Montag, der 7. Januar

Dieser Köhler ist vielleicht eine Gestalt! Gruselig wie der Glöckner von Notre Dame. Aus den Riesenlöchern seiner roten Knollnase wachsen lange, verklebte Haare. Oben auf dem Kopf hat er eine Glatze und rundherum einen Haarkranz aus fettigen gelbweißen Strähnen. Er ist kleiner als ich, aber für sein Alter noch ganz schön drahtig. Plötzlich stand er in Chiaras Zimmertür und schmeißt mich mehr oder weniger raus. Er hätte hier die Aufsicht über das Fräulein Plati (Fräulein! Aus welchem Mittelalter haben sie den rübergebeamt?) und so einen Zirkus könnte er nicht dulden! Chiara hat ihm zwar ein paar freche Antworten hingedonnert, aber irgendwie war dann doch die Stimmung hin, und ich bin gegangen. Der Köhler wohnt eigentlich in der Modertal-Siedlung in einem schick renovierten Häuschen. Aber wenn die von Bentheims in Urlaub sind, dann hütet er das »Schloss«, wohnt in der Einliegerwohnung im Keller und führt sich auf wie der Schlossherr persönlich.

Aber was rege ich mich auf, Hauptsache, Chiara ist wieder da. Heute Mittag habe ich sie vom Flughafen abgeholt. Es war echt ein Masterpiece von mir, mich dort nicht total zu verlaufen und dann noch das Gate zu finden, aus dem sie endlich herauskam. Zugegeben, ich war eine ganze Stunde früher da, um dann so tun zu können, als würde ich mich auskennen, wie all die anderen, die so selbstverständlich an mir vorbeiliefen.

Ich habe noch nie in einem Flugzeug gesessen. Urlaub hieß bei uns früher immer »auf dem Bauernhof in der Nähe«. Hat mir eigentlich auch Spaß gemacht, aber wenn ich dann hörte, was die aus meiner Klasse alles erzählten, wo sie gewesen waren, da traute ich mich nicht mehr, was zu sagen. Sie zeigten ihre Bilder herum und ich nahm es meinen Eltern übel, dass wir nie aus Deutschland herauskamen. Erst als ich merkte, dass das eigentlich eine ganz miese Show war, ging es mir besser. Ob Kreta, Mallorca, Ägypten oder Türkei. Immer siehst du im Hintergrund einen blaugrauen Streifen Meer, vorne einen türkisblauen Swimmingpool. Auf dem einen Bild steht der Hotelplattenbau rechts davon, auf dem anderen links. Irgendwie alles dasselbe. Dafür muss ich nicht einmal um die halbe Welt reisen.

Für Chiara ist Fliegen das Normalste von der Welt, so ähnlich wie S-Bahn fahren. Sie war von hier alleine nach Sizilien geflogen und auf dem Umweg über Mailand wieder zurück. Gero von Bentheim zahlt. Alles kein Problem.

Irgendwie habe ich gerade ein bisschen den Hänger. Ich denke darüber nach, dass man dazu verdammt ist, alles so zu nehmen, wie es kommt. In den Nachrichten haben sie vor ein paar Tagen einen Bericht darüber gebracht, dass die Russen jetzt keine Waisenkinder mehr zur Adoption in die USA lassen. Sie haben gezeigt, wie es den Kindern, die eigentlich keiner will, dort in den Waisenhäusern geht. Dagegen ist hier jeder Knast ein Nobelhotel. Seit ich weiß, dass ich auch so ein Trash-Kind bin, reagiere ich auf solche Sachen empfindlich. Du kannst nichts dafür, in welches Leben du hineingeboren wirst. Sportlich betrachtet, sind solche Startbedingungen unfair. Niemand käme auf die Idee, bei einem Hundertmeterlauf dem einen Laufschuhe zu geben und dem anderen eine Eisenkugel ums Bein zu binden. Ob du ein Loser wirst, steht von Anfang an fest. Maurice startete im Bentheim-Schloss und ich auf einem Klo. Super!

Ich weiß, ich sehe das im Moment ein bisschen krass, aber ich habe gerade so eine angefressene Stimmung! Vielleicht hängt das auch mit heute Nachmittag zusammen. Es fing gut an. Ich bin mit Chiara zu ihr nach Hause, wir haben Spaghetti mit Tomatensoße gekocht und viel gequatscht. Warum musste ich auf die blöde Idee kommen, noch einmal in Maurice’ Zimmer zu wollen? Ich hätte merken müssen, dass das Chiara nicht recht war. Aber manchmal bin ich wie ein Maulesel. Etwas hat mich dazu gedrängt. Ich wusste selbst nicht, was, aber ich wollte es herausfinden. Bin ich jetzt schlauer? Ich habe mich in diesem Zimmer total fremd gefühlt und mich gefragt, ob es Maurice auch so ging? Wenn es dort damals auch schon so aussah, dann ist das ein Zimmer, das er schon längst verlassen hatte, bevor er weg war. Hatte er bereits seine Koffer gepackt, seine Zelte abgebrochen in diesem Leben und wollte sich davonmachen? Oder ging es um den Spruch, den er sich aufgehängt hat? Dass man nicht sterben soll, bevor man tot ist? Wollte er ein anderes Leben anfangen? Woanders? Eigentlich hatte er es doch saugut dort, wo er war. Aber warum mache ich mir diese Gedanken? Ich sollte aufhören, mich noch weiter mit Maurice zu beschäftigen. Das macht mich nur völlig depri. Chiara hat recht, ich sollte mich nicht um Maurice, sondern viel mehr um Maximillian kümmern.

Eben gerade fällt mir auf, dass Maurice ja so etwas wie die französische Variante von Moritz ist. Und ich wurde Maximillian genannt, Kurzform Max. Max und Moritz. Ist das Zufall, dass wir beide nach diesem Zweiergespann heißen?

Jetzt fange ich schon wieder an, dunkle Theorien zu entwickeln. Hör endlich auf damit, Max! Es ist Zufall! Du hast mit Maurice nichts zu tun. Und das ist auch besser so!

Es war schon ein ziemlicher Schock heute, als Chiara mir sagte, dass sie Maurice eigentlich gar nicht besonders mochte. Ich hatte immer gedacht, dass sie sehr an ihm hing. Muss man doch auch nach ihrer Reaktion damals, als ich die Blumen am Bahnsteig geklaut habe. Ich glaube, dass sie selbst nicht so richtig weiß, wie sie zu Maurice stehen soll. In einem Moment überwiegen ihre positiven Erinnerungen, im anderen die negativen.

Heute rückte sie plötzlich damit raus, dass Maurice voll der arrogante Macker gewesen wäre! So deutlich hat sie das noch nie gesagt. Es würde bedeuten, je mehr ich Maurice ähnele, desto weniger mag sie mich. Will ich das? Ich glaube, nicht nur mit mir, auch mit ihr ist was passiert in den Ferien. Da sehnt sie sich jahrelang danach, endlich mal ihren richtigen Vater kennenzulernen. Riskiert Zoff mit ihrer Mutter, um ein Treffen durchzusetzen, und muss dann erleben, dass es ein Reinfall auf der ganzen Linie ist. Sie hat erzählt, wie sie in Sizilien auf den staubigen Steinen unter einem Olivenbaum saß und sich nach ihrem Klavier in Monza gesehnt hat. Nie hätte sie so was von sich gedacht. Tja, Chiara, hätten sie dich unter dem Olivenbaum starten lassen, wäre es vielleicht umgekehrt!

Irgendwie muss ich mich ab heute auch neu sortieren. Also, neue Basics: Du bist Max, das Findelkind vom Klo! Mit Maurice hast du nicht das Geringste zu tun! Was mit Maurice passiert ist, geht dich nichts an!

Da fällt mir ein, ich habe Chiara gar nicht von der SMS erzählt, die von Annalenas Handy abgeschickt wurde. Wahrscheinlich würde sie dann nicht mehr an ihrer Selbstmordtheorie festhalten. Egal.

Also, was macht Max jetzt?

Anderer Haarschnitt?

Nee, keine Totalrenovierung! Kurz ist ja gar nicht so schlecht, aber vielleicht ein bisschen länger über den Ohren und Fransen in die Stirn. So ähnlich wie dieser Jake Bugg. Und tschüss mit dem gelackten Justin-Bieber-Look!

Max saß leicht vorgebeugt auf der Bettkante und sah nachdenklich in Richtung des kleinen Fensters über dem Schreibtisch. Die schwarzen Äste des großen, alten Kirschbaums zeichneten ein wirres Strichmuster in den wolkig grauen Winterhimmel. Ein Blick auf das Handy verriet, dass es noch gut zwei Stunden Zeit bis zum Abendessen waren. Entschlossen sprang Max aus dem Bett, seinem Lieblingsschreibplatz, und versteckte wie üblich das Tagebuch unter der Bettdecke. Er wusch sich schnell die Haare über dem Waschbecken im Bad und bearbeitete sie mit dem Föhn. Das Styling-Gel ließ er weg und zog die Spitzen in die Stirn und über die Ohren. Dann schüttelte er sich wie Schorsch. Die Haare suchten sich eine natürliche Position um seinen Kopf. Einige kleine Strähnen standen eigensinnig ab. Er bändigte sie nicht mit Spray, sondern ließ sie gewähren. Max betrachtete sich skeptisch. Sonderlich cool sah das nicht aus, eher wie »der gute Max von nebenan«. Wollte er das? Vielleicht würde es besser aussehen, wenn die Haare wieder etwas länger gewachsen waren? So ein Pony, das ganz tief in die Augen hing, wäre doch etwas! Boy-Group-Max. Er streckte seinem Spiegelbild die Zunge heraus und ging zurück in sein Zimmer. Dort zog er aus dem Schrank und der Kommode alle Kleider und warf sie auf sein Bett. Sorgfältig sortierte er aus, was ihm persönlich zusagte und was er sich nur deshalb zugelegt hatte, weil es an Maurice erinnerte. Da waren einige sehr teure Stücke dabei. Er hatte sie in einem Second-Hand-Laden in der Stadt erworben, vielleicht nahmen die sie auch wieder zurück. Auf Markenklamotten waren die immer scharf, egal wie abgetragen sie waren. Oft machte das ja gerade den Style aus.

Anschließend holte er aus dem Keller einige leere Umzugskartons und beschäftigte sich in den nächsten beiden Stunden intensiv mit dem Auf- und Ausräumen seiner Schränke. Aus dem Bücherregal sortierte er alles aus, was mit der Altersangabe bei spätestens 14 endete. Es blieb nicht mehr viel übrig. Überhaupt sah das Zimmer jetzt sehr leer aus. Aber brauchte er noch einen Technik-Baukasten? Auch der kam in eine Kiste und gab über dem Kleiderschrank die Sicht auf die Tapete frei.

