Freitag, der 8. Februar

Heute ist nach allem Unglück ein absoluter Glückstag!

Heute Mittag durfte ich das erste Mal Chiara besuchen. Inzwischen geht es ihr wieder einigermaßen. Sie redet ganz langsam. Das Wichtigste ist: Sie hat mich erkannt und sich gefreut, mich zu sehen. Sie liegt auf der neurologischen Station in der Uniklinik.

Als ich dort zum Haupteingang reinkam, hatte ich einen irren Flash. Plötzlich sah ich, wie eine Frau mit so einer Babytragschale an mir vorbeigeht und hinter einer Klotür verschwindet. Mir wurde auf einmal ganz flau. Aber völlig dizzy war ich eh schon wegen Chiara. Eine Woche lang lag sie in einer Art künstlichem Koma. Dann durfte nur ihre Mutter zu ihr. Chiara hat einen Schädelbruch. Franca hat erzählt, dass sie vermutlich bei dem Streit mit Gero gegen die Kante von so einem Metalltisch gefallen ist. Die Polizei ermittelt gegen ihn wegen schwerer Körperverletzung. Er sagt, alles wäre nur ein Unfall gewesen. Sie wäre von der Bibliotheksleiter gefallen, als sie sich ein Buch ganz oben aus dem Regal nehmen wollte. Mann, der lügt sich was zusammen!

Das Diktiergerät habe ich bei der Polizei abgegeben. Ich bin zusammen mit Kurt Herold hingegangen und habe ihnen meine Version erzählt. Ich hatte ziemlich Schiss, dass sie mich gleich in Handschellen legen, doch Kurt hat mir Mut gemacht.

Eine echte Überraschung gab es außerdem noch: Die Polizisten haben mir auch deshalb so schnell geglaubt, weil meine Aussage gestützt wurde, und zwar durch die Schilderungen von Ernst Köhler. Man glaubt es nicht, aber er hat mich rausgehauen. Kurt hat mir dann später gesteckt, was seine Kollegen ihm erzählt haben. Köhler muss völlig fertig gewesen sein, dass Gero von Bentheim Chiara etwas antun wollte und hat deshalb reinen Tisch gemacht.

An dem Abend hat er den Streit gehört. Als es dann diesen Riesenschlag gab und es anschließend still war, wurde es ihm mulmig, und er ist in das Arbeitszimmer gegangen. Die Terrassentür stand offen. Er sah von dort aus, wie von Bentheim Chiara ins Auto lud. Sofort ist er hinterher, hat sie aber erst aus den Augen verloren und dann später am Bahnhof das Auto entdeckt. Dann hat er alles so erlebt, wie ich es erlebt habe.

Der Polizei hat er erzählt, dass von Bentheim ihm vor zwei Jahren viel Geld gegeben hat, damit er das Haus von der Wiesner ansteckt. Er sagt, von Bentheim hätte ihm erzählt, die Wiesner sei an dem Abend nicht zu Hause und er will die Versicherung kassieren, er hätte das Haus gekauft. Unser Haus, meint Köhler, hätte er nicht angesteckt, das müsste von Bentheim selbst gewesen sein. Er verdächtigt ihn, weil mehrere Flaschen Grillanzünder plötzlich aus dem Gartenschuppen verschwunden waren. Ob das aber ein Beweis ist, ist fraglich.

Übrigens hat Köhler der Polizei auch gesagt, dass er der anonyme Spender ist, der auf unser Brandkonto so viel Geld eingezahlt hat. Aber das ist »top secret«, hat Kurt gesagt.

Kurt und Andreas sind der Meinung, dass Bentheim sich mit einem guten Anwalt von den meisten Anschuldigungen wird befreien können. Einiges ist verjährt und vieles ist nicht eindeutig zu beweisen.

Chiara kann sich an nichts mehr erinnern, was unmittelbar vor ihrer Schädelverletzung passiert ist. Der Bentheim muss wahrscheinlich noch nicht mal ins Gefängnis. Auch jetzt wohnt er gemütlich zu Hause. Fester Wohnsitz nennt man das. Allerdings wohnt er jetzt ziemlich allein in seinem Schloss. Köhler hat gekündigt. Franca (mit der ich mich jetzt duze) hat die Scheidung eingereicht und wohnt mit Michelle im Hotel, bis Chiara wieder reisefähig ist. Dann wollen sie alle nach Monza ziehen. Das ist ein herber Schlag für mich. Allerdings haben sie mich schon eingeladen, sie dort zu besuchen.

