So geht Entschuldung

Kein Staat muss pleitegehen, wenn er nicht will. Dies gilt aber nur dann, wenn er über eine eigene Währung verfügt, die er zur Not beliebig drucken kann. Die Staaten der Eurozone verfügen jedoch nicht mehr über eine eigene Währung, denn die Lufthoheit über den Euro hat die Europäische Zentralbank. Die nationalen Notenbanken sind zu machtlosen Statistikämtern degradiert worden, Geldpolitik betreibt die EZB. Die Euroländer sind also auf das Wohl von Investoren angewiesen, die ihre Anleihen kaufen. Halten sich diese zurück, kann ein Euroland nur noch auf den Beistand der EZB oder eines Rettungsschirms hoffen. Die fehlende Entscheidungsgewalt des Landes beziehungsweise seiner Notenbank ist ein ganz wesentlicher Unterschied zu allen anderen Ländern mit Währungen, bei denen es nur eine nationale Notenbank gibt. Denn diese Notenbank kann im Notfall die Druckmaschinen auf »Wunsch« des Staates anwerfen – Unabhängigkeit hin oder her.

Warum stehen wir vor unserem »Euro-Problem«? Die Teilnehmerländer liegen wirtschaftlich und kulturell einfach zu weit auseinander, und daran wird sich mittelfristig wohl auch nichts ändern. Deshalb ist die Währungsunion in ihrer aktuellen Zusammensetzung unhaltbar. Stellen wir uns auf drastische Änderungen ein. Das Euro-Problem ist aber nur ein Nebenkriegsschauplatz. Im Mittelpunkt steht unser eigentliches Thema: das globale Schuldenproblem. Denn auch außerhalb der Eurozone haben viele »westliche« Volkswirtschaften den Punkt fiskalischer Nachhaltigkeit längst überschritten.

Japan markiert mit einer Staatsschuldenquote von fast 240 % die unrühmliche Spitzenposition in der Schuldenliga. Das Haushaltsdefizit beträgt fast 9 % des BIP, was bedeutet, dass Japan 2012 erneut rund die Hälfte seines Haushalts über neue Schulden finanzieren muss. Dies ist nur noch dank der extrem niedrigen Zinsen von durchschnittlich 1 % möglich. Doch es naht der Tag X, an dem die Japaner dieses Loch nicht mehr mit ihren Ersparnissen stopfen können.

Japan und alle anderen hoch verschuldeten Staaten können nur auf vier Wegen ihre Schuldenquoten auf ein nachhaltig tragbares Niveau senken.

1. Hohes Wirtschaftswachstum: Produktion von mehr Gütern und Dienstleistungen.

2. Keine Schulden oder gar Überschüsse machen: Haushaltssanierung durch Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen.

3. Schuldenschnitt: Die Schulden werden per Dekret (teilweise) gestrichen.

4. Inflation: Höhere Preise für Güter und Dienstleistungen.

Die Schuldenquote ist der Quotient aus Schulden (Zähler) und nominalem Bruttoinlandsprodukt (Nenner). Ein Land hat jeweils zwei Möglichkeiten, den Zähler zu verkleinern und/oder den Nenner zu vergrößern, damit die Quote fällt. Alle vier genannten Varianten kann man sofort in dieser Gleichung wiederfinden.

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Abbildung 43: Die Schuldenquote. Quelle: Flossbach von Storch:

Die Schuldenquote fällt übrigens auch dann, wenn der Schuldenstand (Zähler) langsamer wächst als das nominale Bruttoinlandsprodukt (Nenner).

Soweit die Theorie, aber welche dieser Lösungsmöglichkeiten haben wirklich realistische Chancen auf Umsetzung?

