Montag, der 14. Januar

Manchmal hat man das Gefühl, ein einziger Tag war so lang wie ein Jahr. Heute war das so. Es ist so viel passiert, dass ich es jetzt gar nicht alles aufschreiben kann. Eigentlich bin ich hundemüde. Trotzdem kann ich nicht schlafen. In meinem Kopf dreht sich ein Karussell von Gedanken. Gestern noch dachte ich, langsam den Durchblick zu kriegen und heute ist wieder alles anders.

Maurice geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich sehe ihn, wie er in der Gartenhütte von Justins Opa am Tisch sitzt. Sein Laptop steht vor ihm und er recherchiert und schreibt, solange der Akku reicht. Zwillingsforschung. Das Wort hat sich bei mir eingebrannt wie mit dem Schneidbrenner. Was wusste Maurice? So ein Ärger, dass das Laptop und die Sticks verloren sind. Nur diese paar Ausdrucke auf Papier. Wo hat er das überhaupt gedruckt? In der Hütte gibt es keinen Strom. Zu Hause im Bentheim-Schlösschen in seinem ausgeräumten Zimmer? Vielleicht. Aber eigentlich unlogisch, wenn er alles ausgelagert hat. Bleibt nur noch ein Copy-Shop oder die Mediathek in der Schule. Ja, das ist das Wahrscheinlichste. Er hat die Daten auf einem Stick mit in die Schule genommen und dort ausgedruckt. Hatte er ein Schließfach? Gibt es das womöglich noch? Am Ende gibt es doch noch eine Chance, etwas mehr herauszufinden. Darum muss ich mich gleich morgen kümmern.

Diese Tagebuchschreiberei hat echt den Vorteil, dass man seine Gedanken noch einmal ordnet und auf Neues stößt. Überhaupt: Warum hat Maurice sich nach Mittelerde zurückgezogen und in Kauf genommen, dass der kleine Justin ihn ohne Ende nervt? Dafür muss er einen starken Grund gehabt haben. Im Bentheim-Schlösschen gibt es eigentlich genug Zimmer. Er hätte die Gelegenheit gehabt, sich mit deutlich mehr Komfort irgendwo im Keller oder unter dem Dach ein ruhiges Arbeitsplätzchen einzurichten. Warum hat er das nicht gemacht? Ganz klar, er befürchtete, dass jemand aus dem Haus hinter seine Recherchen kommt und ihm mächtig Ärger deswegen macht. Angst vor Ärger? So, wie ich Maurice einschätze, hätte ihn das wenig gejuckt. Vielleicht war er auf etwas gestoßen, von dem er sich noch nicht sicher war, ob das alles so stimmte. Deshalb wollte er erst einmal im Verborgenen weitersuchen. Wem hätte er mit seiner Entdeckung Schwierigkeiten machen können? Mir fällt sofort dieser Köhler ein. Er war mir von Anfang unheimlich. Oder Gero von Bentheim.

Zwillingsforschung. Angenommen G.v.B. wusste, dass wir Zwillinge sind. Vielleicht war es so: Seine Frau konnte wegen einer Krankheit nicht schwanger werden. Sie nehmen sich eine Leihmutter. Dummerweise kriegt die auf einmal Zwillinge. G.v.B. hat aber nur ein Kind bestellt. Zwei sind ihm zu viel wegen der kranken Frau. Also legt er eins der beiden auf dem Uniklo ab. Das mit den verschiedenen Geburtsdaten ließe sich auch erklären. Mein Geburtsdatum wurde ja nur geschätzt. Und weil ich so klein und leicht war, haben sie mich jünger geschätzt, obwohl ich wie Maurice Mitte Februar geboren wurde. Am selben Tag wie er. Das hieße, wir sind doch Zwillinge. Am Ende hat er herausgefunden, dass er noch einen Bruder hat und nach mir gesucht? Wenn er geahnt hätte, dass ich manchmal ganz in seiner Nähe bei meiner Oma zu Besuch war!

Es muss ihm ziemlich dreckig gegangen sein in den letzten Wochen vor seinem Tod. Justin hat erzählt, dass er nicht nur dieses Rita gesnifft hat, sondern sich noch alles mögliche andere Pulver reingezogen und Tabletten genommen und überhaupt geraucht hat, was er kriegen konnte. Er muss sich fürchterlich allein gefühlt haben. Vielleicht wäre es gut für ihn gewesen, wenn er mich gefunden hätte. Wir hätten gemeinsam rausgekriegt, was damals bei unserer Geburt los war und warum wir getrennt wurden. Ich glaube, wir wären gut miteinander klargekommen, obwohl wir in einigen Dingen sehr verschieden sind. Vielleicht hätte ich dann sogar verhindern können, dass er … Stopp, Max! Verrenne dich nicht wieder! Es gibt einiges, was gegen diese Zwillingstheorie spricht. Ihr seht euch ähnlich, aber nicht wie Zwillinge. Solche Ähnlichkeiten können Zufall sein. Wenn ich daran denke, wie vielen Mädchen Annalena ähnlich sieht, nur weil dieser Style gerade in ist. Und anfangs – ohne entsprechendes Styling – hielten mich alle nur für Maximillian Friedhelm Wirsing und nicht für Maurice. Diesen Zwilling habe ich mir selbst gebacken. Und außerdem: Welche Rolle hat dann diese Hebamme gespielt? Braucht man eine Hebamme, wenn man von jemand anderem ein Kind annimmt?

Na ja, wenn man das alles illegal macht und das Kind für sein eigenes ausgeben will, dann schon. Muss ich jetzt annehmen. G.v.B. ist mein leiblicher Vater in Form eines Samenspenders für die Leihmutter? Gruselig! Aber vielleicht sind meine wirklichen Eltern ja auch ganz andere Leute. Aber warum hat Maurice über Zwillingsforschung recherchiert?

Es ist fürchterlich, nichts passt zusammen. Soll ich jetzt weitermachen mit der Suche (wonach eigentlich?) oder soll ich einfach die Finger davon lassen und alles so nehmen wie es ist?

Ich komme mir vor wie bei einem gigantischen Memory-Spiel. Allerdings sind die Karten lebendig und unterscheiden sich kaum voneinander. Du deckst ein Bild auf und denkst: Jetzt weißt du, wo der passende Partner liegt. Dann drehst du das nächste um, und das unterscheidet sich dann doch in einem winzigen Detail. Irgendwo, in deinem tiefsten Innern, hoffst du irrerweise, das passende Bild niemals zu finden. Eigentlich willst du aufhören mit diesem gruseligen Spiel. Doch dann greifst du wieder zu, deckst das nächste Bild auf. Fast schon zwanghaft! Ich frage mich manchmal: Wer führt mir hier eigentlich die Hand? Bist du es, Bruder?

Max gähnte. Es war bereits weit nach Mitternacht. Er stopfte schnell noch das Tagebuch in den Tiger, dann kroch er verfroren unter die Bettdecke und fiel sofort in einen narkotischen Schlaf. Das Letzte, was er hörte, waren die Geräusche, die Schorsch verursachte, als er sich auf dem Tiger eine Kuhle für die Nacht zurechttrampelte.

Schorsch tauchte anschließend in seinen Träumen auf. Er hatte den verlorenen USB-Stick im Maul und wollte ihn nicht hergeben. »Aus!«, rief Max. »Schorsch, nicht, gib das her!« Doch Schorsch legte den Stick nur in sicherer Entfernung auf den Boden und nahm ihn sofort wieder auf. Er kratzte auf dem Boden und kläffte. »Aus, Schorsch«, murmelte Max. Schorsch hatte jetzt ein Laptop im Maul und sauste damit im Slalom um den Schrott in Mittelerde. Der brandige Geruch aus dem alten Ofen breitete sich aus. Das Laptop lag im Feuer und stank erbärmlich nach geschmolzenem Kunststoff. Im langen Fell von Schorschs Ohren baumelten unzählige Sticks. Er bellte und bellte und ließ Max nicht an sich heran.

Mit einem Schlag öffnete Max die Augen und starrte in die Dunkelheit. Schorschs Gekläff blieb. Er stand an der Tür, kratzte am Holz und bellte und knurrte. Auch der Brandgeruch blieb. Max sprang auf, rannte zur Tür und stürzte auf den Flur. Er beugte sich über das Geländer und sah, wie unten im Flur von der Küche aus, wie an einer Linie gezogen, Flammen entlangzüngelten. Sie krochen an der Garderobe hinauf und entzündeten mit einem Feuerball die dort hängenden Kleider. Dicker, schwarzer Rauch entstand und zog nach oben. Die Flammen suchten bereits blitzschnell den Weg Richtung Treppe. Es roch nach Grillanzünder. Die Feuerschlange züngelte die Holztreppe hinauf auf Max zu. Erstaunlicherweise verlangsamte sie ihr Tempo, als sie etwa auf halber Höhe angekommen war. Sie machte sich auf einer Stufe breit und spuckte schwarzen Rauch. Das Holz knackte. Max zuckte zusammen und löste sich aus seinem Bann.

»Feuer!«, schrie er. »Feuer!« Er rannte nebenan zum Schlafzimmer. »Mama, Papa, aufstehen!«, schluchzte er mit sich überschlagender Stimme.

Andreas war sofort wach und rüttelte seine Frau aus dem Schlaf, die zu schreien begann, als sie begriff, was los war: »Wir kommen hier niemals raus!«

Andreas blieb erstaunlich ruhig. »Alle in Max’ Zimmer, von dort durch das Fenster und über den Kirschbaum nach unten. Los, lauft. Ich hol meine Mutter!« Und zu Max rief er: »Öffne das Fenster erst, wenn wir alle im Zimmer sind!«

Wenige Sekunden später standen sie dort versammelt. Andreas hatte seine Mutter durch die Rauchwand getragen und es gerade noch vor den züngelnden Flammen geschafft, das Zimmer zu erreichen. Er schloss die Tür. »Hast du dein Handy hier? Ruf die Feuerwehr!«, wies er Max an.

»Hab ich schon«, sagte der und hielt sein Handy hoch.

»Gut, Junge!«, sagte Andreas und trat zum Fenster. »Wir müssen trotzdem vorher hier raus. Die Tür hält nicht mehr lange und der Rauch …!«

Alle nickten. Der Rauch biss ihnen bereits Tränen aus den Augen und quoll immer stärker durch die Türritzen.

Andreas ergriff wieder das Wort: »Es muss schnell gehen, sobald das Fenster offen ist. Zuerst du, Max! Du kletterst über den Kirschbaum nach unten und holst die Obstleiter aus dem Schuppen. Sonja, du kannst auch über den Kirschbaum klettern. Dir, Max, übergebe ich dann Oma auf der Leiter.«

Max nickte. »Und Schorsch?«, fragte er.

Andreas sah hinab zu dem bellenden Hund, der inzwischen heftig hustete und schnäuzte, weil er unten durch die Türritze den meisten Rauch schlucken musste. »Den lässt du als Erstes aus dem Fenster hinunter, das packt er!«

Max nickte.

»Los jetzt!«, rief Andreas. Er beugte sich über das Bett zum Fenster und öffnete es mit einem Ruck. Unter der Tür stoben Funken ins Zimmer und erste Flammen leckten durch die Ritzen am Türrahmen.

Max bückte sich nach dem Tiger und warf ihn durch die Fensteröffnung. Dann kletterte er auf sein Bett und klaubte hastig Bettwäsche und Kissen zusammen. Er warf sie ebenfalls nach draußen. Schorsch war bereits neben ihm auf das Bett gesprungen. Max packte ihn und beugte sich mit dem Hund in den Armen so weit wie möglich über die Fensterbank hinaus. Dann ließ er ihn einfach fallen, dort wo er die Kissen vermutete. Ein dumpfer Aufschlag war zu hören und dann Schorschs wildes Gebell, was Max beruhigt aufatmen ließ.

Er wandte sich zurück ins Zimmer. Alle husteten inzwischen und waren in dem dichten Rauch kaum noch zu erkennen. Es war nur noch eine Sache von Sekunden, bis das Zimmer in Flammen stand. Max wusste, sie würden alle springen müssen. Für das Leiterholen war es längst zu spät.

»Komm, Mama, ich lass dich auch so hinunter. Über den Baum, das dauert zu lang!« Sonja zitterte am ganzen Körper und kletterte unbeholfen auf die Fensterbank. Ihr Fuß rutschte ab. Max packte sie mit festem Griff am Arm. »Lass dich langsam mit den Beinen voran nach unten«, beschwor er sie. Sie nickte mit glasigen Augen und ließ die Füße von der Fensterbank gleiten. Max spürte den starken Zug in den Armen und hielt dagegen, so gut er konnte. Dennoch glitt sie immer weiter nach unten. Schließlich konnte er sie nicht mehr halten und ließ los. Er beugte sich hinaus.

Sie saß inmitten der Kissen, vom bellenden Schorsch umtänzelt und rief: »Alles in Ordnung. Nur der Fuß! Kommt! Schnell!«

»Jetzt du Max, du musst Oma unten auffangen!«, keuchte Andreas. Max nickte. Er hockte sich flink auf die Fensterbank und sprang dann hinab. Er landete hart auf den Kissen und fing sich ab, indem er sich über die Schulter abrollte. Der Schnee auf der Haut wirkte angenehm kühl.

Max sprang auf und sah nach oben. Dort baumelten bereits die Beine der alten Frau Wirsing in der Luft. »Bist du da, Max?«, hörte er Andreas mit gedämpfter Stimme rufen. Noch bevor er antworten konnte, ertönte plötzlich ein berstender Knall und Funken und Rauch schlugen aus dem Fenster. Max wusste sofort, dass die Zimmertür nachgegeben hatte und das Feuer nun endgültig den Raum erobert hatte. »Papa!«, schrie er.

Im selben Augenblick stürzte seine Großmutter hinunter. Max versuchte noch, sie zu greifen, doch sie fiel mehr, als dass er sie hätte halten können und landete halb auf ihm und halb neben ihm auf dem hart gefrorenen Gartenboden. Sie schrie vor Schmerz gellend auf. Sonja beugte sich über sie und zog sie von Max hinunter. Er rappelte sich auf und starrte gebannt nach oben. Lodernde Flammen schlugen aus dem Fenster und dichter, schwarzer Rauch verhüllte die Sicht auf das Dach. Etwas stürzte polternd ein und ein Funkenregen ergoss sich in den Nachhimmel.

»Andreas!«, schrie Sonja schrill auf.

»Papa!«, schluchzte Max. »Papa!«

»Ich bin hier«, hörte er eine spröde Stimme in unmittelbarer Nähe. Max wandte sich wie in Zeitlupe um und starrte mit ungläubigem Blick in die Richtung, aus der sie gekommen war. Im flackernden Flammenlicht regte sich eine Gestalt in einem wilden Gewirr von Ästen auf dem Boden. Offensichtlich hatte Andreas versucht, in den Kirschbaum zu springen und war dann abgestürzt. Max war mit einem Schritt bei ihm und reichte ihm die Hand. Andreas richtete den Oberkörper auf und schüttelte den Kopf. »Warte, ich muss mich erst einmal sortieren. Die Schulter ist hin!« Er versuchte, sich hinzusetzen. »Das Bein auch«, stöhnte er. »Seid ihr alle heil?«

Max kniete sich neben Andreas in den Schnee und spürte nicht die feuchte Kälte, die durch den dünnen Stoff seines Schlafanzugs kroch. Er nickte. »Alle soweit heil. Ich dachte schon, du wärst …« Max schluchzte auf und die Tränen rannen ihm in Strömen über das Gesicht.

Andreas legte mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Arm um Max und zog den Kopf seines Jungen an die Brust. In der Ferne hörte man Martinshornsignale. Erste Nachbarn trafen ein und brachten Decken.

Max saß am Küchentisch und löffelte schweigsam eine Gemüsesuppe, die Renate Herold gekocht hatte. Sonja saß ihm gegenüber und brachte kaum einen Bissen hinunter. »Wie konnte das nur passieren? Was haben wir für ein Glück gehabt«, murmelte sie immer wieder zwischen den Löffeln vor sich hin.

Renate Herold, der man aufgrund ihrer blonden Haare und ihrer sportlichen Gestalt nicht ansah, dass sie die Sechzig bereits überschritten hatte, saß mit am Tisch. Ihr Teller war längst geleert. »Ja, Glück im Unglück habt ihr gehabt«, bestätigte sie. »Ihr könnt übrigens gerne bei uns bleiben, bis ihr was anderes gefunden habt. Unsere Kinder sind aus dem Haus. Die Zimmer sind frei.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll, danke auch für die Kleider!«, hauchte Sonja. Ihre Miene war maskenhaft.

Renate Herold lächelte. »Ihr werdet bald mehr haben als vorher. Die Nachbarn bringen ständig was vorbei.«

Max dachte daran, wie in den frühen Morgenstunden plötzlich Jonas vor Herolds Tür gestanden und ihm eine Sporttasche mit Kleidern in die Hand gedrückt hatte. »Hier, wir haben ja ungefähr die gleiche Größe. Hab versucht, das Beste für dich zusammenzusortieren. Kommst du mit in die Schule?«

Erst da hatte Max gemerkt, wie erschöpft und müde er war. Er hatte sich in das ehemalige Jugendzimmer von Herolds Sohn zurückgezogen und bis vor Kurzem geschlafen.

Das Telefon läutete. Renate Herold nahm ab und reichte den Hörer dann an Sonja Wirsing weiter. Sonja redete selbst wenig, sondern bestätigte nur kurz mit »Ja« und »Oh« und sagte dann am Schluss: »Dann sieh mal zu.« Sie legte das Gerät mit langsamen Bewegungen beiseite und starrte zum Küchenfenster hinaus. Ihre Lippen zitterten und Tränen strömten über ihr Gesicht. Max und Renate Herold sahen einander an und warteten geduldig, bis sie von sich aus redete.

