Wie das Monster entstand

Für viele Menschen wird die Schuldenkrise zum bedrohlichsten finanziellen Ereignis ihres Lebens werden. Die meisten Bürger können aber noch immer nicht verstehen, was wirklich vor sich geht. Nur wenige nehmen sich die Zeit und versuchen die maßgeblichen Entwicklungen zu erkennen. Das aber ist nötig, um die Angst und Sorge um ihre Ersparnisse in Erkenntnis und vernünftiges Handeln zu wandeln.

Immer die gleiche Geschichte

Gründe für die aktuellen Probleme gibt es viele. Die Auslöser waren die Finanzkrisen Ende der 1990er Jahre und die Anschläge vom 11. September 2001. Danach hielten die wichtigen Notenbanken ihre Zinsen jahrelang tief, weil sie Angst um die Konjunktur hatten. Das begünstigte einen Kreditboom. Der konzentrierte sich auf die Immobilien in den USA, Teile Europas und Chinas und die Schwellenländer als neue Lokomotiven der Weltwirtschaft.

Dann kam das Jahr 2007, in dem die Finanzkrise offen zutage trat. Der Zusammenbruch der US-Immobilienblase deckte die Schwächen des globalen Finanzsystems schonungslos auf: Notenbanken wurden immer stärker zur Finanzierung der Staatsschulden und zur Rettung volkswirtschaftlicher Dynamik instrumentalisiert. Und das in Dimensionen, die für uns alle neu waren. Der Finanzsektor wurde grandios aufgebläht. Verantwortlich dafür waren eine schrittweise Aufweichung des Trennbankensystems in den USA und laxe Regulierungen mit geringen Eigenkapitalerfordernissen. So entwickelten sich die Banken vom Dienstleister, der die Realwirtschaft mit Kapital versorgt, zur alles beherrschenden Macht. Der Schwanz wedelte mit dem Hund.

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Abbildung 1: Lawinenabgang. Quelle: istockphoto.com

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Abbildung 2: US-Banken: Anteile Gewinn und Börsenwert an Wirtschaft und GDP-Index. Quelle: Bloomberg.

In den USA taumelten viele Finanzinstitute. Der Staat sprang als Retter ein, und ohne dessen massive Unterstützung hätten viele Banken und Versicherungen nicht überlebt. Allerdings wiesen die Rettungsmaßnahmen damals wie heute einen entscheidenden Fehler auf. Die Staaten hätten das Geld, das für den Ankauf von Problemanleihen vergeudet wurde, direkt in die Banken stecken und dafür Aktien verlangen können. Damit hätten die Steuerzahler zumindest einen Gegenwert für die Rettungsmilliarden bekommen und die Bankaktionäre einen Denkzettel dafür, dass sie den Harakiri-Stil vieler Bankvorstände abgesegnet hatten.

So aber wurden die Banken zu einem »Weiter so!« ermuntert und völlig falsche Anreizsysteme kreiert. Folgerichtig sind wir dann in eine viel größere Finanzkrise gerutscht. Genau deshalb hatten wir bereits 2009 die Frage aufgeworfen: Wer rettet die Retter? Leider nicht zu Unrecht, denn genau an diesem Punkt sind wir heute angelangt.

Viele hoch verschuldete Staaten dürften den »point of no return« erreicht oder sogar schon überschritten haben, an dem es noch möglich ist, die Staatsfinanzen durch Sparmaßnahmen zu konsolidieren. Stattdessen rücken zwei »Lösungsansätze« in den Vordergrund: Staatsbankrott oder Inflation. Angesichts der historischen Erfahrungen ist dies verständlich, denn die Geschichte von Staaten ist eine Geschichte von klammen Kassen, Bankrott und Inflation. Im dritten Jahrhundert n. Chr. kam es beispielsweise im Römischen Reich zu einer massiven Inflation. Ursache waren die Kosten aufreibender Grenzkriege, außer Kontrolle geratene Ausgaben für die Beamten und Naturkatastrophen. Die Oberschicht musste ihre Luxuswaren aus dem Ausland mit den gültigen Währungen Gold und Silber bezahlen, was zu Abflüssen der Edelmetalle führte. Die Haushaltsdefizite stiegen. Und was war die »Lösung« der Regierenden? Sie reduzierten die Schulden des Imperiums durch Geldentwertung, streckten die Metallanteile in den Münzen, erhöhten die Steuern und beschlagnahmten später die Vermögen reicher Bürger.

Doch bereits im Jahr 55 v. Chr. hatte der Politiker und Schriftsteller Marcus Tullius Cicero auf etwas sehr Wesentliches hingewiesen: »Der Staatshaushalt muss ausgeglichen sein. Die öffentlichen Schulden müssen verringert, die Arroganz der Behörden muss gemäßigt und kontrolliert werden. Die Zahlungen an ausländische Regierungen müssen reduziert werden, wenn der Staat nicht bankrott gehen soll. Die Leute sollen wieder lernen zu arbeiten statt auf öffentliche Rechnung leben.« Eine frühe Mahnung an einen über seine Verhältnisse lebenden Staat – viel hat sich daran bis heute nicht geändert. Genutzt haben seine warnenden Worte allerdings auch in der römischen Antike wenig. Zu Zeiten Ciceros lag der Silberanteil eines römischen Denars bei 95 %, 300 Jahre später waren es nur noch 0,5 %. Geldentwertung ist also keine Erfindung unserer Tage, sondern so alt wie die Menschheit.

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Abbildung 3: Entwicklung des Silberanteils des römischen Denars. Quelle: Tulane University, Flossbach von Storch AG.

Auch in der Neuzeit sind zahlungsunfähige Staaten keine Ausnahme, sondern eine Dauererscheinung. Nur für uns heute ist das Thema neu, sind doch die allermeisten von uns in ihrem Leben damit nicht konfrontiert worden – jedenfalls nicht vor der eigenen Haustür. Das ist ein entscheidender Punkt. Psychologisch betrachtet, stehen wir vor dem großen Problem, überhaupt zu akzeptieren, dass ein Staat zahlungsunfähig werden kann. Das ist völlig ungewohnt in unserer eigenen Lebenswirklichkeit.

Vielleicht kann man diese Schwierigkeit vergleichen mit der Diskussion um Emittentenrisiken bei Zertifikaten vor der Lehman-Pleite. Dieses Risiko war allen Interessierten bekannt. Es wurde auch immer wieder erwähnt, blieb aber im Bewusstsein ein theoretisches Risiko. Als der Emittent Lehman dann zahlungsunfähig wurde, fielen viele Marktteilnehmer aus allen Wolken. Das theoretische Risiko war plötzlich real geworden. Und ein solcher Ausfall schien dann auch bei anderen Emittenten möglich. Plötzlich sah man Zertifikate mit ganz anderen Augen. Ähnlich verhielt es sich nach dem Reaktorunfall in Fukushima. Ein Einzelereignis veränderte die Wahrnehmung einer ganzen Branche fundamental, gerade auch in Deutschland.

Staatsausfälle sind aber alles andere als Einzelereignisse. Im Gegensatz zur Katastrophe in Fukushima und zur allgemeinen Wahrnehmung stellen staatliche Ausfälle die Regel dar, und nicht die Ausnahme. Die Finanzprofessoren Carmen M. Reinhart und Kenneth S. Rogoff haben dazu interessante Zahlen aufbereitet.1 Rund um den Globus zählen sie seit dem Jahr 1800 mindestens 250 Staatspleiten für die Auslandsschulden und mindestens 68 Inlandspleiten, bei denen die Einlagen der eigenen Bevölkerung in Landeswährung betroffen waren. Manche Länder sind häufiger zahlungsunfähig geworden, Spitzenreiter ist Spanien mit 13 Pleiten. Spannend sind auch die Zeiträume der Zahlungsunfähigkeiten. Griechenland war in mehr als der Hälfte der Zeit seiner Existenz zahlungsunfähig. Ein Umstand, der Edmond About bereits 1858 zu einer schonungslosen Beschreibung des griechischen Steuersystems und der Steuermoral veranlasste.2 Viel geändert hat sich seitdem offensichtlich nicht. Aber auch Deutschland ist historisch gesehen mit acht Insolvenzen alles andere als ein Musterschüler.

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Tabelle 1: Staatspleiten sind die Regel, nicht die Ausnahme. Quelle: Carmen M. Reinhart / Kenneth S. Rogoff, This Time is Different (2009).

Für uns Deutsche und auch international gilt die Weimarer Zeit immer als Paradebeispiel einer Schuldenkrise und einer Hyperinflation. Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Periode der Preisstabilität zu Ende geht. Deshalb ist es interessant zu hinterfragen, wie es damals zur Hyperinflation kam.

Die Reichsregierung hob schon Anfang des Ersten Weltkrieges die Einlösungspflicht der Banknoten gegen Gold auf. Außerdem wurde die Geldvermehrung durch die Aufhebung der Dritteldeckung der Geldmenge durch Gold angekurbelt. Nach dem Versailler Vertrag kamen die Reparationszahlungen hinzu und belasteten die junge Republik. Auch sie wurden durch das Drucken von Geld finanziert. Darüber hinaus ging Deutschlands Güterproduktion auch infolge demontierter bzw. konfiszierter Produktionsanlagen deutlich zurück. Inflation war unvermeidlich.

Schon zu Kriegsende wies die Mark nur noch die Hälfte ihres Wertes zu Kriegsbeginn auf. Danach eskalierte die Geldentwertung. Ein Inlandsbrief kostete 1918 noch 15 Pfennig, kurz vor der Währungsreform 1923 unglaubliche 100 Milliarden Mark. Entsprechend kollabierte der Mark-Wert gegen Dollar; am Ende kostete ein US-Dollar unvorstellbare 4,2 Billionen Mark. Die Mark wurde übergangsweise von der Rentenmark abgelöst, danach kam die Reichsmark. Für 1 Billion Mark gab es 1 Rentenmark. Damit reduzierte sich die Verschuldung des Deutschen Reichs auf 16 Pfennige.3 Die größte Last der Hyperinflation trug die Mittelschicht. Deren Erspartes steckte vor allem in Nominalwerten, wie Sparguthaben, Anleihen, Leibrenten usw. Die waren natürlich nach der Hyperinflation nichts mehr wert.

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Abbildung 4: Wenn das Briefporto immer teurer wird: Die deutsche Inflation in den 20er Jahren. Quelle: Wikipedia.

In den vergangenen Jahren ließ sich ein ähnliches Phänomen beobachten, wenn auch geografisch einige Tausend Kilometer weit weg, nämlich in Simbabwe. Vieles von dem, was sich wirtschaftlich in Afrika, besonders in Schwarzafrika, ereignet, kommt in der hiesigen öffentlichen Wahrnehmung kaum oder gar nicht an, und oft hört man: »So etwas passiert in afrikanischen Diktaturen und nicht in westlichen Demokratien – unvorstellbar für Deutschland.« Doch die Vorkommnisse unter dem Diktator Robert Mugabe interessierten angesichts der enormen Verwerfungen auch die breiten Medien. Was war geschehen? Knapp gesagt: Die Notenbank Simbabwes hatte sich den Geldbedürfnissen der Regierung untergeordnet. Das Schema kommt uns bekannt vor: Gelddrucken entwertet das Geld, die Ziffern auf den Geldscheinen eskalieren.

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Abbildung 5: Einhundert Trillonen Simbabwe Dollars. Quelle: istockphoto.com

Während der 1990er Jahre hielt sich die Inflation in Simbabwe noch im zweistelligen Prozentbereich. Anfang des neuen Jahrtausends war sie schließlich dreistellig. Von Anfang 2008 bis Anfang 2009 kam es dann zu einer Hyperinflation, im Januar 2008 lag sie bei 100.000 %, im Juli bei unglaublichen 231.000.000 % (231 Millionen!).4

Im Januar 2009 gab die Notenbank einen 100-Billionen-Dollar-Schein heraus. Diese Banknote markierte das endgültige Ende dieser Währung. Es war praktisch kein Handel mehr möglich. Die Inflation des Simbabwe-Dollars war die zweithöchste jemals gemessene, nach der des ungarischen Pengõ 1946.