Wachstum: ein Traum

Der komfortabelste Weg zum Schuldenabbau ist sicher Wachstum. Dann ziehen die Steuereinnahmen an und die Sozialausgaben fallen. Die wichtigsten Kennziffern verbessern sich, insbesondere der Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung oder das Haushaltsdefizit im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung. Leider ist diese Variante heute für die entwickelte Welt auch die unwahrscheinlichste. Die realen Wachstumsraten in den Industrieländern zeigen über die vergangenen Jahrzehnte einen klaren Trend, nämlich abwärts. Dahinter stecken strukturelle Entwicklungen: Die westlichen Gesellschaften altern, und alternde Gesellschaften sind weniger produktiv. Außerdem sind mehr und mehr Produktionsanlagen in die aufstrebenden Märkte verlagert worden. China ist das klassische Beispiel dafür. In der jüngeren Vergangenheit drückt außerdem noch die wachsende Verschuldung auf das Wachstum.

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Abbildung 44: Reale Wachstumsraten der G7-Länder, im Vergleich dazu die Wachstumsraten von China. Quelle: Internationaler Währungsfonds, Flossbach von Storch, Stand: Februar 2012.

Das Wachstum in den Schwellenländern ist für manche Industrien in Deutschland ein Antriebsmotor. Deutschlands Exporte nach China sind deutlich gestiegen. Heute machen sie etwa 5 % aus, vor 20 Jahren lagen sie fast bei null. Und einige Unternehmen machen schon ein Drittel ihrer Gewinne in China. Ein Paradebeispiel sind die großen Autokonzerne. Aber die Dynamik in den Emerging Markets kann nicht die ganze Welt heraushauen. Länder wie China oder Indien wachsen mit hohen einstelligen Prozentsätzen pro Jahr. In Deutschland beispielsweise gelten mittlerweile bereits 2 % reales Wachstum als Erfolg. Verstehen Sie uns bitte nicht falsch, wir wollen den Effekt gerade für Deutschland bestimmt nicht kleinreden. Wir profitieren zwar von steigenden Exporten in diese Regionen. Aber wegen des Trends zur Produktion vor Ort, also der Verlagerung der Produktion und auch von Dienstleistungen in diese Länder, hilft uns das nur begrenzt.

Auch in China ist nicht alles Gold, was glänzt. Das gilt speziell bei der Staatsverschuldung. Offiziell weist das Reich der Mitte nur 17 % Schulden relativ zum Bruttoinlandsprodukt aus. Allerdings sind schätzungsweise 2,2 Billionen Dollar Schulden des Staates in Schattenhaushalten versteckt. Und die treten eben offiziell nicht in Erscheinung. Die versteckten Verbindlichkeiten eingerechnet kommt man auf eine Schuldenquote von 82 %. Dies ist ähnlich hoch wie bei uns in Deutschland.

Einige Investoren setzen bereits auf einen Zusammenbruch des chinesischen Systems. Vielleicht müssen sie noch lange warten. Die Politiker werden sich schon aus Gründen des sozialen Friedens einem Einbruch mit aller Macht entgegenstemmen. Und natürlich verfügt China mit 3,2 Billionen Dollar über die höchsten Devisenreserven der Welt. Damit lassen sich einige Probleme übertünchen – wenn auch nicht für immer aus der Welt schaffen.

Einnahmen rauf, Ausgaben runter: zu spät

Die Wachstums-Karte können wir also nicht spielen. Ein von Schulden bedrängter Staat kann aber auch die Steuern und damit die Einnahmen erhöhen, gleichzeitig die Ausgaben senken – und die Bevölkerung spürt die ganze Härte der Maßnahmen. So ein Schweiß-und-Tränen-Programm muss alle gesellschaftlichen Gruppen einbeziehen. Sonst geht die Bevölkerung früher oder später auf die Barrikaden. Der einzige Weg: Es gibt die Aussicht auf mittelfristige Verbesserungen – und in der Zwischenzeit ziehen alle an einem Strang. Solch ein Schritt kann deswegen nicht von Technokraten verordnet werden, die die Interessen der Gläubiger vertreten.

Das belegen auch die Erfahrungen in Argentinien vor zehn Jahren: Der argentinische Ex-Staatssekretär Guillermo Nielsen sieht heute in Griechenland die gleichen Experten des Internationalen Währungsfonds am Werk, die schon Argentinien mit Quartalszielen zum Sparen gezwungen hätten, um die Zinszahlungen für die Gläubiger sicherzustellen.79 Stattdessen hätten sie sich um den Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft kümmern sollen. Einseitige Sparmaßnahmen sind in Ländern mit 40 % Jugendarbeitslosigkeit kein erfolgversprechendes Sanierungskonzept.