Sonja steckte den Kopf zur Tür herein und sah sich besorgt um. »Was um alles in der Welt machst du hier? Du willst doch hoffentlich nicht ausziehen?«

Max genoss das Erschrecken in ihren Augen. Statt einer Antwort fragte er: »Kann ich das auf den Dachboden räumen?«

»Ich weiß gar nicht, ob da oben Platz ist, da war schon ewig keiner mehr.«

Max verzog unwillig das Gesicht. »Kann ich oder kann ich nicht?«

Sonjas Blick flackerte ängstlich. »Ich frag mal Oma, wo der Stock mit dem Haken ist, damit man die Luke aufziehen kann.«

Wenig später hatte sich Max’ Aufräumaktion zu einem Familienunternehmen ausgeweitet. Andreas versuchte mit dem Hakenstock, den verrosteten Mechanismus der Bodenklappe in Gang zu setzen, während die anderen dabei standen und ihn beobachteten.

»Muss das denn sein?«, fragte Oma mit bedenklicher Miene.

»Ja«, erklärte Sonja. »Max will sein Zimmer umräumen und die Kindersachen aussortieren. Das kann ich verstehen«.

Max verzog das Gesicht. Er wollte nicht, dass alle ihm halfen, er wollte nicht, dass Sonja ihn verstand. Schorsch kam angesaust und sprang zur Begrüßung an Max’ Beinen hoch. Max kraulte ihn. »Seine Ohren sind ja ganz nass«, stellte er fest.

»Ich habe unten die Küchentür aufgemacht, damit er in den Garten kann. Du hattest ja keine Zeit, um mit ihm Gassi zu gehen«, erklärte Sonja.

»Er soll nicht alleine raus!«, rief Max.

In dem Moment löste sich die Klappe. Staub rieselte. Andreas zog vorsichtig die mit rußigen Spinnweben verhangene Leiter aus, bis sie auf dem Flurboden stand. Max musste niesen und schaute durch die Luke nach oben. Durch ein geteiltes Blechfenster konnte man in einen finsteren Wolkenhimmel blicken, in dem sich eine schmale Mondsichel wie ein schiefer, grinsender Mund zeigte. Max schaute beklommen hinauf. Na, Maurice? Findest du es lächerlich, was ich hier gerade veranstalte? Aber es muss sein. Es ist der Abschied von dieser besessenen Idee, dein Bruder zu sein. Es ist der Abschied von dem alten Max, der nichts alleine auf die Reihe bekam. Der neue Max, der zieht sich jetzt selbst seine Spur. Trotzdem schade. Mit so einem virtuellen Bruder als Schicksalsgenossen wäre alles leichter. Tschüss, Maurice, letzte Grüße, dein Max.

Max biss sich auf die Unterlippe. Eine dunkle Wolke verschluckte den Mond.

»Ich hole den Staubsauger«, erklärte Sonja und Max zuckte zusammen, als habe ihre Stimme ihn aus einer anderen Welt gerissen.

Andreas kletterte als Erster nach oben. »Wo ist hier der Lichtschalter?«, rief er.

»Gleich neben dir an dem Holzpfosten«, antwortete die Großmutter.

Ein schwacher, gelblicher Lichtschein fiel durch die Luke. Andreas stöhnte auf und rief vorwurfs-voll: »Eine freiliegende Leitung einfach nur aufs Holz genagelt! Moderner Brandschutz sieht anders aus!«

Max kletterte ebenfalls die Leiter hinauf und sah sich um. Der Boden bestand aus staubigen, alten Holzbrettern. Vor der Giebelwand, in der es ein kleines, rundes Fenster gab, stapelten sich ein paar Kisten. Sonst war der gesamte Dachraum leer.

»Gar nicht so wenig Platz hier oben«, kommentierte Andreas. »Und hier in der Mitte kann man gut aufrecht stehen. Wenn man Geld hätte, könnte man das ausbauen und für Max ein schönes, großes Zimmer einrichten.«

»Man hat aber kein Geld«, sagte Max kühl.

Andreas verzog den Mund und schwieg. Omas Kopf tauchte in der Luke auf, von unten tönte das Gebrause des Staubsaugers. »Geh wieder runter, Mutter, du brichst dir noch die Knochen!«, sagte Andreas.

Die Großmutter zog ein trotziges Gesicht, stieg noch weiter hinauf und stand bald neben ihnen.

Andreas schüttelte stumm den Kopf und deutete zur Giebelwand. »Was ist mit den Kisten da drüben? Soll ich die nicht gleich mal entsorgen? Das Zeug da drin braucht doch bestimmt kein Mensch mehr!«

Die Oma betrachtete das Durcheinander aus verstaubten Schuhkartons und Keksdosen und schüttelte den Kopf. »Das muss ich erst noch einmal durchsehen!«

Andreas stöhnte. »Das hat jahrelang keiner durchgesehen, dann wird es auch in Zukunft keinen mehr interessieren. Aber von mir aus, stellen wir jetzt einfach noch ein paar weitere Kisten dazu. Komm, Max, bring mir mal deine Sachen!«

Max nickte und verschwand. Als er den ersten Karton nach oben bringen wollte, sah er, wie die dick bestrumpften Beine seiner Oma mühsam Sprosse für Sprosse hinab kamen. Begleitet wurde jede ihrer Bewegungen von einem hohlen Klappergeräusch. Max stellte seinen Karton ab und breitete die Arme aus, um sie notfalls auffangen zu können. Schließlich erkannte er, warum sie so extrem langsam geklettert war. In der einen Hand trug sie eine große, flache Keksdose, die sie anscheinend von dort oben gerettet hatte. Die Oma und ihre Dosen!, dachte Max. »Soll ich dir das abnehmen?«, fragte er.

»Nein!«, antwortete seine Großmutter abwehrend und presste die Dose an ihren Körper wie einen kostbaren Schatz. Kaum hatten ihre Füße den Boden berührt, verschwand sie zügig über die Treppe nach unten. Die Küchentür fiel ins Schloss. Max sah ihr grinsend nach. Ein bisschen erinnerte ihn seine Oma gerade an Schorsch. Der bunkerte die Sachen, die er sich nicht abnehmen lassen wollte, schnurstracks in seinem Körbchen.

Wenig später waren alle Kisten verstaut und Max sah sich in seinem Zimmer um. Andreas hatte ihm geholfen, das Bett unter das Fenster zu schieben und den Schreibtisch stattdessen unter die Schräge zu stellen.

»Da hat er doch kein Licht«, monierte Sonja.

»Dafür gibt es Lampen«, erklärte Andreas.

»Normalerweise hat man auch einen Bildschirm auf dem Schreibtisch stehen und da stört Tageslicht nur«, sagte Max.

»Ich würde beim Arbeiten lieber zum Fenster hinausschauen«, meinte die Großmutter, die wieder aufgetaucht war und frische Luft in den Kleidern mitbrachte. Schorsch drängte sich an ihr vorbei ins Zimmer. Seine Pfoten hinterließen dunkle Abdrücke auf dem Teppich.

Sonja stöhnte auf. »Nein! Gerade habe ich gesaugt!«

»War er schon wieder alleine draußen?«, rief Max vorwurfsvoll.

»Nein«, erklärte die Großmutter. »Ich war mit ihm im Garten.«

Erstaunte Blicke begegneten ihr.

»Und diesen komischen Bettvorleger willst du behalten?«, fragte Sonja und deutete auf das große Tigerfellimitat mit Kopf, das sie vor Jahren einmal erstanden hatten, als man für Max noch in der Kinderabteilung der Möbelhäuser einkaufte.

»Ja, der bleibt hier für Schorsch«, erklärte Max. »Könnt ihr mich jetzt bitte alleine lassen?«

In der Tür wandte sich die Großmutter noch einmal zu ihm um. »Du hättest dich wenigstens bei ihnen bedanken können.«

»Wofür?«

»Dass sie dir bei der Räumerei geholfen haben.«

»Ich habe sie nicht darum gebeten«, erklärte Max patzig.

Kopfschüttelnd verließ die Großmutter den Raum. Max lauschte noch einen Moment, bis sich ihre Schritte entfernt hatten. Dann wandte er sich um und wühlte unter seiner Bettdecke das Tagebuch hervor. Sollte er das überhaupt noch weiterschreiben, oder gehörte das auch zu einer anderen Zeit? Er las noch einmal, was er heute früher am Tag geschrieben hatte. Dabei fielen der hinten im Buch eingelegte Zeitungsausschnitt und die Drohbriefe heraus.

Da gibt es noch eine ganze Menge unerledigter Dinge, dachte Max. Es geht gar nicht nur um Maurice, sondern viel mehr um mich. Max zog den kaum sichtbaren Reißverschluss auf, der sich seitlich am Tigerfell befand. Der Tiger war mit einem flachen Kissen gefüllt, das ebenfalls einen Reißverschluss hatte, damit man die Schaumstoffflocken nachfüllen konnte. Dort zwischen die Flusen bettete Max das Tagebuch und hielt es für ein geniales Versteck.

Als er sich aufrichtete, sah er, dass sein Handy auf der Fensterbank Blinksignale sendete. Bereits vor längerer Zeit war eine SMS eingetroffen. Von Annalena. Sie wollte morgen mit ihm ins Kino. Ob das Tobias so recht war? Max grinste. Mal sehen, antwortete er ihr.

Ein schabendes Geräusch ließ Max zusammenfahren. Es kam vom Bett. Als Max auf die Knie ging und unter das Bett schaute, entdeckte er Schorsch in der hintersten Ecke. »Schorsch? Was soll das? Gefällt dir mein neues Zimmer nicht?«

In der Nacht entwickelte sich Schorsch zum Ruhestörer. Erst hatte er nicht unter dem Bett hervorkommen wollen und hatte ständig auf dem Boden herumgekratzt. Und dann hatte er Max jedes Mal, wenn dieser gerade am Einschlafen war, mit seiner Pfote ins Gesicht gestupst. Der Hund war zur Tür gelaufen und musste offensichtlich nach draußen. Die Prozedur wiederholte sich mehrfach bis zum Morgengrauen. Dazu trank Schorsch zwei große Schüsseln Wasser. Nachdem Max endlich erschöpft eingeschlafen war, wachte er erst gegen Mittag auf.