»Oma hat einen Oberschenkelhalsbruch«, sagte sie tonlos. »Sie wird gerade operiert. Die Ärzte meinen, sie wird es gut überstehen, sie ist ja sehr rüstig für ihr Alter. Andreas hat den Unterschenkel gebrochen und das Schlüsselbein, kleinere Verbrennungen und eine leichte Rauchvergiftung. Ein paar Tage Krankenhaus, dann kann er wieder nach Hause.« Die letzten beiden Worte brachte sie nur noch schluchzend hervor. »Wir haben kein Zuhause mehr. Wir haben alles verloren. Wir haben nur noch die Fetzen, die wir auf dem Leib trugen.«

Renate Herold griff nach Sonjas Hand. »Ich habe dir doch gesagt, dass ihr hier bei uns bleiben könnt. Es ist wirklich kein Problem!«

Sonja nickte. Dann sah sie sich suchend um. »Wo ist eigentlich Kurt? Er war doch eben noch hier?«

Renate Herold lächelte. »Du glaubst doch nicht, dass es meinen Mann hier im Haus hält, während seine ehemaligen Kollegen ganz in der Nähe ermitteln. Er ist natürlich am Brandort und hilft bei der Suche nach der Ursache. Die zu finden ist wichtig, damit eure Versicherung so schnell wie möglich aktiv werden kann.«

Sonja Wirsing atmete bebend aus. »Versicherung! Ich fürchte, wir sind hoffnungslos unterversichert.«

Plötzlich sprang Schorsch auf und lief in den Flur. Er hatte den Schlüssel in der Eingangstür gehört und benahm sich schon ganz so, als sei er in diesem Haus der wachhabende Hund.

Von Schorsch umtänzelt, betrat Kurt Herold die Küche. Er brachte feuchte Winterluft, aber auch einen brandigen Geruch in den Kleidern mit. Unter der dicken Fellmütze quoll weißes, lockiges Haar hervor. Seine blauen Augen strahlten offenherzig in die Runde. Die vor Kälte geröteten Wangen unterstrichen noch, dass Max sich an einen freundlichen Nikolaus erinnert fühlte. Kurt Herold streifte dicke Handschuhe ab und sagte: »Na, geht es euch schon wieder etwas besser? Jedenfalls seht ihr so aus. Das beruhigt mich.« Er wartete keine Bestätigung ab, sondern verschwand im Flur, um Kleider und Schuhe abzulegen. Nachdem er sich aus der Thermoskanne mit Kaffee bedient hatte, ließ er sich berichten, was Sonja aus dem Krankenhaus erfahren hatte. Sonja Wirsing wirkte zunehmend matter und blasser. Schließlich stand sie auf, um sich noch etwas hinzulegen. Alle sahen ihr besorgt nach.

»Das ist typisch für einen Schock«, sagte Kurt Herold. »Sie ist längst noch nicht wieder bei sich. Ich kenne das gut aus meinem Berufsleben. Die stillen Opfer, die nur am Rande etwas abgekriegt haben, sind oft am meisten gefährdet. Du musst gut auf sie aufpassen, Max, jetzt, wo Andreas nicht kann!«

Max nickte und verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln.

»Wie geht es dir überhaupt, Junge?«, fragte Herold.

In Max’ Hosentasche meldete das Handy den Eingang einer SMS. Max entschuldigte sich, zog das Gerät schnell hervor und las. Es war bereits die dritte SMS, die Chiara ihm im Laufe des Vormittags geschickt hatte.

Ich lasse heute Nachmittag Sport sausen und komm dann zu dir. Hdgdl

Max schrieb schnell eine kurze Antwort und steckte das Gerät wieder ein. »Meine Freundin«, erklärte er.

Renate und Kurt Herold nickten mit vielsagenden Blicken.

»Haben Ihre Kollegen schon etwas herausgefunden?«, erkundigte sich Max.

»Du kannst du sagen und Kurt. Wir sind schon so lange mit deiner Oma befreundet, da bist du fast so was wie ein Adoptivenkel für uns!«

Bei dem Wort »Adoptivenkel« zuckte Max ein wenig zusammen.

Kurt Herolds Miene verdüsterte sich. »Brandstiftung. Es gibt Hinweise auf Brandstiftung.«

Max horchte auf. »Von der Küche aus. Nicht wahr?«

Kurt Herold nickte. »An der Terrassentür zur Küche konnte man trotz der Zerstörung Einbruchsspuren erkennen. Jemand ist von dort aus eingedrungen und hat dann vermutlich einen Brandbeschleuniger ausgekippt. Genauer können sie das sagen, sobald die Trümmer abgekühlt sind, was bei diesem Wetter schnell gehen dürfte.« Kurt Herold sah aus dem Fenster. Draußen schneite es in dicken Flocken. »Dann lassen sie den Brandspürhund drüberlaufen«, fuhr er fort. »Der zeigt ihnen genau an, wo Brandbeschleuniger ausgebracht wurde. Selbst wenn das meiste bereits verbrannt ist, Hunde haben einfach eine verdammt feine Nase.« Kurt Herold streichelte Schorsch, der unter dem Tisch lag, über den Kopf. Schorsch biederte sich schwanzwedelnd an, als habe das Lob ihm gegolten. Max beobachtete das abwesend. Er versuchte sich zu erinnern und schilderte Kurt Herold dann, wie er den Beginn des Feuers erlebt hatte.

»Da haben wir es!«, rief Kurt Herold aus. »Das Feuer hat sich, wie an der Schnur gezogen, entlang des Brandbeschleunigers ausgebreitet. Normalerweise würde es sich langsamer und über die gesamte Fläche ausbreiten. Der Brandstifter hat auch die Kleider an der Garderobe benetzt. Deshalb sind die förmlich explodiert. Dann ist der Täter nur zur Hälfte die Treppe hinaufgekommen, vermutlich weil dein Hund ihn gehört und angeschlagen hat. Da hat er sich lieber davongemacht. Euer Glück, denn wenn er bis oben in den Flur gekommen wäre, hättet ihr euch vermutlich nicht mehr retten können. Das war nicht nur ein Brandanschlag, Max. Das war ein Mordanschlag!«

Max wurde blass.

»Aber wer sollte denn so etwas tun?«, rief Renate Herold. »Die Wirsings sind doch wirklich die Letzten, die irgendwo Feinde hätten!«

»Ich war gemeint«, schaltete Max sich ein. »Ich habe einen Feind. Er wollte schon meinen Hund vergiften und gestern Abend hat er mir gedroht!«

Max berichtete von seinem Verdacht. Wenig später saßen zwei Polizisten in Herolds Küche und nahmen Max’ Aussage auf. Er erklärte ihnen die Zusammenhänge, schilderte Tobias’ Geschäfte mit Ritalin und nannte Justin Kinkel und Jonas Hofmann als Zeugen.

Am Nachmittag kam Chiara. Sie sah sich in dem Zimmer um, das Max’ neue Bleibe geworden war. In der einen Ecke stand eine Nähmaschine. Aus einem Korb quoll Bügelwäsche. Der Beschriftung von ein paar Kartons war zu entnehmen, dass sie Osterschmuck und Weihnachtsdekoration enthielten. In einem Regal stapelten sich Keksdosen. Das Bügelbrett stand zusammengeklappt dicht an der Wand, an der sich ein frisch bezogenes Bett befand, auf dem Max saß. Chiara hatte ihm gegenüber in einem kleinen Sessel Platz genommen, nachdem sie von dort einen Nähkorb weggeräumt hatte. »Immer noch besser als gar kein Dach über dem Kopf. Eigentlich müsstet ihr zu uns kommen, wir haben etliche Zimmer frei, aber da würde Gero wahrscheinlich vollends ausrasten.«

»Was hat er eigentlich gegen mich?«, fragte Max.

»Das wüsste ich auch gern«, sinnierte Chiara.

Max erzählte ihr von seiner gestrigen Begegnung mit Tobias und dass er bei den Polizisten eine vollständige Aussage gemacht hatte.

»Meinst du denn wirklich, dass er es war?«, zweifelte Chiara.

»Wer soll es sonst gewesen sein? Er ist immerhin schon öfter in den Garten eingedrungen, nämlich als er den Brief einwarf und das Gift auslegte. Und gestern hatte er eine mächtige Wut auf mich.«

Chiara nickte nachdenklich.

»Hast du einen anderen Verdacht?«, fragte Max.

Chiara zuckte mit den Schultern. In dem Moment klopfte es an der Tür. Es waren die Polizisten von heute Mittag. Sie baten Max zum Gespräch und er unterhielt sich mit ihnen draußen auf dem Flur. Nach einiger Zeit kam er zurück ins Zimmer und ließ sich wieder auf die Bettkante sinken. Seine Schultern sackten nach vorn und er stierte vor sich hin.

»Was ist?«, flüsterte Chiara.

Max saß noch eine Weile schweigend und Chiara beobachtete ihn besorgt. Dann atmete er bebend ein und sagte: »Ich hätte es wissen müssen. Justin hat behauptet, mir das nie erzählt zu haben, und Tobias’ Eltern und Jonas bestätigen, dass Tobias das Haus die ganze Nacht nicht verlassen hat. Von einem Streit zwischen mir und Tobias weiß Jonas auch nichts. Shit!«

»Klar, die halten zusammen. Blut ist dicker als Wasser«, sagte Chiara mir rauer Stimme. »Und der kleine Justin will mit der Polizei nichts zu tun haben. Er hat sein Leben lang mitbekommen, dass das nur Ärger einbringt. Da streitet er lieber alles ab, bevor er irgendwo mit drinhängt.«

Max nickte. »Es war dumm von mir, der Polizei etwas zu sagen.«

Chiara brauste auf. »Nein, war es nicht! Ich war gestern dabei, als Justin uns das alles erzählt hat. Ich kann das bestätigen. Ich werde gleich zur Polizei gehen und …«

Sie sprang aus dem Sessel, doch Max hielt sie am Arm zurück und zog sie neben sich auf die Bettkante. »Nein, lass, das bringt nichts.«

Chiara schnaubte. »Finde ich nicht! Lieber möchtest du selbst als Lügner dastehen?«

»Das ist die Strafe dafür, dass ich so vorschnell war. Immerhin war ich schlau genug, der Polizei nicht zu erzählen, dass wir bei Justin in Mittelerde waren.«

»Und warum hast du ihnen das nicht erzählt?«, fragte Chiara.

»Die Geschichte mit Maurice … Das ist unsere Sache. Das geht keinen etwas an.« Er legte den Arm um Chiaras Schultern und drückte sie an sich.

»Unsere Sache«, flüsterte sie. »Ich weiß noch etwas, was unsere Sache ist.«

»So? Was denn?«

Sie lächelte ihn an. »Cosa nostra!« Dann küsste sie ihn und drückte ihn in die Kissen.

Am nächsten Tag ging Max wieder in die Schule. Nicht etwa, weil er sich wieder fit fühlte, sondern weil das tatenlose Rumsitzen im Haus der Herolds und Sonjas depressive Stimmung ihm zusetzten.

Die Mitschüler und Lehrer hielten sich mit Fragen und Bemerkungen weitestgehend zurück. Glaubten sie ihn dadurch zu schonen, wenn sie so taten, als sei nichts geschehen? Die einzige Ausnahme war ihr Klassenlehrer, Herr Weigmann. In seiner gewohnten Art polterte er zur Begrüßung: »Da habt ihr mächtig Glück gehabt! Aber so ist das mit diesen alten Gemäuern. Modernen Brandschutz gab es damals nicht, und wenn man dann nicht nachrüstet, ist schnell was passiert. Wirklich Glück habt ihr gehabt. Und in die nächste Behausung müssen Rauchmelder rein! Merkt euch das!«

Max hatte keine Lust zu widersprechen. Sollte er dem alten Besserwisser erklären, dass bei der Geschwindigkeit, mit der sich das Feuer ausgebreitet hatte, auch ein Rauchmelder nichts genützt hätte? Die Rettung war eindeutig Schorsch gewesen, der nicht nur als Brandmelder, sondern bereits vor dem Feuer als Einbruchsmelder fungiert hatte.

Jonas ging Max aus dem Weg. Als sie schließlich beim Verlassen der Schule in der Tür aufeinander trafen, sagte Jonas: »Du kriegst ja bestimmt von allen Seiten Klamotten, da kannst du mir meine so schnell wie möglich wiedergeben.«

Am Nachmittag erfuhr Max während der Autofahrt in die Klinik von Kurt Herold, dass in der Tat Brandbeschleuniger gefunden worden war. »Die Kollegen ermitteln jetzt wegen Brandstiftung und versuchten Mordes, denn der Täter hat eindeutig davon ausgehen können, dass sich Personen im Haus befanden. Die Art, wie er den Brand gelegt und die Fluchtwege versperrt hat, zeigt ganz klar, dass er in Tötungsabsicht gehandelt hat!«

Sonja konnte es nicht glauben. Es gab niemanden, den sie sich als Täter vorstellen konnte. Renate Herold, die auch mit im Auto saß, wirkte sehr nachdenklich. Plötzlich sagte sie: »Es erinnert mich sehr an den Brand bei Brigitte. Kurt, du weißt doch, letztes Jahr!«

»Vorletztes Jahr«, korrigierte er. »Aber da hat man keinen Brandbeschleuniger gefunden.«

»Was nicht heißt, dass es nicht einen Schuldigen gibt! Vielleicht brauchte der Täter in Brigittes Haus nur altes Papier zu nehmen. Küche und Flur hingen doch voll mit getrockneten Kräutern. Da braucht man keinen Beschleuniger. Das brennt lichterloh, wenn du nur ein Streichholz dranhältst!«

»Du meinst also, es gibt einen Zusammenhang?«, fragte Kurt Herold.

»Du bist doch der Polizist, der überall Lunte riecht«, sagte sie neckend.

»Man muss immer vom Motiv ausgehen«, erklärte er. »Die Frage ist, wer hat Interesse, bei alten, freundlichen Frauen Feuer zu legen und ihren Tod in Kauf zu nehmen?«

»Jemand, der scharf auf ihr Grundstück ist? Spekulanten?«, gab Renate Herold zu Bedenken.

Max hörte dem Gespräch nicht weiter zu. Plötzlich glaubte er einen ganz anderen Zusammenhang zu erahnen. Er wurde unruhig. Wenn es nur schon Abend wäre und er Chiara von seinem Verdacht erzählen könnte.

»Und du denkst, diese Brigitte Wiesner hat deiner Oma etwas erzählt, das für jemanden gefährlich sein könnte?«, fragte Chiara, nachdem sie eine Weile über Max’ Theorie nachgedacht hatte. Sie saßen nebeneinander auf dem Bett in Max neuer Bleibe. Max nickte. »Sie war als Hebamme bei Maurice’ Geburt dabei gewesen. Wer, wenn nicht sie, wusste, was da wirklich abgelaufen ist?«

»Und du glaubst, dass deine Oma dir und deinen Eltern das all die Jahre verschwiegen hat? Traust du ihr das zu?«

»Um des lieben Friedens willen kann meine Oma schweigen wie ein Grab.«

Chiara schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber hier geht es doch um etwas ganz Ungeheuerliches. Etwas, wofür jemand bereit ist, zu töten. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass deine Oma so etwas für sich behalten hätte. So, wie du sie schilderst, ist sie eine grundehrliche Haut!«

»Wer weiß«, flüsterte Max. »Eigentlich müsste man sofort zu ihr in die Klinik und sie fragen.«

»Und warum tun wir das nicht?« Chiara erhob sich bereits.

Max zog sie zurück. »Keine weiteren übereilten Aktionen. Sie soll erst wieder gesund werden. Lass uns lieber noch einmal selbst überlegen!«

Chiara ließ sich wieder neben ihm nieder. »Und wenn es etwas ist, wovon deine Oma eigentlich gar nichts weiß? Etwas, das sie in ihrem Besitz hat, ohne es zu ahnen?«

»Wie meinst du das?«

»Vielleicht hat diese Brigitte Wiesner deiner Oma etwas zur Aufbewahrung gegeben. Sie ahnte, dass es in ihrem Haus nicht sicher ist und hat es bei ihr deponiert.«

»Dann wäre es jetzt auf jeden Fall verbrannt.«

»Nicht unbedingt. Vielleicht hat deine Oma einen Safe im Keller?«

»Hat sie nicht.«

»Einen Banksafe?«

»Auch nicht.«

»Wo tut sie denn Sachen hin, die ihr wichtig sind?«

Max zuckte mit den Schultern und sah sich im Zimmer um, als könnte aus einer Ecke eine Idee auf ihn zufliegen. Plötzlich blieb sein Blick an dem Dosenstapel hängen.

»Keksdosen!«, rief er. »Sie sammelt alles in Keksdosen.«

»Dann lass uns gehen und in den Trümmern suchen. Vielleicht finden wir ja noch Dosen und vielleicht ist der Inhalt noch in Ordnung.«

»Jetzt nicht mehr«, entschied Max. »Es ist schon viel zu dunkel. Morgen Mittag, gleich nach der Schule!«

Max und Chiara standen auf der anderen Straßenseite und sahen hinüber zur Brandstelle. Max spürte einen dicken Kloß im Hals, als er das Ausmaß der Katastrophe betrachtete. So hatte er sich das nicht vorgestellt. In seiner Erinnerung war das Haus genauso geblieben, wie er es vor dem Brand gekannt hatte. Um so tiefer traf ihn jetzt der Schock. Chiara spürte seine Verfassung und griff zaghaft nach seiner Hand.

»Sogar das Dach ist eingestürzt«, sagte Max und schaute auf die schwarzen Balken, die sich in den grauen Himmel reckten. Dazwischen hingen einzelne Sparren mit verrußten Ziegeln. Fetzen von Isoliermaterial baumelten wie Galgenvögel im Wind. Es gab kein Glas mehr in den Fenstern, nur finstere Höhlen, um die das Feuer in Form von schwarzen Schlieren seine Spur hinterlassen hatte. Aus dem Wohnzimmerfenster im Parterre hing ein fleckiger Vorhang und bauschte sich gespenstisch nach draußen auf. Es war wie ein letztes Winken, eine letzte Regung aus dem Szenario eines Untergangs.

»Gut, dass Oma das jetzt nicht sehen muss«, flüsterte er.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm aussieht. Ein Wunder, dass ihr da rausgekommen seid!«, sagte Chiara.

Max schaute hinauf zu dem Fenster, hinter dem einmal sein Zimmer gewesen war. Das Dach darüber war eingestürzt und die Trümmer hatten all seine Sachen unter sich begraben. Wie viele Sekunden, nachdem sie sich retten konnten, war das geschehen?

