, die seit 2014 nicht mehr dem ordentlichen Bundeshaushalt zugerechnet, sondern außerbilanziell in einem Schattenhaushalt geführt werden. Steigende Lohnsteuereinnahmen spielten dabei eine wichtige Rolle. Die kalte Progression hatte nämlich dazu geführt, dass durch die hohe Inflation inzwischen schon ein lediger Durchschnittsverdiener fast den Spitzensteuersatz von 50 % plus 2 % Euro-Soli zahlen muss. Als weitere lukrative Einnahmequellen für den Staat entwickelten sich die Ökoabgabe für Hausbesitzer energieineffizienter Häuser und die Straßenmaut. Weniger als erhofft brachte die mit großem Verwaltungsaufwand 2013 erstmals erhobene Vermögenssteuer von 1 %. Sie schuf 25.000 neue Jobs bei den Finanzämtern. Das gab zumindest dem Arbeitsmarkt einen positiven Impuls.

Die großen Verlierer waren die Sparer. 1 % Zins bei 8 % Inflation heißt im Klartext: Enteignung der Inhaber von Sparbüchern, Riester-Renten und Inhaber von Lebensversicherungen. Zwar erliegen viele von ihnen noch der Nominalwert-Illusion und registrieren nicht, wie sehr die allgemeine Preissteigerung an der Kaufkraft ihrer Ersparnisse zehrt. Der Gesetzgeber sorgt dafür, dass große Teile der Versicherungsgelder in Staatsanleihen investiert werden müssen und hat per Dekret Staatsanleihen als einzige mündelsichere Anlage erklärt.

Für Sparer herrschen magere Zeiten. Wer 2010 10.000 Euro aufs Sparbuch legte, hat fünf Jahre später 10.250 Euro zu Buche stehen (das ist zirka 0,5 % nach Abgeltungssteuer – mehr bekam man nicht). Wie soll man im Jahr 2015 Kindern da den Sinn von Sparen erklären. »Stellt Euch vor, es ist Weltspartag und keiner geht hin!«, war vor der Filiale einer Sparkasse auf einem Transparent zu lesen, von frustrierten Kunden in die Höhe gehalten.

Viele Sparer trösten sich noch mit den optimistischen Prognosen der Regierung. Die derzeitige Inflation sei ein »temporäres, auf Sonderfaktoren zurückzuführendes Phänomen« hatte Jürgen Trittin erklärt. Schon im nächsten Jahr werde es zu einem spürbaren Rückgang kommen. Das Inflationsziel von 2 % sei damit wieder in Reichweite. Der starke Anstieg des Ölpreises hat den Liter Superbenzin auf 2,53 Euro verteuert. Woran laut Politik vor allem die Spekulanten an den Terminmärkten schuld sind. Und der Preis von 7,50 Euro für eine Schachtel Zigaretten wirke sich durchaus positiv auf die Volksgesundheit aus.

So leidet die Bevölkerung zunehmend unter den steigenden Preisen. Politiker spüren davon kaum etwas. Dafür haben die eingeführte automatische Preisindexierung der Diäten sowie der »einmalige« Sonderzuschlag für Beamte gesorgt. Noch weniger Sorgen machen sich die Spitzenverdiener in den Banken, deren Boni 2015 selbst inflationsbereinigt die Spitzenwerte des Jahres 2007 erreicht haben. Allerdings ist der Kreis der Empfänger in den letzten Jahren deutlich kleiner geworden. Kosteneinsparungen, Fusionen und vereinzelte Verstaatlichungen von Banken haben die Zahl der Top-Verdiener deutlich schrumpfen lassen. Dennoch – und trotz oberflächlicher gegenseitiger Kritik – ist die Symbiose zwischen Politik und Banken größer denn je. Schließlich sind die Banken der größte Käufer von Staatsanleihen – und damit Finanziers des Staates, mit denen man es sich nicht verscherzen möchte.

Ganz anders sieht es in der sogenannten Realwirtschaft aus, also bei Unternehmen, die wirkliche Werte schaffen. Großunternehmen können zwar relativ günstig am Kapitalmarkt Geld aufnehmen, indem sie Anleihen platzieren und so von dem negativen Realzins profitieren. Doch viele Mittelständler erhalten nur noch sehr schwer Kredite zu einigermaßen akzeptablen Konditionen. Die Banken begründen dies mit einer vorsichtigen Kreditvergabepolitik, die ja im Sinne der Bürger sei, die schließlich für das Finanzsystem haften. Tatsächlich legen Banken ihre Liquidität lieber in höher rentierliche Anlageformen anstatt sie zu einem negativen Realzins an Unternehmen zu verleihen. Sie können seit nunmehr fast sieben Jahren praktisch unbegrenzt Liquidität bei der Europäischen Zentralbank abrufen, ohne dafür nennenswerte Zinsen zu zahlen.

Statt dieses Geld in Form riskanter und arbeitsaufwendiger Kredite an die Unternehmen weiterzuleiten, kaufen sie risikolose Staatsanleihen. Diese bringen zwar im EU-Durchschnitt nur 4 % Zins – doch ergibt sich eine lukrative Zinsspanne von gut 3,5 %. Wer sich 10 Milliarden Euro bei der EZB leiht, kann so ohne Aufwand und Risiko 350 Millionen Zinsertrag einspielen. Da Staatsanleihen nicht mit haftendem Eigenkapital unterlegt werden müssen, geht dieses Spiel munter weiter. In den letzten Jahren wurden die Banken immer stärker in die Staatsfinanzierung eingebunden. Mittelständler sind zunehmend auf das Wohlwollen der lokalen Volksbanken und Sparkassen angewiesen, denn die systemrelevanten Großbanken haben sich aus dem klassischen Unternehmenskreditgeschäft weitgehend zurückgezogen.

Die Inflation hat aber auch die Umsätze und Gewinne der Unternehmen steigen lassen. Die gestiegenen Aktienkurse reflektieren dies. Aktien sind auch wegen der im Vergleich zu Spareinlagen attraktiven Dividendenrenditen wieder stärker gefragt. Im Sommer 2015 überschritt der DAX erstmals die Marke von 12.000 Punkten.

Deutschland im Jahr 2015?

Erschrecken Sie nicht vor dem beschriebenen Szenario. Es könnte weitaus schlimmer kommen. Einen schmerzfreien Weg aus der Schuldenkrise gibt es nicht mehr. Je eher wir uns darüber im Klaren sind, umso besser können wir uns darauf vorbereiten. Die Weltgeschichte hat Schlimmeres zu bieten als 5 bis 10 % Inflation. Wir müssen akzeptieren, dass die Epoche der Kontinuität und scheinbar garantierter Sicherheit nicht ewig währt, sondern von Perioden unterbrochen wird, in denen uns der Wind auch wieder mal ins

Gesicht bläst. Wichtig ist, die Fehler zu vermeiden, die zu Hyperinflation oder zur Weltdepression der 1930er Jahre geführt haben.