Schorsch lag mit ausgestreckten Beinen auf dem Tiger. Als Max über ihn steigen wollte, um ins Bad zu gehen, blieb Schorsch entgegen seiner sonstigen Gewohnheit reglos liegen. Max beugte sich über den Hund. Schorsch hob ein wenig den Kopf, ließ ihn dann aber wieder matt sinken. Seine Augen wirkten merkwürdig geschwollen und waren blutunterlaufen. Aus seiner Nase blähte sich blutiger Schaum.

»Schorsch! Schorschi! Was ist denn?«, flüsterte Max, Böses ahnend. Schorsch hob wieder den Kopf, dann richtete er sich mühsam auf. Ein Würgen schüttelte seinen Körper und plötzliche spuckte er schaumiges Blut über den Boden und brach darüber zusammen.

»Mama!, Papa!, Oma!«, schrie Max und sprang auf. Er lief hinaus. Im Flur stieß er mit seiner Großmutter zusammen. Max zog sie am Arm in sein Zimmer und deutete auf den Hund, der dort flach atmend lag. Es sah eher wie Zittern als nach Luftholen aus. »Wo ist Papa?«, schluchzte Max.

Die Großmutter beugte sich mit verzweifeltem Gesicht über Schorsch. »Er ist bei einem Vorstellungsgespräch im Baumarkt und Sonja ist arbeiten. Das sieht ganz nach Gift aus. Ich fürchte, er wird uns sterben«, flüsterte sie.

»Nein!«, schrie Max. »Nein, er muss zum Tierarzt. Wir müssen zum Tierarzt!«

Die Großmutter richtete sich auf. »Aber wie denn, ohne Auto? Hier in Modertal gibt es keinen Tierarzt, und bis wir mit der S-Bahn in der Stadt sind …«

Max hatte nur Wortfetzen mitbekommen. In seinem Kopf drehte sich eine Endlosschleife. Er darf nicht sterben. Tierarzt. Ein Tierarzt muss her. Er zwang sich, klare Gedanken zu fassen. Wer hier in Modertal wusste, wie man schnell an einen Tierarzt herankam? Wer hatte noch einen Hund? Dazu fiel ihm nichts ein. Pferd, fiel ihm plötzlich ein. Michelles Pferd hatte neulich Verdacht auf Kolik gehabt und zu ähnlich verzweifelten Aktionen in Chiaras Familie geführt.

Sein Finger hatte Chiaras Handynummer bereits gefunden. Es läutete. Geh ran!

Sie war sofort dran. Musik im Hintergrund. Er konnte nur abgehackte Sätze zwischen seinen Schluchzern unterbringen. Verstand sie überhaupt, was er wollte? Konnte sie ihm helfen? Wie denn? Während er redete, zweifelte er bereits, ob dieser Anruf eine hilfreiche Idee gewesen war. Dann war das Gespräch plötzlich beendet.

Max musste einen Moment nachdenken, bis ihr letzter Satz bei ihm ankam. Wir sind in fünf Minuten da. Wer war »wir« und wie wollte sie ihm helfen?

Wenige Minuten später saß Max auf der Rückbank eines Autos, das vom alten Köhler gesteuert wurde. Neben ihm lag Schorsch auf einer dicken, alten Decke. Ein dunkles Rinnsal lief aus seiner Nase. Er nieste und feine Blutströpfchen verteilten sich auf Max’ Handrücken. Chiara hatte sich vom Beifahrersitz aus nach hinten gebeugt und betrachtete den verzweifelten Max mit ernstem Gesicht. »Unsere Tierärztin hat gesagt, wir sollen am besten gleich in die Tierklinik mit ihm. Wenn überhaupt, dann können nur die noch etwas machen. Sie meint, du sollst versuchen, dich zu erinnern, wo und wann er etwas Falsches aufgenommen haben könnte.«

»Im Garten, gestern Abend im Garten!«, schluchzte Max.

»Bei euch im Garten?«, zweifelte Chiara. »Aber deine Oma streut doch kein Gift, wie ich sie kenne.«

»Das war einer, der das absichtlich gemacht hat. Eine miese, feige Sau!«, schrie Max. »Wenn ich den erwische!«

Chiara schüttelte unmerklich den Kopf und schaute mit besorgter Miene auf das zitternde Fellbündel neben Max. »Kannst du nicht noch ein bisschen schneller fahren, Onkel Ernst?«, drängte Chiara.

Köhler brummte. »Ich fahre so schnell ich kann und darf. Es würde nichts nutzen, wenn uns noch die Polizei anhält. Diese Klinik ist am anderen Ende der Stadt.« Dennoch schien er Gas zu geben und sich noch ein wenig zügiger als vorher durch den Verkehr zu schlängeln. Max hatte das Gefühl, sie seien bereits eine Ewigkeit unterwegs, dabei zeigte ihm der Blick auf sein Handy, dass es erst zwanzig Minuten waren. Schorsch lag regungslos. Max’ Hände zitterten so sehr, dass er nicht in der Lage war, festzustellen, ob sein Hund noch atmete oder nicht. Wir schaffen es nicht, dachte er plötzlich. Es ist vorbei! Ein Verlierergefühl, wie er es noch nie in seinem Leben empfunden hatte, kroch bleischwer durch seine Adern. Jetzt wünschte er sich, dass sie alle weg wären um ihn herum, dass er nur noch alleine wäre in einer dunklen Höhle mit Schorsch neben sich. Für alle Ewigkeit. Halt die Welt an, da gab es doch so ein Lied. Das wünschte er sich jetzt, die Welt anzuhalten, weil er alles Weitere, was jetzt kommen würde, nicht mehr ertragen wollte.

»Wir sind da!«, sagte Köhler und bog auf einen Parkplatz ein.

Chiara betrachtete Max, der starr wie eine Statue mit glasigen Augen hinter ihr saß. Sie sprang aus dem Auto, lief um das Fahrzeug herum und öffnete die hintere Seitentür, wo Schorsch lag. Vorsichtig nahm sie den Hund mitsamt der Decke heraus und drückte ihn der Helferin in den Arm, die bereits zum Auto gekommen war. Beide junge Frauen verschwanden hinter einer Glastür.

Köhler stieg aus, beugte sich hinab und rief durch die offene Tür. »Wollen Sie nicht aussteigen, junger Mann?«

Max bewegte sich nicht.

Köhler schüttelte den Kopf. Er schlug die Tür zu, lehnte sich gegen das Auto und steckte sich eine Zigarette an.

Irgendwann öffnete jemand die Tür an Max’ Seite. Chiaras Stimme sagte: »Du bist ja immer noch hier! Du musst mit hereinkommen, der Tierarzt will mit dir sprechen.«

»Ich will aber nicht mit ihm sprechen«, sagte Max mit spröder Stimme und starrte vor sich ins Leere.

Chiara stampfte mit dem Fuß auf. »Oh, Max, was soll das? Komm heraus!«

Im Zeitlupentempo wandte Max den Kopf zu Chiara. »Er ist tot, nicht wahr?«, flüsterte er.

Chiara stöhnte leise. »Nein, er lebt noch. Aber es ist kritisch, haben sie gesagt. Sie wissen vermutlich, was es für ein Gift ist und können ihn vielleicht retten. Aber das müssen sie mit dir besprechen.«

»Warum?«, fragte Max. Er wirkte immer noch wie im Stand-by-Modus.

»Ob du der Behandlung zustimmst. Schließlich kostet das ja auch was.«

»Egal, was es kostet«, flüsterte Max.

»Ja, das finde ich auch«, sagte Chiara. »Die dumme Tante da drin am Empfang sagte zu mir, ein neuer Hund wäre billiger.«

Max zuckte zusammen, als habe ihm jemand ein Glas kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. »Wie schräg drauf ist die denn?«

Chiara lächelte zufrieden. »Endlich reagierst du wieder normal. Komm, wir gehen rein!«

Max bekam Schorsch gar nicht mehr zu Gesicht. Eine freundliche, junge Frau mit blonder Pferdeschwanzfrisur stellte sich als Studentin der Veterinärmedizin vor und befragte Max zu der möglichen Giftaufnahme. Auch wollte sie wissen, welches Futter Schorsch bekam und wie die Symptome sich entwickelt hatten. Max gab Auskunft und nannte seinen Verdacht. Dann verschwand die junge Frau im Behandlungsraum. Chiara und Max blieben in einem kleinen Nebenzimmer sitzen.

An der Wand hingen Fotos von verschiedenen Tieren und Dankesbriefe ihrer Besitzer an das Klinikpersonal. Chiara griff nach Max’ Hand. »Alles wird gut«, sagte sie leise.

Max spürte, dass ihm wieder die Tränen über das Gesicht liefen. Chiara wühlte in ihrem Beutel nach einem Papiertaschentuch und reichte es ihm. »Ich halt das nicht aus, wenn er stirbt«, flüsterte Max.

Chiaras Hand umschloss die seine mit festem Druck. »Das wird er nicht«, sagte sie.

Max hätte ihr gerne geglaubt.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen die Studentin und der Tierarzt, der sich als Dr. Vogel vorstellte, aus dem Behandlungsraum. »Sie sind das Herrchen von dem Cocker?«, fragte er.

Max nickte und blickte angstvoll in das Gesicht des Arztes. »Wie geht es Schorsch?«, flüsterte er.

Der Arzt schien sich über den Hundenamen zu amüsieren und sagte lächelnd: »Wir müssen jetzt erst einmal abwarten, wie unsere Behandlung anschlägt. Aber er ist ein gesunder Hund. Da hat er gute Chancen.«

Max und Chiara atmeten gleichzeitig auf. Max konnte nichts mehr sagen, denn die Tränen rannen in einem Schwall aus seinen Augen. Auch Chiara wischte sich die Augenwinkel und fragte dann: »Und was ist es gewesen?«

»Wir haben sein Blut mit einem Schnelltest untersucht. Die erhebliche Störung in der Gerinnungsfähigkeit zeigt uns, dass der Hund vermutlich ein Gift auf Cumarinbasis aufgenommen hat.«

»Was heißt das?«, fragte Chiara.

»Rattengift«, erklärte Dr. Vogel und wandte sich an Max. »Sie hatten gesagt, dass rund um Ihr Wohnhaus keine Ratten mit Gift bekämpft werden. Auch ist es normalerweise so, dass bei solchen Bekämpfungsaktionen Schilder ausgehängt werden müssen, und die hat es ja wohl nicht gegeben. Außerdem muss das ausgelegte Rattengift in speziellen Köderboxen untergebracht sein, damit es für Haustiere nicht gefährlich werden kann. Die Menge, die der Hund aufgenommen hat, ist sehr groß. Es ist viel mehr, als in den üblichen Köderportionen für Ratten vorhanden ist. Daher meine ich, dass Sie recht haben könnten mit Ihrem Verdacht. Jemand muss bewusst eine Giftmenge präpariert haben, die einem Hund gefährlich werden kann.«

»Ich wusste es!«, fuhr Max auf und schlug die Faust in die Handfläche.