»Es war knapp, richtig knapp«, sagte er mit bebender Stimme.

»Dass du überhaupt die Nerven behalten hast. Deine Mutter hat mir erzählt, dass ihr es ohne dich nicht gepackt hättet.«

»Sie übertreibt. In dem Moment denkst du nicht an die Gefahr. Da funktionierst du wie eine Maschine. Nur so tack, tack, tack.«

»Manche rennen einfach nur noch davon. Du bist geblieben.«

»Mach mich nicht zum Helden. Es lag an Papa. Wenn er nicht so ruhig und klar geblieben wäre, wäre ich vielleicht auch durchgedreht. Ich hab in dem Moment mehr von ihm gelernt als in meinem ganzen Leben. Und er ist oben geblieben bis zum Schluss. Mich hat er zuerst rausgeschickt. Mich wollte er retten. Wenn du also einen Helden suchst, dann ihn.«

Chiara drückte Max’ Hand. Die Brandstelle war mit einem rot-weiß-gestreiften Band abgesperrt. Zwei Männer in gelb und dunkelblau gemusterten Anzügen und mit Helmen geschützt bahnten sich im Parterre einen Weg durch die Trümmer. Sie schleppten Gegenstände heran, die schwarz verkohlt und kaum zu erkennen waren, und luden sie in einen Stahlcontainer, der seitlich im Vorgarten stand und den Max in dem Durcheinander noch gar nicht bemerkt hatte. Einer der Männer bückte sich und klaubte etwas vom Boden zusammen, das er ebenfalls in den Container warf. Plötzlich schaute dort ein Tigerkopf über den Rand.

Sofort setzte Max sich in Bewegung. »Mein Tiger!«, rief er.

Der Mann blieb stehen und schaute erstaunt zu den beiden Jugendlichen.

»Ich habe hier gewohnt. Das ist mein Tiger. Ich brauche ihn zurück!«, rief Max.

Die behandschuhte Hand griff nach dem Stofftier und zog es aus dem Müll hervor. »Dein Kuscheltier ist aber nicht mehr ganz frisch«, erklärte er.

Inzwischen war auch der andere Mann wieder aufgetaucht. Er hatte sich den Helm abgezogen und beobachtete mit leichtem Grinsen die Szene. »Eigentlich siehst du aus, als wärst du aus dem Kuscheltieralter heraus und würdest längst mit was anderem schmusen.« Sein Blick glitt in unverschämter Offenheit zu Chiara.

Sie ignorierte die Bemerkung und schaute ihm direkt in die Augen. »Wir wollten nachsehen, ob wir noch ein paar Sachen finden, die wir vermissen«, sagte sie. »Dürfen wir mal da rein? Ich meine, in Ihrer fachkundigen Begleitung?«

»Keine Chance«, winkte der Mann ab. »Das ist lebensgefährlich. Alles einsturzgefährdet. Es wird so schnell wie möglich abgerissen werden. Da gibt es nichts mehr zu holen. Höchstens hier im Container.«

Der Mann hob das Band an und ließ Max und Chiara auf das Grundstück. Sie beugten sich über den Metallrand des Behälters und ließen ihre Augen auf der Suche nach etwas, das wie eine Dose aussehen könnte, umherwandern. Max stocherte mit einem Ast in dem wilden Sammelsurium aus Möbelteilen, angebrannten Textilresten und Teilen einer unkenntlich miteinander verbackenen Masse. Der Gestank war übel. Missmutig verzog Max das Gesicht.

»Hier kann man echt nichts mehr finden. Das können wir haken.«

Chiara ließ nachdenklich den Blick über das Grundstück schweifen. »Vielleicht hat sie es ja irgendwo außerhalb des Hauses versteckt. Ist hinter dem Haus nicht ein Hühnerstall?«

Max hatte sich seinen ramponierten Tiger unter den Arm geklemmt und sah in die Richtung, wo einmal der Hühnerstall dicht an das Haus gebaut worden war. »So wie es aussieht, ist das dieser verkohlte Bretterhaufen da drüben. Der ist also auch abgebrannt. Der Typ hat ganze Arbeit geleistet«, murmelte er.

Sie liefen am Absperrband entlang zum hinteren Bereich des Grundstücks. Die Obstbäume, die nahe am Haus standen, wiesen deutliche Brandspuren auf. Der hölzerne Überbau der Terrasse lag als verkohlte Schutthalde dicht an den Resten des Hühnerstalls. Unter einem Brett ragten die rußigen Beine eines Huhnes hervor. Die Hitze hatte die Krallen zu widernatürlichen Spiralen gerollt. Die Verwüstung im hinteren Bereich des Hauses war noch größer als vorne. Selbst ein Laie konnte erkennen, dass der Brand hier seinen Ursprung hatte.

»Der hat auf alles, was irgendwie brennbar war, sein Zeugs gekippt«, stellte Max mit bitterer Miene fest.

»Und was ist das da drüben?« Chiara zeigte auf ein niedriges Häuschen, das sich schief an einen alten Obstbaum lehnte.

»In der Hütte habe ich als Kind gespielt.«

»Die hat er in der Dunkelheit wohl übersehen. Das spricht gegen Tobias als Täter.«

»Warum?«

»Weil es jemand gewesen sein muss, der euren Garten nicht kannte. Und Tobias ist bestimmt schon öfter hier gewesen, oder?«

»Offiziell zuletzt mit seinen Eltern beim Grillfest zu Sonjas Geburtstag im Sommer.«

»Na, siehst du. Meinst du vielleicht, es gibt eine Chance, dass deine Oma die Hütte als Versteck genutzt hat?«

Eine Erinnerung flammte in Max auf. »Das ist es! Ich habe sogar gesehen, wie sie mit einer Blechdose unter dem Arm vom Dachboden kam. Sie muss damals draußen im Garten gewesen sein! Es war der Abend, an dem Schorsch das Gift gefressen hat!«

Wenig später zwängten sie sich in das Innere des Kinderhäuschens. Dort gab es eine kleine Sitzbank, deren Sitzfläche den Deckel einer Truhe bildete. Max hob den Deckel an. Zwei Mäuse flitzten eilig davon. Chiara quiekte und kicherte dann. Max zog ein Kissen beiseite und hielt eine flache, rechteckige Blechdose in der Hand.

Max öffnete die Dose. Im Dämmerlicht der Hütte war nicht viel zu erkennen. »Papierkram«, sagte er.

»Wichtiger Papierkram«, raunte Chiara. »Lass uns in dein Zimmer zu Herolds gehen und genau nachsehen, was das alles ist.«

Als sie die Hütte verließen, sahen sie sich vorsichtig um und machten sich dann zügig auf den Weg.

Im Zimmer angekommen, ließ Max den Tiger vor dem Bett zu Boden gleiten. Chiara verzog angewidert das Gesicht. »Das dreckige Ding? Willst du das wirklich behalten? Die Herold findet es bestimmt nicht sonderlich toll, wenn sie sieht, welchen Müll du ihr ins Haus schleppst.«

Max kickte den Tiger unter das Bett. Dann schüttete er den Inhalt der Blechdose auf die Tagesdecke und setzte sich mit Chiara an den Bettrand, um ihren Fund zu sichten.

In einem Briefumschag, der bereits aufgerissen war, steckten ordentlich zusammengefaltet zwei handgeschriebene Blätter. Außen auf dem Umschlag stand: Für Sieglinde Wirsing.

»Das ist meine Oma«, erklärte Max und las weiter vor: »Streng vertraulich! Erst nach dem Tod von Brigitte Wiesner zu öffnen!«

Außerdem gab es noch einen weiteren Umschlag. Er war wattiert, etwas größer und dicker und gut verklebt und verschnürt. Darauf stand: Für Maximillian Friedhelm Wirsing. An seinem 18. Geburtstag zu öffnen. Von Brigitte Wiesner.

Max drehte und wendete den Umschlag und betrachtete ihn kritisch von allen Seiten. »Es sieht so aus, als wäre der wirklich noch nicht geöffnet worden.«

»Sag ich doch. Deine Oma ist eine ehrliche Haut«, kommentierte Chiara.

Max nickte. »Was zuerst?«

Chiara tippte auf den bereits geöffneten Umschlag. »Den zuerst!«

»Eigentlich liest man Briefe anderer Leute nicht!«, sagte Max und faltete das Papier auseinander. Ein Foto fiel heraus. Es zeigte zwei grauhaarige Frauen in Jeans und Gummistiefeln. Sie umfassten gemeinsam den Stab eines Protestplakates, das über ihren Köpfen verkündete: Lieber Kröten statt Immobilienhaie. Max grinste. »Meine Oma als Revoluzzer, guck mal!«

Chiara betrachtete das Bild und hielt es dann plötzlich näher an ihr Gesicht. »Das ist sie! Genau! Das ist sie!«

»Ja, meine Oma, wer sonst«, sagte Max.

»Nein, die andere Frau!«, stieß Chiara aufgeregt hervor. »Das ist die Frau, die damals bei Gero war und sich mit ihm gestritten hat und die damit gedroht hatte, Maurice etwas zu sagen!«

Max zog ihr das Bild aus der Hand und drehte es um. Mit der ihm bekannten Schulmädchenschrift hatte seine Großmutter vermerkt: Brigitte und ich. Mai 2005. Protestmarsch zur Klapperwiese.

»Das ist Brigitte Wiesner. Die Hebamme, die bei Maurice’ Geburt dabei war«, erklärte Max.

»Sie also war damals bei uns. Sie war die Hexe.« Aufgeregt forderte Chiara: »Los, lies den Brief vor, den sie deiner Oma geschrieben hat!«

Max strich das Papier glatt und las laut vor. Chiara drängte sich dicht an ihn und las mit den Augen mit.

Modertal, den 8. Juli 2011

Liebe Sieglinde,

vor einigen Wochen habe ich an Deinen Enkel Maximillian einen Brief verfasst, den er an seinem 18. Geburtstag öffnen soll und den ich Dir hier beilege. Wie sehr ist mir dieser Junge ans Herz gewachsen, und wie glücklich bin ich, dass er ausgerechnet bei Deiner Familie untergekommen ist! Etwas Besseres hätte ihm gar nicht passieren können! Anfangs war ich sehr erschrocken, als ich den kleinen Kerl bei Dir im Garten herumhopsen sah. Ich erkannte ihn auf den ersten Blick und ahnte, wer er war! Doch Du behaupte-test, dass der Junge das leibliche Kind von Sonja und Andreas sei. Wir kannten uns ja damals auch noch nicht so gut, und ich muss zu geben, ich suchte in erster Linie Deine Freundschaft, um Dein Vertrauen zu gewinnen und schließlich von Dir zu hören, was ich schon lange ahnte. Ich meinerseits verriet Dir nicht, welch schreckliches Geheimnis ich mit mir herumtrage.

Liebe Sieglinde, im Laufe der Jahre haben wir eine tiefe Freundschaft entwickelt, die mir sehr kostbar geworden ist. Dennoch könnte ich Dir das, was ich Dir hier in diesem Brief gestehe, niemals ins Gesicht sagen! Zu sehr schäme ich mich dafür. Ich schreibe es Dir in diesem Brief, den ich Dir mit der Bitte übergeben werde, ihn erst zu öffnen, wenn ich nicht mehr lebe.

Den Brief an Max übergib ihm bitte an seinem 18. Geburtstag oder zu dem Zeitpunkt, an dem er von seinen Eltern erfahren hat, dass er ihr Adoptivsohn ist, und wo er gefunden wurde. Ich hatte eigentlich vor, diese Briefe bei einem Notar zu hinterlegen. Aber durch einige Vorkommnisse in der letzten Zeit bin ich sehr misstrauisch geworden. Weiß ich denn, auf wessen Gehaltsliste dieser Notar steht? Insofern bist Du, meine liebe, verlässliche Freundin, für mich sicherer als jeder andere Ort.

Ich selbst bin leider in meinem Leben nicht immer so aufrichtig und rechtschaffen gewesen wie Du. Es gab eine schwierige Zeit, in der es mir familiär und finanziell sehr schlecht ging. Ich habe das nie jemandem erzählt, auch Dir nicht, weil ich mich noch heute zutiefst dafür schäme. Mein verstorbener Mann war ein Spieler und hatte unser gesamtes Vermögen und unser Haus beim Spiel verloren. Ich hatte davon lange nichts geahnt und stand nach seinem Selbstmord plötzlich vor dem Nichts. Ich saß auf einem Berg von Schulden, der inzwischen abgetragen ist, weil ich mich kaufen ließ.

Ich gestehe, im Jahr 1997 habe ich eine hohe Summe Geld dafür bekommen, ein Neugeborenes zu töten und verschwinden zu lassen. Ich hatte das Kissen bereits in der Hand, um es zu ersticken, doch ich konnte es nicht tun. Ich war Hebamme! So vielen Kindern habe ich das Leben geschenkt!

Trotz meiner haltlosen Situation widersprach dieser schreckliche Auftrag so sehr meinem Gewissen, dass ich heimlich eine andere Lösung wählte, und das Kind in der Universitätsklinik aussetzte. Damals gab es noch nicht diese Babyklappen, aber das Klinikum war ein sicherer Ort. Ich hielt mich in der Nähe auf (in einem Schwesternkittel fällt man da nicht auf) und wartete, bis der Kleine nach wenigen Minuten gefunden wurde.

Als der Fund dann durch alle Medien ging, entwickelten meine Auftraggeber einen Verdacht, doch den wies ich weit von mir, und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als mir zu glauben. Ich weiß, dass mein Auftraggeber nach wie vor fürchtet, ich könnte ihn doch noch verraten und dass er mich lieber tot als lebendig sähe. Aber was macht das schon aus, wenn man im finalen Stadium krebskrank ist?

Lange habe ich überlegt, ob ich Dir alle Hintergründe und Beweise anvertraue. Aber warum soll ich Dein gutes Herz so schwer belasten? Auch habe ich Sorge, dass Maximillian durch dieses Wissen erneut in Lebensgefahr geraten könnte. Daher habe ich mich entschlossen, meinen Auftraggeber nicht zu verraten und alle Dinge, die damit in Zusammenhang stehen, selbst zu klären. Ich weiß, dass ich dadurch einen jungen Menschen mit einer schlimmen Nachricht konfrontieren muss, aber dieses Schicksal habe ich selbst verursacht. Was mein Auftraggeber nicht weiß, vielleicht aber ahnt, ist, in welchem Ausmaß ich ihn betrogen habe. Es war mir eine gewisse Genugtuung, ihn auf meine Weise seine Sünde büßen zu lassen. Damit soll es gut sein.

Es bleibt jetzt nur noch eine große Bitte! Halte Maximillian unbedingt davon ab, seine leiblichen Eltern suchen zu wollen, es wäre sein Unglück!

Ich wünsche Dir noch viele glückliche und gesunde Lebensjahre mit Deinen Kindern und Deinem Enkel Maximillian.

Alles Liebe, in tiefer Demut und Schuld

Brigitte

Max ließ das Blatt sinken. »Sie war es«, flüsterte er. »Sie also war es, die mich damals ausgesetzt hat. Sie wusste, wer meine Eltern waren, aber verrät es nicht.«

Chiara kämpfte mit den Tränen. »Was sind das für grausame Eltern, die von einer Hebamme verlangen, ein Kind zu töten?«, sagte sie mit belegter Stimme. »Nenn mir einen einzigen Grund, warum Eltern so was tun sollten. Ich verstehe das nicht!«

Max zuckte mit den Schultern. Es fiel ihm schwer zu reden, weil er das Gefühl hatte, eine eiskalte Hand habe sich um seinen Hals gelegt und drücke immer fester zu. »Vielleicht hab ich ihnen einfach nicht gefallen oder sie wollten eben keine Kinder.«

Chiara schüttelte vehement den Kopf. »Blödsinn! Sie hätten verhüten oder abtreiben können. Meinst du, es gibt wirklich Leute, die nach der Geburt ihr Baby sehen und sagen ›gefällt mir nicht‹ und dann eine Menge Geld dafür ausgeben, dass es getötet wird? Außerdem: Wie haben diese Leute dann erklärt, dass ihr Kind plötzlich weg war? Die Schwangerschaft der Frau muss doch bekannt gewesen sein.«

»Man liest doch öfter in der Zeitung, dass ein Neugeborenes irgendwo gefunden wird – tot oder lebendig. Viele dieser Mütter haben ihre Schwangerschaft verheimlicht oder sogar selbst nichts davon gewusst.«

»Woher bist du so gut informiert darüber?«

»Meine Oma sammelt seit Jahren Zeitungsartikel zu dem Thema. Neulich, als ich im Keller Kartoffeln holen sollte, habe ich den Stapel gefunden und durchgelesen, in der Hoffnung doch noch einen weiteren Hinweis zu mir zu finden.«

»Und? Hast du?«

»Nein. Eines ist jetzt auf jeden Fall klar. Von Zwillingen spricht die Wiesner nicht.«

Chiara nickte. »Und wer ihr Auftraggeber war, bleibt auch unklar. Gero jedenfalls kann es nicht gewesen sein, denn sein Sohn Maurice lebte schließlich und wurde nicht ausgesetzt.«

»Es sei denn, es waren doch zwei und er wollte den einen los werden.«

»Aus welchem Grund? Gero hat alles Geld der Welt, um Kinder aufzuziehen!«

Max zuckte mit den Schultern. »War ja nur so eine Idee. Ich bin ohnehin nicht scharf darauf, ihn zum Vater zu haben.«

Chiara nickte und deutete auf den verschlossenen Umschlag. »Vielleicht wird dadurch alles klarer. Mach mal auf.«

Max zerrte umständlich an den festen Kordeln, mit denen der Brief verschnürt war. Chiara fand im Nähkorb eine Schere und reichte sie ihm. Vorsichtig löste er die Schnüre um den dicken wattierten Umschlag. Er enthielt einen weiteren geschlossenen Briefumschlag mit der Aufschrift: Für Maximillian Friedhelm Wirsing, persönlich, vertraulich von Brigitte Wiesner. Außerdem lag noch ein zusammengefaltetes Blatt dabei. Eine fotokopierte Buchseite, wie Max feststellte. »Aus Max und Moritz«, erklärte er und legte das Blatt beiseite.