Horrende Zahlen, die mit dem normalen Verstand ganz und gar nicht mehr fassbar sind. Stellen Sie sich aber die Schicksale vor, die hinter diesen blanken Zahlen stehen. Besser als alle volkswirtschaftlichen Analysen zum Thema Inflation ist der konkrete Anschauungsunterricht, wie ihn zeitgenössische Romane oder Tagebücher bieten. Sie illustrieren vor allem, wie ein schleichender Verlust des Vertrauens in die Währung zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann und deren Wert immer schneller aushöhlt. Sie zeigen, wie sich der Alltag der Menschen, ihr Wirtschaften und Disponieren ändert und offenbaren die Hilflosigkeit der Politik. Nachzulesen ist das in Wolf unter Wölfen von Hans Fallada, Stefan Zweigs Die Welt von Gestern oder Adam Fergussons klassischer Untersuchung When Money Dies (dt.: Das Ende des Geldes).

Inflation ist fast immer eine Spätfolge der Schuldenspirale. Also ist es legitim zu fragen: Wie stolpern Staaten überhaupt in die Schuldenfalle? Ein historisch besonders häufig anzutreffender Grund dafür sind Kriege; das Beispiel des Ersten Weltkriegs mitsamt der folgenden Hyperinflation haben wir uns eben angesehen. In der jüngeren Vergangenheit sind besonders der Vietnamkrieg, der letztlich das Ende der Goldpreisbindung an den Dollar auslöste, und die Kriege im Irak und in Afghanistan zu nennen. In Friedenszeiten führen vor allem Bankenkrisen zu Staatsschuldenkrisen.5

Der andere Grund ausufernder Schulden liegt im politischen System an sich. Immer mehr Bürokratie, ein ausufernder Sozialstaat, Subventionen und andere Wahlgeschenke: Politiker verteilen über viele Jahrzehnte reichlich aus dem scheinbar nie versiegenden Füllhorn. Für die Kosten soll aber immer erst die nächste Generation zur Kasse gebeten werden.

Der Schweizer Ökonom Peter Bernholz hat sich durch die historischen Daten für Hyperinflationsphasen gearbeitet.6 Das sind die besonders schweren Fälle mit Geldentwertungsraten von über 50 % monatlich, normalerweise wird Inflation ja in Jahresraten angegeben. Laut Bernholz besitzen Politiker einen natürlichen Hang zur Inflation. Seinen Untersuchungen zufolge helfen Geldsysteme mit Bindung an Edelmetallstandards wie Gold dabei, diesen »Naturinstinkt« zu begrenzen, und in solchen Systemen gab es kaum Inflation. Bei reinen Papierwährungen ist das allerdings anders und umso schlimmer, je weniger die Notenbank von der Politik unabhängig ist und im Zweifelsfall gegenhält. Deshalb haben wir in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Deutschen Bundesbank im Vergleich der großen Volkswirtschaften so gut abgeschnitten. Denn die Bundesbank war unabhängiger als viele andere Notenbanken. Mit der politischen Unabhängigkeit des »Nachfolgeinstitutes« EZB ist es inzwischen leider nicht mehr allzu weit her.

Land

Jahr

Höchste monatliche Inflationsrate in %

Land

Jahr

Höchste monatliche Inflationsrate in %

Argentinien

1989/90

196

Österreich

1921/22

124

Armenien

1993/94

438

Peru

1921/24

114

Aserbaidschan

1991/94

118

Polen

1989/90

188

Bolivien

1984/86

120

Polen

1992/94

77

Brasilien

1989/93

84

Serbien

1922/24

309.000.000

Bulgarien

1997

242

Sowjetunion

1945/49

279

China

1947/49

4.209

Tadschikistan

1993/96

78

Deutschland

1920/23

29.500

Taiwan

1995

399

Frankreich

1789/96

143

Turkmenistan

1992/94

63

Georgien

1993/94

197

Ukraine

1990

249

Griechenland

1942/45

11.288

Ungarn

1923/24

82

Kasachstan

1994

57

Ungarn

1945/46

1,295*1016

Kirgisistan

1992

157

Weißrussland

1994

53

Nicaragua

1986/89

127

Zaire (heute Demokratische Republik Kongo)

1991/94

225

Tabelle 2: Was Hyperinflation bedeutet: Länder mit höchsten monatlichen Hyperinflationsraten. Quelle: Bernholz, Monetary Regimes and Inflation (2003).

Hyperinflationen, so Bernholz, »werden immer durch Defizite der öffentlichen Haushalte verursacht, die größtenteils durch Geldschöpfung finanziert werden.«7 Noch spannender sind die Ergebnisse, von welchem Niveau der Ausgaben an das System zu brechen beginnt. Der Schweizer Ökonom nimmt als Ausgangspunkt aber nicht das Staatsdefizit im Verhältnis zum Sozialprodukt, wie es häufig gemacht wird. Vielmehr stellt er das Defizit in Bezug zu den gesamten Staatsausgaben und kommt so zu einem bemerkenswerten Ergebnis: Defizite, die mehr als 40 % der Gesamtausgaben ausmachen, sind langfristig nicht tragbar. Das Ergebnis ist Inflation oder sogar Hyperinflation.

Griechenland überschritt diese Schwelle erstmals 2009 mit einem Wert von 46 %. 2010 fiel die Quote auf 35 % zurück, 2011 wird sie wieder auf ca. 46 % ansteigen – und dies trotz umfassender Zinssubventionen durch die niedrigverzinslichen Hilfskredite von EU und IWF. In Portugal beträgt das Defizit/Ausgaben-Verhältnis selbst bei durch die EU subventionierten Zinsen 22 %, Tendenz stark steigend. In Italien liegt es bei 17 % und in Spanien bei 13 %. Deutschland befindet sich mit einem Verhältnis von 11 % momentan noch weit von der Schwelle zum Ruin entfernt. Aber auch wir sollten uns nicht zu sicher fühlen, denn Haftungs- und Transferunion, die zukünftigen Lasten der Sozialsysteme oder steigende Zinsen können den Wert schnell nach oben treiben.

Schaut man sich die Verschuldungsniveaus der großen Wirtschafts- und Währungsräume an, so stellt man fest, dass es keineswegs die Eurozone ist, die die Schuldentabelle anführt. Die USA und vor allem Japan sind weitaus höher verschuldet als die Euroländer. Und Großbritannien steht auch nicht besser da. Warum ist dann die Eurozone im Fokus der Märkte? Warum assoziieren wir momentan Schuldenkrise mit Euro-Krise und umgekehrt?

Offensichtlich geht es nicht nur um das absolute Niveau der Verschuldung, sondern auch um die strukturelle Fähigkeit, die Schuldenprobleme zu adressieren und zu lösen. Diese Strukturen sind in den Ländern der Eurozone zu unterschiedlich, und hier liegt auch das Kernproblem unserer Währungsunion. Die Märkte haben es erkannt: Ohne eigene Währung fehlt den einzelnen Staaten der Eurozone das notwendige Ventil zum Ausgleich unterschiedlicher Entwicklungen. Deshalb befürchten die Investoren zu Recht, dass die Bedienung der Schulden durch die sogenannten Euro-Peripherieländer irgendwann nicht mehr möglich sein wird.

Argentinien hatte mit der Anbindung des Pesos an den US-Dollar de facto das gleiche Problem, allerdings keine Nachbarn, die für die argentinischen Schulden einstanden. Die Solidargemeinschaft der Euroländer hat den Druck im Kessel der gemeinsamen Währung lange halten können, doch jetzt scheint er zu hoch zu werden.

Viele Politiker haben sich mit völlig falsch verstandenem Euro-Patriotismus in eine dauernde Neuauflage von Staatsrettungsmaßnahmen verrannt. Das wirkliche Problem der fehlenden Homogenität verdrängen sie aber noch immer konsequent. Noch schlimmer wäre es jedoch, wenn sie mit dem einseitigen Festhalten an ihrem Meta-Ziel Euro ein gigantisches Scheitern der europäischen Integration riskieren würden. Unsere Sorge gilt längst nicht mehr einem Kollaps an den Finanzmärkten. Darauf können wir uns vorbereiten. Wir sorgen uns um Konflikte innerhalb und zwischen EU-Staaten, insbesondere zwischen »Geber«- und »Nehmer«-Staaten. Und in den Staaten selbst drohen erhebliche gesellschaftliche Spannungen, die in besonders hart betroffenen Ländern wie Griechenland auch bürgerkriegsähnliche Formen annehmen können.

Das Ende des Goldstandards

Grundsätzlich sind hohe beziehungsweise stetig steigende Staatsschulden kein neues Phänomen. Früher waren es meist Kriege und teure Eroberungsfeldzüge, die die Staatsfinanzen in den Ruin getrieben haben. Das ist in unseren Zeiten der Demokratie anders geworden. Nach dem Zweiten Weltkrieg bürden uns der immer kostspieligere Sozialstaat und der Anreiz für die Politiker, Wählerstimmen mit langfristig teuren Wohltaten zu gewinnen, wachsende Lasten auf.

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Abbildung 6: Immer mehr Staat … immer weniger Freiheit.8 Quelle: Vito Tanzi: Government versus Markets; Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung nach Bundesfinanzministerium.

Aber erst Anfang der 1970er Jahre begann die Verschuldung deutlich anzusteigen. Mitverantwortlich dafür war nicht zuletzt der Wechsel des Währungssystems. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Goldstandard wieder eingeführt worden, aber nur indirekt, mit dem US-Dollar als Ankerwährung. Doch durch ihre anhaltende Inflationierung untergruben die Vereinigten Staaten das System. Dahinter steckten die hohen Kosten des Krieges in Korea und später in Vietnam. Folgerichtig wuchs der Druck auf den Dollar und die USA waren gezwungen, Gold aus den Reserven ihrer Notenbank an andere Staaten gegen zunehmend wertlosere US-Dollar abzugeben. Diese Eintauschpflicht galt übrigens nur für Notenbanken und nicht für Privatpersonen.

1965 kündigte Frankreichs Präsident Charles de Gaulle an, Währungsreserven in US-Dollar im Rahmen des Bretton-Woods-Systems in Gold umzutauschen. 1966 erhöhte Frankreich so den Goldanteil seiner Reserven auf 86 %. Im Unterschied zu anderen Ländern, die im gleichen Zeitraum US-Dollar in Gold tauschten, darunter auch Deutschland, bestand Frankreich darauf, die Goldbarren ins eigene Land zu holen.

Die französische Regierung schickte dazu 1968 ihre Marine nach Amerika, um das Gold sicher nach Frankreich zu transportieren und so »dem Zugriff einer fremden Macht« zu entziehen.9 Diese Aktion stellte aus französischer Sicht durchaus einen konsequenten Schritt dar. Damit versetzten die Franzosen dem Währungssystem, gewollt oder ungewollt, den Todesstoß, denn die Amerikaner waren nicht gewillt, weiterhin US-Dollars entgegenzunehmen und dafür Gold herauszugeben. Das sogenannte Bretton-Woods-System hatte sich überlebt. Am 15. August 1971 musste Präsident Richard Nixon aufgeben und die Einlösepflicht der Vereinigten Staaten von US-Dollar in Gold zu 35 Dollar je Unze kündigen. Nixon setzte die Eintauschverpflichtung zwar »temporär« aus – doch dieser temporäre Zustand dauert jetzt bereits über 40 Jahre an.

Manche Fachleute sehen in dieser Entscheidung den eigentlichen Urgrund für anschließende Krisen und eben auch die heutige schwere Finanzkrise. Denn die Entbindung vom Gold entfesselte die Staaten und Notenbanken, die nun Defizite aufhäuften und das Kreditvolumen explodieren lassen konnten. Staatsschulden und Geldmenge waren nun nicht mehr durch ein Verhältnis zum Goldschatz gedeckelt, sondern konnten sich unabhängig davon »vermehren«. Damit war dem Schuldenmachen der Politiker und expansiver Geldpolitik der Notenbanker Tür und Tor geöffnet.

Aber seien wir nicht blauäugig. Die wahre Abkoppelung vom Gold- und Silberstandard hatte sich bereits in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen vollzogen. Die Bindung des US-Dollars an Gold und die Positionierung der amerikanischen Währung als Anker war nichts anderes als eine Übergangslösung. Rasch wurde klar: Es handelte sich um eine Schönwetterkonstruktion. Kein Wunder also, dass sie bereits die erste größere Belastungsprobe nicht überstand.

Die Entfesselung geht bis heute zu Lasten der Bürger, auch wenn uns Politiker und Notenbanken natürlich etwas anderes weismachen wollen. Tatsächlich haben in den vergangenen vier Jahrzehnten die Finanzkrisen, die Inflation und die Staatsschulden deutlich zugenommen.

Moral Hazard

Schuldenkrisen folgen historisch gesehen bestimmten Mustern. Es gibt gemeinsame Ursachen für solche Desaster und damit auch für die aktuelle Schuldenlawine.

Das Schaubild illustriert die Ursachen und Zusammenhänge der aktuellen Schuldenkrise.