Außerdem arbeitet man immer noch mit Maßnahmen, die für einzelne Volkswirtschaften in der Krise gedacht sind. Das kommt leider in vielen Analysen viel zu kurz. Heute aber ist ein Großteil der entwickelten Welt angeschlagen. Die Hoffnung, mit einer Sparpolitik das System zu sanieren, ist pure Illusion.

Denn Ausgabenkürzungen belasten die Wirtschaft und erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession. Darin liegt das große Problem, wenn alle überschuldeten Staaten gleichzeitig mit dem Sparen beginnen. Dann enden wir wie in den 1930er Jahren. Natürlich kann man Ausgaben kürzen und Einnahmen erhöhen. Aber die Erfahrung zeigt: Politiker versuchen, die damit verbundenen Schmerzen so weit wie möglich in die Zukunft zu verschieben. Die USA haben sich im August 2011 wieder etwas Zeit gekauft. Sie erhöhten die Schuldenobergrenze, so dass sie ohne Schwierigkeiten über das laufende Jahr kommen. Die gleichzeitig geplanten Ausgabenkürzungen für die kommenden zehn Jahre treffen die US-Amerikaner nicht sofort. So werden die Probleme erst einmal weiter nach vorne verlagert. Aber selbst das wachstumsstarke Deutschland schaffte 2011 keinen ausgeglichenen Haushalt. Kaum auszudenken, wo wir bei einer erneuten Rezession landen würden.

Auch Steuer- und Einnahmenerhöhungen gehören in die Instrumentenkiste der Haushaltskonsolidierung. Beliebte Stichworte: Erbschafts-, Solidaritäts- und Vermögensteuer. Diese Maßnahmen wären eventuell sogar populär, denn sie träfen nur die »wenigen Reichen«. Solche Steuern erscheinen deshalb gerecht und kosten fast keine Wählerstimmen. Wir sind gegen solche Appelle an den Neidinstinkt, doch eines ist richtig: Die Verteilung der Vermögenswerte ist in den letzten 15 Jahren weltweit ebenso wie in Deutschland wieder extremer geworden. Das treibt solche Forderungen an. Und macht sie verständlich. Der ehemalige Bundesverfassungsgerichtspräsident Paul Kirchhof meint völlig zu Recht: »Das Einkommensteuerrecht beunruhigt, wenn es das Einkommen aus Kapitalvermögen mit einem Spitzensteuersatz von 25 Prozent belastet, das Einkommen aus Arbeit aber mit einem Spitzensteuersatz von 45 Prozent.«80 Im Gegensatz zu den USA zahlen Einkommensmillionäre in Deutschland inklusive Soli aber 48 % Steuern und haben kaum noch sinnvolle Möglichkeiten, diese Belastung zu senken.

Wir Deutschen sind insgesamt sehr wohlhabend und verfügen über ein hohes Privatvermögen. Das ist erfreulich, muss einem aber auch zu denken geben. Gewitzte Politiker könnten zu folgendem Schluss kommen: Die wachsenden Haushaltsdefizite und die Schuldenkrise machen uns keine Angst; die Deutschen verfügen über ein Vermögen von fast 10 Billionen Euro. Im Ernstfall wird der Staat sich dort bedienen, auf welche Weise auch immer.

Am Ende müssen wir auch die Schuldenbekämpfung allein durch Haushaltssanierung zu den Akten legen. Einsparungen und Steuererhöhungen könnten eine Depression auslösen – mit großen ökonomischen und sozialen Gefahren. Populärer Nationalismus ist ohnehin im Kommen. Genau darin liegen die Risiken und damit auch die Grenzen einer harten Sparpolitik. Wenn es eng wird und Menschen Wohlstandsverluste hinnehmen müssen, sucht man immer nach Sündenböcken und einfachen Lösungen. Populisten oder gar Demagogen sind hier Tür und Tor geöffnet. Sparen muss man deshalb vor allem in guten Zeiten. Für die westliche Welt reicht das alleine bei Weitem nicht mehr aus, um die Schuldenquote nennenswert zu reduzieren.