Chiara hielt plötzlich ein rotes Seidenband in der Hand. »War das auch in dem Umschlag? Es lag hier auf der Decke.«

Max zog ihr das Band aus der Hand und betrachtete es mit vorgeschobener Unterlippe. Das Band war etwa 10 Zentimeter lang und hatte am einen Ende einen Knoten. »Keine Ahnung«, sagte er. »Was soll das sein?«

Chiara nahm das Band wieder an sich. »Es war zusammengeknotet und ist dann dicht neben dem Knoten aufgeschnitten worden. Schau, so war es.« Sie formte das Band zu einem Ring. »Es sieht aus wie eine Art Freundschaftsbändchen.«

Max verzog kritisch das Gesicht. »Dann ist das aber ein Zwergenhandgelenk, um das es gebunden war.«

»Von einem Neugeborenen vielleicht. Wetten, dass du das umgebunden hattest?«

Max nahm das Band wieder an sich. »So winzig!«, hauchte er. Dann kniff er die Augen zusammen. »Da steht etwas drauf!« Er sprang auf und hielt das Band ins Licht vor dem Fenster.

Chiara war neben ihn getreten und entzifferte: »Ein offenes Dreieck. Es ist mit Kugelschreiber geschrieben. Es könnte ein »A« sein.«

»Oder eine Eins«, vermutete Max.

»Ich denke eher ein A«, erklärte Chiara. »Wahrscheinlich ist das der Anfangsbuchstabe eines Namens, vielleicht von den Eltern.«

Max kniff erneut die Augen zusammen: »Oder doch eine Eins. Eine Nummer Eins, weil es nämlich noch eine Nummer Zwei gab.«

»Das ist völlig verrückt, Max! Wer ist denn so pervers und nummeriert seine Kinder durch statt ihnen Namen zu geben?«

»Vielleicht Leute, die so pervers sind, ihre Kinder gleich nach der Geburt umbringen zu lassen!«

Chiara schüttelte abwehrend den Kopf. »Blödsinn! Komm, mach den Brief auf!«

Max öffnete den Umschlag und las vor:

Modertal, den 14. Juni 2011

Lieber Maximillian,

wenn Du diesen Brief öffnest und liest, wird es vermutlich der 1. März 2015, Dein 18. Geburtstag sein. Deine Eltern werden mit Dir gesprochen haben und es ist ihnen bestimmt nicht leichtgefallen, Dir Deine Herkunft zu offenbaren und Dir zu sagen, dass sie nicht Deine leiblichen Eltern sind.

Ich kann mir gut vorstellen, dass Du nun sehr erschüttert bist und ihnen vielleicht sogar übel nimmst, dass sie Dir das so lange verschwiegen haben. Die Meinungen sind sehr geteilt darüber, ob es sinnvoll ist, adoptierten Kindern von Anfang an zu sagen, dass sie noch andere (leibliche) Eltern haben oder ob man dies erst zu einem Zeitpunkt tun sollte, an dem sie erwachsen sind und sich vom Elternhaus lösen. Beides hat Vor- und Nachteile. Ich möchte Dich von Herzen bitten, die Entscheidung Deiner Eltern zu respektieren und ihnen nicht böse zu sein.

Glaube mir, ich kann beurteilen, dass sie sich immer liebevoll um Dich gekümmert haben und Du Ihnen so kostbar bist wie ein eigenes Kind, vielleicht noch viel kostbarer. Bestimmt haben sie Dir das heute auch so beteuert, aber Du bist vermutlich entsetzt und enttäuscht. Du wunderst Dich wahrscheinlich, warum ich Dir schreibe. Ich, eine alte Frau, deren Namen du vermutlich noch nie gehört hast und die zu dem Zeitpunkt, an dem Du den Brief lesen wirst, längst unter der Erde liegt. Ich weiß das so genau, weil ich vor Kurzem eine entsprechende ärztliche Diagnose erhalten habe. Wenn man mit dem Tod konfrontiert ist, blickt man auf sein vergangenes Leben zurück und zieht Bilanz. Ich bin ein gläubiger Mensch und möchte noch einige Dinge, die mich über viele Jahre belastet haben, in Ordnung bringen. Dazu gehört auch die Angelegenheit mit Dir.

Mein Name ist Brigitte Wiesner. Bis 1997 arbeitete ich als freiberufliche Hebamme. Deine Oma kennt mich gut. Man kann sagen, wir sind befreundet. Ich schätze an ihr besonders, dass man ihr vertrauen kann. Sie ist ein sehr verlässlicher Mensch. Daher habe ich ihr diesen Brief an Dich anvertraut. Lieber Maximillian, ich bin die Frau, die Dich am 6. März 1997 am späten Nachmittag in der Universitätsklinik ausgesetzt hat. Ich bin nicht Deine Mutter, aber ich habe das im Auftrag Deiner leiblichen Eltern getan. Jahrelang war ich hin- und hergerissen, ob ich mein Schweigen brechen und Dir Deine Herkunft verraten soll. Jetzt schreibe ich Dir diesen Brief, weil ich Dich eindringlich bitten möchte, nicht nach diesen Eltern zu suchen. Sie gaben mir damals den Auftrag, Dich zu töten! Ich habe ihn nicht ausgeführt. Dies sollte für Dich Grund genug sein, Dich niemals diesen Menschen nähern zu wollen! Nach wie vor würde es Lebensgefahr für Dich bedeuten!

Dennoch gebe ich Dir die Freiheit, Dich Deinem Schicksal zu stellen.

Ich wünsche Dir von Herzen alles Gute auf Deinem weiteren Lebensweg und ein hohes Alter in Frieden und Gesundheit!

Brigitte Wiesner

Max legte die Briefbögen enttäuscht beiseite. »Was sagt sie in diesem Brief, das wir nicht schon durch den anderen Brief wissen?«

Chiara nahm sich das zweite Blatt noch einmal vor: »Dieser Satz hier ist seltsam. Dennoch gebe ich dir die Freiheit …«

Max brummte unwillig. »Ist doch ganz einfach, sie warnt mich vor diesen Eltern, aber sie stellt es mir trotzdem frei, nach ihnen zu suchen. Allerdings gibt sie mir dafür keinerlei Hinweise, sondern nur dummes Geschwafel von Gewissen und Glauben. Sie hätte den Mut haben müssen, mir wenigstens ein Fünkchen von einem Hinweis zu geben. Eine winzige Chance! Aber nichts!«

»Vielleicht hat sie das ja, aber wir sehen es nicht. Wir müssen diese Briefe noch einmal ganz genau lesen oder dieses rote Band untersuchen …«

»Oder das hier vielleicht.« Max griff nach der Fotokopie und betrachtete das Blatt. »Das ist nicht einfach nur eine Fotokopie, sondern das ist irgendwie bearbeitet. Siehst du, durch manche Wörter gehen Striche.«

Chiara nickte. »Es ist eine schlechte Kopie. Auf dem Original wäre das bestimmt besser zu sehen.«

»Und wo ist das Original?«, fragte Max.

»Vielleicht lag es in der Tragetasche, in der du ausgesetzt wurdest.«

»Und warum haben meine Eltern das dann nicht bekommen?«

»Das kann dir wahrscheinlich jemand vom Jugendamt erklären.«

»Renate Herold hat früher dort gearbeitet. Vielleicht kann sie …«

»Lass es uns erst einmal selbst versuchen!« Chiara stand auf. Sie legte das Blatt gegen die Fensterscheibe. Jetzt waren die feinen Linien besser zu erkennen. Mit einem Bleistift fuhr sie die Linien nach und legte Max das Blatt zurück auf die Decke. Beide betrachteten sie aufmerksam den Text.

Ach, was muss man oft von bösen

Kindern hören oder lesen!!

Wie zum Beispiel hier von diesen,

welche Max und Moritz hießen;

Die, anstatt durch weise Lehren

Sich zum Guten zu bekehren

Oftmals noch darüber lachten

Und sich heimlich lustig machten.

– Ja, zur Übeltätigkeit,

Ja, dazu ist man bereit!

– Menschen necken, Tiere quälen,

Äpfel, Birnen, Zwetschgen stehlen

Das ist freilich angenehmer,

Und dazu auch viel bequemer,

Als in Kirche oder Schule

Festzusitzen auf dem Stuhle.

– Aber wehe, wehe, wehe!

Wenn ich auf das Ende sehe!! –

– Ach, das war ein schlimmes Ding,

wie es Max und Moritz ging.

– Drum ist hier, was sie getrieben

Abgemalt und aufgeschrieben.

Chiara ergriff das Wort, während Max noch nachdenklich über dem Text brütete. »Wenn man nur das liest, was nicht gestrichen wurde, ergibt es einen ganz anderen Sinn.«

Max nickte und murmelte leise: »Ach, das war ein schlimmes Ding, wie es Max und Moritz ging. Sie weist damit doch eindeutig auf zwei Kinder hin. Maximillian und Maurice.«

»Möglich«, sagte Chiara, »aber ein Beweis ist das noch lange nicht.«

»Aber auf jeden Fall weiß ich jetzt, warum sie mir eine Geburtsurkunde auf Maximillian Busch ausgestellt haben. Dieses Blatt lag in der Tragetasche und, sieh hier, der Name Max ist nicht durchgestrichen.«

Chiara nickte nachdenklich. »Ich glaube immer noch, dass der Schlüssel in den Briefen liegt. Und …«

Max nahm noch einmal die Fotokopie in die Hand und pfiff durch die Zähne. »Vielleicht ist es ja viel wichtiger, das Buch zu finden, aus dem diese Seite herausgerissen wurde.«

»Vermutlich ist es im Haus der Wiesner verbrannt oder im Haus deiner Oma.«

»Möglich. Oder es steht ganz woanders«, überlegte Max.

Um Chiaras Augen zuckte es plötzlich.

»Ist was?«, fragte Max.

Chiara schüttelte den Kopf. Sie brauchte eine Weile, bis sie wieder etwas sagen konnte. »Jedenfalls ist es so, dass der Brandstifter, sofern er es auf die Unterlagen der Wiesner abgesehen hat, nicht wissen konnte, dass sie ihn gar nicht verrät. Er glaubt, dass da die Namen deiner leiblichen Eltern drinstehen und warum sie den Mordauftrag erteilt haben.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Max bitter. »Nach meinen Mördereltern suchen? Wie sollen wir das anstellen? Vielleicht machen wir einfach einen Aushang: Hallo Mörder, ich habe keine Ahnung, wer du bist, du bist fein raus ohne Beweise. Kannst mich in Ruhe lassen

»Er wird dich in Ruhe lassen, weil er sich sicher ist, dass im Haus deiner Oma alles verbrannt ist.« Chiara griff sanft nach Max’ Arm. »Sei nicht so gefrustet. Eigentlich weißt du doch jetzt ziemlich viel über deine Herkunft. Und ob es da einen Zusammenhang zu den Bentheims oder Maurice gibt, wirst du wahrscheinlich nie herausfinden. Außerdem bringt es ja auch nicht wirklich was. Lass die Toten ruhn!«

Max zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht versteinerte und seine Augen füllten sich mit Tränen. Chiara schlang die Arme um ihn.

Chiara war auf Strümpfen über den Flur geschlichen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass im Hause der Bentheims alles ruhig war. Sie wusste, dass Franca Michelle gerade zum Ballettunterricht in die Stadt brachte. Ob Gero sich in seinem Arbeitszimmer aufhielt oder noch gar nicht zurück war, wusste sie nicht.

Leise schloss sie die Tür zu Maurice’ ehemaligem Zimmer hinter sich. Sie wagte es nicht, das Licht anzuschalten. Durch das Fenster fiel das spärliche Dämmerlicht des späten Winternachmittags. Nachdem sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, stellte sie sich vor das Bücherregal und las jeden einzelnen Buchrücken. Meist waren sie bunt bedruckt und mit allerlei Designschriften versehen. Hoch über ihrem Kopf auf dem letzten Regalbrett wurde sie fündig. Die Bücher passten gar nicht zu den übrigen Kinderbüchern. Es waren sechs gleich aussehende Bände mit dunkelbraunem Cover. Auf einem kleinen Schild erkannte sie in Druckschrift den Namen »Busch«. Mehr konnte sie aus der Entfernung nicht entziffern, weil die Schrift zu klein war. Sie kletterte auf einen Hocker und zog den ersten Band heraus. Jetzt konnte sie die komplette Aufschrift lesen. Wilhelm Busch, Gesamtwerk in sechs Bänden. Sie hielt Band 1 in der Hand.

Chiara sprang vom Hocker und stellte sich in die Nähe des Fensters. Das Innere des Buchdeckels bot bereits eine Überraschung. Auf das dunkelbraune Papier war mit verschnörkelter Goldschrift geschrieben: Für Friederike von Bentheim mit liebem Dank, A. M., im Mai 1996.

Damit war klar, dass dieses Buch gar nicht Maurice, sondern seiner Mutter gehört hatte. Chiara schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Noch war es möglich, dieses Buch einfach wieder zurückzustellen und es für die nächsten Jahre dort zu lassen, so wie es die letzten Jahre unberührt im Regal gestanden hatte.

Für Max ist eigentlich genug geklärt, dachte sie. Und für mich? Ihr Herz klopfte im Hals. Die Wiesner hatte davor gewarnt, nach Max’ Eltern zu suchen. Mördereltern. Waren das Gero und Friederike oder nur einer von beiden?

Stell es einfach zurück, befahl sie sich selbst. Doch ihre Finger blätterten bereits weiter. Auf der fotokopierten Seite hatte oben rechts eine kleine Seitenzahl gestanden. Die hatte sich ihr ins Gedächtnis gebrannt. 197. Ihre Finger blätterten langsamer. 192. Hänsel und Gretel in Bildern von Wilhelm Busch. Chiaras Blick blieb an einer Zeichnung hängen, die ein Mädchen mit Zöpfen und einen etwa gleichaltrigen Jungen darstellte. Beide Kinder hielten riesengroße Brezeln in die Höhe. Mit der freien Hand und mit den Füßen beförderten sie gerade eine große vergitterte Holzkiste in einen Teich. In der Kiste saß ein Mann. Die Kinder guckten vergnügt. Brezel mampfend liefen sie nach Hause. Chiara schüttelte den Kopf. So was als Kinderbuch! Das ginge heutzutage ja gar nicht! Aber vielleicht war das auch damals gar nicht als Kinderbuch gedacht? Und die zwei da, das sind Max und ich. Wen werfen wir gerade in den Sumpf? Chiara blätterte weiter und ihre Augen fielen auf den Titel der nächsten Geschichte: Max und Moritz – eine Bubengeschichte in sieben Streichen – 1865.

Chiara blätterte um. Erster Streich. Max und Moritz dachten nun: Was ist hier jetzt wohl zu tun?

Moment mal, das ist doch mitten in der Geschichte! Seite 199. Chiara blätterte zurück. Jetzt schlug ihr Herz endgültig wie ein Schlagzeugsolo. Ihr wurde schwindelig. Für einen Augenblick verschwammen die Bilder vor ihren Augen. Dann sah sie wieder klarer. Eindeutig! Das Blatt mit Seite 197 und 198 war herausgerissen worden. Würde man die Zähnchen der Risskante mit der Fotokopie, besser noch mit dem Original vergleichen, würde man wahrscheinlich unschwer beweisen können, dass das Blatt in Max’ Besitz aus diesem Buch stammte. Aus einem Buch, das zum Hausstand der Bentheims gehörte! Ein Buch, das Friederike von Bentheim einmal in den Händen gehalten hatte – wie der Widmung zu entnehmen war. Das war ein Beweis! Was immer geschehen war – es hatte hier stattgefunden. Hier in diesem Haus! Hier in diesem Zimmer!

Chiara ließ sich auf das unbezogene Bett sinken und starrte aus dem Fenster. Der Himmel war eine einzige große hellgraue Wolke, die sich wie ein düsteres Zeltdach über alles spannte. »Maurice«, flüsterte sie. »Max und Maurice. Es kann gar nicht anders sein, ihr seid beide hier geboren worden. Und du, Max, solltest getötet werden. Warum?« Wer hatte die Hebamme bezahlt und zum Mord angestiftet? War es vorstellbar, dass diese Friederike von Bentheim ohne Geros Wissen gehandelt hatte? War das allein eine Sache zwischen Brigitte Wiesner und ihr gewesen? Konnte es sein, dass ein Vater nichts davon mitbekam, dass seine Frau statt einem zwei Kinder zur Welt gebracht hatte und eines davon verschwinden ließ?

Bei Gero konnte sie sich das schon vorstellen. Haushalt und Familie waren für ihn Frauenkram, wie er immer sagte. Aber was konnte seine Ex-Frau dazu veranlasst haben, eines der beiden Kinder abzulehnen? Sie war krank. Vielleicht hatte sie ja eine Art Geisteskrankheit. Umso schlimmer, dass diese Hebamme sich auf den Handel einließ. Sie war eben doch eine Hexe, diese Brigitte Wiesner! Da konnte sie kilometerlang reuevolle Briefe schreiben, das machte nichts wieder gut! Sie hätte Gero sagen müssen, was seine verrückte Frau vorhatte. Und wenn er doch davon wusste?

Das Buch war Chiara aus der Hand gerutscht und polternd auf den Boden gefallen. In dem alten Haus setzte sich der Schall grollend fort. Chiara erstarrte und wagte nicht, sich zu rühren. Da entdeckte sie, dass etwas aus dem Buch herausgerutscht war. Vorsichtig zog sie es vollständig hervor. Es war eine Fotografie. Sie zeigte den Oberkörper einer blonden Frau, die ihren Kopf an den Hals eines braunen Pferdes mit Sternblässe schmiegte. Da öffnete sich plötzlich die Zimmertür. Chiara gelang es gerade noch, die Fotografie wieder zwischen die Seiten zu schieben. Gero füllte mit seiner mächtigen Gestalt den Türrahmen aus. Unwillig sah er zu Chiara, die zusammengekauert auf der Bettkante saß und ein Buch in den Händen hielt. »Was zum Teufel machst du hier?«, herrschte er sie an.

»Ich lese«, piepste sie.