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Abbildung 7: Wie das Schuldenmonster entstand. Quelle: Flossbach von Storch Quartalsbericht 2/11, S. 7.

Im Jahr 2008 hatten wir die Ursachen für die Aufblähung des Finanzsystems, das der damalige Bundespräsident Horst Köhler als »Monster« beschrieben hatte, das erste Mal skizziert. Das billige Geld der Notenbanken, der Anlagenotstand bei Investoren, skurrile Bonitätsnoten der Rating-Agenturen, naiv unvorsichtige Rechnungslegungsstandards, die aggressive Kreditpolitik der Banken sowie falsche Anreizsysteme waren wesentliche Ursachen für die Finanzkrise, in deren Mittelpunkt damals noch die minderwertigen Subprime-Hypothekenkredite und deren Derivate standen.

Zum Sammelbegriff dieser falschen Anreizsysteme wurde die englische Bezeichnung »Moral Hazard«. Hierunter versteht man das Risiko, dass eine Person sich unmoralisch oder unachtsam verhält, weil eine Versicherung, ein Gesetz oder eine Institution bei Verlusten schützt, die durch ihr Verhalten ansonsten entstünden.10 Einfach gesagt: Weil negative Folgen meines Handelns von Dritten übernommen werden, bin ich bewusst risikofreudig.

In unserem Fall gilt das für mindestens drei wichtige Beteiligte. Politiker haften nicht, wenn sie falsche Entscheidungen treffen; Banker kassieren hohe Gehälter, werden aber mit Staatsgeld herausgehauen, wenn sie sich mit zu viel Risiko an den Rand der Pleite gebracht haben; wenn Notenbanker immer stärker dem Staat beim Schuldenmachen helfen, gehören auch sie dazu. Daneben gab und gibt es einige zusätzliche Dopingmittel bei der Entstehung des Schuldenmonsters: etwa das billige Geld, die Finanzmarktliberalisierung, die laxen Rechnungslegungsvorschriften oder auch die unseligen Rating-Agenturen.

Der Kern der Misere sind falsche Anreizsysteme. Deshalb kann das, was ökonomisch aus Sicht eines Einzelnen durchaus vernünftig ist, enorme Kosten für die Gesellschaft zur Folge haben. Es ist der klassische Widerspruch zwischen Kollektivrationalität und Individualrationalität. Moral Hazard ist vielleicht sogar der wichtigste Grund für die Schuldenkrise und ihre Folgen. Das erkennen wir ganz deutlich in der Eurozone und in den USA, aber auch in allen anderen Ländern, die sich verhoben haben. Politiker, Banker und Notenbanker eint ein gemeinsames Interesse, das System so lange wie möglich in Gang zu halten. Man wirft schlechtem Geld gutes hinterher. Dieses Vorgehen erinnert fatal an einen Spieler, der im Kasino ständig mehr wettet, um seine Verluste wieder hereinzuholen. Der Spieler setzt ungeniert mit vollem Risiko, weiß er doch, dass er am Ausgang seinen Einsatz zurückerhält, falls er verliert. Und zwar finanziert durch den Steuerzahler.

Überforderte Politiker

Zur Lösung des Staatsschuldenproblems müssen wir das Fehlverhalten eindämmen, das Fehlverhalten innerhalb des Finanzsystems und zwischen den Staaten. Ansonsten gefährdet die Schuldenlawine auch den sozialen Frieden und die Demokratie.

Gerade zu einer Zeit, in der viele Entscheider nicht im Sinne der Gesellschaft handeln, wäre es umso wichtiger, dass Volkswirte und Analysten der Notenbanken oder anderer öffentlicher Institutionen rechtzeitig den Finger in die Wunde legen. Leider geben unsere Erfahrungen jedoch wenig Anlass zur Zuversicht, denn die »Ökonomiekraten« sind Teil des Systems.

Machen wir einen kurzen Abstecher nach Griechenland und zu den anderen EU-Problemstaaten. Zunächst die Ausgangslage: Diese Länder stehen aktuell wettbewerbsunfähig da und sind weitgehend ohne jedes funktionierende Geschäftsmodell. Es fehlt ihnen jede realistische Chance, sich aus dem Schuldenschlamassel herauszuarbeiten. Die Euro-Einführung, schlechte Staatsführung plus eine Subventionsmentalität haben die Griechen in die Zahlungsunfähigkeit gestürzt. Die Politik in den anderen EU-Ländern hat zugeschaut. Da stehen ihnen die Empfehlungen der »Ökonomiekraten« aus den Notenbanken und internationaler Organisationen leider in nichts nach.

Bestes Anschauungsmaterial liefert der sogenannte Troika-Bericht vom Juni 2011, in dem die Vertreter von Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds Griechenland »auf den Prüfstand gestellt haben«. Der Bericht ist voller Widersprüche und Ungereimtheiten. Man sieht sofort: Es ist ein Polit-Bericht, dessen Ergebnis schon vor der Abfassung feststand. So befasst sich der Bericht nur mit der Entwicklung Griechenlands im ersten Quartal 2011, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits die negativen Entwicklungen der Monate April und Mai bekannt waren. Diese wurden allerdings totgeschwiegen, um die Aussichtslosigkeit der offiziell angestrebten Haushaltssanierungen zu kaschieren. Das politisch Gewollte – die Fortsetzung der Finanzhilfen an Griechenland zur Vermeidung hoher Abschreibungen bei europäischen Banken – sollte gegen alle ökonomische Realität durchgeboxt werden.

Ein Beispiel solcher Ungereimtheiten sind die angedachten Verkäufe griechischen Staatseigentums, die im Juni 2011 als wesentlicher Beitrag zur Sanierung der griechischen Staatsfinanzen bezeichnet wurden. Die erwarteten Erlöse von 50 Milliarden Euro haben wir von Anfang an als völlig illusorisch bezeichnet. 5 Milliarden sollten schon bis Ende 2011 zusammenkommen, tatsächlich waren es nur 400 Millionen aus der Ausübung eines Verkaufsrechts der griechischen Regierung, die einen Anteil von 10 % an der griechischen Telekom an die Deutsche Telekom veräußerte. Diese Verkaufsoption wäre auch ohne das Privatisierungsprogramm realisiert worden. Die 50 Milliarden Euro, die über einen Zeitraum von fünf Jahren durch Privatisierungen erlöst werden sollen, sind reines Wunschdenken der Politik in den Rettungsländern. Man muss dem Wahlvolk suggerieren, dass die Kredite, die quartalsweise gewährt werden, durch Substanz untermauert sind und zumindest theoretisch zurückgezahlt werden können. Tatsächlich folgt die Bezifferung der geplanten Privatisierungserlöse völlig unrealistischen Annahmen.

Und nicht nur die Bezifferung der Erlöse, auch die Zusammenstellung der Objekte:

Auf der Liste befindet sich etwa der griechische Eisenbahnbetreiber Trainose. Er erwirtschaftet 200 Millionen Euro Verlust bei nur 100 Millionen Umsatz pro Jahr. Weitere »Vermögensperlen« sind eine marode Pferderennbahn, ein Spielkasino, alte Flugzeuge und wertlose Bankbeteiligungen. Die größten Privatisierungsbeträge sind gar nicht erst näher spezifiziert.

Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man herzhaft darüber lachen. Hier wiederholt sich das, was wir bereits im Jahre 2010 am Konsolidierungsplan des IWF bemängelt haben, der ebenfalls voller unspezifischer Maßnahmen war und auch den zu erwartenden Einbruch der griechischen Wirtschaft nicht einkalkulierte. Dennoch wurde er ernst genommen und diente sogar als Grundlage für die Sanierungsbemühungen Griechenlands und die Finanzhilfen der Troika, also des Gremiums von IWF, EU und EZB. Das hatte mehrere Gründe. Manchen Politikern mangelt es an ökonomischem Sach- und gesundem Menschenverstand. Sie machten ihre Zustimmung zu weiteren Rettungsmaßnahmen allein von den Ergebnissen der Troika abhängig. Zumindest ein Teil der verantwortlichen Politiker verfügt aber über Fachpersonal und Kenntnisse, die die Ungereimtheiten der IWF-Pläne und Troika-Berichte ans Tageslicht bringen hätten können. Hier gibt es also nur eine Erklärung für das vermeintlich naive Verstecken der Politiker hinter den Troika-Berichten: Man wusste sehr wohl oder ahnte zumindest, dass eine Fortsetzung der Hilfen reine Verschwendung ist. Und dies galt es zu kaschieren.

Warum die Vernebelungstaktik? Die Politiker wollten die deutsche Bevölkerung noch von der Alternativlosigkeit der Rettung Griechenlands überzeugen. Sie machten diese Rechnung auf: Euro gleich Europa gleich Frieden. Nach dieser Gleichung bedeutet ein Ende des Euro das Ende Europas und gefährdet so den Frieden. Ein Eingeständnis der Pleite Griechenlands, auch unter Einsatz weiterer Geldspritzen, hätte die gesamte Argumentationslinie der vergangenen zwölf Monate zum Einsturz gebracht. Bekanntlich irren Politiker nicht. Sie passen ihre Meinung vielmehr an veränderte Rahmenbedingungen an. So erscheinen ihre Meinungen rückblickend nicht als falsch, sondern der damaligen Sachlage angemessen. Also können die Politiker heute behaupten: »Es war völlig richtig damals so entschieden zu haben, heute würden wir das natürlich anders machen.«

Gescheiterte Banker

Heute gilt die Regel, wonach derjenige die Suppe, die er sich eingebrockt hat, auch auslöffeln muss, eben nur noch eingeschränkt. Ein Unternehmer, der für Fehlentwicklungen in seiner Firma mit dem eigenen Vermögen haftet, agiert automatisch mit größerer Sorgfalt als ein Banker. Denn der entscheidende Unterschied ist: Ein Banker haftet nicht persönlich und kann bei Bedarf den Staat zur Hilfe rufen (einschränkende Anmerkung: Für echte Privatbanken gilt dies nicht, hier haftet das Management persönlich).

An entscheidenden Stellen ist unsere gesamte Finanzarchitektur faul. Betrachten wir ein paar Beispiele. Wenn ein Unternehmer investiert, kann eine Fehlinvestition nie ganz ausgeschlossen werden. Ein solcher Misserfolg darf aber nicht den Fortbestand des Unternehmens gefährden. Scheitert die Investition, muss das Eigenkapital des Unternehmens diesen Verlust abpuffern können, sonst drohen die Pleite und damit der Verlust des Unternehmervermögens. So erging es Senator Thomas Buddenbrook, als er die noch nicht eingebrachte Ernte eines Bauern »auf dem Halm« kaufte. Ein Hagelsturm vernichtete das unversicherte Getreide und trug neben anderen großen Fehlentscheidungen zum Untergang der Buddenbrooks bei.11

Wenn hingegen Banken spekulieren, also »die Ernte auf dem Halm kaufen«, und dabei Schiffbruch erleiden, rufen sie nach dem Staat. Und im Ernstfall können sie sich tatsächlich auf dessen Verlustübernahme verlassen. Das haben wir seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2007 beobachten können: Wenn es eng wurde, musste der Staat, das heißt der Steuerzahler retten. Deshalb stimmt das System nicht mehr. Denn würde der Staat bzw. der Steuerzahler für diese Rettung wenigstens adäquat entschädigt, könnte man das Prinzip ja noch dulden. Aber statt für das Geld Anteile an den geretteten Instituten zu erhalten, wurden vor allem die Boni gerettet. Ein Banker hat dies uns gegenüber einmal so formuliert: »Unser Ziel ist es, das Kasino solange wie möglich offen zu halten.« Damit jedoch wäre es vorbei, wenn der Staat als Mehrheitsaktionär eine Bank ganz oder zu großen Teilen übernähme.

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Abbildung 8: Ein Drama: Der lange Weg der zweifelhaften US-Hypotheken (Einzelkredite an US-Haushalte). Quelle: Eigene Darstellung.

Die Verschuldungskrise ist ein globales Phänomen, betroffen sind vor allem die westlichen Industrieländer. Sie startete in den USA mit den zweifelhaften Immobilienkrediten. Die gesamte Finanzdienstleistungskette im Anschluss an diese Kredite wurde von dem »moralischen Risiko« getrieben und davon infiziert. Verkäufertruppen von provisionshungrigen Kreditvermittlern drehten Konsumenten Hypotheken an, auch wenn der Kreditnehmer die Tilgungsmodalitäten nicht verstand und weder über Eigenkapital noch das nötige Einkommen zur Bedienung der Hypothek verfügte.