Einfach nicht bezahlen: die harte Tour

Wachstum zum Abbau der Staatsschuldenlast geht nicht. Einnahmeerhöhungen und Leistungssenkungen gehen auch nicht. Dann bleibt noch die Bankrotterklärung, sprich Entwertung der Verbindlichkeiten.

Beim Staatsbankrott stellt ein Land sämtliche Zahlungen ein oder erklärt, dass es fällige Forderungen nicht mehr oder nur noch teilweise erfüllen wird. Diese Erklärung kann zwei Gründe haben. Entweder kann sie der Staat rein wirtschaftlich nicht leisten. Oder die Regierung verweigert die Schuldenbedienung aus politischen Gründen.

In so einer Lage gibt es nur eine Lösung, den Schuldenberg radikal zu senken: ein drastischer Schuldenschnitt, also ein »Haircut«. Ein großer Teil der Schulden muss erlassen werden, wie es in Griechenland der Fall ist und zukünftig wohl auch in Portugal sein wird. Irland könnte es hingegen noch schaffen.

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Abbildung 45: Der Schuldenschnitt-Indiaktor: Steigende Differenz der Renditen zehnjähriger und dreijähriger griechischer Staatsanleihen spiegelt wachsende Haircut-Wahrscheinlichkeit wider. Quelle: Flossbach von Storch, Bloomberg.

Um es noch einmal klar zu sagen: Ohne die Zinssubventionen durch den Rettungsschirm und das Geld der Geberländer hätten alle drei Länder bereits aufgeben müssen. De facto sind sie zahlungsunfähig, wobei Irland das Potenzial hat, mittelfristig wieder auf eigenen Beinen zu stehen. Eine solche Subvention ist aber nicht auf Dauer möglich, sonst werden die Widerstände in den Geberländern zu groß. Griechenland vollzieht den Schuldenschnitt in Raten. Offiziell sind es 53,5 %, auf die die Gläubiger verzichten sollen. Tatsächlich signalisieren die Anleihen mit Kursen um 20 % bereits einen Schuldenschnitt von 80 %. Darauf wird es wohl hinauslaufen, möglicherweise auf mehr.

Um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, müsste das Land zusätzlich zumindest zeitweise auch wieder eine eigene Währung einführen. Darin läge die einzige sinnvolle Lösung, wahrscheinlich auch für Portugal. Nur so könnten diese Länder abwerten und damit die heimische Wirtschaft wieder ankurbeln. Ansonsten ginge das Spiel sofort wieder von vorne los, sprich: hohe Defizite, steigende Verschuldung und erneute Insolvenz. Beide Länder haben zu hohe Lohnkosten und es fehlt ihnen an exportfähigen Produkten. Aber mit einer drastisch billigeren Währung und deshalb günstigeren Preisen auf den Auslandsmärkten sollten die Ausfuhren langsam wieder Schwung aufnehmen und heimische Produkte im Inland wieder wettbewerbsfähig werden.

Wie im Abschnitt »Hot Spots am Meer« beschrieben, könnten Spanien und Italien noch einmal über die Runden kommen. Aber es wird sehr schwer, denn beide Länder müssen extrem hart an ihrer Glaubwürdigkeit arbeiten. Fordern die Investoren und damit der Markt längere Zeit einen Zinssatz von über 7 %, dann sind auch sie in der finanziellen Todeszone angekommen.

Im Euroraum bleibt die gemeinsame Währung für ganz unterschiedliche Wirtschaftsräume ein Knackpunkt für die fehlende Wettbewerbsfähigkeit. Dadurch steigen die Schulden und erzwingen am Ende Schuldenschnitte in einigen Ländern. Für einen passenden Währungsraum müssen einfach bestimmte Bedingungen erfüllt sein.

Nehmen wir als Gegenbeispiel die Vereinigten Staaten. Die USA haben eine einheitliche Fiskalpolitik, einen flexiblen Arbeitsmarkt, ähnliche Inflationsraten im ganzen Währungsraum, ein gleiches Kulturverständnis, eine gemeinsame Sprache und einen Patriotismus, der immer noch die bestehenden regionalen Differenzen überstrahlt. Was davon bietet die Eurozone? Vieles davon hat sie nicht oder höchstens ansatzweise.