Er musterte sie misstrauisch. »Bist du allein?« Er warf einen Blick hinter die Tür.

»Was denkst du denn?«, fragte Chiara, die langsam wieder Fassung gewann.

Geros Blicke hefteten sich auf das Buch. »Und warum liest du ausgerechnet hier und nicht in deinem Zimmer?«

»Mir war gerade danach, weil ich an Maurice gedacht habe. Da wollte ich ihm nahe sein.«

Gero brummte. Die Zornesfalten auf seiner Stirn glätteten sich etwas. Chiara betrachtete ihn aufmerksam. »Es ist das Zimmer, in dem er seinen ersten Atemzug getan hat«, erklärte sie leise.

Über Geros Gesicht flog ein Schatten. Sein Blick wanderte vom Buch zum Fenster hinaus in die Ferne. »Ja«, flüsterte er. »So kann man das auch sagen.«

Chiara zauberte ein versonnenes Lächeln in ihre Mundwinkel. »Warst du eigentlich bei seiner Geburt dabei – damals?«

Geros Blick kehrte zurück ins Zimmer. Er sah Chiara erstaunt an. »Nein!«, sagte er entrüstet und Chiara nickte stumm. Seine Gesichtszüge hatten sich wieder verhärtet. »Komm jetzt raus hier!«, sagte er barsch. Chiara gehorchte ohne Widerspruch. Mit dem Buch in der Hand drückte sie sich an ihm vorbei. Er schaute ihr nach, bis sie über die Treppe im Dachgeschoss verschwunden war und er das Einschnappen ihres Türschlosses vernahm. Dann griff er in seine Jackentasche und zog sein Smartphone hervor. »Köhler!«, bellte er in das Gerät. »Ich möchte, dass Sie ein Zimmer im Haus entrümpeln. Und zwar vollständig bis auf das letzte Blatt Papier. Haben Sie verstanden?«

Chiara betrachtete die Fotografie. Die Frau musste Friederike von Bentheim sein. In ihrem Gesicht gab es deutliche Ähnlichkeiten mit Maurice. Und mit Max. Chiara schluckte. Sollte sie ihn anrufen und ihm sagen, was sie entdeckt hatte? Sie erinnerte sich, dass sie sich schon einmal in diesem Zwiespalt befunden hatte. Jetzt war alles viel schlimmer. Egal, was es war, sie würde eine schreckliche Wahrheit zutage fördern, denn letztendlich würde sie den Grund herausfinden, warum Max getötet werden sollte. So etwas durfte man keinem Menschen mitteilen. Sollte sie dennoch weiterforschen? Die von Bentheims waren nicht ihre Familie. Die gingen sie gar nichts an. Insgeheim sehnte sie schon den Tag herbei, an dem sie ausziehen und ein eigenes Leben fern von Gero von Bentheim führen konnte. Ein paar Jahre noch.

Und Max? Wollte sie wegen Max die letzte Wahrheit herausbekommen? In ihr schäumte ein übermächtiges Gefühl des Aufbegehrens. Ja, das wollte sie. Sie wollte wissen, warum jemand Max das Leben nicht gegönnt hatte. Sie wollte wissen, ob noch immer Gefahr für ihn bestand. Sie musste alles herausfinden, um ihn schützen zu können. Es war ihr gleichgültig, in welche Gefahr sie sich selbst dabei begab. Sie packte das Buch an beiden Deckeln und hielt es nach unten. Die Seiten fächerten sich auf. Chiara schüttelte es, und tatsächlich segelte noch ein dünnes Blatt Papier von der Größe einer Postkarte heraus. Mit blauer Tinte waren einige Zeilen notiert.

Liebe Friederike,

anbei ein schönes Foto von Dir und Artos. Nochmals herzlichen Dank für die großzügige Reitbeteiligung. Versprochen! Ich kümmere mich um Dein Hottehü! Artos kommt schon gut zurecht mit mir, auch wenn er noch ein junger und ungestümer Racker ist. Viel Spaß mit der Gesamtausgabe von Wilhelm Busch, alles Gute, vor allem Gesundheit, wünscht

Alexandra Meixner

Chiara legte das Blatt zur Seite und entdeckte auf dem Teppich, dass noch etwas aus dem Buch herausgefallen war. Sie hob es nachdenklich auf und inspizierte es. Plötzlich begann sie zu verstehen. Ihr Herz klopfte heftig. Sie betrachtete noch einmal das Foto der Frau. Sie sah sehr freundlich aus. Ihre Augen strahlten ein warmes, inneres Glück aus. Wie liebevoll sie sich an den Hals des Pferdes lehnte! Artos! Er war jetzt Michelles Pferd.

Chiara versuchte sich zu erinnern. Es war etwa vier Jahre her, dass Gero Michelle zu Weihnachten plötzlich dieses Pferd geschenkt hatte. Er hatte so getan, als hätte er es gerade neu erworben. Dabei hatte es ihm wohl schon seit Jahren gehört. Franca hatte sich damals aufgeregt. Michelle konnte noch gar nicht reiten und dieser große Wallach war viel zu mächtig und gefährlich für sie.

Chiara versteckte die Fotografie in ihrer Schultasche und griff nach ihrem Smartphone. Ein Anruf in der Reitschule genügte und sie erfuhr, dass Artos bis vor vier Jahren von Dr. Alexandra Meixner geritten worden war. Vor vier Jahren war sie als Ärztin nach Afrika gegangen und hatte das Pferd wieder an Gero von Bentheim zurückgegeben. Leichte Enttäuschung machte sich in Chiara breit. Afrika! Zu gerne hätte sie mit dieser Alexandra Meixner einmal gesprochen. »Wissen Sie, wie man sie dort erreichen kann?«, fragte Chiara.

»Dort gar nicht mehr. Sie ist seit ein paar Wochen wieder im Land und reitet jeden Freitag bei uns«, erfuhr Chiara zu ihrer Freude.

Am nächsten Tag brauchte sie eine gute Ausrede, um Max zu erklären, warum sie sich an diesem Wochenende nicht sehen konnten. Sie erfand eine sich ankündigende Magen-Darm-Verstimmung, die bestimmt sehr ansteckend sei und die sie ihm in seiner momentanen Situation nicht zumuten wollte.

Max ließ sich nur ungern von ihr überzeugen, dass es so zu seinem Besten wäre. Ihm stand ein Wochenende mit Krankenhausbesuchen bevor. Gerne hätte er sich durch Kino mit Chiara ein bisschen abgelenkt.

Die groß gewachsene, dunkelhaarige Frau stand trotz der eisigen Kälte in Reithose und geöffneter Jacke draußen auf dem gepflasterten Hof und war damit beschäftigt, die Hufe eines Schimmels auszukratzen. Über dem Rücken des Pferdes war eine dunkelblaue, flauschige Decke ausgebreitet. In eine Ecke war mit Goldbuchstaben das Monogramm A.M. eingestickt. In gebückter Haltung wechselte die Frau hinüber zum nächsten Hinterlauf des Pferdes und umfasste mit sanftem Griff die Fessel. »Na komm, gib Huf!«, sagte sie. Das Tier tänzelte nervös und drängte die Frau zur Seite. Die lehnte sich ohne jede Aufregung gegen das Pferd und drückte es konsequent zurück. Auf das abermals ausgesprochene Kommando hob es schließlich sein Bein an und ließ die Reiterin gewähren.

Chiara entschied, dass sie Alexandra Meixner zweifelsfrei identifiziert hatte und trat heran. »Guten Tag«, sagte sie. »Der Schimmel ist wohl ein bisschen zickig. Soll ich was helfen?«

Alexandra Meixner sah flüchtig auf. »Nein, geht schon. Der ist leider so ein typisches Reitschulpferd. Hart im Maul und wenig sensibel bei den Kommandos. Kann man ja auch verstehen, wir wären auch nicht anders, wenn wir ständig mit kleinen, herrischen Dämchen konfrontiert wären, für die so ein Pferd nur eine andere Form von Barbiepuppe ist.«

Chiara legte die Stirn in Falten und überlegte, wie sie das Gespräch am besten auf den Punkt bringen könnte. Alexandra Meixner richtete sich auf und strich sich mit dem Handrücken eine Strähne aus der Stirn. »Oder habe ich dich jetzt beleidigt, weil du dich angesprochen fühlst?«

Chiara schüttelte den Kopf. »Ich reite gar nicht, sondern nur meine kleine Schwester. Pferde sind mir eine Nummer zu groß. Ich hatte es früher eher mit Meerschweinchen.«

»Die sind in der Tat pflegeleichter«, lächelte die Frau. »Allerdings, wenn man einmal sein Herz an die Pferde gehängt hat, wird man das so leicht nicht mehr los. Ich werde mir bald ein eigenes kaufen.«

»Haben Sie bisher immer nur Schulpferde geritten? Das war bestimmt kein Vergnügen!«

Die Hand von Alexandra Meixner tätschelte den Hals des Schimmels. Dann löste sie den Führstrick vom Geländer und setzte sich in Richtung Stall in Bewegung. Das Tier folgte ihr willig. »Früher hatte ich über Jahre hinweg eine Reitbeteiligung an einem wunderbaren Hannoveraner. Seine Besitzerin wurde sehr krank. Dadurch war er eigentlich mehr mein Pferd als ihres.«

Chiara folgte in Hörweite, aber in sicherem Abstand zu den klappernden Hufen. »Verstehe. Und warum haben Sie den Hannoveraner jetzt nicht mehr?«

Die Frau führte den Schimmel in eine Box, löste den Strick und nahm ihre Decke vom Pferderücken. »Ich bin Ärztin und habe in den letzten Jahren an einer Klinik in Kenia gearbeitet.« Sie schob die Tür zu und vergewisserte sich, dass der Riegel eingerastet war.

Chiara schaute durch das Gitter zu, wie das Pferd sich über seinen Futtertrog hermachte. »Das war bestimmt eine harte Erfahrung für Sie.«

»Teils, teils«, antwortete Dr. Meixner. »Die Problemchen, mit denen hier die Leute ständig zum Arzt rennen, sind dort keine. Dort kommen die Menschen oft erst, wenn sie mit ihren Mitteln nicht mehr weiter wissen, also wenn die Krankheit sich bereits im fortgeschrittenen Stadium befindet. Aids, Malaria, schwere Wundinfektionen.«

Chiara sah nachdenklich auf den bebenden Rücken des Pferdes. »Dann haben Sie bestimmt viele Menschen sterben sehen.«

Dr. Meixner atmete hörbar tief ein. »Ja, das habe ich. Man lernt vor allem eines: Demut. Man lernt, dass wir Menschen trotz größter medizinischer Fortschritte nie alles im Griff haben werden. Diese Hybris unserer modernen Zivilisationsgesellschaft, die ist auf einmal weg. Es gibt Krankheiten, die sind nicht heilbar. Man bekommt einen ganz anderen Blick auf das eigene Leben und lernt viel mehr, den Tag zu nutzen, als in eine ferne Zukunft zu planen. Ein Augenblick voller Menschlichkeit ist wichtiger als ein gut geführtes Aktienpaket.« Alexandra Meixner warf die Pferdedecke über ihre Schulter und musterte Chiara mit einem versonnenen Lächeln. »Tut mir leid. Ich wollte dir keine philosophischen Vorträge halten.«

Chiara nickte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich höre Ihnen gern zu. Seit mein Bruder vor eineinhalb Jahren starb, denke ich oft über solche Themen nach.«

»Oh, das tut mir leid. War es ein Unfall?«

»Wahrscheinlich Suizid.«

»Das ist doppelt schlimm und lässt die Angehörigen sehr verstört zurück. Kennt man denn den Grund?«

»Ich versuche immer noch, das herauszufinden. Vielleicht hat es etwas mit seiner Mutter zu tun. Sie hieß Friederike von Bentheim.«

Alexandra Meixner erstarrte. Einige Augenblicke hatte Chiara das Gefühl, ihre Gesprächspartnerin sei mit den Gedanken weit weg und habe sie völlig vergessen. Dann jedoch kam wieder Bewegung in ihr Gesicht. »Wie hieß er noch? Marc? Marcel?«

»Maurice«, sagte Chiara.

Dr. Meixner nickte. Plötzlich fixierte sie Chiara und sagte mit sichtlicher innerer Bewegung: »Und du? Ich wusste gar nicht, dass sie so kurz nach ihm noch eine Tochter bekommen hat?«

»Ich bin so alt wie er. Meine Mutter ist die zweite Frau von Gero von Bentheim und hat mich mit in die Ehe gebracht.«

»Das ist gut«, hauchte Frau Meixner und Chiara verstand nicht, warum sie plötzlich so erleichtert aussah. Die Ärztin fuhr schnell fort: »Stimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Er hat sich ziemlich bald scheiden lassen. Ich glaube, sie wollte das sogar selbst so.«

»Waren Sie sehr gut mit Friederike von Bentheim befreundet?«

»Gut befreundet ist vielleicht zu viel gesagt. Gut bekannt trifft es besser. Ihr Pferd war ihr Ein und Alles und sie wusste es bei mir in guten Händen, wenn sie gesundheitlich nicht in der Lage war, sich darum zu kümmern. Ja, und als Ärztin konnte ich ihr hier und da auch mal einen guten Rat geben.«

»Was war denn das für eine Krankheit, die sie hatte?«

Alexandra Meixners graue Augen fixierten Chiara auf eine Art und Weise, dass man meinen könnte, sie hätte etwas ganz und gar Ungeheuerliches gefragt. »Hat Gero von Bentheim das denn nie erzählt?«, wollte sie wissen.

»Nein. Aber bitte, können Sie es mir vielleicht erklären? Es könnte sein, dass es etwas mit Maurice’ Tod zu tun hat.«

Alexandra Meixner schüttelte sofort heftig den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Maurice war gesund. Sie hatten das testen lassen.«

»Was hatten sie testen lassen?«, fragte Chiara.

Alexandra Meixner bückte sich nach dem kleinen Kunststoffkoffer mit dem Putzzeug und sagte: »Komm, ich lade dich drüben ins Reiterstübchen ein. Dann erkläre ich dir die Zusammenhänge.« Sie richtete sich vor Chiara auf und fuhr fort: »Ich denke, du hast ein Recht alles zu erfahren, damit du verstehst, dass es mit dem Tod deines Bruders nichts zu tun hat.«

Beim Hinausgehen durch die Stallgasse kamen sie an Artos’ Box vorbei. Er stieß mit der Nase gegen das Türgitter und schnaubte anhaltend. Aus seiner Kehle drang ein fast gurrender Laut. Alexandra Meixner presste die flache Hand gegen das Gitter und lächelte sanft. »Siehst du, er kennt mich noch. Na, mein Guter, leider wird das nichts mehr mit uns.«

»Warum nicht? Meine kleine Schwester hat einen Terminkalender wie eine Managerin, da wäre es sogar gut, wenn er noch von jemand anderem bewegt werden könnte.«

Alexandra Meixner trennte sich mit traurigem Blick von dem Pferd und ging zügig weiter. »Das dachte ich auch. Doch Gero von Bentheim hat bereits abgelehnt.«

»Wie dumm«, kommentierte Chiara.

»Aber eigentlich vorhersehbar. Ich kannte ihn immer als Radierertypen.«

Chiara lachte auf. »Radierertyp«? Was ist denn das?«

Alexandra Meixner wandte sich mit schelmischem Lächeln zu ihr um: »So nenne ich Menschen, die Probleme lösen, indem sie sie einfach auslöschen. So nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Also, weg damit. Tabula rasa. Seine Ex- Frau war ein Problem. Also weg mit ihr und auch weg mit allen, die sie mal gekannt haben. Ausradiert. Dass sie vorletzten Herbst gestorben ist, hatte ich auch erst erfahren, als ich nach meiner Rückkehr in der Klinik anrief, um sie zu besuchen.«

»Sie kannten die Klinik?«

»Ja.« Alexandra Meixner blieb abrupt stehen und wandte sich dann zu Chiara um. »Moment mal. Jetzt verstehe ich erst die Bemerkung der Dame am Empfang. Damals hatte ich sie gar nicht ernst genommen. Ich hatte gedacht, dass sie etwas verwechselt haben muss. Sie sagte, dass die Patientin leider verstorben sei und dass ihr letzter Besucher im Juni 2011 ihr Sohn gewesen wäre. Wann starb dein Bruder?«

»August 2011.«

»Wäre es möglich, dass er herausgefunden hat, in welcher Klinik sie war und sie besucht hat?«

»Gero hat uns immer in dem Glauben gelassen, dass Maurice’ Mutter bei der Geburt gestorben sei. Ich weiß, dass Maurice vor seinem Tod einiges recherchiert hat, vielleicht auch das.«

»Das ist furchtbar!«

»Was ist daran furchtbar, wenn man seine Mutter endlich findet und sie besuchen kann?«

»Furchtbar ist, dass sie damals schon im Endstadium ihrer Krankheit war. Das muss eine grauenhafte Erfahrung gewesen sein. Dass er dann allerdings deswegen in einer Art Kurzschlussreaktion Selbstmord verübt hat, ist wiederum unwahrscheinlich, weil dazwischen ja fast zwei Monate lagen. Seltsam.«

Das kleine Lokal gehörte zur Reitanlage. Eine Wand war verglast und gab den Blick auf eine Reithalle frei, in der gerade eine Gruppe von Mädchen in Michelles Alter auf wackligen Pferderücken ihre Runden drehte.