Für die finanzierende Bank war die Bonität der Kreditnehmer eher zweitrangig, da sie die Kredite an eine Investmentbank weiterreichte. Und dort gingen dann die modernen Alchemisten ans Werk. Sie machten mit Unterstützung der Rating-Agenturen aus Tausenden schlechter Einzelkredite einen erstklassigen neuen. Die Investmentbank ihrerseits verkaufte diese als verbriefte Forderung an einen Endabnehmer, zum Beispiel eine deutsche Landesbank. Die ließ sich von der guten Bewertung der Rating-Agentur blenden. Hohe Rendite ohne Risiko, dachte man.

Normalerweise hätten spätestens hier sämtliche Alarmglocken schrillen müssen. Aber die Käufer glaubten entweder wirklich an die Qualität dieser Papiere oder wurden – nicht selten von Politikern – zum konsequenten Ausnutzen vermeintlicher Chancen ermutigt, um das Staats- beziehungsweise Landessäckel zu füllen. Natürlich lockten auch Bonuszahlungen, die das Management solcher Institute durch gute Leistung, sprich hohe Zinserträge, rechtfertigen wollte.

Es ist deshalb kein Wunder, dass der Begriff Boni-Banker nicht nur bei Anlegern zum Reizwort wurde. Banker in hoher Position werden asymmetrisch bezahlt. Bei Risikofreude mit Erfolg kassieren sie hohe Jahres-Boni, die oft die Lebenseinkünfte eines Normalverdieners weit übertreffen. Geht die Sache schief, verlieren sie im schlimmsten Fall ihre Jobs und wechseln mit einer dicken Abfindung zum nächsten Arbeitgeber.

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Abbildung 9: Bonuszahlungen an New Yorker Banker in Mrd. USD. Quelle: Office of the New York State Comptroller.

Wenn Sie einen Personalchef einer Bank auf dieses Kompensationssystem ansprechen, bekommen Sie immer wieder die gleiche Antwort: »Ja, da haben Sie völlig recht, aber wenn wir da nicht mitmachen, gehen die guten Mitarbeiter zur Konkurrenz.« Eines erwähnt der Personalchef aber nicht: Er profitiert natürlich auch von diesem System. Und noch schlimmer, fast alle Topverdiener im Bankbereich haben trotz der horrend hohen Entlohnung immer noch das Gefühl, sie seien jeden Cent wert. Dabei würden viele von ihnen außerhalb des Finanzbereichs nur einen Bruchteil ihres Gehalts bekommen.

Dieser durch Bonus-Fixierung hervorgerufene Risikoappetit der Bankmanager ist deshalb so gefährlich, weil die Steuerzahler am Ende die Kosten tragen, wenn die Sache schiefgeht. Vor allem das geringe Eigenkapital der Banken stellt eine große Gefahr dar. Die Eigenkapitalrendite ist oft der Maßstab für die Boni der Bankenmanager, und je höher sie ist, desto höher auch die Boni. Beispielsweise ergibt ein Gewinn von 1 Milliarde Euro bei 10 Milliarden Euro Eigenkapital eine Rendite von 10 %, bei 5 Milliarden Eigenkapital sind es hingegen 20 %, also das Doppelte. Daher hatten die Top-Manager vieler Banken in der Vergangenheit großes Interesse, das Eigenkapital so gering wie möglich zu halten. Doch darunter litt die Sicherheit des Instituts, denn die gleiche Bank ist mit 10 Milliarden Euro Eigenkapital eben wesentlich sicherer ist als mit nur 5 Milliarden. Eine Bank, deren Management sich in erster Linie an dem Erreichen einer bestimmten Eigenkapitalrendite orientiert, ist demnach inhärent instabil. Was gut für den steuerzahlenden Bürger ist, ist schlecht für die Banker: Je größer der Sicherheitspuffer, desto schwerer ist das Erreichen des Renditeziels und damit auch des Bonus.

Der Einsatz von viel Fremdkapital hat naturgemäß seine Grenzen. Deshalb wurden bestimmte Anlagen außerhalb der Bankbilanz in sogenannten Special Purpose Vehicles (SPV) mit Garantie der Bank geparkt. Dadurch konnte der effektive Hebel noch weiter erhöht werden. So drehten Banken mit unverändert geringem Eigenkapitaleinsatz ein immer größeres Rad. Eigenkapitalrenditen von über 20 % waren die Regel und galten als Ausweis für ein tüchtiges Management, das sich einen ordentlichen Bonus redlich verdient hat. Diese schlecht beaufsichtigten Schattenbanksysteme haben vielen Instituten das Genick gebrochen. Ein trauriges Beispiel ist die vormals ehrwürdige Mittelstandsbank IKB.

Zu guter Letzt benutzen die Banken auch naive Konzepte zur Bewertung von Risiken. Diese Modelle – von der Aufsicht eingefordert – berücksichtigen keine echten Stresssituationen. Es sind reine Schönwettermodelle. Das Schlimme daran ist, dass selbst die Aufsichtsbehörden angesichts der maroden Strukturen keine Stresstests mehr durchführen können, die ihren Namen zu Recht tragen würden. Würde nämlich wirklicher Stress getestet, dann müsste der Regulator bei vielen Finanzinstituten den Stecker ziehen.

Haftungsklumpen zwischen Politik und Banken

Zwischen Politik und Bankern ist in den letzten Jahren ein gefährlicher Haftungsklumpen entstanden. Die Banken möchten die Risiken ihrer Euro-Peripherieanleihen auf den Staat abwälzen. Die Politiker ihrerseits suchen Staatspleiten zu vermeiden. Sie wollen nicht für die Insolvenz eines Landes verantwortlich gemacht werden. Gemeinsam müssen sie die Akzeptanz in der Bevölkerung erreichen und den Steuerzahler von der »Alternativlosigkeit« der Aktion überzeugen. Die Banken sind schützenswert, wie uns oft genug gesagt wird, weil inzwischen »systemrelevant«. Als Drohkulisse dient dann der Hinweis: Nicht einzugreifen und nicht zu helfen würde zu einem Chaos führen, das »schlimmer als Lehman« wäre.

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Abbildung 10: Moralisches Risiko I: Wenn Banken und Politik zu einem Haftungsklumpen verschmelzen. Quelle: Flossbach von Storch Halbjahresbericht 2011.

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Abbildung 11: Moralisches Risiko II: Wenn Politik und Banken zu einem Haftungsklumpen verschmelzen. Quelle: Flossbach von Storch Halbjahresbericht 2011.

Billiges Geld

Zu billiges Geld führt zwangsläufig zu Fehlinvestitionen. Ob die Notenbanken den Zins zu tief setzen oder der Staat Zinssubventionen für bestimmte Zwecke oder Bevölkerungsgruppen gewährt – die Gründe sind egal: Ist Geld billig, geht man leichtfertiger damit um. Oft fließt es in ökonomisch unsinnige Investitionen.

Typischerweise ist der Immobilienmarkt hiervon besonders stark betroffen. Billige Kredite entfachen einen sich selbst nährenden Immobilienboom – bis dieser kollabiert. Man kann diesen Kollaps mit immer tieferen Zinsen bekämpfen. So werden alle Banken gerettet, die durch faule Immobilienkredite in Schieflage geraten sind. Aber die Schulden im Finanzsystem sind dadurch nicht verschwunden. Sie wandern lediglich von den privaten Schuldnern zum Staat. Der Staat wird dann selbst zum Rettungsfall, wobei als Retter nur noch der Gläubiger der letzten Instanz in Betracht kommt. Das ist die Notenbank.

Geplatzte Hypothekenblase

Die USA spielen in der Schuldenkrise eine entscheidende Rolle. Sie sind weltgrößter Schuldner und Emittent der Leitwährung US-Dollar. Man kann die ersten Ursachen für die heutige Schuldenkrise schon in den 1930er Jahren finden. Damals wurden jedenfalls die Grundlagen für die Immobilienblase gelegt, deren Platzen 2007 zur aktuellen Finanzkrise führte. Die Banken stellten seinerzeit anhand ihrer Statistiken fest, dass das Gros der Zahlungsausfälle in den Stadtbezirken mit Geringverdienern lag. Sie identifizierten diese kritischen Regionen und verweigerten oft pauschal Kreditvergaben bei Anträgen aus den Bezirken, ohne individuelle Prüfung.

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Abbildung 12: Immobilienkredite für lau: Kein Eigenkapital, keine Kreditwürdigkeitsprüfung, keine persönliche Haftung. Quelle: Flossbach von Storch.

Die Leidtragenden waren Minderheiten, insbesondere die Afroamerikaner. Starker Druck auf diese Kreditvergabepraxis erfolgte deshalb erst mit der Gleichberechtigungsbewegung in den 1960er Jahren. Von da an setzten die Politiker die Banken unter Druck. Wenn die Banken nicht hinreichend viele Kredite an Minderheiten vergaben, durften sie keine Filialen mehr eröffnen und bekamen keinen Zugang zum staatlichen Einlagensicherungsfonds.12

Die Politiker haben die Banken hier völlig zu Recht kritisiert und Druck gemacht. Leider schütteten sie das Kind mit dem Bade aus. Sie machten aus einem Regime der systematischen Verweigerung von Krediten ein System der systematischen Kreditvergabe. Es gab nun »Kredite für jedermann«. Spätestens Präsident George W. Bush machte klar: Jeder Amerikaner sollte das Recht auf ein eigenes Haus haben.13

Natürlich ist die Förderung von Immobilienbesitz grundsätzlich keine schlechte Idee. Es geht dabei ja oft auch um die persönliche Altersvorsorge. In Deutschland fehlt es an dieser Förderung eher. Aber es müssen wichtige ökonomische Kriterien bei der Kreditvergabe eingehalten werden. Der Erwerber muss Eigenkapital mitbringen, persönlich für den Kredit haften und über Einnahmen verfügen, die unter normalen Umständen eine Bedienung des Kredits gewährleisten. Aber das war in den USA spätestens seit 2002 nicht mehr der Fall.

Viele Kredite wurden ohne persönliche Haftung des Kreditnehmers auf sogenannter »Non recourse«-Basis vergeben. Das heißt, die Immobilie stellt die einzige Sicherheit für die Bank dar. Das sonstige Vermögen und das persönliche Einkommen des Kreditnehmers bleiben unangetastet. Oft wurden Hypotheken ohne Eigenkapital und Gehaltsnachweis des Kreditnehmers vergeben. Ging es schief, schickte der Hausbewohner seinen Türschlüssel einfach als sogenannte »klimpernde Post», als »jingle mail«, an die Bank zurück – und er war alle Verpflichtungen los.

Viele Investoren, die die berühmt-berüchtigten Subprime-Anleihen gekauft haben, wussten nicht um die schlechte Besicherung der zugrundeliegenden Immobilienkredite. Gerade deutsche Anleger und selbst zahlreiche Banker konnten es sich wohl schlichtweg nicht vorstellen, dass es überhaupt so etwas wie »Non recourse«-Darlehen für private Kreditnehmer gibt. In Deutschland sind private Hypotheken eher übersichert. Die Banken verlangen Eigenkapital, die Immobilie als Pfand, ein ansprechendes persönliches Einkommen, persönliche Vermögenswerte. Ein Stück weit mag natürlich auch ein Mentalitätsunterschied dahinterstecken, und Amerikaner sind vielleicht schuldenaffiner als Deutsche.

Wie genau wurden in den Vereinigten Staaten Immobilienkredite unters Volk gebracht? Genutzt wurden die privaten, aber staatlich geförderten Hypothekenagenturen Fannie Mae und Freddie Mac14 als Endlager für Immobilienkredite. Die beiden Hypothekenfinanzierer kauften den Banken Immobilienkredite ab und refinanzierten sich, indem sie die gebündelten Hypotheken als Anleihen an Investoren verkauften.

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Abbildung 13: Bankpleiten in den USA seit 1980. Quelle: FDIC.

Die beiden Institute beherrschen praktisch den gesamten US-Markt für die Verbriefung von Immobilienkrediten. Ende 2007 garantierten sie Kredite im Wert von 5,2 Billionen Dollar – rund die Hälfte des US-Hypothekenmarktes. In der heißen Phase der Finanzkrise 2008 drohte ihnen die Pleite. Der Grund ist klar: Hypotheken wurden zweifelhaft, weil viele Amerikaner inzwischen in Immobilien wohnten, die nie und nimmer zu ihren Einkommensverhältnissen passten. Der Staat musste stützen. All diese direkten Stützungsmaßnahmen haben den Steuerzahler bisher 169 Milliarden Dollar gekostet.15

So weit kommt es, wenn um eines politischen Zieles willen Kredite zu Dumpingkonditionen vergeben werden, teilweise auch an Haushalte, die die Kredite gar nicht bedienen konnten. Das Programm scheiterte ganz folgerichtig. Natürlich ist das nur ein Teil der Wahrheit. Auch andere hatten ihren Anteil an dieser Luftnummer: die erwähnten skrupellosen Vertriebe, die ohne Kreditwürdigkeitsprüfung große Darlehen vergaben; leichtsinnige Verbraucher; das geschickte Verpacken und Weiterreichen dieser Hypothekenkredite mit dem »AAA«-TÜV-Stempel der Rating-Agenturen.