Chiara schüttelte angewidert den Kopf. »Wer tut so was Perverses?«

»Es gibt Tierfeinde«, antwortete die Studentin. »Die stört das Gebell des Hundes, oder dass die Katze durch die Gemüsebeete streift. Und schon legt der hinterhältige Nachbar Gift aus.«

»Aber eure Nachbarn sind doch eigentlich ganz okay?«, fragte Chiara an Max gewandt.

Max starrte vor sich hin. »Die waren das auch nicht!«

»Wer dann? Hast du einen Verdacht?«

»Erzähl ich dir später«, flüsterte Max.

»Sie können natürlich Anzeige bei der Polizei erstatten«, erklärte Dr. Vogel. »Allerdings zeigt die Erfahrung, dass da nicht viel bei herauskommt, wenn man so jemanden nicht gerade auf frischer Tat ertappt.«

»Auf welche Weise wirkt dieses Gift?«, fragte Chiara.

»Das Gift setzt die Gerinnungsfähigkeit des Blutes so stark herab, dass es durch die Wände der Adern austritt, und zwar in so großen Mengen, dass das Tier innerlich verblutet«, erklärte die Studentin. »Alle modernen Rattengifte wirken so. Es hat zum einen den Vorteil, dass das Tier nicht sofort stirbt. Dadurch merken die anderen Ratten nicht, dass eine von ihnen Gift gefressen hat und Symptome zeigt. Sie würden sonst den Köder meiden. Zum anderen kann man Vitamin K, das die Gerinnungsfähigkeit wiederherstellt, als Gegengift spritzen, wenn ein anderes Tier das Gift irrtümlich aufgenommen hat.«

»Und das haben sie jetzt bei Schorsch gemacht?«, wollte Chiara wissen.

Die Studentin nickte. »Wir werden jetzt in bestimmten Abständen sein Blut untersuchen, um festzustellen, wie es wirkt. Auch bekommt er Infusionen, damit wir die Flüssigkeit ausgleichen können, die er durch die inneren Blutungen verloren hat.«

»Das heißt, er ist über den Berg?«, fragte Chiara.

Dr. Vogel verzog skeptisch die Mundwinkel. »Noch nicht ganz. Es kommt immer darauf an, ob man das Gegengift rechtzeitig verabreichen konnte und der Hund nicht zu viel Blut verloren hat. Außerdem dauert es eine Weile, bis es wirkt.«

Chiara nickte besorgt. »Wie geht es jetzt weiter mit Schorsch?«

»Er bleibt auf jeden Fall über Nacht hier. Wir haben ihn ruhig gestellt und beobachten, ob und wie die Behandlung anschlägt«, erklärte der Tierarzt.

Max nickte. Ein kleines, warmes Flämmchen Hoffnung entzündete sich in ihm. »Kann ich hier bei ihm bleiben?«, fragte er.

Die Studentin lächelte. »Nein, das ist nicht üblich! Sie können ja auch jetzt nichts mehr für ihn tun. Rufen Sie morgen früh an, dann sagen wir Ihnen, wie er die Nacht überstanden hat.«

Max wollte protestieren, doch Chiara zog ihn am Arm mit sich. Sie verabschiedete sich höflich von den Ärzten und Max grinste ein wenig unbeholfen.

Als sie die Klinik wieder durch die Glastür verlassen wollten, wurden sie aufgehalten. Ein Mädchen mit einer rötlichen Helmfrisur rief ihnen von einem Tresen aus nach: »Moment, Sie müssen noch bezahlen!«

»Aber wir kommen morgen noch einmal«, erklärte Chiara.

Das Helmmädchen schüttelte energisch den Kopf. »Es muss immer gleich bezahlt werden. Die Behandlung von morgen bezahlen Sie dann morgen!« Sie nannte einen Betrag, der für Max im Umfang eines Jahrestaschengeldes lag. »Bar oder mit Karte?« Zwei mandelförmig geschminkte Augen fixierten ihn herausfordernd.

Max schluckte und sah Chiara an. Die runzelte die Stirn, dann war sie mit zwei Sätzen an der Tür. Max überlegte gerade, ob es klug war, sich dem Fluchtversuch anzuschließen, wenn doch Schorsch als Pfand hier lag, als er Chiaras helle Stimme rufen hörte: »Onkel Ernst, kannst du mal kommen?«

Max sah verblüfft zu, wie der alte Köhler ein edel glänzendes Lederportemonnaie öffnete, in dem sich in verschiedenen Farben wohl sortiert die Scheine auffächerten. Er legte das Gewünschte auf den Tresen und ging wortlos wieder hinaus zum Auto.

»Er hat mir schon öfter mal ausgeholfen. Er ist eine gute Seele. Ich glaube, wir sind so was wie Familienersatz für ihn«, erklärte Chiara.

»Dann stehst du also mit noch mehr bei ihm in der Kreide?«, fragte Max misstrauisch.

Chiara kicherte. »Guck doch nicht so böse! Er bekommt alles schnell zurück. Das weiß er. Das ist doch jetzt wirklich kein Ding. Die paar Kröten!«

Max lächelte bitter. »Für dich vielleicht! Und warum nennst du den alten Köhler eigentlich Onkel Ernst?«

Chiara rollte die Augen. »Weil ich ihn kenne, seit ich nach Modertal gekommen bin. Da war ich vier. Er hat schon Haus und Garten versorgt, als ich noch gar nicht da war. Michelle, Maurice und ich haben immer Onkel Ernst zu ihm gesagt.

»Und er nennt dich Fräulein Plati? Wie passt das zusammen?«

Sie grinste. »Nur wenn Besuch in der Nähe ist, sonst sagt er Chiara. Was hast du gegen ihn?«

»Irgendwie ist er mir unheimlich. Aber seit heute bin ich ihm sehr dankbar. Ohne ihn hätten wir das mit Schorsch nicht so schnell geschafft.«

»Gut, werde ich ihm ausrichten!«, sagte Chiara und schob Max zur Tür hinaus.

Wenig später knieten Max und Chiara nebeneinander auf dem Tigerfell und betrachteten die vier Briefe, die Max auf dem Boden vor ihnen ausgebreitet hatte. Um sie ihr zu zeigen, hatte er vor Chiaras Augen das Tagebuch aus dem Tigerversteck gekramt.

Nachdenklich betrachtete Chiara die Briefbögen. »Es sieht aus, als seien die von verschiedenen Personen verfasst worden. Das Papier ist anders und auch die Wortwahl ist sehr unterschiedlich.«

Max wiegte den Kopf. »Aber im Prinzip ist es immer die gleiche Botschaft! Vielleicht ist es eine Person, die sich absichtlich verstellt, damit ich denke, es seien mehrere.«

Chiara kniff die Augen zusammen. »In welcher Reihenfolge hast du die Briefe bekommen?«

Max zog zwei zerknitterte Blätter heran. »Die beiden steckten in blauen Umschlägen und lagen am 25. und am 29. Dezember bei uns im Briefkasten. In jedem steht derselbe Satz. Meine Oma hat sie mir gebracht, weil außen Für Max draufstand.«

Chiara wendete die Papiere hin und her. Der Rand war ausgefranst, weil sie unsauber aus einem Spiralblock herausgerissen waren. »So was hat jeder Schüler«, stellte sie fest. »Und dieser hier hat eine Kinderschrift und ziemliche Probleme mit der Rechtschreibung!«

Max nickte bestätigend und las die Briefe noch einmal.

Hör auf damit Moriz zu sein sonz pasiert dir das Selbe.

Dann nahm er den nächsten und legte ihn vor Chiara hin. »Der lag in einem gefütterten weißen Umschlag am 03. Januar bei uns im Briefkasten. Außen stand in spitzer Schrift drauf: Für Maximilian Wirsing. So ähnlich schreibt meine Oma. Diesmal sind es Druckbuchstaben und es sieht so aus, als würde der Schreiber oder die Schreiberin sonst Schreibschrift schreiben und hätte versucht, seine Schrift zu verstellen.«

Chiara nickte. »Ich finde auch, es sieht aus wie von einem älteren Erwachsenen, und der hat keine Probleme mit der Orthografie.« Sie las vor:

Halt dich fern von den v. Bentheims, sonst passiert was!

»Hast du den Umschlag noch?«, wollte Chiara wissen.

Max schüttelte den Kopf. »Habe ich weggeschmissen. Aber ich erinnere mich noch, dass Maximillian nur mit einem ›l‹ geschrieben war.«

Max musterte Chiara von der Seite. Ihre Augen glitten Buchstabe für Buchstabe über den Text. Sie biss sich dabei auf die Unterlippe. Max beugte sich dicht neben ihr über das Papier und tat es ihr unbewusst gleich. Die Botschaft war mit einem schmierigen Kugelschreiber geschrieben worden. Auch die kleinen m’s und n’s innerhalb der Worte waren spitz ausgezogen wie Großbuchstaben. Die Buchstaben kippten in verschiedene Richtungen. Das schien kein geübter Schreiber gewesen zu sein. Max bemerkte, dass Chiaras Wangen rot glühten. »Kommt dir die Schrift bekannt vor?«, fragte er.

Chiara schüttelte den Kopf. Es war nur eine angedeutete Bewegung. In ihrem Gesicht las er leichte Bestürzung.

»Hast du einen Verdacht?«, hakte er nach.

»Nein«, sagte Chiara mit spröder Stimme, schob den Brief zur Seite und zog den nächsten heran. Max betrachtete sie misstrauisch.

»Der ist mit dem PC geschrieben«, stellte sie mit belegter Stimme fest und las vor:

Hör auf mit der erbärmlichen Show! Du bist nicht Maurice, sondern nur ein verkleideter Emo! Bald bist du dran!