Alexandra Meixner nippte an ihrem Kaffee. Dann schaute sie eine Weile bei der Reitstunde zu und begann so plötzlich zu reden, dass Chiara unwillkürlich zusammenzuckte. »Friederike hatte bereits erste Symptome, als wir uns hier in der Reithalle kennenlernten. Das muss so Mitte der neunziger Jahre gewesen sein. Damals war sie Anfang dreißig. Sie sprach von heftigen Kopfschmerzen. Anfallartig. Ich riet ihr zu allen möglichen Therapien, die es bei Migräne so gibt. Dann kam Vergesslichkeit dazu. Stimmungsschwankungen. Gefühllosigkeit in den Gliedmaßen. Ich befürchtete Multiple Sklerose und riet ihr dringend, das medizinisch abklären zu lassen. Sie ließ sich untersuchen. Negativ. Allgemeines Aufatmen. Doch die Symptome kamen immer wieder. Einmal sah ich, wie sie entnervt auf ihr Pferd einschlug. Da bot ich ihr an, das Tier zeitweise zu übernehmen. Ich sprach sie auf ihr unkontrolliertes Verhalten an, sie sagte, dass es bei ihr in letzter Zeit immer häufiger zu solch plötzlich auftretenden Wutanfällen gekommen sei, die sie nicht erklären könne. Auch hätte sie manchmal das Gefühl, dass ihre Gliedmaßen ihr nicht mehr gehorchten und unkontrollierte Bewegungen ausführten. Ich sah sie dann eine Weile nicht mehr und begegnete ihr bei einem Turnier auf der Zuschauertribüne. Sie war überglücklich und berichtete mir, dass sie nach zwei Jahren vergeblicher Hoffnung endlich schwanger sei. Ich gratulierte ihr und sah sie wieder einige Monate nicht. Wie gesagt, wir waren nicht wirklich befreundet. Freundschaft, das ging mit ihr irgendwie nicht. Sie war sehr distanziert und verschlossen, ließ andere nicht gerne an sich heran. Eines Tages besuchte ich sie. Der Grund war noch nicht einmal sie, sondern das Pferd. Artos hatte Husten und brauchte ein teures Medikament. Sie machte auf mich einen sehr schlechten Eindruck, war fahrig und nervös, fühlte sich von mir bei der kleinsten Bemerkung sofort angegriffen. Ich beobachtete nun mit eigenen Augen, dass sie in der Tat Probleme hatte, die Bewegungen ihrer Muskeln zu kontrollieren, vor allem im Gesicht. Diese Symptome ließen bei mir einen schlimmen Verdacht aufkommen. Ich riet ihr dringend, einen Gentest machen zu lassen und empfahl ihr mehrere Labors. Einige Wochen später passte sie mich im Reitstall ab. Sie war völlig verzweifelt. Der Gentest hatte eindeutig bestätigt, dass sie Genträgerin der Chorea Huntington war.«

»Korea was?«, fragte Chiara.

»Der deutsche Name dafür ist Veitstanz wegen dieser merkwürdigen Muskelzuckungen. Auf Englisch heißt es Huntington’s disease, abgekürzt HD.«

»HD?«, rief Chiara und einige Gäste wandten sich erstaunt zu ihr um. »Ich dachte, so hieße diese Hüftgelenks-irgendwas?«

»Hüftgelenksdysplasie. Ja, das wird auch mit HD abgekürzt.«

Chiara atmete keuchend und starrte vor sich hin. »Jetzt ist alles klar. Darüber hat Maurice recherchiert. Was ist das für eine Krankheit? Ist die ansteckend?«

Alexandra Meixner schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Nein, ich sagte doch, es ist eine Erbkrankheit. Kennst du dich ein bisschen aus mit Genetik?«

Chiara nickte und dachte an die Unterlagen von Maurice. Er hatte nicht heimlich Bio vorausgelernt, sondern sich mit dieser Krankheit beschäftigt. Woher wusste er, dass seine Mutter sie hatte?

»Ich bestelle uns noch eine große Flasche Wasser«, entschied Alexandra Meixner und hob die Hand, dann redete sie weiter: »Wer diese Krankheit von Mutter oder Vater geerbt hat, erkrankt etwa ab der Lebensmitte. Es beginnt meistens mit den Symptomen, die ich dir geschildert habe, die verschlimmern sich zunehmend, bis der Erkrankte seine Bewegungen kaum noch kontrollieren kann, die Muskeln verkrampfen schmerzhaft, im Gesicht entstehen diese Grimassen. Der Tod erfolgt irgendwann durch Atemlähmung etwa zehn bis fünfzehn Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome.«

Chiara war der Schilderung mit Entsetzen gefolgt. »Und da gibt es keine Hilfe?«

»Kaum. Man kann Medikamente gegen die Schmerzen und Krämpfe geben, den Tod ein bisschen erleichtern, mehr nicht. Wer die Krankheit geerbt hat, bekommt sie und stirbt sicher daran. Es ist ein dominanter Erbgang.«

Chiara dachte an rote und weiße Blüten und Kreuzungsgitter, die sie in der Schule gezeichnet hatten. Es war eine Art Knobelspiel gewesen. Plötzlich hatte diese Unterrichtseinheit eine neue Dimension in der Wirklichkeit bekommen. »Wie wahrscheinlich ist es, dass man die Krankheit bekommt, wenn man weiß, dass ein Elternteil sie hat?«

»Der Genfehler sitzt auf einem Partner des Chromosomenpaares Nr. 4, die Wahrscheinlichkeit liegt also bei 50 Prozent, weil bei der Bildung der Keimzellen die Chromosomenpaare getrennt werden.«

Chiara nickte. Meiose. Das hatte sie neulich noch gelernt. Einfach so, wie man den leblosen Schulstoff für den nächsten Test lernt. »Fifty-fifty«, flüsterte sie.

Die Kellnerin hatte das Wasser gebracht und schenkte ein. Chiara trank gierig und Alexandra Meixner beobachtete sie dabei. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Maurice war nicht krank. Als ich Friederike ein paar Wochen nach der Geburt besuchte, sprachen wir darüber. Sie hatte gleich nach der Geburt Genmaterial von ihm an eines der Labore geschickt. Das Ergebnis war eindeutig. Sie hat mir den Laborbericht sogar gezeigt. Wir waren sehr erleichtert.«

»Trotzdem wird erzählt, dass sie sich nicht sehr viel um Maurice gekümmert hat.«

Dr. Meixner nickte. »Sie hatte vermutlich auch aufgrund ihrer Krankheit eine schwere Wochenbettdepression. Aber auch hier hatten die von Bentheims Glück, weil sie eine sehr gute Kinderfrau hatten, die sich liebevoll um den Kleinen kümmerte.«

»Frau Köhler«, sagte Chiara.

»Mag sein, dass sie so hieß«, sagte Alexandra Meixner und griff nach ihrem Glas.

Chiara schaute einen Moment der perlenden Flüssigkeit in ihrem Glas zu. Dann hob sie plötzlich den Blick. »Und wie ist das bei Zwillingen?«

»Bei Zwillingen? Du meinst die Wahrscheinlichkeit, dass es vererbt wird?«

Chiara nickte heftig und die Meixner erklärte: »Ganz einfach. Die haben es beide oder sie haben es beide nicht.«

»Beide?«, fragte Chiara. Ihre Stimme klang schrill.

Die Ärztin betrachtete Chiara nachdenklich, dann korrigierte sie sich: »Es sei denn, es sind zweieiige Zwillinge. Da kann es sein, dass der eine es hat und der andere nicht.«

»Der eine hat es und der andere nicht«, flüsterte Chiara. Aus ihren Augen liefen Tränen. Maurice hatte es nicht. Max hat es, setzte sie in Gedanken fort. Ihre Hände zitterten. »Und was machen Eltern, wenn sie erfahren, dass ihr Kind die Krankheit geerbt hat?«

»Heute kann man das schon früh in der Schwangerschaft feststellen. Es ist erlaubt, in dem Fall abzutreiben.«

»Und bei Zwillingen, bei denen man feststellt, dass der eine es hat und der andere nicht?«, fragte Chiara und bemühte sich um Fassung.

Dr. Meixner schüttelte den Kopf: »Du stellst vielleicht Fragen! Bei Zwillingen wäre es in dem Fall schwierig. Bei einer möglichen Abtreibung würde man immer auch das Leben des gesunden Kindes gefährden. Warum willst du das so genau wissen?«

»Nur so«, sagte Chiara leise. »Wir haben gerade Genetik in der Schule.«

Dr. Meixner nickte und betrachtete Chiara kritisch. »Du scheinst eine gute Schülerin zu sein.«

Chiara nickte ohne Begeisterung, dann fragte sie weiter: »Und wenn solche Zwillingseltern nach der Geburt wissen, dass sie das kranke Kind nicht behalten wollen?«

»Glaubst du, man kann bei uns einfach so ein Kind abschieben, weil es krank ist? Das ist strafbar.«

Chiaras Gesicht sah plötzlich blass und müde aus. Kaum hörbar sagte sie: »In dem Fall würde der eine Zwilling eines Tages erfahren, dass man ihn nur deshalb nicht abgetrieben hat, damit sein Geschwister geboren werden kann. Wie gehen Eltern damit um? Sagen sie das eines Tages ihren Kindern? Sagen sie ihnen, hör mal, du wirst leider nicht sehr alt werden und sehr qualvoll und lange sterben. Dafür durfte dein Bruder leben, freu dich!«

»Bruder? Wieso sagst du Bruder. Es könnte auch eine Schwester sein«, korrigierte Dr. Meixner und warf Chiara einen nachdenklichen Blick zu.

»Gut, dann eben Schwester. Auf jeden Fall ist es der Horror oder etwa nicht?«

»Das ist alles sehr theoretisch, worüber wir uns hier unterhalten«, sagte Alexandra Meixner um Sachlichkeit bemüht. »Auf Hundertausend Geburten kommen etwa fünf, bei denen dieses Gen auftritt. Eine verschwindend geringe Anzahl davon betrifft Zwillingsgeburten. Meist sind es eineiige Zwillinge. Die Wahrscheinlichkeit, dass zweieiige Zwillinge geboren werden und der eine den Defekt aufweist und der andere nicht, tendiert gegen null. Also brauchst du dir darüber den Kopf nicht zu zerbrechen.«

»Trotzdem kann es das geben. Und was ist, wenn Eltern sich entschließen, das kranke Kind gleich nach der Geburt zu töten?«

Dr. Meixner starrte Chiara entsetzt an. »Nun ist aber mal Schluss! Was sind denn das für Fragen? Dann wäre das Kindsmord.«

Chiaras Lippen zitterten. »Den kann man auch vertuschen, oder?«

Die Meixner nickte langsam und beobachtete Chiara aufmerksam. »Und du willst das alles wirklich nur aus biologischem Interesse wissen und nicht, weil du einen konkreten Anlass hast?«

Chiara ging nicht auf die Frage ein. »Kann man eine Zwillingsschwangerschaft verheimlichen?«

Dr. Meixner sah nachdenklich durch das Fenster zur Reithalle. Sie zuckte mit den Schultern. »Was heißt verheimlichen? Man kann den Freunden und Bekannten erzählen, dass man nur ein Kind bekommt. Wenn man Privatpatient ist, kann man die Ärzte ständig wechseln. Nur spätestens bei der Geburt wird doch klar, dass da zwei Kinder kommen und nicht eines.«

Dr. Meixner musterte Chiara besorgt. Das Mädchen fixierte mit starrem Blick die dunkle Tischplatte, als sei sie ein Display mit einem grausigen Film. Dann sprang Chiara plötzlich auf, bedankte sich kurz für die Einladung und verschwand.

Alexandra Meixner sah ihr gedankenverloren nach.

Samstag, der 19. Januar

Man glaubt es nicht, aber dieses Tagebuch hat die Katastrophe tatsächlich im Bauch des Tigers einigermaßen überstanden. Die Seiten sind ein bisschen gewellt von der Feuchtigkeit, aber ansonsten alles okay.

So ähnlich ist es auch mit uns. Oma hat alles bestens verkraftet und empfängt im Krankenhaus ihr komplettes Kaffeekränzchen. Sie muss dann noch ein paar Wochen in die Reha. Die Zeit will Papa nutzen, um sich um den Wiederaufbau zu kümmern. Er sitzt im Krankenhausbett und zeichnet Pläne. Alle loben Opa Friedhelm, der, ohne dass es einer ahnte, eine super Versicherung abgeschlossen hat, die fast alle Kosten übernimmt. Originalton Oma dazu: Das hat er mir verheimlicht, mein Friedhelm, weil er genau wusste, ich schimpfe, dass er sich schon wieder etwas hat aufschwätzen lassen. Da sieht man’s mal wieder. Alles hat irgendwo sein Gutes.

Die Nachbarn haben außerdem noch ein Spendenkonto eingerichtet und ein anonymer Spender hat dort einen ziemlich dicken Betrag eingezahlt. Kurt Herold hat es gleich in den Fingern gejuckt, weil er der Ansicht ist, dass es der Brandstifter war, weil den das Gewissen plagt.

Morgen kommt Papa raus und ich wette, dass er mich dann zu seinem Kompagnon in Sachen Hausbau macht. Hallo, ihr Baumärkte, wir kommen!

Ich hab gerade unten mit den Herolds und Mama Sonja gefrühstückt. Sitze nun in dem Zimmer von Herolds Sohn, das aussieht wie eine Abstellkammer und fühle mich auch so. Abgestellt. Entsorgt. Mama Sonja geht es ähnlich. Ohne Andreas ist sie zu keinem vernünftigen Schritt fähig. War das schon immer so? Ich frag mich, ob ich später irgendwann auch mal mit einer Frau leben will, die dermaßen abhängig von mir ist. Nee, wirklich nicht. Dann lieber eine wie Chiara. Eine, die ihren eigenen Kopf hat und Entscheidungen fällt und selbst weiß, was sie tut. Zurzeit geht sie mir damit allerdings ein bisschen auf den Keks. Von wegen sie fühle, dass da was mit Magen-Darm auf sie zukommt. Das glaubt, wer will, ich nicht. Sie hat da irgendein Ding am Laufen und will mir nichts darüber erzählen. Vielleicht hat es mit diesen Briefen von der Wiesner zu tun. Sie meinte, die müsste man noch einmal genau lesen. Darin sei eine Botschaft verborgen. Okay, das mit Max und Moritz könnte eine Andeutung sein, dass Maurice und ich tatsächlich Zwillinge sind. Irre, dass das jetzt herauskommt, wo es mir eigentlich gar nicht mehr so wichtig ist. Heute Morgen habe ich aus purer Langeweile die Briefe noch einmal gelesen. In dem Brief, den die Wiesner an meine Oma geschrieben hat, gibt es eine merkwürdige Passage.

Max legte das Tagebuch beiseite und kramte den Brief noch einmal hervor. Wieder las er den Abschnitt und schrieb ihn in sein Tagebuch ab.

Ich weiß, dass ich dadurch einen jungen Menschen mit einer schlimmen Nachricht konfrontieren muss, aber dieses Schicksal habe ich selbst verursacht.

Welchen jungen Menschen meint sie? Maurice oder mich?

Was soll das für eine schlimme Nachricht sein? Meint sie, dass sie mich über meinen Start im Krankenhausklo aufklären will, oder wollte sie Maurice etwas mitteilen? Vielleicht, dass er einen Zwillingsbruder hatte? Wäre das so schlimm?

Aber vielleicht wollte sie ihm auch mitteilen, dass er Eltern hat, die seinen Bruder töten wollten. Das ist schlimm. Mir ist das inzwischen beinahe egal. Ich habe andere Sorgen. Was immer damals im Haus der Bentheims vor sich gegangen ist, ich will es echt nicht mehr wissen. Solche Leute als Eltern, nee danke!

Max wollte den Brief wieder in die Keksdose zurücklegen. Da blieb sein Blick an den nächsten Zeilen hängen.

Was mein Auftraggeber nicht weiß, vielleicht aber ahnt, ist, in welchem Ausmaß ich ihn betrogen habe. Es war mir eine gewisse Genugtuung, ihn auf meine Weise seine Sünde büßen zu lassen.

Max dachte nach. Was meinte die Wiesner damit? Meinte sie nur, dass sie das Kind ausgesetzt hat, anstatt es zu töten oder hat sie noch etwas anderes gemacht? Aber was?

Egal!

Max verstaute die Papiere wieder in der Keksdose und schrieb eine SMS an Chiara. Missmutig las er ihre Antwort. Wieder ein Korb! Es ginge ihr gerade so schlecht. Die hatte gut reden in ihrem Nobeltempel!

Chiara schlug die Augen auf. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie wieder wusste, wo sie war. Sie befand sich in ihrem Zimmer und lag wie ein verletztes Tier zusammengerollt zwischen Kissen und Decken in ihrem Bett.

Es war Wochenende, genauer gesagt Samstagnachmittag. Es war das schlimmste Horrorwochenende ihres Lebens. Am Freitag hatte sie mit Alexandra Meixner gesprochen. Freitagabend nach dem Essen hatte sie gehört, dass Franca und Gero sich heftig stritten. Franca hatte dann eine große Reisetasche und Michelle ins Auto gepackt und Chiara weismachen wollen, sie fahre jetzt gemeinsam mit der Kleinen zu einem Wellness-Wochenende. Sie erklärte das mit einem plötzlich entdeckten günstigen Angebot für Schnellentschlossene, das sie sich nicht entgehen lassen wollte. Chiara hatte nur müde gelächelt und ihr und Michelle gute Erholung gewünscht.

Den Samstagvormittag hatte sie in ihrem Zimmer am Computer verbracht. Sie hatte die Links im Internet aufgerufen, die sie in Maurice’ Blättern finden konnte und dadurch seine Unterlagen nahezu vollständig rekonstruiert. In der Tat hatte er sich bis ins kleinste Detail kundig gemacht über diese schreckliche Krankheit. Aber warum hatte er das getan? Er war doch gesund?

Unter einen Text über den Verlauf der Krankheit hatte Maurice geschrieben: Live hard, love deep, die young! Lebe heftig, liebe tief, stirb jung, übersetzte Chiara. Irgendwo hatte sie diesen Spruch schon einmal gehört. Es war das Lebensmotto von jemandem, der nur noch in der Gegenwart zu Hause war, für den es keine Zukunft mehr gab. Ein Zukunftsverweigerer. Eigentlich passte das nicht zu Maurice. Hatte er diesen Spruch für sich aufgeschrieben oder als Fazit zum Leben seiner Mutter?