Aber Fannie Mae und Freddie Mac waren nicht die einzigen Opfer. Viele kleinere Banken gingen pleite, manche wurden übernommen, gestützt, gerettet. Das sind die klassischen Folgen einer geplatzten Immobilienblase.

Das System kam an seine Grenzen mit dem bekannten ersten Höhepunkt im Herbst 2008, der Lehman-Pleite, der anschließenden Finanzkrise und der scheinbaren Erkenntnis, dass es einen zweiten Fall Lehman nicht geben darf. Die Folgen sind bekannt: Ein GAU für die Steuerzahler und noch immer der Freibrief für die »systemrelevanten« Banken. Das Bankensystem ist weiter an vielen Stellen marode. Schaut man nur auf die Zahlen der Bankpleiten in den USA, sprechen die eine eindeutige Sprache.16

Zuflucht Konjunkturpaket

Die Staaten stützten aber nicht nur mit Garantien oder kauften ganze Bankinstitute auf. Wegen der dauernden Krisenmeldungen lancierten die USA und Deutschland in dieser Zeit Konjunkturprogramme mit dreistelligen Milliardenbeträgen, selbst China hat solche aufgelegt. Hierzulande pumpte die Regierung Anfang 2009 rund 50 Milliarden Euro in die Wirtschaft. Ein Teil davon in Form der sogenannten Abwrackprämie für Altautos bei einem Pkw-Neukauf.17 In den USA brachte Präsident Barack Obama Anfang des gleichen Jahres ein Konjunkturprogramm im Umfang von fast 800 Milliarden Dollar auf den Weg. Das bisher letzte Programm initiierte er im Sommer 2011.

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Abbildung 14: US-Häuserpreise in Metropolen. Quelle: Bloomberg, Credit Suisse/IDC.

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Abbildung 15: USA: Hohe Arbeitslosenrate, wenig Beschäftigte. Quelle: U.S. Bureau of Labor Statistics.

Ohne diese zusätzlichen Ausgaben wäre die Konjunktur kurzfristig sicher noch stärker eingebrochen. Aber zumindest in den USA haben sie die Krisenspirale nach unten nicht wirklich gestoppt: Der Arbeitsmarkt sieht auch Anfang 2012 noch immer desolat aus und auch die Immobilienpreise suchen nach ihrer Talfahrt noch immer einen Boden. Überraschend ist das allerdings nicht. Eine notwendige Anpassung lässt sich zwar zeitlich strecken, aber eben nicht verhindern.

Die schlechte Wirtschaftslage und die Ausgabenexzesse haben gerade in den Vereinigten Staaten Spuren hinterlassen. Beim Gesamtschuldenstand bauen die Amerikaner ihren Vorsprung immer schneller aus. Das Defizit des Staatshaushaltes liegt jetzt bei über 1.000 Milliarden Dollar jährlich. Das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben. Erst im Sommer 2011 haben die Politiker die Schuldenobergrenze für den Bundeshaushalt erhöht. Die 1917 eingeführte Schuldenobergrenze wurde übrigens seit 1970 im Durchschnitt alle zwei Jahre nach oben angepasst.

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Abbildung 16: Geschichte der US-Staatsschulden. Quelle: US-Finanzministerium.

Im November 2011 hat die Verschuldung die Marke von 15 Billionen US-Dollar überschritten. Im laufenden Jahr 2012 wird sie 16 Billionen erreichen. Die sogenannten Sparpläne sind ein Euphemismus für eine weniger hohe Neuverschuldung.

Versteckte Schulden

Die ausgewiesenen Schulden sind aber nur die halbe Wahrheit. Wir müssen außerdem ja noch all die außerbilanziellen Verpflichtungen berücksichtigen. Das sind vor allem die künftigen Ausgaben für das Renten- und Gesundheitssystem. Fängt man hier an zu rechnen, so wird einem schnell klar: Die Systeme sind in ihrer heutigen Struktur schlicht nicht zu stemmen. Die Bürger müssen umgehend auf die notwendigen drastischen Leistungskürzungen vorbereitet werden. Nur so lässt sich das System in seinem Grundgerüst erhalten. Viele westliche Industrieländer am Beginn der Überalterung stehen vor diesem Problem; in den USA sind schlicht die absoluten Zahlen am höchsten.

Die Bank für internationalen Zahlungsausgleich kommt in einer Studie vom Februar 2010 zu eindrucksvollen Ergebnissen.18 Wenn man die Systeme nicht innerhalb kurzer Zeit radikal abändert, dann müssten rein hypothetisch im Jahr 2040 viele Staaten der westlichen Welt den Großteil ihrer Steuereinnahmen für nichts anderes als die Zinszahlung auf ihre Schulden verwenden. Unter den großen Ländern müssten die Briten und Amerikaner mehr als ein Fünftel ihrer Wirtschaftsleistung, das heißt ihres Bruttoinlandsproduktes, aufwenden. In Deutschland wäre es über ein Zehntel.

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Abbildung 17: Projizierte Zinszahlungen als Anteil am BIP in Prozent. Quelle: OECD.

Diese Zahlen sind natürlich rein hypothetisch. Kein Staat wird in der Lage sein, längerfristig über 10 % seines Bruttoinlandsproduktes für Zinszahlungen aufzuwenden. Und das wird er wohl auch nicht müssen, denn es gibt einen perfiden Trick, mit dem der Staat die Zinskosten trotz wachsender Verschuldung gering halten kann. Das Zauberwort heißt »Financial Repression«, eine für Sparer höchst unangenehme Form der Zinsmanipulation, auf die wir später noch detailliert eingehen werden.

Liberalisierung der Finanzmärkte

Die unselige Verquickung zwischen Finanzbranche und Politik war ein weiterer wichtiger Faktor für die Misere. Engste Verbindungen zwischen der politischen Führungsriege und der Managerebene von Unternehmen und Banken gibt es schon immer. Oft genug wechseln Politiker in die Finanzwirtschaft und speziell in den USA auch Banker in die Politik. Politiker sitzen in den Aufsichtsräten von Unternehmen. Finanzwirtschaft und Industrie gehören zu den großen Förderern und Spendern der politischen Parteien. Grundsätzlich sind solche Kontakte wichtig und richtig. Es gibt ja auch regen Austausch zwischen der Politik und anderen Gruppen der Gesellschaft, etwa den Gewerkschaften, den Konfessionen, Forschung, Kunst und Wissenschaft.

Unsere Kritik richtet sich also nicht per se gegen einen solchen Austausch. Vielmehr stellen wir die Frage: Ist diese zunehmende Verquickung von Politik, Banken und Teilen der Wirtschaft noch im Interesse der Bürger? Zunehmend entwickeln sich unsere Demokratien leider zu einer Lobby- oder härter formuliert Klüngelgesellschaft. Da zählen mehr Einzel- als Gemeinschaftsinteressen.

Trennbanken ade

Beispiele für die Lobbygesellschaft finden wir zuhauf. Henry Paulson war US-Finanzminister unter George W. Bush, vorher Chef von Goldman Sachs. Bei der gleichen Investmanbank fungierte Robert Rubin, US-Finanzminister unter Bill Clinton, als langjähriges Aufsichtsratmitglied. Mario Draghi, neuer EZB-Chef, war mehrere Jahre lang stellvertretender Vorsitzender von Goldman Sachs International. Goldman Sachs war immer eine Art Kontakthof, aber für die Vereinigten Staaten gibt es auch viele Beispiele für den Austausch mit anderen Finanzhäusern.19

Diese Melange zwischen Finanzwelt und Politik war mitverantwortlich für die extreme Liberalisierung der Finanzbranche im Jahrzehnt vor der Finanzkrise. Der Druck der Globalisierung tat ein Übriges. Nicht nur in den USA, wo beispielsweise das Trennbankensystem abgeschafft wurde, sondern auch bei uns in Deutschland. Unschöne Beispiel für solche Interessenverquickungen waren die Landesbanken, die KfW und die IKB.

Außerbilanzielle Risikoparkplätze

Auch wir waren Mitte 2007 völlig überrascht, wie stark die IKB mit der KfW als Großaktionär in US-amerikanischen Ramschanleihen investiert war, die auf zweifelhaften Immobilienkrediten aufbauten. Unglaublich, wie intensiv dafür spezielle, schlecht regulierte Finanzierungsgesellschaften eingesetzt wurden, sogenannte »Special Purpose Vehicle« – ein wirklich verniedlichender Begriff für den darin angesammelten Müll. Für nichts anderes als für diese Investitionen gegründet, liefen die SPVs an der Bilanz vorbei. Und dann mit der IKB ausgerechnet eine deutsche Mittelstandsbank! Das sorgte sogar im Ausland für Kopfschütteln. Und die KfW als eine staatliche Förderbank, die mit vielen Milliarden die Löcher bei der IKB stopfen musste. Natürlich waren wir sofort alarmiert. Wir dachten: Was die IKB macht, das könnten andere Banken auch praktizieren.

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Abbildung 18: Das Scheitern der IKB legte auch die Versäumnisse des Verwaltungsrates bei der Mutter KfW offen. Vorsitzender des Verwaltungsrates war Peer Steinbrück. Quelle: istockphotos.com

Leider hatte sich unser Verdacht sehr schnell bewahrheitet. Übrigens war dies einer der Gründe, warum wir seit 2007 Bank- und Versicherungsaktien aus unseren Fonds und Depots verbannt haben. Das Scheitern der IKB und der Landesbanken war alles andere als ein Ruhmesblatt für die Politik. Denn die Liste der Verwaltungsräte20 der KfW las und liest sich wie das »Who is who« der deutschen Politik, und zwar jeglicher politischer Couleur. Diese »Haftung« aller Parteien war sicher auch dafür verantwortlich, dass das Versagen nicht an die allzu große Glocke gehängt wurde.21 Die KfW-Vorstandsvorsitzende und SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier musste Anfang 2008 allerdings ihren Hut nehmen.

Das Beispiel des Scheiterns der IKB ist charakteristisch für die Art und Weise, wie Politiker agieren und weitreichende Entscheidungen ohne ausreichende Vorstellung über deren Konsequenzen treffen. Dass sie selbst nicht für die Folgen haften, erhöht ihre Sorglosigkeit. Schließlich stehen am Ende für IKB und KfW die Steuerzahler ein. So hatte Ingrid Matthäus-Maier offen erklärt, sie könne doch keine 400 Seiten starken und in Englisch geschriebenen Beschreibungen von Finanzmarktprodukten lesen.22 Wir müssen aber erwarten können, dass das Top-Management einer Bank ungefähr weiß und in den Grundzügen auch versteht, was ihre Mitarbeiter oder Tochtergesellschaften da so treiben.

Selbst Politiker wie der heute wieder populäre Peer Steinbrück machten keine gute Figur. Steinbrück war seinerzeit Finanzminister und bezeichnete diese Produkte als »Wundertüten, wo man nicht weiß, wo der Knallfrosch drin ist«23. Ansonsten hielt er sich mit seinen Kommentaren aber auffällig zurück. Vielleicht auch deshalb, weil er als Vorsitzender des KfW-Verwaltungsrates indirekt verantwortlich war und sein Abteilungsleiter im Finanzministerium, Jörg Asmussen, im Aufsichtsrat der IKB saß.

Aber verglichen zur Hypo Real Estate war die IKB nur ein kleiner Fisch. Der Immobilienfinanzierer wurde verstaatlicht, nachdem er in der Finanzkrise 2008 ins Straucheln geraten war. Vor allem die irische Tochter Depfa hatte sich mit riskanten Zinsgeschäften verspekuliert. Eine deutlich dreistellige Milliardensumme an giftigen Wertpapieren wurde in eine sogenannte »Bad Bank« ausgegliedert.