Chiara tippte mit dem Finger auf ein Wort. »Er beschimpft dich als Emo. Das machen wohl in der Regel Typen, die sich selbst für coole Macker halten. Da fallen mir eine Menge ein.«

Max hob die Brauen. »Meinst du jemanden aus unserer Klasse?«

Chiara runzelte die Stirn. »Möglich. Aber es kann auch ganz woanders herkommen.«

Max nickte. »Kommen die Briefe jetzt von ein und derselben Person oder haben sie unterschiedliche Absender?«

Chiara hatte plötzlich eine Miene, wie eine Schülerin, die ihre Hausaufgaben vorträgt. »Ich denke, es waren verschiedene Personen. Nur die ersten beiden sind eindeutig vom selben Verfasser. Die anderen Briefe haben nur scheinbar die gleiche Botschaft. Wenn man genauer hinschaut, steckt bei jedem etwas anderes dahinter. Die ersten beiden kommen von jemandem, der fürchtet, du kommst auch ihm zu nahe, wenn du Maurice kopierst. Der vierte klingt neidisch. Er will dich klein machen und dir eins auswischen.«

»Und der dritte?«, fragte Max und beobachtete Chiara aufmerksam.

Chiara zuckte mit den Schultern. »Der fällt eigentlich ganz aus der Reihe. Er bezieht sich ja gar nicht nur auf Maurice, sondern auf die ganze Familie.«

Max sah Chiara herausfordernd an. »Auf deine Familie!«, betonte er.

In Chiaras Augen schimmerten Tränen. Sie starrte auf die Briefe und zuckte mit den Schultern. »Wer von denen ist denn überhaupt meine Familie? Gero ist nicht mein Vater, auch wenn er mich verwöhnt, wo er kann. Mit Geld, Geld, Geld. Franca ist meine echte Mutter, aber sie zieht ihre kleine, süße, schlanke Michelle der hässlichen, runden Chiara eindeutig vor. Ist ja auch klar. Michelle ist das Kind, mit dem sie alle Zeit der Welt verbringen konnte. Als ich klein war, hat sie studiert und gearbeitet und von mir eigentlich gar nichts mitbekommen. Ich war hauptsächlich bei meiner Oma in Monza.«

Max nickte. Vorsichtig fragte er: »Und Maurice?«

Chiara lachte bitter auf. »Maurice war der große Familienstar. Für Gero war er der Firmenerbe. Für Franca und Michelle war er Geros Sohn, der Kronprinz, auf den man nichts kommen lassen durfte. Manchmal denke ich, es wäre besser, ich würde von hier weggehen. Mich will hier eh keiner.«

»Das stimmt nicht!«, protestierte Max leise und sein Gesicht übergoss sich sofort mit brennender Röte.

Chiara betrachtete ihn lächelnd. In ihren Wimpern schimmerten Tränen. Sie beugte sich vor, schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Max erstarrte und war nicht in der Lage, ihren Kuss zu erwidern. Chiara löste sich wieder von ihm und sah ihn an. Max räusperte sich. Scheu begegnete er ihrem Blick. »Ich bin nicht so der Knutsch-Profi«, erklärte er.

Chiara kicherte. Max grinste wie ein Schüler, der sich für die nicht erledigten Hausaufgaben entschuldigt. »Ich möchte, dass du hier bleibst, damit wir oft zusammen sein können. Mit dir ist es nämlich, äh, ehem …« Als ihm nichts mehr einfiel, schlang er die Arme um sie und zog sie fest an sich. Er spürte ihr Gesicht in seiner Halsbeuge. Dort wurde es feucht und warm.

»Wo sollte ich auch hingehen?«, vibrierte ihre Stimme unterhalb seines Ohres. »Ich hatte mir so sehr gewünscht, dass mein leiblicher Vater eine echte Alternative wäre. Ich hatte mir ausgemalt, wie er mich aufnimmt in seiner Familie und froh ist, mich zurückzuhaben. Er hat sich ja auch echt Mühe gegeben, aber … ich gehöre da einfach nicht hin.«

Max schluckte und flüsterte: »Das kann ich gut verstehen. Ich weiß plötzlich auch nicht mehr, wohin ich gehöre.«

Chiara hob den Kopf und löste sich ein wenig aus seiner Umarmung, sodass sie Max in die Augen schauen konnte: »Maurice hat mal gesagt, wohin man gehört, hat nichts damit zu tun, woher man kommt, sondern damit, wohin man selber gehen möchte.«

Max runzelte die Stirn. »Wann hat er das gesagt?«

Um Chiaras Mundwinkel zuckte es bekümmert. »Es war irgendwann in den Wochen vor seinem Tod. Er war in der Zeit so … anders.«

»Wie anders?«, fragte Max.

Chiara wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Manchmal ganz traurig und in sich gekehrt. Dann konnte man ihn überhaupt nicht ansprechen. Dann wieder kam er an und war so … so unglaublich lieb wie noch nie. Er fragte mich, ob ich Lust hätte mit ihm ins Kino zu gehen, oder er schenkte mir plötzlich seinen iPod, auf den er mir meine Lieblingsmusik geladen hatte. Dann wieder gab es Tage, da war er völlig aufgekratzt, absolut der Siegertyp und dementsprechend ekelhaft zu mir. Da hätte man meinen können, dass er was eingenommen hat. Aber das stritt er ab und rastete völlig aus, wenn ich ihm so was unterstellte.«

»Kannst du dich an einen Zeitpunkt erinnern, ab dem er sich so veränderte?«, fragte Max.

Chiara zuckte mit den Schultern. »Es war irgendwann im Frühjahr oder Anfang des Sommers 2011. Ich erinnere mich noch, wie ich ihn im Garten sitzen sah. Er starrte eine ganze Stunde lang vor sich auf den Weg und malte mit einem Stöckchen Striche in den Kies. Ich ging zu ihm und fragte, ob er Stress mit Annalena hat und ob ich mal mit ihr reden soll. Da fuhr er hoch und schrie mich an, dass ich ihn in Ruhe lassen soll. Er hätte andere Sorgen, aber ich mit meinem kleinen Zickenhirn könnte mir die Probleme der Welt nur mit lächerlichem Liebeskummer erklären.«

»Das war heftig!«, kommentierte Max.

Chiara nickte. »Ja! Und es traf mich auch völlig unerwartet. Am Tag vorher war alles besonders gut gelaufen zwischen uns. Wir hatten in meinem Zimmer gesessen, Tee getrunken und waren uns so richtig einig gewesen, dass Gero manchmal ein ziemliches Arschloch sein kann. Maurice hat mir erzählt, wie sehr ihm Gero damit auf die Nerven geht, dass er mal die Firma erben und deshalb unbedingt BWL studieren soll. Maurice hat es enorm gestunken, dass Gero wegen jeder schlechten Note in der Schule so einen Tanz veranstaltet und ihn zur Nachhilfe schickt, sobald er irgendwo eine Drei schreibt. Ich habe Maurice damals erzählt, wie blöd ich mich dabei fühle, dass Gero von mir immer verlangt, Maurice in der Schule zu helfen. Maurice hat sich auf die faule Haut gelegt, und ich habe ihn meine Hausaufgaben abschreiben lassen, weil ich ein schlechtes Gewissen bekam, wenn er Ärger in der Schule hatte. An dem Tag damals hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass Maurice mich versteht. Er entschuldigte sich dafür, dass er sich auf meine Kosten seine guten Noten hereinholt. Und dann am nächsten Tag im Garten war er plötzlich wie ausgewechselt.«

»Gab es in der Zeit denn irgendeinen Vorfall, der seinen Stimmungsumschwung erklären könnte? Etwas, das du vielleicht nicht unbedingt gleich damit in Zusammenhang gebracht hast?«, forschte Max weiter.

Chiara dachte sichtbar angestrengt nach. »Es gab etwas«, sagte sie dann plötzlich. »Es war an dem Tag, an dem wir uns so gut verstanden hatten. Wir waren in mein Zimmer gegangen, weil wir vorher einen Streit belauscht hatten. Einen Streit zwischen Gero und einer Frau. Sie hatten sich lautstark in der Wolle. Maurice und ich standen draußen im Flur und hörten zu. Plötzlich war der Streit zu Ende. Die Frau war so schnell aus Geros Arbeitszimmer herausgekommen, dass Maurice und ich gar nicht mehr in Deckung gehen konnten. Sie hatte uns mit so einem irren Blick angestarrt. Völlig außer sich war sie gewesen. Sie hatte auf Maurice gedeutet und geschrien: ›Und mit dem werde ich auch noch reden. Das können Sie mir nicht verbieten!‹ Dann war Gero ihr hinterher gekommen. Er hatte sie am Arm gepackt und getobt: ›Untersteh dich, du alte Hexe!‹ Die Frau hatte böse gelacht, sich losgerissen und war davongelaufen. Wir fragten Gero, was die Frau von ihm gewollt hatte. ›Geld, was sonst‹, hatte er gebrüllt. Dann knallte er die Tür zu. Das heißt, nein, erst noch schrie er Maurice an: ›Egal, was diese Hexe dir erzählt, glaub ihr kein Wort. Alles Lüge!‹ Gero verschwand also in seinem Zimmer. Maurice und ich standen draußen auf dem Flur und sahen uns an. Dann gingen wir in mein Zimmer und redeten über Gero. Dass er sich nicht wundern muss, wenn er mit den Leuten Ärger wegen Geld bekommt, weil er ja auch alles über Geld regelt und so.«

»Weißt du, wer die Frau war?«, fragte Max.