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Abbildung 46: Optimaler Währungsraum: USA schlägt Euroland. Quelle: Flossbach von Storch.

Hier wurde eine Gruppe von Ländern mit sehr unterschiedlichen Merkmalen in ein Währungs- und Zinskorsett gesteckt. Das geht nur beschränkte Zeit gut. Um es in einem anderen Bild zu sagen: Irgendwann ist so viel Überdruck im Kessel, dass der Dampf mit einem Knall entweicht. An diesem Punkt stehen wir heute. Deshalb wird sich die Struktur der Eurozone verändern müssen. Das kann die Politik steuern, und eine solche Strukturänderung kann in geordneten Bahnen verlaufen. Aber: Die politischen Hürden und Widerstände wären groß. Ein Ausschluss per Beschluss der verbleibenden Euroländer ist ohnehin rechtlich unmöglich. Es ginge nur durch Überzeugungsarbeit der Art: Eine homogenere Eurozone ist für alle Länder die bessere Lösung, Austritte sind nur temporär, eine Wiederaufnahme bei Erfüllung der Kriterien ist möglich.

Bisher deutet wenig auf die Einsicht der Politiker hin. Der aktuelle Kurs lautet noch immer: stramm durchhalten. Es scheint zurzeit wesentlich wahrscheinlicher, dass die Politik den Euro bis zur letzten Patrone verteidigt. Wenn das Magazin dann leergeschossen ist, wird der Kapitalmarkt eine Auflösung der Eurozone oder deren kollektive Insolvenz erzwingen. »Der Kapitalmarkt«, das ist übrigens kein böses Ungeheuer, sondern die demokratische Abstimmung aller Anleger mit ihren Entscheidungen für oder gegen eine bestimmte Anlage. Praktisch jeder von uns ist dabei: Sparer, Aktionäre, Lebensversicherungs- und Immobilienkäufer und selbst Konsumenten, die bewusst aufs Sparen verzichten, etwa weil die Zinsen bei nahe null sind.

Ein Schuldenschnitt großer Nationen wie Japan, den USA oder Großbritannien würde das Weltfinanzsystem in den Abgrund reißen. Deswegen werden solche hoch verschuldeten Länder mit eigener Währung nicht pleitegehen, sondern ihre Schulden mit Hilfe der Notenpresse zurückzahlen.

Inflation: schön unauffällig

Wir haben drei Möglichkeiten zur Schuldensenkung verworfen. Wachstum geht nicht. Haushaltssanierung reicht nicht aus und würde ernste Rezessionsgefahren bewirken und ein Schuldenschnitt ist für die großen Volkswirtschaften ebenfalls keine Alternative. Was bleibt dann noch?

Diese Frage beschäftigt uns seit Ende 2009. Ohne Inflation geht es nicht. Das wird zunehmend deutlich. Aber wie läuft es ab und wie hoch muss die Geldentwertung sein? Schließlich sollen die Staatsschulden auf ein erträgliches Niveau abgeschmolzen werden. Anfangs gingen unsere Überlegungen in die Richtung einer Inflationspyramide. Das wäre ein rascher, drastischer Inflationsanstieg und baldiger Rückgang. Denn nur wenn die Inflation schnell wieder fällt, würde auch das Zinsniveau nicht in die Höhe schießen und den Staat in den Ruin treiben.81

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Abbildung 47: Entschuldung durch Inflationspyramide: Theoretische Lösung am Beispiel der USA. Quelle: Flossbach von Storch.

Heute sind wir einen Schritt weiter. Inflation ohne einen entsprechenden Zinsanstieg würde einen Abbau der Schuldenquoten auf ein tragfähiges Niveau ermöglichen. Diese »unverzinste Inflation« wird als Finanzial Repression bezeichnet. Es handelt sich um eine Kombination aus Inflation und staatlichen Zwangsmaßnahmen unter Mithilfe der Zentralbanken, der einen Vermögenstransfer von den Sparern zu den Schuldnern bewirkt. Geld ist ja genug da, wie uns gerade erst eine Studie der Allianz vorgerechnet hat.82 Es liegt eben nur bei den »Falschen«, den Sparern.