Finanzinnovationen werden zum Bumerang

Schiffbruch erlitten die Banken mit verbrieften Forderungen. Die Stichworte in der ersten Phase der Finanzkrise waren Asset-Backed Security (ABS), Mortgage-Backed Security (MBS) oder Collateralized Debt Obligation (CDO). Die Finanzprodukte wurden immer komplexer, immer individueller und ohne langwierige Analyse eigentlich nicht mehr seriös investierbar. Das Gros der Investoren konnte sie realistischerweise einfach nicht mehr verstehen oder bewerten. Die Finanzprodukte entfernten sich immer mehr von der Wirklichkeit.

Am abenteuerlichsten waren die Bündel forderungsbesicherter Anleihen, die unter den genannten Kürzeln ABS oder CDO verkauft wurden. Oft steckten Hypothekendarlehen dahinter, alle mit individuellen Risiken. Eigentlich hätte man sich für eine glaubwürdige Analyse auf den Weg quer durch die USA machen und sich alle Immobilien anschauen müssen, um deren Werthaltigkeit vor Ort zu überprüfen. Die Investoren aus der ganzen Welt machten dies aber in der Regel natürlich nicht. Sie verließen sich auf das Prüfsiegel der Rating-Agenturen.

Heute bedrohen andere Finanzprodukte unser System. Speziell solche, die nur eine eigenständige und nicht mehr ökonomisch fundierte Wette darstellen. Solche Wetten sind für uns ganz klar die Kreditausfallversicherungen oder im Branchenjargon »Credit Default Swaps«, kurz CDS. Es sind dies im Grunde Versicherungen, die nicht zum originären Versicherungszweck erworben wurden, das heißt Spekulationen auf den Eintritt des Versicherungsfalls, also auf die Pleite einer Unternehmung oder eines Staates. Der Spekulant erwirbt eine Versicherung auf ein fremdes Haus. Brennt das Haus ab, macht er den großen Reibach. Dieser »Versicherungsschutz« ist moralisch verwerflich, und er reizt dazu, der Pleite nachzuhelfen. So können beispielsweise bewusst gestreute Gerüchte über wirtschaftliche Schwierigkeiten zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden.

Deswegen werden so eingesetzte CDS auch als Brandbeschleuniger bezeichnet. Solche Produkte haben als selbstständige Wetten auf Pleiten von EU-Ländern eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt. Grundsätzlich müssen wir aber aus unserer Erfahrung festhalten: Wenn die Versicherungsprämien steigen und damit Rauch anzeigen, ist auch sehr oft ein Feuer ausgebrochen.

Kreditausfallversicherungen gibt es auch auf Anleihen der USA und auf Deutschland. Man muss sich doch ernsthaft fragen, ob solche Verträge noch irgendeinen ökonomischen Sinn ergeben, und zwar aus zwei Gründen. Der CDS-Verkäufer muss ja in der Lage sein, bei der Zahlungsunfähigkeit des betroffenen Staates seine Verpflichtungen zu erfüllen. Aber jetzt stellen wir uns vor, Deutschland oder die USA würden tatsächlich zahlungsunfähig. Wie wahrscheinlich wäre es dann, dass der Versicherungsgeber noch solvent und in der Lage ist, die Versicherungssumme auszuzahlen? Das Welt-Finanzsystem in seiner heutigen Form wäre in einem solchen Falle sehr wahrscheinlich am Ende. Kein CDS-Käufer kann dann noch ernsthaft eine Auszahlung von dem Verkäufer erwarten. Warum überlegen das die Vertragsparteien nicht oder verdrängen es? Für uns zeigt es ganz einfach: Die Finanzwirtschaft hat sich in den vergangenen Jahren von der wirklichen Welt und damit von den ökonomischen Realitäten immer weiter abgekoppelt.

Außerdem ist es rein technisch immer möglich, dass Staaten mit einer eigenen Währung und einer eigenen Notenbank ihre Schulden jederzeit nominal zurückzahlen können, wenn sie nur wollen – denn die Notenbank kann unlimitiert Geld drucken. Deshalb ist ein Zahlungsausfall solcher Länder äußerst unwahrscheinlich. Wir meinen hier Länder wie die USA, Großbritannien oder beispielsweise auch Japan. Welche Kaufkraft und welchen Außenwert diese Rückzahlung dann noch aufweist, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Auch die Weimarer Republik erlitt 1923 technisch betrachtet keine Staatspleite. Am Ende wurde die Währung umgestellt und Deutschland war ohne einen offiziellen Schuldenschnitt aller Schulden entledigt – bis auf 16 Pfennige. Nicht der Staat, sondern die Währung war pleite.

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Abbildung 19: Kreditausfallversicherungen werden zum Spekulationsobjekt: Ausstehendes Kontraktvolumen von CDS in Mrd. US-Dollar seit 2001. Quelle: International Swaps and Derivatives Association, Securities Industry and Financial Markets Association, Daten per 30. Dezember 2011.

Gute Noten haben böse Folgen

Bisher haben wir über das Versagen von Politikern, Bankern und Notenbankern gesprochen. Aber wie steht es um die Verantwortung der Rating-Agenturen? Auch diese »Dienstleister« der Finanzbranche haben einen großen Anteil daran, dass zweifelhafte Anleihen in den Depots von Investoren gelandet sind. Das gilt im besonderen Maße für die Beurteilung der sogenannten Subprime-Hypothekenanleihen. Die Berichte über die Fehleranfälligkeit der Rating-Modelle für diese mit minderwertigen Krediten unterlegten Anleihen erscheinen fast unglaubwürdig. Das Gleiche gilt aber auch für die Art und Weise, wie die Emittenten die Eingangsdaten zur Bewertung der Risiken »passend gemacht« haben. Doch wenn man sich das Geschäftsmodell der Agenturen anschaut, ist das aber nicht allzu verwunderlich. Schließlich werden sie für ihre Analysen und Gütesiegel von den Emittenten bezahlt. Je mehr Gütesiegel, umso mehr Geschäft. Je besser die Gütesiegel, umso mehr Neugeschäft. Am Ende kommt eine Buchstabennote heraus, vergleichbar mit einer Schulnote. Der Markt ist ein Oligopol, Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch machen das Geschäft.

Moody’s

S&P/ Fitch

Risikokategorie

Aaa

AAA

Höchste Bonität, geringstes Ausfallrisiko

Investment Grade

Aa1

AA+

Hohe Bonität, kaum höheres Risiko

Aa2

AA

Aa3

AA–

A1

A+

Überdurchschnittliche Bonität, etwas höheres Risiko bei Veränderung der fundamentalen Daten

A2

A

A3

A–

Baa1

BBB+

Mittlere Bonität, stärkere Anfälligkeit auf Veränderungen im Umfeld, spekulative Elemente

Baa2

BBB

Baa3

BBB–

Ba1

BB+

Besitzt spekulative Elemente, zukünftige Zahlungen sind nicht nachhaltig gesichert

Non-Investment Grade

Ba2

BB

Ba3

BB–

B1

B+

Geringe Bonität, relativ hohes Ausfallrisiko, keine empfehlenswerte Anlage

B2

B

B3

B–

Caa

CCC

Geringste Bonität, von Zahlungsausfall bedroht, sehr schlechte Aussichten auf Rückzahlung

Ca

CC

C

C

Tabelle 3: Die Ratingcodes von Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch. Quelle: http://www.leitzinsen.org/ratingtabelle.html

»Wer zahlt, bestimmt«, so lautete das Motto. Auftraggeber sind überwiegend die Emittenten beziehungsweise Investmentbanken und nicht der Anleihenkäufer. Dann sollte man sich aber auch nicht wundern, wenn die Noten eine systematische Drift hin zum Besseren aufweisen. Als Rating stand sehr oft ein »AAA« auf den Verbriefungen, also beste Qualität. Aber viele der Darlehen waren nicht nachhaltig und das böse Ende absehbar. Man verfuhr nach dem Prinzip, dass ein diversifiziertes Portfolio von Ramschkrediten plötzlich eine Anleihe zweifelsfreier Qualität ergeben sollte. Um es bildlich auszudrücken: Aus Mist wurde Gold. Die gezahlten Gebühren an die Agenturen hingen vom Volumen der Anleihen ab. Je besser die Note, je größer das potenzielle Volumen.

Schon viele Monate vor dem Kollaps der Papiere gab es Rating-Analysten, die intern die guten Noten in Frage stellten. Entlarvend war die interne E-Mail eines S&P-Analysten, der bereits Ende 2006 schrieb: »Lass uns hoffen, dass wir alle pensioniert und reich sind, wenn dieses Kartenhaus zusammenbricht.«24 Wer will schon schlechte Noten geben und damit Kunden vergraulen? Die Hoffnung des Analysten wurde bitter enttäuscht, denn bereits wenige Monate später musste er das Zusammenbrechen des Marktes für Subprime-Bonds miterleben.

Ironischerweise haben sich die Agenturen inzwischen die Kritik der Regierungen über zu wohlwollende Rating-Urteile zu Herzen genommen und bewerten jetzt die Staatsschulden kritischer, als sie es sonst vielleicht getan hätten. Das liegt sicherlich auch daran, dass sie von den großen Staaten nicht für ihr Urteil bezahlt werden, sondern diese Bewertung als Teil ihres Gesamtgeschäfts unentgeltlich durchführen. Dafür erhalten sie das Privileg, Teil des Rating-Oligopols zu sein. Dennoch fallen die Urteile für einige Euroländer, die sich ja nicht über das Drucken ihrer eigenen Währung entschulden können, sondern de facto komplett in fremder Währung (Euro) verschuldet sind, immer noch vergleichsweise optimistisch aus. Erst im Januar 2012 verlor Frankreich das Top-Rating »AAA« und wurde mit »AA+« eine Stufe niedriger bewertet. Einige Länder der Eurozone werden nur noch deshalb als solvent eingestuft, weil eine implizite Haftung Deutschlands und der wenigen anderen verbliebenen »AAA«-Länder unterstellt wird. Würde Deutschland heute offiziell die Haftungsübernahme ausschließen, wären Länder wie Spanien oder Italien sofort vom Kapitalmarkt ausgeschlossen und damit pleite, es sei denn die EZB würde uneingeschränkt und perpetuierend Staatsanleihen dieser Länder aufkaufen.

Schon vor der US-Hypothekenkrise waren die Ratings oft weit von der ökonomischen Wirklichkeit entfernt. Beispielsweise haben die Agenturen 1997 die Staatskrisen in Asien nicht erkannt, ebenso wenig den Betrug beim US-Energiehändler Enron im Jahr 2001.25 Dann erfolgten die Pleite der damals drittgrößten Telefongesellschaft Worldcom und die Zahlungsunfähigkeit Argentiniens. 2003 erlebten wir dann den Zusammenbruch des italienischen Lebensmittelkonzerns Parmalat. Häufig genug erwiesen sich die Urteile der Agenturen als Fehleinschätzungen. Auch das Pleiteland Griechenland bekam noch einigermaßen gute Noten, als der Weg in den Abgrund schon klar war. Allein das explodierende Haushaltsdefizit und der rekordhohe Schuldenberg wären Anlass genug gewesen, die Bonitätsnoten früher zu senken.

Einseitig verdammen sollte man die Agenturen jedoch nicht. S&P und Co. weisen ausdrücklich darauf hin, ihre Bonitätsbewertung nur als zusätzliche Information zur eigenen Bonitätsanalyse zu nutzen. Genau das haben viele Investoren versäumt – und klagen heute ihr Leid.

Viele Bürger gewinnen den Eindruck, die Rating-Agenturen seien überaus mächtig und in der Lage, ganze Unternehmen und sogar Staaten zu Fall zu bringen. Wie konnte es dazu kommen? Verantwortung dafür tragen die Politiker, denn erst sie machten die Agenturen zu mächtigen Mitspielern im Finanzsystem. Erst sie zementierten deren Analysen und Noten als Basis von Anlagevorschriften. Und warum taten sie das? Weil sich die Politiker rund um den Globus nicht zu fordern trauten, dass die Investoren eine fundierte Analyse von Qualität und Risiko ihrer Anlagen in Eigenregie vornehmen müssen. Für uns war genau das schon immer selbstverständlich. Jeder seriöse Anleger oder ein von ihm bezahlter Spezialist muss ein präzises und überprüfbares Urteil über seine Investments abgeben können. Niemand darf sich mit einem vom Emittenten bezahlten Rating aus der eigenen Verantwortung stehlen dürfen.

Inzwischen starren Anleger auf Ratings wie das Kaninchen auf die Schlange. Aber heute beschweren sich die Verursacher dieser Machtkonzentration nicht nur über die Qualität der Ratings, sondern auch noch über das Timing. Dabei haben sie die Geister selbst gerufen.