Chiara schüttelte den Kopf. »Ich hatte sie vorher noch nie gesehen und danach auch nicht mehr. Sie war alt, so etwa wie deine Oma. Graues, zu einem ziemlich unordentlichen Knoten hochgestecktes Haar, aus dem die Fransen heraushingen. Sie sah wirklich wie eine alte Wetterhexe aus.«

»Und in dem Streit mit ihr ging es um Geld. Das habt ihr gehört?«

Chiara stöhnte auf. »Es ist schon so lange her. Wir waren ja auch erst später dazugekommen. Maurice hatte vielleicht ein bisschen mehr gehört als ich, denn er stand bereits lauschend auf dem Flur, als ich kam. Er gab mir Zeichen, still zu sein und deutete auf die Tür. Da stellte ich mich neben ihn und hörte ebenfalls zu.«

»Und was hast du gehört?«

»Eigentlich nur zusammenhangloses Zeug.«

»Kannst du dich an einzelne Worte erinnern?«

Chiara starrte vor sich hin. »Ich kann mich nur erinnern, dass sie Gero mit irgendetwas gedroht hat, denn er schrie: ›Sie haben doch gar keine Beweise!‹ Und sie kicherte wirklich wie eine Hexe und rief: ›Seien Sie sich da mal nicht so sicher.‹ Und dann sagte sie so etwas in der Art, dass sie eine Schicksalsgöttin wäre. Ich dachte damals, dass die Alte sie wirklich nicht alle an der Waffel hat. Sie redeten so wild aufeinander ein, man konnte gar nicht alles verstehen. Nur Wortfetzen. ›Tod‹, sagte sie und ›höhere Gerechtigkeit‹. Und dann plötzlich schrie Gero sie an: ›Was hast du getan, du alte Hexe?‹ Und sie kicherte wieder. Ziemlich laut, weil sie da wahrscheinlich schon nah an der Tür stand, um rauszugehen. ›Das möchtest du jetzt gerne wissen‹, meckerte sie mit fürchterlicher Stimme. ›Knöchlein oder Fingerchen? Eigentlich weißt du doch, wie du das herausfinden kannst. Nur zu!‹ Daraufhin brüllte Gero wie ein verletzter Stier und wollte wohl auf sie los, aber sie entwischte durch die Tür. Er hinterher. Ja, so ungefähr war das. Aber wieso reden wir da jetzt eigentlich drüber?«

Max holte hörbar Luft. »Weil es vielleicht doch etwas gibt, was mit Maurice’ Tod in Verbindung stehen könnte. Vielleicht hatte dieser Streit ja etwas damit zu tun.«

Chiara schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Maurice und ich hatten uns eher über diese komische Alte amüsiert, die es da mit dem großen Gero von Bentheim aufnehmen wollte. Da war nichts, was Maurice deprimiert hätte. Maurice wurde ja auch erst am nächsten Tag so merkwürdig.«

»Knöchlein oder Fingerchen?«, flüsterte Max. »Woher kenne ich diesen Spruch?«

Chiara lächelte wehmütig. »Ganz einfach. Grimms Märchen. Hänsel und Gretel. Die Hexe kommt täglich an den Stall, in dem sie Hänsel eingesperrt hat. Sie will testen, ob er bald fett genug ist, damit sie ihn braten und essen kann. Weil sie schlecht sieht, muss er ihr seinen Finger durch das Gitter hinhalten. Doch Hänsel ist schlau, er steckt nur ein abgenagtes Knöchlein durch das Gitter und die Hexe findet, dass Hänsels Finger zu knochig und dünn ist.«

Max lachte versonnen auf. »Ja, jetzt weiß ich es wieder. So hat mir meine Oma das auch erzählt. Sie war eine große Märchenerzählerin. Aber was wollte diese alte Frau Gero mit diesem Spruch sagen? Er scheint ja verstanden zu haben, was sie damit meinte, sonst wäre er nicht so ausgerastet.«

Chiara zuckte mit den Schultern. »Es ist eine Andeutung auf eine Täuschung. Dass man jemandem durch eine Verwechslung etwas vormacht.«

Max nickte. »Und was kann das sein?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte Chiara.

Max kniff die Augen zusammen. »Aber es muss etwas mit Maurice zu tun gehabt haben, sonst hätte sie nicht angedroht, dass sie mit ihm auch noch reden wird. Was, wenn sie das am nächsten Tag tatsächlich getan hat?«

Chiara schüttelte den Kopf. »Was sollte so eine verrückte Alte mit Maurice zu reden gehabt haben? Schon gar nichts, das ihn in eine depressive Stimmung bringt und ihn in den Selbstmord treibt.«

»Und wenn sie etwas anderes gewusst hat? Wenn sie Maurice etwas verraten hat und er deshalb umgebracht wurde?«, spekulierte Max.

Chiara stöhnte. »Nicht schon wieder, Max! Es war Selbstmord! Warum auch immer.«

»Zu dem er per SMS bestellt wurde?«, konterte Max.

Chiara sah ihn verblüfft an und er berichtete ihr, was er von Annalena erfahren hatte.

Danach war Chiara sichtlich durcheinander. »Diese blöde Kuh? Warum rückt sie damit jetzt erst heraus?«

»Sie hatte Angst und macht sich Vorwürfe«, erklärte Max.

Chiara betrachtete ihn misstrauisch. »Du nimmst sie auch noch in Schutz? Glaubst du ihr das mit dem Handyklau etwa?«, fauchte sie.

Max zuckte mit den Schultern. »Warum denn nicht? Sie verliert doch ständig etwas. Aber vielleicht hat auch jemand gezielt ihr Handy geklaut und Maurice zur S-Bahn hinbestellt.«

Chiara sah auf. »Und die Polizei konnte nicht herausfinden, wer das gewesen ist?«

»Nein. Das Handy wurde danach nie wieder eingeschaltet.«

Chiaras Lippen zitterten. »Ich will nicht, dass das alles wieder von vorne losgeht. Hör auf damit, weiter nachzuforschen! Es nützt keinem!« Sie deutete auf die Briefe, die vor ihr lagen. »Viel wichtiger ist es doch, herauszufinden, wer von denen der Giftmischer war.«

Max’ Augen wanderten über die Briefe. »Auf wen tippst du?«

Chiara antwortete sofort: »Nummer eins, zwei oder Nummer vier.«

»Und warum nicht Nummer drei?«, fragte Max.

»Das ist etwas anderes«, sagte sie.

Es dämmerte bereits, als Chiara sich auf den Heimweg machte. Max’ Angebot, sie zu begleiten, hatte sie kurz angebunden abgelehnt. Sie hätte heute noch einiges vor. Der milde Wind trieb ihr feine Regentropfen ins Gesicht. Wie die dunklen Wolken im dämmrigen Winterhimmel zogen die Gedanken durch ihren Kopf. Mal lösten sie sich in kleine Portionen auf, mal ballten sie sich zu einem dicken Knäuel zusammen oder bildeten einen grauen, undurchdringlichen Teppich. Sie brauchte Klarheit und die würde sie sich verschaffen. Zunächst einmal auf eigene Faust. Max konnte sie später einweihen, dann, wenn sie wusste, wer hier eigentlich, welches Spiel spielte.

Der alte Köhler griff nach der Axt, die vor dem Gartenschuppen in einem Hackklotz steckte. Seine knochigen, von blauen Adern durchzogenen Hände umfassten den Holzgriff. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich der sorgfältig gestrichenen Holztür, die einen Spalt offen stand. Der Schlüssel steckte. Es war der Schlüssel, der sonst am Schlüsselhaken im Kellerabgang des Wohnhauses hing. Wer immer sich hier Zutritt verschafft hatte, der war auch im Haus gewesen!

Im Schuppen fiel etwas polternd zu Boden. Scherben klirrten. Eine Mädchenstimme fluchte. Köhler ließ die Axt sinken und trat ein. »Was um alles in der Welt machst du hier?«, schimpfte er und betätigte den Lichtschalter. Eine mit Draht vergitterte Deckenlampe flackerte auf und tauchte das Innere des Raumes in gelbliches Licht.

Chiara fuhr zusammen und hob den Kopf. Ihre dunklen Locken klebten wirr im erhitzten Gesicht. »Siehst du doch, ich suche etwas Bestimmtes.«

Köhler atmete geräuschvoll aus. Mit milderer Stimme fragte er: »Was suchst du denn? Kann ich helfen?«

Chiara klang nach wie vor aufgebracht. »Das Meerschweinchenhäuschen, das du mal für Michelle und mich gebastelt hast. Du weißt doch, es stand in dem Freigehege draußen. Es hatte sogar eine Tür, die man nachts mit einem Riegel verschließen konnte.«

»Hat nichts genutzt«, brummte Köhler. »Die Katze hat es trotzdem eines Tages aus dem Gehege geholt.«

»So habt ihr das Michelle erzählt. So war es aber nicht.«

Köhler sah auf. »Ach ja, und wie war es dann?«

»Maurice hat es mit Geros Kleinkalibergewehr abgeknallt.«

»So, hat er das?«, brummte Köhler.

»Ja, hat er«, fauchte Chiara. »Maurice war so blöd, mir das eines Tages auch noch stolz zu erzählen. Vielleicht hoffte er sogar, ich würde es Michelle verraten, nur um sie noch nachträglich damit zu quälen. Ein Quäler war er.«

»Über Tote redet man nicht schlecht«, sagte Köhler mit müder Stimme.

In Chiaras Gesicht entstand ein bitteres Lächeln. »Egal, was Maurice oder Gero angestellt haben, du hast sie immer gedeckt. Warum eigentlich?«

»Das bildest du dir ein, und jetzt komm endlich da heraus!«, forderte er.

»Nicht bevor ich dieses Häuschen gefunden habe«, entgegnete Chiara und machte sich weiter daran, die Regalbretter abzusuchen und Behälter und Geräte beiseite zu schieben.

Köhler hustete rasselnd, dann sagte er: »Ich habe es auseinandergenommen. Es liegt oben auf dem Regal.«

Chiara sah in die Richtung, in die Köhler mit dem Kopf gedeutet hatte und zog sich einen alten Gartenstuhl heran, um auf ihn drauf zu klettern.

Köhler trat einen Schritt nach vorne. »Nicht! So brichst du dir den Hals, Mädchen!« Er schob Chiara beiseite, klappte eine Leiter auf, erklomm zwei Stufen und nahm einige Holzteile vom obersten Regalbrett, die er an Chiara weiterreichte. Sie musterte eines nach dem anderen kritisch und legte sie neben sich auf dem Boden ab. Als Köhler die Leiter wieder weggeräumt hatte, stand Chiara vor ihm und hielt die hölzerne Giebelwand des Häuschens hoch. Eine kleine Tür klappte auf. Über dem Eingang war mit schwarzen, zackigen Pinselstrichen der Name des tierischen Bewohners angebracht.

»Maximilian Meerschwein«, las Chiara laut vor und sah Köhler herausfordernd an.