Inflation ist aus Staatssicht ein hervorragendes Mittel zur Vermögensübertragung, weil sich Geldentwertung zumindest anfangs im Verborgenen abspielt. Das wirkt nach dem Prinzip der chinesischen Wasserfolter, bei der das Opfer unter langsam tropfendem Wasser verharren muss, bis es seinen Widerstand aufgibt – oder wahnsinnig wird. Die meisten Menschen können kaum zwischen Nominalwerten und Realwerten unterscheiden. Das hilft dem Staat. Wenn wir hier von Vermögenstransfer reden, ist das natürlich eine sehr wohlwollende Umschreibung. Man kann diesen Vorgang auch schlicht als schrittweise Enteignung bezeichnen.

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Abbildung 48: Entwicklung der Schuldenquote. Quelle: Flossbach von Storch.

Wie aber senkt Inflation die Schuldenbelastung? Ein Rechenbeispiel hilft. Nehmen wir ein imaginäres Land mit einer Staatsverschuldung von 100 % der Wirtschaftsleistung, einem Realwachstum von 2 % und einem jährlichen Haushaltsdefizit von 6 %. Bei einer Inflationsrate von 2 % jährlich steigt die Schuldenquote bis 2020 auf 120 %. Die Schuldenquote sinkt dagegen, wenn wir bei gleichem Realwachstum eine höhere Inflationsrate unterstellen. Bei einer Inflationsrate von 8 % beispielsweise würde die Schuldenquote bis 2020 auf 69 % fallen. Der Grund: Die Wirtschaft wächst mit nominal 10 %, der Summe aus 2 % Realwachstum und 8 % Inflation. Der Schuldenberg wächst jährlich nur um 6 % und damit langsamer.

Die Sache hat aber einen Haken. Wenn sich bei den Investoren die Inflationserwartung verfestigt, werden sie einen Risikoaufschlag für Staatsanleihen verlangen. Sie wollen dann einen Zinssatz oberhalb der Inflationsrate – im Beispiel von eben also mehr als 8 %. Der Staat muss dann deutlich höhere Zinsen zahlen. Und das lässt die Zinszahlungen und damit den Schuldenberg weiter wachsen. Deshalb muss der Staat die Zinszahlungen auf seine Anleihen trotz hoher Inflation irgendwie niedrig halten.

Das funktioniert aber nur, wenn der Staat den Markt ausschalten kann, das heißt mit mehr oder weniger »gewaltsamen« Maßnahmen. Für den Staat stellt sich die Frage: Wie kann man die Anleger dazu bringen, Anleihen trotz negativer Realzinsen zu kaufen? Die Investoren verlieren ja real an Vermögen. Die Mittel sind Überzeugung oder Gewalt. Beides hat es in der Geschichte gegeben. Das einfachste Mittel ist eine Zinskontrolle. So etwas gab es beispielsweise in den USA von 1942 bis 1951 oder heute noch in China. Dabei wird der Zinssatz gesetzlich festgelegt oder es wird eine obere Grenze fixiert. Durch gleichzeitige Kapitalverkehrskontrollen kann der Staat Vermögensabflüsse ins Ausland verhindern.

Ein anderer Weg sind Zwangsanleihen, typischerweise zur Finanzierung von Kriegen oder einem Wiederaufbau nach einem Krieg oder einer Naturkatastrophe. Diese wurden zwangsweise angedient. Jeder musste sie kaufen.

Der Staat kann auch auf anderem Wege in die Anleihen drängen, nämlich indem er Alternativen verbietet. So haben die USA 1933 den Besitz von mehr als 100 Dollar in Gold untersagt, was damals etwas weniger als 5 Unzen bedeutete. Wer nach dem Verbot mehr als erlaubt besaß, musste mit bis zu zehn Jahren Haft oder einer Geldstrafe von 10.000 Dollar rechnen. Im Anschluss an das Goldverbot wurde der Dollar um 43 % gegenüber Gold abgewertet. Man muss dabei bedenken, dass damals kein freier Wechselkurs existierte. Das Verhältnis der Währungen untereinander wurde ausschließlich über die Parität zum Gold definiert. Damit verlor der US-Bürger auf einen Schlag 43 % gegenüber anderen Währungen wie dem Britischen Pfund. Insofern erlebte die USA im Jahre 1933 eine kleine Währungsreform, nur dass es die Bevölkerung – so es sich nicht um Goldbesitzer handelte – nicht mitbekam.