Den Agenturen muss man allerdings zugutehalten, dass sie sich in einer verzwickten Lage befinden. Senken sie bei einem Land den Daumen, kann dies dessen Probleme verschärfen und damit eine selbsterfüllende Prophezeiung kreieren. Eine scharfe Herabstufung kann ein Land oder ein Unternehmen tatsächlich in Gefahr bringen, weil viele Investoren durch einen solchen Schritt zum Verkauf ihrer Anleihen gezwungen werden. Deshalb plädieren wir dafür, Ratings lediglich als Information zu werten. Wir müssen uns verabschieden von gesetzlich verankerten Bonitätskriterien, deren Unterschreiten institutionelle Investoren zum Verkaufen zwingt. Ratings dürfen nicht mehr als gesetzlich verbindliche Standards gelten. Eine gute Note darf Fondsmanagern nicht mehr als Entschuldigung dienen, nach dem Motto: »Das Papier hatte ja die Bestnote.« Stattdessen sollte das Rating nur als eine unverbindliche zusätzliche Einschätzung behandelt werden. Wir müssen uns verabschieden von Ratings als maßgebliche Kriterien für die Eigenkapitalunterlegung in den Bilanzen der Banken und Versicherungen – und für deren Anlagerichtlinien. Denn damit bekommen Ratings die Bedeutung, über die sich heute alle beklagen – wenn ein Bonitätsurteil auf Talfahrt geht und das Land mit nach unten zieht.

Völlig unbrauchbar erscheint uns der Einsatz von Rating-Noten als Basis von Anlagevorschriften großer Kapitalsammelstellen wie Pensionsfonds oder Versicherungen. Hier lohnt ein Blick in die Geschichte. Die ersten Rating-Agenturen entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten und bewerteten fast den gesamten nationalen Anleihemarkt. Nach der großen Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren durften Banken nicht mehr spekulativ investieren. Die Aufsichtsbehörden verlangten bestimmte Minimumstandards, die mit den Schulnoten der Rating-Agenturen definiert wurden. Das wertete die Ratings natürlich massiv auf.

Der große zweite Schub erfolgte 1975 als Reaktion auf die Ölkrise und die Börsenturbulenzen der Jahre davor. Die US-Börsenaufsicht erkannte nur die heute noch dominierenden drei großen Agenturen an und erklärte deren Urteile zur verbindlichen Risiko-Messlatte. Dieses Vorgehen war in der Folge ein Vorbild für andere Länder. Heute geht ohne Rating oft nichts mehr. Gesunder Menschenverstand oder eigene Analysen finden in den Augen der Regulation meist keine Akzeptanz mehr. Zugespitzt formuliert: Schon ein Erstklässler, der mit Ach und Krach das Alphabet beherrscht, besitzt die nötigen Kenntnisse zur Auswahl und Kontrolle offiziell gerateter Wertpapiere.

Die wichtigsten Großanleger sind Pensionsfonds und Altersvorsorgeeinrichtungen. Der Großteil dieser institutionellen Investoren darf Wertpapiere nur dann kaufen, wenn sie eine bestimmte Mindestnote von einer Agentur aufweisen, und ähnliche gesetzlich festgelegte Anlagevorschriften gelten für Banken und Versicherungen. Dabei können Fehleinschätzungen große Teile der Anlagebranche in die Irre führen. Wenn ein Rating nach unten angepasst wird, müssen Heerscharen von Anlegern innerhalb kürzester Zeit wie Lemminge verkaufen, was dann natürlich sehr oft zu massiven Kursausschlägen führt. So sind die Bewertungen, die aus dieser Agentur-Diktatur resultieren, zum Maß aller Dinge geworden. Kaum zu glauben, aber wahr.

Was über Jahrzehnte gewachsen ist, kann man in kurzer Zeit kaum abschaffen. Investoren müssen aber zu mehr Selbstverantwortung angehalten werden. Sie dürfen den TÜV-Stempel nicht als Entschuldigung missbrauchen, ohne selbst einmal einen Blick unter die Motorhaube geworfen zu haben. Schließlich sind sie Profis! Natürlich können sie sich dabei auch fremder Hilfe bedienen, wenn sie dafür zahlen, wie es in den Anfängen der Rating-Agenturen auch tatsächlich war. Wer das nicht kann, darf in einer solchen Vermögensklasse nicht aktiv werden. Die Realität sieht allerdings anders aus, und wenig deutet auf eine rasche Änderung hin. Deshalb werden die Rating-Agenturen wohl ihre Stellung verteidigen können. Denn man debattiert heute über Verbesserungen eines von Grund auf fehlkonstruierten Systems, anstatt die Struktur endlich auf den Kopf zu stellen.

Eines dieser Scheingefechte dreht sich auch um die Frage, ob eine europäische Rating-Agentur zu besseren Ergebnissen führen würde. Ökonomiekraten in Brüssel machen sich Sorgen, dass die großen drei US-zentrischen Anbieter die europäischen Staaten negativer einschätzen könnten als ihr Heimatland. Das mag tatsächlich so sein, und verständlicherweise möchte man dem entgegenwirken. Man hätte gern in Europa eine ähnliche Struktur wie in Amerika. Dann könnten Politiker auch in Europa »ihre« Agentur bei den Einschätzungen positiv beeinflussen. Doch dem Anleger wäre damit ein Bärendienst erwiesen. Denn das Grundproblem liegt ja ganz woanders: Bezahlt werden die Agenturen von den Emittenten der Anleihen, nicht dem Käufer dieser Papiere.

Es führt kein Weg daran vorbei, dass jeder verantwortliche Investor sein eigenes Urteil über die Bonität des Emittenten erstellen muss. Egal ob es um die Kreditwürdigkeit von Unternehmen oder Staaten geht. So denkt jeder kluge Privatinvestor: »Siemens, die gehen nicht pleite, die Anleihe erscheint mir sicherer als irgendein AAA bewertetes Produkt, dass ich nicht beurteilen kann.« Deshalb spielen in unseren Analysen Transparenz und gesunder Menschenverstand eine so große Rolle. Nur wenn ich eine Anlage verstehe, sollte ich auch in sie investieren. Wir kaufen Anleihen von Unternehmen und Staaten nur dann, wenn die Rendite im Verhältnis zum Risiko des Emittenten attraktiv ist. Bei manchen Unternehmen oder Staaten kann die Rendite nur 2 oder 3 % betragen, doch bei anderen würden wir selbst bei einer Rendite von 10 % nicht investieren. In einigen Fällen gibt es hohe Renditen trotz vergleichsweise geringem Risiko. Dies ist typischerweise immer dann der Fall, wenn ein Unternehmen kein offizielles Rating besitzt und trotz solider Bilanz und guter Geschäftslage von den buchstabengläubigen Anlegern gemieden wird. Manchmal lässt die Bonitätseinschätzung auch wichtige Aspekte wie Markenwert, Marktstellung und Gewinndynamik außer Acht. Der Internethändler Amazon ist dafür ein gutes Beispiel.

2001 war Amazon mit einem sehr schlechten »CCC« bewertet. Der Kurs der Anleihe stand bei 45 %, die Rendite betrug 25 %. Das erschien uns viel zu hoch für den unangefochtenen Weltmarktführer im Internethandel, auch wenn das Unternehmen damals noch Verluste schrieb. Außerdem war Amazon langfristig verschuldet, hatte also keine kurzfristigen Fälligkeiten zu bedienen und verfügte über mehr als eine Milliarde Liquidität auf seinen Bankkonten. Die Agenturen urteilten dennoch kritisch. Sie blickten nur durch den Rückspiegel und nicht nach vorne. Im gleichen Monat wurde die vorher erwähnte Enron mit »BBB« viel besser bewertet und bot deshalb nur 5 % Rendite. Kurz danach war Enron pleite und die Anleihe von Amazon wurde vorzeitig zu 100 getilgt. So können Ratings in die Irre führen.

Viele Investoren beschränken sich nur noch auf den Vergleich von Buchstaben. »AAA« ist besser als »AA« ist besser als »A» ist besser als »BBB« und so weiter. Im Grunde genommen stellt dies einen intellektuellen Offenbarungseid breiter Anlegerkreise dar.

Die Mentalität der Investoren hat sich geändert. Wir sind wieder bei der Geschichte der eben erwähnten Vorschriftenkataloge angelangt. Heute sagen Großanleger wie Banken und Versicherungen: »Dieser Bond hat jenes Rating und benötigt deshalb so und so viel Risikokapital – Punkt, fertig.« Warum sollen sie sich dann noch die Mühe machen und das hinterfragen? Der Staat und die Aufsichtsbehörde wollen es so. Ob es Sinn macht oder nicht spielt keine Rolle – Verantwortung wird verschoben.

Natürlich kann ich auch die Analyse an eine unabhängige Rating-Agentur delegieren. Wenn der Investor die Note bezahlt, gibt es zumindest nicht den Interessenkonflikt, der dazu führt, dass der Bewerter zu einem guten Urteil neigt. Einige kleine, feine Adressen stoßen langsam in dieses Geschäftsfeld vor. Mittelfristig werden unabhängige Agenturen hier sicher Marktanteile gewinnen. Wirklich unabhängige und objektive Bonitätsgutachten kosten allerdings viel Geld und das dürfte ihre Nutzung begrenzen.

Gefährlicher Cocktail aus Gier und Angst

Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler hatte den Banken vorgeworfen, die Finanzmärkte zu einem »Monster« gemacht zu haben. Jetzt brauchte es nur noch einen Dr. Frankenstein, der dem Monster Leben einhauchen konnte. Die Banker standen bereit, diese Rolle zu übernehmen. Angetrieben von der Aussicht auf Boni, die dem Lebenseinkommen vieler Berufstätiger entsprechen, haben intelligente und kreative junge Menschen abenteuerliche Anlageprodukte konstruiert. Ihre Chefs zeigten sich hierüber hocherfreut, hingen letztlich doch ihre eigenen Tantiemen vom Gewinn der Bank ab. Die Kreativität der jungen Finanzingenieure trieb die Tantiemen in ungeahnte Höhen.

Auf diese Weise entstand eine Maschinerie, die – einmal in Gang gesetzt – kaum noch zu stoppen war. Das Monster entwickelte immer neue Mutationen. Die Branche begann sich einerseits vollends von der Realwirtschaft abzukoppeln. Andererseits befeuerte sie diese durch die exzessive Vergabe von Hypotheken, die anschließend verpackt, weiterverkauft und versichert wurden.

Das ganze Geschäft bekam zunehmend Dynamik, weil sämtliche Beteiligte als Gewinner dazustehen schienen. Alle spielten mit: Hausbauunternehmen, Immobilien- und Kreditmakler, Kreditgeber, Kreditverpacker, Rating-Agenturen als Kreditbewerter, Kreditversicherer und zum Schluss – so die Hoffnung von Landesbanken, HRE, IKB und Co. – die Erwerber dieser alchemistischen Wundertüte. In dieser »Wertschöpfungskette« sind über die Jahre Milliarden an Gewinn hängengeblieben. Dafür muss jetzt der Staat aufkommen. Das heißt der Steuerzahler.

Die Bankverantwortlichen hatten sich mit wahrsinnigen Eigenkapitalrenditezielen so unter Erfolgszwang gesetzt, dass ihnen scheinbar alle Mittel recht waren, um diese zu erreichen. Der damalige Citigroup-Chef Charles »Chuck« Prince hat es 2007 in die berühmten Worte gefasst: »So lange die Musik spielt, musst du aufstehen und tanzen. Wir tanzen noch.«26 Kurz danach musste er abdanken, weil die Bank katastrophale Verluste eingespielt hatte.

Nun zu den Notenbankern. Ohne die Tiefzinspolitik hätte die Finanzkrise niemals eine derartige Virulenz bekommen können. Vor allem die US-Notenbank versuchte mit tiefen Zinsen jede Krise zu lösen. Die Diskussion beginnt beim früheren US-Notenbankchef Alan Greenspan, von 1987 bis 2006 im Amt, der zunächst auch richtig reagierte. Das neue Jahrtausend begann ja mit einem großen Knall: Die Dotcomblase platzte. Das schürte Sorgen über ein Abrutschen der Konjunktur, und Greenspan hielt mit massiven Zinssenkungen dagegen. Schon im Jahr 1998 war die US-Notenbank infolge der LTCM-Probleme27 massiv aktiv geworden, um eine Systemkrise am Finanzmarkt zu verhindern.28 Und in den Folgejahren wurde ein Finanzcrash oder ein stärkerer Wirtschaftseinbruch auch tatsächlich jedes Mal verhindert.