»Ja«, bestätigte Köhler. »Michelle wollte unbedingt, dass ich den Namen über die Tür schreibe. Erinnerst du dich nicht?«

»Doch«, bestätigte Chiara heftig nickend. »Und wie ich mich erinnere! Das ist ja das Problem.« Tränen strömten über ihr Gesicht und Köhler betrachtete sie verständnislos. »Maximillian wird mit zwei ›l‹ geschrieben!«, schrie Chiara. »Warum hast du das getan? Warum?«

Köhler betrachtete sie, als zweifle er an ihrem Verstand. »Ein Schreibfehler. Ich wusste das nicht. Was ist daran so schlimm, dass du jetzt so ein Theater deswegen machst? Hast du etwas genommen? Wo warst du überhaupt vorhin? Doch hoffentlich nicht bei diesem Max?«

Chiara warf das Holzbrett auf den Boden, sodass die kleine Tür abbrach. Sie trat noch einmal darauf und schrie: »Oh doch. Ich war bei Max! Und ich werde auch weiter bei Max sein, egal ob das Gero und dir passt oder nicht. Was habt ihr überhaupt gegen ihn?«

Köhlers Gesicht wirkte gequält. Er bemühte sich um einen ruhigen Ton. »Gero möchte nicht, dass du dich mit ihm triffst. Er hält ihn für schlechten Umgang.«

Chiara lachte böse auf. Aus schmalen Augen funkelte sie Köhler an. »Schlechter Umgang? Und deshalb hast du seinen Hund vergiftet? Hat Gero dir das aufgetragen?«

Köhlers Gesicht wirkte mit einem Mal grau wie Asche. »Was denkst du von mir? Das war ich nicht! So etwas würde ich nie tun.«

Chiara musterte den alten Mann aufmerksam. Seine Bestürzung schien echt. Leise und traurig sagte sie: »Warum hast du ihm aber diesen Brief geschrieben? Das kannst du nicht abstreiten! Ich habe deine Schrift erkannt und ich habe mich erinnert, wie sehr Franca sich damals amüsiert hatte, dass der Name falsch geschrieben war. So ist sie nun mal, meine perfekte Mutter.«

Köhler sah zu Boden. »Gero sagte, ich soll dafür sorgen, dass dieser Max nicht in deine Nähe kommt. Und dann, als du in Sizilien warst, da ist er mit so einem kleinen Asozialen vom Harzerpfad hier herumgeschlichen. Frech geworden ist er auch noch zu mir. Ich wollte ihm einen Schrecken einjagen. Darum habe ich den Brief geschrieben.«

Chiara nickte. »Machst du eigentlich immer alles, was Gero sagt?«

Köhlers Gesichtszüge erstarrten zu einer Maske. »Wenn du wüsstest!«, sagte er mit spröder Stimme.

»Dann erzähl mir, was du weißt!«, forderte Chiara.

Köhler schüttelte unmerklich den Kopf. Er wandte sich um und ging nach draußen. Chiara folgte ihm. Er lehnte an der Wand des Schuppens und zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten mehr als sonst. »Ich finde auch, es wäre gut, wenn du keinen Kontakt mit diesem Max hättest.«

Chiara zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Hals und stemmte die Hände in die Taschen. Die feuchte Abendkälte kroch durch alle Nähte. Die Rauchschwaden der Zigarette brannten ihr in den Augen. Aber Chiaras Tränen strömten noch aus einem anderen Grund über ihr Gesicht.

Hier draußen war es zu dunkel, als dass Köhler es bemerkt hätte. Sein Gesicht glühte ab und zu auf, wenn er an der Zigarette zog. Dann erkannte Chiara die Gesichtszüge eines alten, traurigen Mannes und nicht die eines hinterhältigen Giftmischers. »Onkel Ernst?«, begann Chiara vorsichtig.

»Was ist?«, fragte er.

»Damals, als Maurice geboren wurde, da warst du doch auch schon hier im Haus.«

Es dauerte ein paar Zigarettenzüge, bis er antwortete. »Ich hab 1999 als Gärtner hier angefangen. Damals war ich 54. Vorher habe ich in Geros Firma als Buchhalter gearbeitet. Doch dann kam ein Herzinfarkt. Ich musste aufhören und bin ihm sehr dankbar, dass ich hier als Gärtner weitermachen durfte und meine Rente aufbessern konnte. Im Haus war ich anfangs nie, obwohl meine Frau schon seit Jahren dort geputzt und den Haushalt versorgt hat. Du weißt ja, wie misstrauisch Gero ist. Wenn ich mit Margit sprechen wollte, ist sie heraus zu mir in den Garten gekommen.«

»Dann war deine Frau 1997 im Haus, als Maurice geboren wurde?«

Köhler nickte im Schein der Glut.

Chiara beobachtete ihn aufmerksam. »Deine Frau hat dir doch bestimmt von der Geburt erzählt. Vielleicht war sie sogar dabei?«

»Sie war nicht dabei«, antwortete Köhler unerwartet schnell. »Ich sagte doch schon, sie arbeitete als Haushälterin und nicht als Hebamme.«

»Aber die Hebamme kannte sie oder?«

»Das war Brigitte Wiesner. Die hatte ihr Haus ganz in der Nähe von uns in der Modertal-Siedlung.«

»Und? Hat sie deiner Frau etwas über die Geburt erzählt?«

Köhler stöhnte auf. »Was weiß ich? Was Frauen sich halt so erzählen, wahrscheinlich ja. Aber warum willst du das alles wissen?«

»Das weißt du doch«, pokerte Chiara. »Du weißt, warum ich danach frage, ob es damals bei Maurice’ Geburt nichts Ungewöhnliches gab. Du weißt, warum Gero einen Jungen, der Maurice verdammt ähnlich sieht, nicht in der Nähe seiner Familie haben will. Du weißt vielleicht sogar, warum Maurice gestorben ist. Du weißt –«

»Schluss!«, unterbrach Köhler sie. Er warf seine Zigarette zu Boden und trat sie aus. Er drängte Chiara beiseite und verschwand im Eingang des Schuppens. Dort löschte er das Licht, schlug die Tür zu und schloss sie geräuschvoll ab. Dann machte er sich mit ausladenden Schritten auf den Weg zum Wohnhaus.

Chiara hatte Mühe, ihm zu folgen. »Du weißt etwas und du musst es mir sagen. Bitte! Ich will –«

Köhler stieß einen Laut aus, der wie das Knurren eines Hundes klang. »Was du willst, interessiert mich nicht. Und ich, ich will nur noch eines: ein paar gute letzte Tage bis mich entweder der Krebs holt, wie er meine Frau geholt hat, oder der nächste Infarkt. Aber bis dahin will ich vor allem meine Ruhe und ein gutes Leben.«

»Das Gero dir bezahlt«, zischte Chiara.

Abrupt blieb Köhler stehen und fasste Chiara hart an den Schultern, sodass sie es selbst durch die dicke Jacke schmerzhaft spürte. »Jetzt hör mir mal zu, Mädchen! Ja, er bezahlt. So ist das im Leben. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, und am Schluss gibt es immer eine Rechnung, die beglichen werden muss. Und es ist gut und gerecht, wenn der zahlt, der den Schaden verursacht hat. Und dir gebe ich einen gut gemeinten Rat. Hör auf, in der Vergangenheit herumzuschnüffeln. Das macht die Toten auch nicht wieder lebendig und macht nichts wieder gut. Im Gegenteil. Und diesen Rat kannst du auch an deinen Freund weitergeben. Er tut gut daran, sich hier nicht blicken zu lassen, und zwar in seinem eigenen Interesse!« Köhler ließ sie los und lief zügig weiter.

Chiara sah der dunklen Gestalt nach, die sich von ihr entfernte und schließlich in dem Kellerabgang verschwand, der zu Köhlers Räumen führte.

In der Nacht ließ der Sturm die Rollläden klappern. Chiara wälzte sich unruhig hin und her. Plötzlich setzte sie sich auf. Da gab es noch ein anderes Geräusch. Dumpf und blechern. Chiara wusste sofort, was es war. Jemand musste unten im Flur gegen die große metallene Bodenvase gestoßen sein. Jemand, der sich dort im Dunkeln bewegte, weil er durch Licht nicht auf sich aufmerksam machen wollte. Chiara schlich hinaus ins Treppenhaus und lauschte. Eine Tür wurde leise geschlossen. Dann war nichts mehr zu hören. Chiara schlich auf Strümpfen die Treppe hinab und lief durch den Flur in Richtung der Vase. Sie erschrak, als plötzlich ein Lichtschein über ihre Füße huschte. Er kam unter der Tür hindurch aus Geros Arbeitszimmer.

»Gero? Bist du da?«, rief Chiara. Es kam keine Antwort. Beherzt öffnete sie die Tür.

Vor ihr stand Ernst Köhler. Er hielt einen Aktenordner in der Hand. Der Stuhl an Geros Schreibtisch war in seine Richtung gedreht. Offensichtlich hatte er dort gesessen und in dem Ordner geblättert, als Chiaras Stimme ihn aufgeschreckt hatte.

»Was machst du hier in Geros Büro?«, fuhr Chiara ihn an.

Köhler schob den Ordner in eine Lücke im Regal. »Mir war nur etwas eingefallen, was ich nachsehen wollte«, erklärte er.

»Ich glaube nicht, dass es Gero gefallen würde, wenn er wüsste, dass du hier eigenmächtig an seine Unterlagen gehst.«

In Köhlers altem Gesicht entstand ein beinahe komisch wirkender Trotz. »Du musst es ihm ja nicht sagen«, erklärte er und im Hinausgehen fügte er hinzu: »Dann sage ich ihm auch nicht, dass du dich hier mit diesem Max triffst. Eigentlich ist er ein netter Junge, wenn er nicht gerade versucht, sich wie Maurice aufzuspielen.«

Mit einem Satz war Chiara an der Tür und hielt Köhler auf. »Du hältst ihn für netter als Maurice?«, flüsterte sie und sah ihm lauernd in die Augen.

Köhler wich ihrem Blick aus. »Ja«, flüsterte er. »Maurice war zu sehr wie, wie …«

»Gero?«, fragte Chiara.

Köhler nickte, dann schlurfte er davon in Richtung Kellertreppe. Chiara wartete, bis sie die Tür der Souterrainwohnung zuschlagen hörte. Dann trat sie zurück in das Büro und schloss die Tür. Ihre Augen glitten über die Regalwand. Welchen Ordner hatte Köhler inspiziert? Chiara stellte sich vor den Bereich, in dem sie ihn vermutete und las die Beschriftungen. Gero war ein Ordnungsfanatiker. Alles war akribisch aufgelistet und alphabetisch oder nach Jahreszahlen geordnet einsortiert. A wie Artos. Das war Michelles Pferd. In diesem Regal schienen alle privaten Unterlagen zu stehen. Es gab Ordner für Haus, Krankenkasse, aber auch mit Namen beschriftete für Chiara, Franca, Michelle, Maurice. Maurice! Dieser Ordner stand ein wenig hervor. Hier also hatte Köhler nachgesehen. Hatte sie ihn vorhin mit ihren Vermutungen aufgeschreckt? War ihm etwas in den Sinn gekommen, was ihm vielleicht seine Frau damals erzählt hatte und was er jetzt überprüfen wollte? Zu gerne hätte sie gewusst, was das war, aber aus dem Alten würde sie nichts mehr herausbekommen. Seine Reaktion vorhin hatte etwas Endgültiges gehabt. Chiara setzte sich an den Schreibtisch und blätterte in dem Ordner. Er enthielt alle Unterlagen zu Maurice von Geburt an. Es gab eine Geburtsurkunde. Maurice von Bentheim, geboren am 15.02.1997. Wann hatte Max Geburtstag?, schoss es Chiara durch den Kopf. Dann fiel es ihr ein. 1. März. Ich bin ein Märzhase, hatte er einmal gesagt. Zwillinge, deren Geburt zwei Wochen auseinanderliegt. Gibt es das? Eigentlich nicht. Chiara blätterte das Untersuchungsheft durch. Die Daten der Geburt waren eingetragen. 48 cm, 2500 g. Nirgendwo gab es einen Hinweis auf ein zweites Kind. Chiara blätterte weiter. Es gab die Einladung zur Einschulungsuntersuchung, sogar ein Foto vom zahnlosen Maurice am ersten Schultag. Dann Zeugnisse. Dann ein psychologisches Gutachten aus dem Jahr 2001. Maurice schlief schlecht, hatte Angstzustände und nässte nachts ins Bett. Begründet wurde dies mit dem problematischen Gesundheitszustand der Mutter. Die Empfehlung lautete, Maurice solle sich möglichst wenig in der Nähe seiner Mutter aufhalten. Erschwerend sei hinzugekommen, dass die Haushälterin, Margit Köhler, die sich sehr um Maurice gekümmert habe, erkrankt sei. Es wurde die Empfehlung ausgesprochen, eine neue Bezugsperson für Maurice einzustellen.