Mit Weitblick

»Derzeit profitieren viele Länder noch von dem tiefen Zinsniveau … Wenn sich dieser Effekt in einigen Jahren ins Gegenteil verkehrt, wir die Lage bedrohlich … Ein nachhaltiger Zinsanstieg würde die Staatsfinanzen mittelfristig ruinieren. Ein Staatsbankrott, wie zuletzt in Argentinien oder Russland, erscheint aber zumindest in den nächsten Jahren unwahrscheinlich. Stattdessen wird der Staat

  • dem Bürger tiefer in die Tasche greifen, z. B. durch höhere Verbrauchssteuern …, höhere Mehrwertsteuer, höhere Grund- und Erbschaftssteuern … Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.
  • seine Leistungen einschränken …
  • sich mittels Inflation schrittweise seiner Schulden entledigen.«

Flossbach von Storch, »Roadmap 2020«, November 2004.

Heute wendet der Staat Gewalt an anderer Stelle an. Er drängt Großanleger wie Versicherungen oder Pensionskassen durch Anlagevorschriften immer stärker in »sichere« Anleihen. Der Staat und die Regulierungsbehörden erklären dann sinngemäß: Unternehmerische Beteiligungen sind risikoreich, da müssen die Großanleger vorsichtiger agieren, während Staatsanleihen völlig risikolos sind. Das geht beispielsweise über die Forderung hoher Eigenkapitalunterlegungen bei Aktien und Null-Unterlegung bei Staatsanleihen. Natürlich läuft das an der ökonomischen Realität vorbei. Die Anleihen eines Top-Unternehmens sind viel sicherer als die Emissionen eines hoch verschuldeten Staates. Aber das Bonitätsprivileg von Staatsanleihen hilft den hoch verschuldeten Staaten bei der Finanzierung ihrer Schuldenlast. Und weil auch dies nicht ausreicht, um die Zinsen dauerhaft niedrig zu halten, helfen die Notenbanken in aller Welt kräftig mit – sei es freiwillig oder weil ihnen keine andere Wahl bleibt.

Investoren riechen den Braten ziemlich schnell, sollte man meinen? Wir reden schließlich über Profis auf ihrem Gebiet. Aber es dauert relativ lange, bis breite Anlegerkreise die Aushöhlung ihres Anlagevermögens durch Inflation begreifen. Wissenschaftler sprechen hier von Geld- oder Nominalwert-Illusion.83 Die Investoren kümmern sich weniger um die aktuellen Inflationsraten. Sie orientieren sich lieber an der erwarteten Geldentwertung. Deshalb versuchen Notenbanken oder Regierungen, die Inflationserwartungen der Bürger zu dämpfen. Sie verweisen auf Einmaleffekte wie Energiepreisanstiege oder Mehrwertsteuererhöhungen. Bald wird die Rate wieder sinken, soll das heißen. Eine gewisse Zeit mag das Argument »Ist ja nur vorübergehend« ziehen. Aber dauerhaft werden Investoren wohl kaum negative Realzinsen akzeptieren, denn sie verlieren dabei unterm Strich schlichtweg jedes Jahr einen Teil ihres Vermögens.

Fazit

Der Weg aus der Staatsschuldenkrise scheint vorgezeichnet. Mit der »Abschaffung« des Zinses für Staatsanleihen senken die Notenbanken die Finanzierungskosten der Staaten und schaffen die zum Abbau der hohen Staatsschuldenquoten erforderliche »unverzinste Inflation«. Diese im Fachjargon als »Financial Repression« bezeichnete Strategie bewirkt einen negativen Realzins und damit eine schleichende Teilenteignung der Sparer zu Gunsten der Schuldner, insbesondere der hoch verschuldeten Staaten.