Irgendwann in diesem verhängnisvollen Sommer 2011 schien es ihm tatsächlich gelungen zu sein, sie ausfindig zu machen und zu besuchen. Warum hatte er das getan? Nie hätte sie den coolen Maurice als jemanden eingeschätzt, der sich sentimental auf die Suche nach seiner Mutter machte. Nie hatte er von ihr gesprochen. Eigentlich hatte er doch gar keine Bindung zu dieser Frau gehabt. Warum besucht man eine Person, die einem eigentlich gleichgültig ist, über die man aber erfährt, dass sie eine grausame Krankheit hat? Aus Mitgefühl? Maurice? Niemals! Nach langem Abwägen fiel Chiara nur ein einziges Motiv ein, das zu Maurice passte. Er hat seine Mutter besucht, nicht weil sie seine Mutter war, sondern weil er mit eigenen Augen sehen wollte, wie das Endstadium dieser Krankheit aussah. Und dergleichen tat man nicht, wenn man gesund war, dergleichen tat man, wenn man wusste, dass man selbst dieses Gen in sich trug. Wie um alles in der Welt war er zu dieser Annahme gekommen?

Mit einem Mal stand Chiara die Lösung vor Augen. Atemlos hatte sie sich Notizen in Form eines Mindmaps gemacht. In der Mitte standen Max und Maurice. Max’ Namen hatte sie in roter Schrift geschrieben. Maurice’ Namen in Grün. Einer grün, einer rot, einer krank, einer gesund, flüsterte sie.

Dann trug sie in die Übersicht alle ihr bekannten Stationen des Lebens der beiden Jungen ein und dazu Personen, zu denen sie notierte, wann sie über welche Informationen verfügt haben und was sie damit hätten anfangen können. Der Wortlaut des Streites zwischen Brigitte Wiesner und Gero kam ihr dabei so lebendig in den Sinn, als stände sie gerade dabei. Knöchlein oder Hölzchen?

Sie ließ den Stift sinken und wusste nicht, was sie jetzt fühlen sollte. Erleichterung und grenzenlose Trauer vermischten sich. Rot und Grün verschwammen ineinander. Irgendwann musste sie eingeschlafen sein.

Sie setzte sich mit einem Ruck auf und bewegte sich auf wackligen Beinen zum Fenster in der Dachgaube. Sie öffnete beide Flügel. Eiskalte Luft schlug ihr entgegen. Die Frische tat gut. Die Landschaft sah aus wie ein naives Bild. Baum, Zaun, Gartenhaus. Über alles breitete sich eine pudrige Schneeschicht, die ein heftiger Wind zerstäubte. Das Wetter wechselte. Für morgen waren heftige Schneefälle angekündigt. Chiara wendete sich wieder ins Innere des Zimmers, nahm ihre Strickjacke vom Stuhl in der Fensternische und zog sie schnell über. Sie wollte ausgiebig lüften. Eine Windbö schlug ihr entgegen und fauchte durch die Fensterhöhle. Chiara dachte an die Papiere auf der Schreibtischplatte. Nicht dass noch etwas Wichtiges wegflog. Suchend schaute sie sich um und kniff die Augen zusammen, weil es im Zimmer viel dunkler war, als vor dem Fenster. Sie erstarrte. Nichts! Der Schreibtisch war leer, kein einziges Blatt darauf zu sehen. Dort, wo ihr Laptop gestanden hatte, ringelte sich ein einsames Kabel.

»Das gibt’s doch nicht«, flüsterte sie. »Das darf doch einfach nicht wahr sein!« Mit fahrigen Fingern durchsuchte sie ihr Zimmer. Selbst der Papierkorb war geleert. Hatte sie vielleicht selbst alles in Sicherheit gebracht und erinnerte sich nicht mehr daran, weil sie so völlig übermüdet gewesen war? »Fang ich jetzt langsam an zu spinnen?«, murmelte sie. Sie öffnete den Kleiderschrank. Nichts. Tränen der Wut schossen ihr in die Augen. Sie lief zu ihrer Zimmertür und brüllte durchs Haus: »Gero!« Noch einmal schrie sie aus Leibeskräften: »Gero! Gib mir auf der Stelle meine Sachen zurück. Du hast kein Recht mich zu beklauen! Und nützen tut es dir auch nichts! Ich weiß alles. Ich kann das jederzeit wiederherstellen. Hast du gehört?«

Es kam keine Antwort. Im Haus blieb es still. Nur der Wind pfiff ums Dach.

»Na, warte, so kommst du mir nicht davon!«, knurrte Chiara. Sie lief hinunter zu Geros Arbeitszimmer. Abgeschlossen. Chiara lachte bitter auf. Sie wusste, wo die Ersatzschlüssel zu allen Türen im Haus aufbewahrt wurden.

Wenig später kam sie mit einem Schlüsselbund zurück und fand den passenden, der ihr Eintritt in Geros verbotenes Reich gewährte. Sie stand ein wenig unschlüssig in dem düsteren Raum. Die bodentiefen Sprossentüren führten hinaus auf die Terrasse. Dort spielte der Wind mit den zarten Schneekristallen.

Warum war sie eigentlich hierher gekommen? Sie hoffte, ihre Sachen zu finden. Sie wollte Gero zur Rede stellen. Beides war nicht möglich. Mit einem Blick ins Regal stellte sie fest, dass der Ordner mit der Aufschrift »Maurice« verschwunden war. »Radierertyp«, stieß sie hervor. Eine nie gekannte Wut schäumte in ihr auf. Sie sah hinüber zu dem Sessel, der mit einer Fußbank davor zum gemütlichen Verweilen mit Blick auf Terrasse und Park einlud. Daneben stand ein kleiner Tisch mit Getränkeflaschen. »Na gut, ich kann warten«, zischte sie. Als ihr Blick über den Schreibtisch glitt, kam ihr eine Erinnerung. Diesmal war die Schublade nicht abgeschlossen. Der Umschlag mit dem Geld für Köhler war nicht mehr da. Der interessierte sie auch nicht. Sie tastete, fand das Diktiergerät und steckte es in die Tasche ihrer Strickjacke. Dann ließ sie sich auf dem Sessel nieder und schenkte sich ein wenig Bitter Lemon in ein Glas, das sie großzügig mit Wodka auffüllte. »Ich kann warten«, flüsterte sie und hatte schmale Augen wie eine lauernde Katze.

Der eisige Wind pfiff um die Ecke des alten Bahnhofsgebäudes. Justin zog seine Jacke dichter um den knochigen Körper. Der Wind trieb ihm Tränen in die Augen und er drückte sich gegen die raue mit allerlei Sprayer-Tacks übersäte Wand. Die S-Bahn aus Richtung Stadt war vor einiger Zeit angekommen. Eine Handvoll Fahrgäste hatte sich schnell in verschiedene Richtungen zerstreut und der Fahrer hatte seine übliche Pause an der Endstation eingelegt.

Justin lauschte in das Konzert des Windes hinein. Jetzt hörte er das, worauf er gewartete hatte. Es knackte und kratzte im Lautsprecher. »Bitte zurücktreten!« Dann setzte sich die Bahn mit kreischenden Schleifgeräuschen in Bewegung Richtung Stadt. Justin spähte vorsichtig um die Ecke. Der Bahnsteig war wie leer gefegt und verschwand gemeinsam mit dem Band der Schienen als lang gezogene Linie in der Dunkelheit.

Justin kontrollierte mit den Blicken vorsichtshalber alle Fenster des Bahnhofsgebäudes. Von dort drohte eigentlich keine Gefahr. Es war schon seit Jahren geschlossen. Sein Großvater hatte ihm erzählt, dass früher »richtige« Züge hier vorbeigefahren waren und sich im Innern des Gebäudes außer den Fahrkartenschaltern ein beheizter Wartesaal, eine kleine Gaststätte und ein Kiosk befunden hatten. Da war bestimmt an einem Samstagabend mehr los gewesen als jetzt. Plötzlich erstarrte Justin und stöhnte leise. Ausgerechnet der musste jetzt hier auftauchen! Eine leicht gebückte Gestalt in einem unförmigen Anorak, dessen Kapuze weit über die Stirn gezogen war, torkelte den Bahnsteig entlang. Es war Tippel-Heiner, der Justin bestens bekannt war, weil er öfter in einer der Gartenhütten in der Nähe von Mittelerde nächtigte. Tippel-Heiner zog von Papierkorb zu Papierkorb und durchsuchte sorgfältig den Inhalt nach Essbarem und nach Pfandflaschen. Bei jedem Fund stieß er ein heiseres Kichern aus und verstaute ihn umständlich in einer seiner vielen Jackentaschen. Justin verbarg sich hinter einer Ecke des Bahnhofgebäudes und lugte nervös zur Bahnhofsuhr. Endlich verschwand Tippel-Heiner wieder. Justin atmete auf. Seiner Mission stand nun nichts mehr im Weg. Es war ein selbst gestellter Auftrag, den er in regelmäßigen Abständen vor allem samstags zu dieser späten Uhrzeit erledigte. Gut zehn Minuten Zeit bis zur nächsten Bahn würde er haben. Für ihn war es eine Art heilige Handlung, ein Gelübde, das er abgelegt hatte. Er tastete vorsichtig nach dem Filzstift und wollte sich gerade von der Wand lösen, als nicht weit von ihm entfernt eine dunkel lackierte Limousine vorfuhr. Justin wunderte sich. Wer ein solch teures Auto fuhr, hatte es kaum nötig, um diese Uhrzeit bei diesem Wetter zur S-Bahn-Station zu kommen. Und abzuholen gab es hier niemanden mehr.

Justin beschloss, dass es besser war, verborgen zu bleiben und drückte sich noch enger an die Mauer, sodass er fast vollständig hinter einem Vorsprung verschwand. Ein wenig beugte er sich nach vorne, damit er beobachten konnte, was sich dort drüben abspielte. Die Fahrertür wurde weit aufgestoßen. Mit etwas unbeholfenen Bewegungen schälte sich ein groß gewachsener, korpulenter Mann mit Stirnglatze und silbrigem Haar aus dem Auto. Er richtete sich auf, knöpfte seinen weiten Mantel zu, hustete und hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

Plötzlich erkannte Justin, wer das war und erschrak. Das war der Mann, an den seine Eltern ihre Miete bezahlten und der sehr unangenehm werden konnte, wenn die nicht pünktlich eintraf. Eines Tages hatte der Mann in einer Gruppe von Bauarbeitern und Leuten mit Anzügen und Aktentaschen vor dem Haus gestanden und an der Fassade hinaufgesehen. Justins Vater hatte die Mutter und Justin auf den Balkon gerufen und hinunter gedeutet. »Schaut ihn euch genau an«, hatte sein Vater geschimpft. »So sieht der Kerl aus, der uns eines Tages hier rausjagt, weil er das Haus in einen teuren Luxusschuppen verwandeln will. Was aus uns wird, ist so einem scheißegal.« Justins Vater war schon ziemlich betrunken gewesen und hatte so laut geschrien, dass jeder es verstehen konnte. Der Mann hatte hinauf zu dem Balkon gesehen und Justin mit finsteren Blicken fixiert. Seitdem hatte er große Angst vor diesem Mann. Und nun war er plötzlich hier aus dem Auto gestiegen. Der Mann lief mit zielgerichteten, aber leicht taumelnden Schritten um das Auto herum. Dann öffnete er per Fernbedienung den Kofferraum. Der Deckel fuhr geräuschlos hoch. Der Mann beugte sich hinein und wuchtete etwas sehr Schweres und Sperriges, das in eine Decke gehüllt war, heraus. Er wandte sich mit seinem Gepäck auf beiden Armen in Justins Richtung und hantierte umständlich mit der Fernbedienung, da seine Last zu rutschen drohte und er nachfassen musste. Der Kofferraum schloss sich leise. Das fahle Licht der Straßenlaterne beleuchtete einen Augenblick, was er auf den Armen trug.

Justin erkannte ein Bein, das hin- und herbaumelte. Der Fuß steckte in dicken Wollsocken. Auch ein Arm löste sich aus dem Bündel. Der Mann wuchtete nach, dabei verrutschte die Decke und gab den Blick auf ein Gesicht im Schein der Straßenlaterne frei.

Ein eiskalter Schrecken durchfuhr Justin. Er wusste, wen der Mann da trug und es brauchte nicht viel Überlegung, um zu wissen, dass er nichts Gutes vorhatte. Hastig nestelte er nach seinem Handy und ließ den Mann nicht aus den Augen, der sich schweren Schrittes in Richtung der Schienen in Bewegung setzte.

Den ganzen Abend über hatte Max eine Unruhe in sich gespürt, die er nicht erklären konnte. Lange hatte er nicht einschlafen können und wurde plötzlich durch sein Handy aus dem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen gerissen. Ein Blick auf das Display zeigte »Unbekannt« an und er überlegte, ob er überhaupt drangehen sollte. Dann jedoch siegte die Neugier. Ein Stimmchen, das er sofort als Justins erkannte, japste und keuchte und flocht dazwischen Wortfetzen ein.

»Max, schnell zum S-Bahnhof. Er legt Chiara auf die Schienen.«

Die Verbindung brach ab. Max starrte einen Sekundenbruchteil verwirrt in die Dunkelheit. Dann schnellte er hoch, streifte die Jeans über den Schlafanzug, schlüpfte in die Turnschuhe und war bereits auf dem Weg. Er sprintete, kürzte quer durch Gärten ab, sprang über halbhohe Zäune. Diese Route war ihm bekannt, da er sie manchmal wählte, wenn es morgens knapp wurde. Drei Minuten später traf er vor dem Bahnhofsgebäude ein. Dort stand bereits Justin neben einem dunklen Auto, das Max sofort als den Firmenwagen von Bentheims erkannte. Gerade fuhr ein zweites Auto vor. Max kümmerte sich nicht darum, sondern richtete seine volle Aufmerksamkeit auf Justin, der völlig aufgelöst war.

»Komm mit, er ist da lang!« Justin zog Max am Ärmel mit sich fort. Justin folgte dem Schienenstrang in die Dunkelheit. Nach einiger Zeit konnte Max schemenhaft eine massige Gestalt erkennen, die etwas Schweres entlang der Gleise trug. Mit einem Mal war ihm klar, was sich dort abspielte und dass Justin die Gefahr richtig eingeschätzt hatte.

»Hast du die Polizei gerufen?«, keuchte er.

»Die Bullen? Nein!«, rief Justin.

»Ich hab mein Handy nicht!«, rief Max. »Los, ruf an! Du musst!«

Max hatte keine Gelegenheit mehr, zu kontrollieren, ob Justin gehorchte. Er rannte der dunklen Gestalt hinterher und konnte sehen, wie sie ihr Bündel auf die Schienen gleiten ließ. Mit wenigen Sätzen war Max heran und kniete sich nieder. »Chiara!«, schluchzte er und griff nach ihrem Kopf, der schlaff zur Seite lag. Er spürte klebriges, warmes Blut an den Händen.

Der Mann im dunklen Mantel packte ihn mit eisernem Griff an der Schulter, zog ihn zurück und verpasste ihm einen heftigen Schlag seitlich gegen das Kinn. »Du mischst dich hier nicht ein! Hau ab!«, brüllte er ihm ins Ohr. Benommen richtete Max sich auf, der nächste Schlag traf ihn vor die Brust. Er trat einen Schritt zurück, um dem neuen Angriff auszuweichen.

Von Bentheim stand leicht schwankend vor ihm und hob den Arm. Max bückte sich und trat ihm heftig gegen das Schienbein. Bentheim kam nicht zu Fall, sondern glich die Rückwärtsbewegung durch einen Schritt nach vorne aus. Mit seinem ganzen Gewicht ließ er sich auf Max fallen. Max gelang es noch, sich seitlich wegzudrehen, doch er konnte nicht verhindern, dass er mit Bentheim über sich rückwärts zu Boden ging. Bentheim richtete den Oberkörper auf, um erneut zuzuschlagen. Max drehte den Kopf zur Seite und zog das Knie an. Von weit her drang ein Geräusch an sein Ohr, das er kannte. Der nächste Zug näherte sich. Max hatte trotz des Kampfes registriert, dass er und Bentheim sich von den Schienen wegbewegt hatten. Aber Chiara lag noch dort. Er musste hin, um sie in Sicherheit zu bringen. Wie viel Sekunden hatte er noch? Er hörte sich schreien. Er versuchte, Bentheim über sich loszuwerden, doch der drückte ihm die Arme nach unten auf den Boden. Sein Gesicht kam ganz nahe. Max roch Alkohol.

»Das hast du nun davon«, spuckte Bentheim ihm entgegen. »Du bist schuld an allem, was hier passiert ist! Nur du! Weil du keine Ruhe geben konntest!« Bentheim holte zum nächsten Schlag aus. Plötzlich rauschte mit Getöse eine flackernde Lichterkette knapp hinter ihnen vorbei. Der Zug! Chiara! Der eisige Fahrtwind zischte über Max hinweg, riss ihm die Haare aus dem Gesicht und spie ihm Staub und Eiskristalle in die Augen. Das Brausen und Toben um ihn herum vermischte sich mit einem überirdischen Verzweiflungsschrei, der sich aus Max’ Brust löste. Es fühlte sich an, als habe er sich selbst in diesen Schrei verwandelt, als sei nichts anderes mehr von ihm übrig als nur dieser Schrei.

Bentheims Schlag traf ihn wehrlos und raubte ihm für einige Sekunden die Besinnung. Irgendjemand zog Bentheim mit einem Ruck von ihm herunter. Max blieb liegen und starrte in die Dunkelheit über sich. Von weit her hörte er Martinshornsignale. Zu spät, dachte er.

Er wollte hier liegen bleiben, für immer. Plötzlich hörte er eine piepsige Stimme neben sich. »Hallo? Ja, ich hatte gerade schon angerufen. Aber Sie müssen auch noch einen Krankenwagen schicken. Hier ist jemand schwer verletzt. Am Kopf. S-Bahn-Station Modertal. Ich? Ich heiße Max. Max Wirsing.«

Als er seinen Namen hörte, wandte Max langsam den Kopf in Richtung der Stimme. Justin hockte auf dem Boden, unweit der Schienen. Er hatte Chiara neben sich auf die Seite gelegt und ihr seinen zusammengerollten Anorak unter den Kopf gesteckt. Er streichelte ihr durch das lockige Haar. Sie lag da mit geschlossenen Augen, doch ihre Lippen zitterten, und sie stöhnte leise. Max stemmte sich auf die Knie und kroch zu ihr hinüber.