Aber dann erfolgte der Missgriff. Greenspan machte den großen Fehler, zu lange an dieser Politik festzuhalten, statt dem Grundsatz »Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not« zu folgen. Er zog nach erfolgreicher Stabilisierung des Systems die geldpolitischen Zügel nicht wieder an und schöpfte die eingeschossenen liquiden Mittel nicht wieder ab. Die massive Kreditausweitung dank der Tiefstzinsen legte in den Folgejahren den Grundstein für die nächsten Blasen. So gesehen war es kein Wunder, dass der Immobilienmarkt boomte – nicht nur in den USA. Das ging bis Mitte 2007 gut, dann war die Party vorbei.

In diesem Jahr platzte die Immobilienblase. Das läutete die weltweite Finanzkrise ein. Zuerst standen die privaten Haushalte und die Banken im Fokus. Zur Rettung übernahmen Staaten die Schulden des Finanzsystems und kurbelten die Konjunktur an. Aktuell befinden wir uns in der nächsten Phase. Nun müssen Rettungsschirme und Notenbanken die klammen Staaten auffangen. Es geht jedoch nicht nur um die offensichtlichen Sorgenkinder. Mittelfristig werden auch sehr viele Staaten Hilfe benötigen, die viele Bürger heute noch als solide einschätzen. Wir alle müssen uns darüber im Klaren sein, dass die wachsenden Schuldenberge nur noch mit Tiefstzinsen finanziert werden können. Notenbanken und »Rettungsinstitutionen« mutieren mehr und mehr zum verlängerten Arm der Regierungen. Dies gilt auch für die Verteidigung eines »angemessenen« Wechselkurses, wie ihn die Schweizer Nationalbank und zuletzt auch die Bank von Japan anstreben. Die Notenbank kann schließlich unbegrenzt fremde Währungen mit dem eigenen, beliebig vermehrbaren Geld aufkaufen. Dies dürfte im Laufe der nächsten Jahre einen Abwertungswettlauf in Gang bringen, der global höchst inflationär wirken wird.

Der aktuelle US-Notenbankchef Ben Bernanke hat den äußersten Willen zu Tiefzinsen im August 2011 noch einmal unterstrichen. Er kündigte an, die Notenbank werde bis Mitte 2013 bei niedrigen Zinsen bleiben. Eine solch bedingungslose Aussage für einen solch langen Zeitraum hat es zuvor nie gegeben. Im Januar 2012 legte Bernanke noch eins drauf: Die Zinsen sollen bis ins Jahr 2014 niedrig bleiben.

Das ist nichts anders als eine Einladung an alle Banker, wie bisher auf Kosten Dritter hohe Gewinne einzustreichen. Bernanke sendet mit dieser äußerst ungewöhnlichen Botschaft ein eindeutiges Signal an die Politik und die Investoren: Ihr braucht nicht zu sparen, denn ihr könnt bei niedrigen Zinsen eure Schuldenberge bis auf weiteres refinanzieren, und ihr könnt euch weiter Geld zum Nulltarif leihen und es zum Beispiel in Staatsanleihen stecken. Das hält nicht nur die Zinsaufwendungen der Staaten niedrig, sondern führt unweigerlich zu neuen Blasen an den Finanzmärkten.

Die Notenbanken traten mit ihrer Niedrigzinspolitik die Schuldenlawine los. Diese Maßnahme ist jedoch inzwischen an ihre Grenze gestoßen – Zinsen unter 0 % sind längerfristig ohne Einschränkung des freien Kapitalverkehrs nicht möglich. Jetzt müssen die Notenbanken zu neuen Waffen greifen. Zum Beispiel kaufen sie inzwischen in großem Stil Staatsanleihen. Noch vor wenigen Jahren war so etwas völlig unvorstellbar. Inzwischen leben wir jedoch in einer Zeit, in der man sich an »undenkbare« Maßnahmen gewöhnen muss. Ab März 2009 kaufte die US-Notenbank für über 1.000 Milliarden Dollar Staats- und Hypothekenanleihen. Die Bank von England und die japanische Notenbank taten das Gleiche. Auch die Europäische Zentralbank machte später mit.

Es herrscht die Angst vor einer Deflation, fallenden Preisen, wie in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Diese Angst ist enorm. Ben Bernanke hat das am 28. September 2011 noch einmal klar zum Ausdruck gebracht: »Wenn die Teuerung oder die Teuerungserwartungen auf einen zu niedrigen Stand sinken, wäre das etwas, auf das wir reagieren müssten, weil wir keine Deflation wollen.«29

Die USA haben vor nichts mehr Sorge als vor dem Schreckgespenst Depression. Sie hat das Land in den 1930er Jahren viel härter und unmittelbarer getroffen als die Kriege in Übersee und die Inflation, die den Wert des Dollars eher schleichend und unmerklich aushöhlte. Deshalb soll eine Deflation und eine darauf möglicherweise folgende Depression unter allen Umständen vermieden werden. Dazu ist jedes Mittel recht.

Diese Mittel sind: Nullzins für Banken, unendlich hohe Liquiditätszuteilung, Aufkaufprogramme für Staats- und Immobilienbesicherte Anleihen, die Garantie des Bankensystems. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

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Abbildung 20: Die Bilanz der US-Notenbank. Quelle: Federal Reserve, Stand per 25. Januar 2012.

Wie geht es jetzt weiter? Die Entscheidungsträger in Politik und den Notenbanken werden weiterhin den eingeschlagenen Weg gehen. Das heißt: Zinsen tief halten, auch bei längerfristigen Anleihen. Es geht der US-Notenbank nur noch darum, den richtigen Moment für die nächste Runde von Anleiheaufkaufprogrammen zu finden. Als ersten Schritt hat man mit der im September 2011 angekündigten Operation »Twist« die Laufzeiten der aufgekauften Staatsanleihen verlängert. Diese Maßnahmen bezeichnen wir bereits als »Quantitative Easing 3«, da sie einem zusätzlichen Aufkauf von rund 400 Milliarden USD an Staatsanleihen entspricht, auch wenn offiziell von einer Umschichtung gesprochen wird. Weitere Maßnahmen dürften folgen.

Ben Bernanke versucht immer noch den Schein zu wahren – er braucht ein Feigenblatt, eine Reihe schlechter Wirtschaftsdaten, einen Crash am Aktienmarkt oder zusätzliche Probleme im Bankensystem. Die damit verbundene Stimmungslage würde auch noch weiterreichende Maßnahmen akzeptabel machen. Dann könnte sich »Helicopter Ben«30, so der Spitzname Bernankes, wieder an die virtuelle Notenpresse begeben und aus seinem Hubschrauber Geld über das Land verteilen. Staatsanleihekäufe sind nur eine Variante. Die Notenbank könnte auch Anleihen von Unternehmen, ja sogar Aktien kaufen, um einen Kollaps des Systems zu vermeiden. Die japanische Notenbank hat dies schon getan.

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Abbildung 21: US-Notenbank-Chef Ben Bernanke als Geldscheine abwerfender »Helicopter-Ben«. Quelle: Eigene Darstellung.

Die Europäische Zentralbank passt sich langsam an. Inzwischen sind auch dort die meisten Regeln über Bord geworfen worden. Vom früheren Stabilitätsanspruch der Deutschen Bundesbank ist kaum noch etwas übrig geblieben. Die Erosion der einstigen Politik nimmt sogar noch Fahrt auf. Die Europäische Zentralbank hatte im Mai 2010 mit dem Kauf griechischer Staatsanleihen begonnen – auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise. Bis März 2011 griff sie dann auch bei irischen und portugiesischen Titeln zu. Dann war Pause. Bis im August 2011 die Schuldenkrise in der Eurozone zu eskalieren drohte und Zweifel an der Zahlungsfähigkeit Spaniens und Italiens aufkamen.

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Abbildung 22: Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank. Kumulierte Ankäufe aus Griechenland, Portugal, Irland, Italien, Spanien. Quelle: Europäische Zentralbank, Flossbach von Storch, Daten per Januar 2012.

Damals verblüffte der seinerzeitige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet die Öffentlichkeit, indem er den Eindruck erweckte, als seien Aufkäufe der Staatsanleihen das Normalste der Welt.31 Zu dem Zeitpunkt griff die EZB bei spanischen und italienischen Papieren zu, deren Kurse stark gefallen waren, was die Renditen nach oben schießen ließ. Damit war klar: Die EZB folgt dem Weg der US-Notenbank. Diese Entscheidung war nicht unumstritten und führte zum Rücktritt des EZB-Chefvolkswirts Jürgen Stark. Die »Falken« im Direktorium, das heißt die Vertreter einer stabilitätsorientierten Politik in der Zentralbank, sind inzwischen größtenteils beseitigt. Die Führung ist in »lateinischer« Hand. Das verheißt wenig Gutes. Ja, in der Deutschen Bundesbank gibt es nach wie vor noch eine starke Stabilitätsfraktion. Bundesbank-Vertreter haben gegen die Aufkaufpolitik gestimmt. Aber ihr Einfluss ist geschwunden. Inzwischen ist die Situation innerhalb der Eurozone so prekär, dass es kaum noch andere Möglichkeiten gibt, als die Bondmärkte durch den fortwährenden Aufkauf von Staatsanleihen der bedrohten Länder zu stützen.

Spekulant gesucht

Immer sind die bösen Spekulanten schuld. Das war von Anfang an ein Märchen. Heute glaubt das keiner mehr. Zu Beginn der Staatsschuldenkrise, als Griechenland erstmals unter Druck kam, hatte die Politik noch Hedge-Fonds als dunkle Mächte der Finanzwelt diffamieren und zum Sündenbock machen wollen. Das lenkte von den eigenen Fehlern ab. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy verkündete, er wolle »die Spekulanten ohne Gnade bekämpfen«.32 Kanzlerin Angela Merkel sah »ein hohes Maß an Spekulation«, gegen das es »sich zu wehren« gelte.33

Aber wer sind denn die angesprochenen Spekulanten? Wen die Politik damit meinte, wusste sie wohl selbst nicht so genau. Zuerst waren es böse Hedge-Fonds, die mit Verkäufen die Staatsanleihekurse der Problemländer drückten. Dann waren es die Banken, die eben diese Anleihen mit billig geliehenem EZB-Geld kauften, um an der Zinsdifferenz zu verdienen. Dann waren es Verkäufer dieser Anleihen aus dem Lager der institutionellen Anleger. Aber kann man allen Ernstes eine Pensionskasse, die die Rentenansprüche von Hunderttausenden Versicherten verwaltet, in die Rolle des Buhmanns drängen? Sicher nicht. Sie will schließlich Schaden von ihren zukünftigen Pensionären abwenden. Interessanterweise ist diese Diskussion um Spekulanten mittlerweile zunehmend verstummt. Das mag wohl auch daran liegen, dass dem Bürger dieser Unsinn nicht mehr als Ursache für die Krise zu verkaufen war.

Es wechseln aber nicht nur die Feindbilder. Auch die Entscheider wechseln ihre Koalitionen fast so häufig wie ihre Kleider. Der Druck im System überträgt sich auf das Verhältnis der Helden in diesem Drama. So wird Deutschland einmal als das Beispiel für effiziente Staatsverwaltung hochstilisiert, um am nächsten Tag in Südeuropa und Frankreich als Globalisierungsprofiteur kritisiert zu werden. Die geringen Lohnsteigerungen und der florierende Export hätten deutsches Wachstum auf Kosten der anderen Länder geschaffen, heißt es. Christine Lagarde, zu der Zeit noch französische Finanzministerin, forderte sogar eine Begrenzung des deutschen Exportüberschusses durch staatliche Eingriffe.34 Das hätte nichts anderes als ein teilweises Exportverbot für deutsche Unternehmen bedeutet.

Fazit

Die Krisen sind das Ergebnis enthemmter Staatsschuldenpolitik, freigiebiger Notenbanken, laxer Eigenkapitalvorschriften und einer falschen Rettungspolitik, die den Moral Hazard im Finanzsystem ermöglicht. Die Politik kann sich in solchen Krisen als Rettungsinstanz profilieren. Den Großbanken verschafft die Krise das Attribut »Systemrelevanz«, inklusive der damit verbundenen Narrenfreiheit. Politik und Banken sind in einem Interessen- und Haftungsklumpen verschmolzen, der für die Bürger und Unternehmen nicht nur Deutschlands eine schwere Bürde für die Zukunft bedeutet. Die Notenbanken werden zunehmend zum verlängerten Arm der Regierung. Ihre Aufgabe besteht darin, das Zinsniveau künstlich tief zu halten und möglichst diskret in die Staatsfinanzierung einzusteigen.