Meine größte Sorge ist im Moment, wie das mit Justin weitergehen soll. Er hängt an mir wie eine Klette und wartet sehnsüchtig jeden Hundespaziergang ab, um mich zu begleiten. Irgendwie bin ich hin- und hergerissen. Genau genommen ist er der Mörder meines Bruders. Das ist schon ziemlich heavy. Andererseits: Kann er wirklich was dafür? Eigentlich ist er doch irgendwie gestört oder krank oder so was. Dann denke ich, dass ich ihm helfen sollte und geh die Extrarunden, auch deshalb, weil es mir selber guttut, wenn ich mir das alles ein bisschen von der Seele laufen kann. In der Schule reden sie inzwischen schräg über mich und meinen, ich hätte es wohl mit kleinen Jungs. Kaum bringst du mal etwas anderes als der Mainstream, schon fallen sie über dich her wie die Vampire. Bei den Herolds habe ich Internet und kann sehen, was so täglich abgelästert wird.

Mit Renate Herold habe ich, ohne Namen zu nennen, mal so rein theoretisch darüber geredet, wie man jemandem wie Justin helfen kann. Sie hat mir von ihrer Arbeit beim Jugendamt erzählt, von Eltern, die ihre Kinder halb tot prügeln, verhungern lassen oder einfach nur vernachlässigen. Es fielen Worte wie Inobhutnahme und Psychiatrie. Weder da noch dort könnte ich mir Justin vorstellen. Da ist er auf dem Hundespaziergang mit mir oder in Mittelerde vielleicht doch besser aufgehoben. Und auch wenn seine Eltern ziemlich oft besoffen sind, so hat er dort doch wenigstens so etwas wie ein Zuhause und seine Familie. Trotzdem, auf Dauer muss es eine Lösung für ihn geben und ich bin echt überfragt, welche das sein könnte.

Noch was bedrückt mich, und ich habe es ziemlich genau mit meinen Eltern besprochen. Ist dieses grüne Bändchen mit Nummer 2, das Chiara in dem Buch gefunden haben will, wirklich ein Beweis, dass die Wiesner Maurice und mich damals vertauscht hat? Bin ich wirklich derjenige von uns beiden, der das Gen nicht trägt? Soll ich also diesen Gentest machen lassen, um das herauszufinden oder lebt man besser damit, wenn man es nicht weiß? Das ist eine harte Entscheidung und ich habe sie erst einmal vertagt. Eines jedenfalls weiß ich: Egal, was kommt, ich habe Eltern, die zu mir halten werden und das ist ein gutes Gefühl.

Das Max-und-Moritz-Buch hat man übrigens nicht gefunden. Chiara kann sich nicht mehr erinnern, wo sie es versteckt hat, vermutlich irgendwo im Bentheim- Schlösschen. Ich stelle mir gerne vor, wie der alte Bentheim mit Schaum vor dem Mund und mit Brecheisen und Schraubenzieher bewaffnet nach und nach sein Schloss zerlegt. Das wäre dann so eine Art Fluch, der ihn bis an sein Lebensende begleitet. Leider kann es aber auch sein, dass er das Buch längst gefunden und entsorgt hat.

Noch eine Problemfrage habe ich vertagt. Soll ich eines Tages vor Gericht ziehen und mein Erbe einklagen oder soll ich großzügig darauf verzichten? Wenn ich nicht darauf verzichte, müsste ich immer damit rechnen, dass mein Mördervater mich doch noch aus dem Weg räumen will. Aber traut er sich das noch, wo der Verdacht dann eindeutig auf ihn fallen würde? Ein bisschen mulmig ist mir trotzdem.

So, jetzt kommt noch ein absolutes Masterpiece auf mich zu. Ich werde nämlich in diesem Tagebuch all die Passagen ergänzen, zu denen ich noch nichts geschrieben habe, sodass das Ganze wirklich wie so eine Art Roman die Geschichte von Max und Maurice erzählt. Keine Sorge! Ich will damit keinen Bestseller landen, sondern ich habe etwas viel Wichtigeres damit vor.