Chiara blätterte zurück. Moment mal. Von wann war das Gutachten? Februar 2001? Im September hatten Gero und Franca geheiratet und die vierjährige Chiara war mit ihrer Mutter im Bentheim-Schlösschen eingezogen. Gero und Franca hatten sich im Frühjahr in Monza kennengelernt, als Gero dort auf einer Geschäftsreise gewesen war. »Das geht mir alles zu schnell«, hatte damals Francas Mutter, also Chiaras Großmutter aus Monza, gesagt. Chiara hatte ohnehin niemand gefragt. Sie musste ihre italienische Familie verlassen und plötzlich in einem anderen Land mit einer ihr fremden Sprache auf einen merkwürdigen, gleichaltrigen Jungen treffen, der plötzlich ihr Bruder sein sollte. Eigentlich waren die Konflikte vorprogrammiert und man musste es als Wunder bezeichnen, dass es ihnen gelungen war, überhaupt einigermaßen miteinander auszukommen.

Chiara runzelte die Stirn. Da war eine Ungereimtheit! Hatte Gero damals nicht erzählt, Maurice’ Mutter sei kurz nach Maurice’ Geburt gestorben? Und nun stand da in dem Gutachten, dass der Umgang mit ihr ein Problem war. Also musste sie doch im Februar 2001 noch hier im Haus gewohnt haben. Chiara schaute sich beklommen im Zimmer um. Wenn die Wände erzählen könnten! Welche Hölle ist das, wenn für ein Kind die eigene Mutter zum Problem wird? Warum überhaupt? Welche Krankheit hatte diese Frau gehabt? Chiara sprang auf und suchte das Regal ab. Einen Ordner »Friederike von Bentheim« gab es nicht. Und die Frau? Wenn sie 2001 noch gelebt hatte, vielleicht gab es sie immer noch – irgendwo? Das wäre der Schlüssel. Wer, wenn nicht sie, könnte erklären, was damals passiert war. Hier an diesem Ort!

Mit einem Schlag wurde Chiara bewusst, wie sehr dieses Haus zu ihrem Zuhause geworden war. Hier kannte sie jedes Zimmer, jedes Alltagsgeräusch. Hier gab es so viele Erinnerungen an die Kindheit mit den Geschwistern, an wilde Spiele und Geheimnisse, an Geburtstagsfeste im parkartigen Garten und an die letzten Tage mit Maurice. Und jetzt schien sich dieses Zuhause immer mehr in ein Horrorschloss mit dunkler Vergangenheit zu verwandeln. Sollte sie weiterforschen, oder sollte sie Köhlers Rat befolgen und die Vergangenheit ruhen lassen?

Chiara schloss den Ordner und stellte ihn vorsichtig wieder zurück ins Regal. Nachdenklich ließ sie sich auf dem Schreibtischstuhl nieder und probierte, eher nebenbei, die mittlere Schublade aufzuziehen.Sie war verschlossen. Chiaras Blicke tasteten suchend über die blanke Arbeitsplatte. Neben der Schreibtischlampe steckten mehrere Stifte in einem röhrenförmigen Behälter. Sie zog die Stifte heraus und fand am Boden des Behälters einen kleinen Schlüssel, der tatsächlich passte. In der Schublade lag lediglich ein Diktiergerät. Chiara drückte die Taste. Es gab keine Aufnahmen. Sie legte das Gerät zurück und tastete den hinteren Bereich der Schublade ab, den sie nicht einsehen konnte. Papier knisterte. Sie zog einen Briefumschlag hervor. Er war mit der Aufschrift »Köhler, Februar« versehen. Der Umschlag enthielt Geld in vielen verschiedenen Scheinen. Chiara zählte 3000 Euro und biss sich auf die Unterlippe. War das nicht ein bisschen viel für einen Gärtner, der zweimal in der Woche kleine Pflegearbeiten erledigte und ab und an das Haus hütete? 3000 Euro, die über kein Konto liefen und wohl regelmäßig in dieser Form ausgezahlt wurden? Wofür?

Chiara schob den Umschlag zurück an seinen Platz, verschloss die Schublade und platzierte den Schlüssel wieder in seinem Versteck. Dann schlich sie, nicht nur vor Kälte schaudernd, zurück in ihr Zimmer. Sie dachte an die Empfehlung aus dem Gutachten. Für Maurice sollte eine neue Bezugsperson eingestellt werden. Es war damals wie heute sicher nicht leicht, eine erfahrene Kinderbetreuung für einen schwierigen, kleinen Jungen zu finden, die als Mutterersatz rund um die Uhr präsent sein konnte. Böse Zungen könnten behaupten, dass Gero dieses Problem damals geradezu genial gelöst hatte. Er heiratete einfach eine, die durch das Vorhandensein ihres eigenen Kindes eindeutig bewies, dass sie gut mit Kindern konnte. Dazu war sie noch eine hübsche Italienerin mit Temperament und dem Herz auf dem rechten Fleck. Aber sie war auch eine, die nicht aus der Gegend stammte, und weder Menschen noch Gerüchte vor Ort kannte. Und sie war eine, die durch das anfängliche Sprachproblem nicht in der Lage war, Nachforschungen anzustellen. Und nach ein paar Jahren war alles vergessen. Wer weiß, wo diese Friederike von Bentheim abgeblieben ist. Am Ende liegt sie irgendwo vergraben im Park? Und Köhler ist Mitwisser und wird für sein Schweigen bezahlt. Chiara schauderte. Ging jetzt die Fantasie mit ihr durch?

Sie ließ sich in ihr Bett sinken, zog die Decke bis zum Kinn und dachte an Franca. Eigentlich kannte sie ihre Mutter nur gut gelaunt und unternehmungslustig. Aber wenn sie richtig nachdachte, konnte sie sich sehr wohl an stille Momente erinnern, in denen Franca traurig und nachdenklich gewirkt hatte. Sie erinnerte sich, dass sie Franca und deren Schwester Giuseppina vor Jahren einmal im Garten in Monza belauscht hatte. »Unsere Mama hatte recht wie immer«, raunte Franca damals ihrer Schwester zu. »Es war zu schnell. Aber er hat mich so gedrängt, er war aufmerksam zu mir wie sonst noch nie einer. Oft frage ich mich inzwischen, was ihm wichtiger war, die Frau oder die Kinderfrau?«

Damals hatte Chiara das nicht verstanden, jetzt ahnte sie, worum es in dem Gespräch zwischen den Schwestern gegangen war. Also nicht die »große Liebe«, sondern die »große Berechnung«, dachte Chiara. Berechnung. Das sah Gero ähnlich. Arme Franca, wie kommst du eigentlich damit zurecht? Machst du das Beste daraus? Schade, dass wir uns nicht gut genug verstehen, um darüber zu reden. Du wärst viel zu stolz, um zuzugeben, dass du auf ihn reingefallen bist. Ein zweites Mal reingefallen in deinem Leben. Erst auf den schönen Francesco mit den feurigen Augen und dem heißen Herzen, der aber sonst nichts auf die Reihe gekriegt hat, und dann auf den weltmännischen Gero, der dich in sein Traumschloss entführt hat, aber an seiner Seite gar keine Königin, sondern ein lebenslanges Au-Pair gebraucht hat.

Irgendwann musste Chiara trotz der schwermütigen Gedanken eingeschlafen sein. Ihr Handyton weckte sie. Das Tageslicht schien bereits milchig durch die Vorhänge. Schlaftrunken tastete sie nach dem Gerät. Max’ Stimme war zu hören. Max! Chiara fühlte, wie eine angenehme Wärme sie durchströmte.

»Er wird es schaffen. Sie werden ihn heute noch zur Beobachtung dabehalten, aber gegen Abend können wir ihn abholen. Ist das nicht wunderbar?«

Chiara brauchte einen Moment, bis sie verstand, wovon Max redete. »Oh ja, das ist wunderbar«, bestätigte sie mit müder Stimme.

»Chiara?«

»Ja?«

»Ist etwas mit dir? Du klingst so … so gedämpft?«

Chiara verzog das Gesicht, als habe sie Schmerzen. Max hatte feine Antennen. So leicht konnte man ihm nichts vormachen. Trotzdem würde sie ihm zunächst nichts von dem berichten, was sie herausgefunden hatte. Wer weiß, wohin sie ihre Nachforschungen noch führen würden. Sie dachte an Köhlers harte Worte. Es sei besser für Max, wenn er den Bentheims nicht zu nahe kommt. Sie musste Max aus dem Weg gehen, um ihn zu schützen.

»Treffen wir uns heute?«, fragte Max.

In Chiara jubelte es. Ja, sie wollte ihn sehen! Sie wollte seine Stimme hören und die wärmenden Sonnenstrahlen spüren, wenn er sie anlächelte.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Wieso denn nicht? Möchtest du nicht mitkommen, wenn ich Schorsch hole?«

»Eigentlich schon, aber ich fürchte, ich habe mir die Grippe eingefangen. Es ist besser, wenn ich heute im Bett bleibe.«

»Ist das wirklich nur die Grippe oder bist du aus irgendeinem Grund sauer auf mich?«

»Nein, alles okay«, sagte Chiara mit belegter Stimme. Dann tat sie, als müsse sie fürchterlich husten und beendete das Gespräch.