Er legte die Hand auf ihre Stirn und spürte ihre Körperwärme. Ihr Gesicht sah er nicht mehr. Es verschwamm vor seinen Augen. Er wischte sich die Tränen weg und sah sich vorsichtig um. Wo war von Bentheim? Warum hatte er plötzlich von ihm abgelassen?

Bentheim stand nicht weit von ihm. Er klopfte und strich den Schmutz von seinem Mantel und richtete seine Kleidung. Neben ihm stand eine Gestalt mit hängenden Schultern und einem verwitterten Steingesicht und zog an einer Zigarette. Köhler.

Dann überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Blaulichter erhellten pulsierend die Umgebung. Sanitäter hoben Chiara auf eine Bahre und trugen sie davon. Als Max ihr folgen wollte, hielt ein Polizist ihn zurück. Max schaute sich nach Justin um, doch der war wie vom Erdboden verschluckt. Zwei weitere Polizisten standen bei von Bentheim und Köhler. Dorthin wurde Max am Arm geführt.

»Meinen Sie den hier?«, fragte der Polizist. Von Bentheim nickte. »Ja, der war es. Ich war hier, um meine Tochter von der Bahn abzuholen. Da sah ich, wie er sich mit ihr gestritten hat und sie auf die Schienen warf!«

Max erstarrte. Der Vorwurf war so ungeheuerlich, dass er nach Luft rang, um Worte zu finden. »Nein!«, flüsterte er nur. »Der lügt!«

Über von Bentheims Gesicht flog ein kaltes Lächeln und er deutete auf Köhler. »Er kann bezeugen, dass ich die Wahrheit sage!«

Der Polizist schaute Köhler an. »Können Sie das?«

»Ich werde eine Aussage machen«, erklärte Köhler.

Max spürte am nachlassenden Druck im Arm, dass die Aufmerksamkeit des Polizisten nicht mehr nur ihm galt. Mit einem Ruck riss er sich los und rannte über die Schienen davon. Er sprang über einen Zaun, rutschte eine Böschung hinab und hielt auf den nächsten Gartenzaun zu. Hinter sich hörte er aufgeregte Stimmen. Neben sich eine andere. »Nicht da rüber, da suchen sie zuerst. Im großen Bogen zurück zum Bahnhof. Komm!«

Max folgte der kleinen Gestalt, die bezüglich geordneter Flucht deutlich mehr Erfahrung hatte als er. In der Tat gelang es ihnen, hinter den Rücken der Polizisten an den Einsatzfahrzeugen vorbei durch die Modertalsiedlung zu verschwinden.

»Und jetzt?«, fragte Max.

»An der Klapperwiese entlang nach Mittelerde!«

Max nickte und wollte die genannte Richtung einschlagen, als Justin ihn zurückhielt. »Moment noch!« Justin sah sich vorsichtig um. Das Haus, in dessen Vorgarten sie standen, schien hinter geschlossenen Fensterläden friedlich zu schlafen. Irgendwo in der Ferne schlug ein Hund an, aber hier im Garten blieb es ruhig. Justin pirschte sich vorsichtig an eine Mülltonne an und hob leise den Deckel. Dann begann er im Müll zu wühlen. Verständnislos sah Max ihm zu und wollte Justin gerade drängen, weiterzulaufen, als Justin ein Bündel leerer, schmieriger Mülleimerbeutel aus der Tonne zog. Er reichte Max zwei davon und sagte: »Hier! Bind dir das über die Schuhe.« Max schaute zögernd und mit angewiderter Miene auf die Beutel. Justin erklärte: »Nur für die nächsten hundert Meter. Falls sie mit Hunden kommen. Die verlieren dann die Spur.«

Max gehorchte. Es war sehr umständlich, sich mit den Tüten an den Füßen, die sich ständig lösten, fortzubewegen. Als sie am Rand der Siedlung ankamen, versenkten sie die Beutel in der nächsten Tonne. Max wollte quer über die Wiese, doch wieder hielt Justin ihn zurück. »Über den Fahrweg, da sind schon so viele Spuren im Schnee, da findet man unsere nicht heraus!«

Max nickte und schlich hinter Justin her. Auch nach Mittelerde kannte Justin eine Möglichkeit hinten herum, sodass sie keine frischen Spuren am Eingangstor hinterlassen mussten.

Im Gartenhaus schlug ihnen eine modrige, aber angewärmte Luft entgegen. Justin war heute bereits hier gewesen und hatte eingeheizt. Im Ofen war noch Glut, die den Raum schwach erhellte, nachdem Justin die Ofentür geöffnet hatte.

»Ich leg mal nichts nach, damit uns der Rauch nicht verrät«, sagte Justin, der auf eine merkwürdige Art ruhig und ganz Herr der Lage war. »Und Licht machen wir auch keins an.«

»Licht? Habt ihr hier Strom?«, fragte Max.

»Petroleum«, antwortete Justin. »Hast du Hunger?«

»Nein.« Max tastete sich zu der alten Couch vor und ließ sich darauf nieder. Kurze Zeit später spürte er Justin neben sich. Der hatte Decken mitgebracht, die er über ihnen ausbreitete. Fürsorglich stopfte er die Zipfel neben Max fest. Jetzt erst spürte Max, wie durchgefroren er eigentlich in seiner dünnen Kleidung war.

»Es war völlig bescheuert von mir abzuhauen! Jetzt glauben sie wirklich, dass ich das war«, flüsterte Max.

»Es war völlig richtig«, erklärte Justin. »Die Bullen glauben einem nie was.«

Max rang bebend nach Luft. »Und wie soll das jetzt weitergehen? Wir können doch nicht für den Rest unseres Lebens hier hocken bleiben!«

Aus der Dunkelheit kam keine Antwort und Max hatte auch nicht damit gerechnet. Daher wechselte er das Thema.

»Was hast du eigentlich so spät noch am S-Bahnhof gemacht?«

»Aus einem »o« ein »ö« und dann noch ein »r« dazu. Zumindest hatte ich das vor.«

»Du bist das? Du erneuerst die Buchstaben immer wieder? Warum tust du das?«

»Einer, den ich kannte, hat das gemacht und jetzt mach ich es für ihn weiter.«

»Aha«, sagte Max. »Jedenfalls war es großes Glück, dass du dort warst. Du hast ihr das Leben gerettet! Das werde ich dir nie vergessen!«

Es dauerte eine Weile, bis Justin antwortete: »Heißt das, dass wir jetzt Freunde sind?«

Max zögerte. Schließlich sagte er leise: »Klar sind wir Freunde.«

Er spürte, wie Justin näher an ihn heranrückte. »Hier, ich hab noch etwas für dich«, flüsterte er und drückte Max einen länglichen, kühlen Gegenstand in die Hand.

»Was ist das?«, fragte Max.

»Auf jeden Fall kein iPod. Ich weiß es nicht.«

»Wo hast du das her?«

»Es fiel aus Chiaras Jackentasche, als ich sie von den Schienen gezogen hab.«

Max erstastete kleine Knöpfe an dem Gerät. Ein grünes Lämpchen glühte auf. Dann waren Stimmen zu hören. Eine tiefe Männerstimme und eine hellere Mädchenstimme. Beide redeten aufgebracht miteinander. »Das sind Chiara und von Bentheim! Das ist ein Diktiergerät! Am Ende hat Chiara damit heute Abend alles aufgezeichnet!«

»Dann kannst du rauskriegen, warum er sie loswerden wollte«, sagte Justin sachlich.

Max brauchte nicht lange, bis er sich mit den Funktionen des Gerätes vertraut gemacht hatte, dann spulte er auf den Anfang zurück und drückte die Abspieltaste.

Von Bentheims Stimme war zu hören: Wie kommst du hier herein?

Chiara antwortete: Ich bin drin, das reicht doch!

Von Bentheim: Hör auf, so frech zu sein. Du weißt genau, dass ich dir verboten habe, diesen Raum noch einmal zu betreten.

Chiara: Du weißt bestimmt auch, dass es verboten ist, andere Leute zu beklauen! Wo ist mein Laptop? Wo sind meine Unterlagen?

Von Bentheim: Sie sind weg. Das reicht doch!

(Man hört Glas klirren. Aus einer Flasche entleert sich gluckernd Flüssigkeit.)

Chiara: So kommst du mir nicht davon! Es nützt dir nichts, mir die Sachen wegzunehmen. Ich weiß inzwischen alles und es ist hier gespeichert. Hier!

Max konnte sich bildlich vorstellen, wie Chiara mit funkelnden Augen auf ihre Stirn deutete. Wieder ist zu hören, wie aus der Flasche nachgegossen wird.

Von Bentheim (verächtlich): Was weißt du schon! Nichts weißt du, gar nichts! Du weißt nicht, wie das ist, wenn man eine Frau hat, von der man plötzlich erfährt, dass sie diese teuflische Krankheit hat und dass sie es auch noch mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit an ihr Kind weitergibt. Man ist wie benommen und hofft, dass das alles nicht wahr ist!

Chiara (etwas ruhiger): Doch, ich kann mir das schon vorstellen. Ich habe mich sehr genau erkundigt, wie Morbus Huntington verläuft und wie elend man daran stirbt. Ja, ich kann mir sehr gut vorstellen, was die Diagnose damals für euch bedeutet hat, ausgerechnet während der Schwangerschaft.

Von Bentheim (Trinkgeräusche sind hörbar, dann räuspert er sich. Seine Stimme klingt zynisch): Wenn du dir das alles so gut vorstellen kannst, solltest du es dabei belassen und endlich Ruhe geben.

Chiara (mit kühler Ruhe): Nein, das werde ich nicht tun.

Von Bentheim (aufgebracht): Ach und warum nicht? Maurice ist tot.

Chiara: Aber Max lebt und Max hat ein Recht darauf …

Von Bentheim (fährt wütend dazwischen): Max hat kein Recht auf irgendetwas.

Chiara: Er ist dein Sohn. Er ist Maurice’ Zwillingsbruder. Es sind zweieiige Zwillinge. Ihr hattet für beide Kinder Gentests anfertigen lassen. Es kam heraus, dass der eine das Gen in sich trägt und der andere nicht. Du hast damals der Wiesner den Auftrag gegeben Max zu töten, weil du dachtest, dass er dieses Gen geerbt hat. Doch sie hat die Tat nicht ausgeführt. Sie hat ihn in der Uniklinik ausgesetzt. Und du hast geahnt, dass es so war. Du wusstest von Anfang an, dass dein zweiter Sohn lebt und hast dir nicht die Mühe gemacht, ihn zu finden!

Von Bentheim (lacht böse auf. Dann plätschert erneut Flüssigkeit in ein Glas): Ich hatte nicht vor, ihn zu finden. Meinst du ich habe Lust, mir dieses langsame Verrecken noch einmal anzuschauen? Das kann man keinem zumuten!

Chiara (ruhig): Max trägt die Krankheit nicht in sich. Maurice war Genträger, und er wusste es.

Von Bentheim (lacht und schreit): Jetzt redest du den gleichen Unsinn wie diese, diese …

Chiara (immer noch sehr ruhig): Wiesner. Brigitte Wiesner.

Von Bentheim: Genau! Die wollte mir nach Jahren auf einmal weismachen, sie hätte die Kinder damals vertauscht und das Gesunde ausgesetzt, weil sie meinte, man könne unwissenden Adoptiveltern nicht zumuten, einen Sohn zu haben, der noch vor ihnen elend stirbt. Das wollte sie dann lieber mir zumuten aus stiller Rache und weil ich ja genug Geld hätte, das Pflegeheim zu bezahlen. Ach! Alles dummes Geschwätz! Sie hat gelogen. Sie wollte nur noch ein bisschen mehr Geld aus mir herauspressen, damit sie sich eine teure Therapie in den USA leisten konnte.

Chiara: Sie hat nicht gelogen. Ich finde diese Argumentation sehr plausibel und kann das gut nachvollziehen.

Von Bentheim: Jetzt rede nicht so gestelzt daher. Ich kann beweisen, dass sie gelogen hat.

Chiara: Und wie?

(Man hört Schritte im Raum. Schlüssel klirren. Eine Schublade wird geöffnet. Man hört metallisches Klappern, als sei eine Stahlkassette geöffnet worden.)

Von Bentheim: Wir haben die Proben damals mit Codenamen verschlüsselt und an verschiedene Labors geschickt. Die Kinder hatten unterschiedlich farbige Armbänder. Es gab Nummer 1, rot, und Nummer 2, grün. Hier siehst du das Ergebnis der Untersuchung: Nummer 2, grün, ist Genträger und Nummer 1, rot, nicht. Und hier siehst du das rote Band, das Maurice ums Handgelenk trug. Ich habe es ihm selbst abgenommen.

(Eine Weile ist nichts zu hören)

Chiara: Das Band ist nicht das richtige. Es ist eine Fälschung und wurde gegen das grüne ausgetauscht. Du konntest die Wiesner damals doch gar nicht ständig unter Beobachtung halten.

Von Bentheim: Wie kommst du darauf?

Chiara: Auf dem echten Band ist die Zahl 1 eingetragen. Hier ist nichts drauf geschrieben.

Von Bentheim: Gib her!

Chiara (ihre Stimme hebt sich wieder): Und die Wiesner hat Maurice damals die Wahrheit gesagt. Deshalb war er plötzlich so verändert. Deshalb hat er nach seiner Mutter gesucht und sich ihren Zustand angesehen. Und deshalb hat er sich wahrscheinlich umgebracht. Weil er damit völlig allein da stand. Und der Einzige, der das hätte ändern können, warst du! Du bist schuld an seinem Tod!

Von Bentheim (Schluckgeräusche sind hörbar, redet dann mit müder Stimme): Wenn jemand schuld ist, dann diese Wiesner.

Chiara (lacht böse auf): Ja, so ist das bei dir immer, alle anderen sind schuld! Dabei hat die Wiesner verzweifelt versucht, ihren Fehler wieder gutzumachen. Sie hat der Wahrheit eine Chance geben wollen.

Von Bentheim (ironisch): Ach ja, und wie hat sie das gemacht, diese edle, reuige Sünderin?

Chiara: Sie hat ja mitbekommen, dass ihr euer Kind Maurice nennen wolltet. Da hat sie das andere Kind Max genannt und den Hinweis auf den Namen in die Tasche gepackt, in der sie das Kind ausgesetzt hat. Sie hielt den Namen für passend. Maximillian und Maurice. Max und Moritz. Sie hat aus einem Wilhelm-Busch-Buch die erste Seite der Max-und-Moritz-Geschichte herausgerissen und durch Streichungen so manipuliert, dass ein Text dabei herauskam, der angedeutet hat, dass zwei Kindern mit diesen Namen von anderen Böses angetan wurde. Damit hat sie auch einen Hinweis darauf gegeben, dass die beiden Jungen etwas miteinander zu tun haben.

Von Bentheim: Woher willlst du das alles wissen? Das ist pure Fantasie und ich glaube dir kein Wort.

Chiara: Das Buch, aus dem sie die Seite herausgerissen hat, stand in Maurice’ Bücherregal! Max hat eine Fotokopie von dieser Seite. Das Original ist in den Unterlagen des Jugendamtes. Außerdem lag in dem Buch das grüne Band mit der Nummer 2, das Maurice, der eigentlich Max war, als Baby ums Handgelenk hatte.

(Ein Poltern ist zu hören. Von Bentheims Stimme erklingt ganz nah am Aufnahmegerät): Wo ist dieses unselige Buch?

Chiara (kühl): Ich habe es an einem sicheren Ort deponiert. Im Buchdeckel steht fein säuberlich Friederike von Bentheim.

Von Bentheim (bemüht sich um Artikulation, dennoch bedrohlich): Und jetzt glaubst du, damit etwas beweisen zu können? Gar nichts kannst du damit beweisen! Das ist alles nachträglich konstruiert! Aber ich lass mich nicht auf so plumpe Art hereinlegen. Von der Wiesner nicht und von diesem Max erst recht nicht. Das kannst du ihm ausrichten! Er ist es doch, der dir den Auftrag gegeben hat, hier herumzuspionieren!

Chiara: Hat er nicht! Max ist mein Freund. Anfangs hatte ich mir gar nicht erklären können, warum es dir nicht recht ist, dass ich mich so gut mit ihm verstehe! Deine Reaktion damals, als ich mit ihm in Maurice’ Zimmer stand! Du hast ihn sofort erkannt, nicht wahr? Damals hatte ich mir deinen erschreckten Gesichtsausdruck damit erklärt, dass er dich an Maurice erinnerte. Zuerst glaubte ich wirklich, dass die Ähnlichkeit zwischen Max und Maurice purer Zufall ist. Aber dann habe ich alles herausgefunden, Stück für Stück.

Von Bentheim: Und was willst du jetzt damit anfangen? Hast du das mit ihm ausgeheckt? Versuchst du über ihn an mein Erbe heranzukommen? Ist das dein Plan, weil ich dich nicht adoptiert habe?

Chiara: Was anderes fällt dir dazu nicht ein? Ich will dein Scheißgeld und deine Scheißfirma nicht, aber ich will verdammt noch mal, dass du dich zu deinem Sohn bekennst und den Schaden wiedergutmachst, den du angerichtet hast.

Von Bentheim: Was soll das denn heißen?

Chiara (außer sich vor Wut): Du warst es doch, der ihm das Haus über dem Kopf angezündet hat. Du bist plötzlich auf die Idee gekommen, dass die Wiesner ihre Beweise bei der alten Frau Wirsing hinterlegt haben könnte. Da wolltest du auf Nummer sicher gehen. Du bist so ein elendes Schwein! Du ahnst, dass er dein Sohn ist und nimmst in Kauf, dass er im Feuer umkommt. Aber vielleicht war das ja auch dein eigentlicher Plan. Du wolltest Max vernichten! Du wolltest das, was die Wiesner nicht getan hat, zu Ende bringen.

Von Bentheim: Du hast keine Beweise für deine Unterstellungen! Der Kerl bekommt von mir keinen Cent.

Chiara: Er hat aber einen Anspruch darauf. Er ist dein Erbe, ob du das willst oder nicht!

Von Bentheim: Er ist krank!

Chiara: Er ist dein Sohn! Und wenn er krank wäre, hättest du das Geld, seine Pflege zu bezahlen!

Von Bentheim: Mein Sohn ist tot! Und diesen da, der dich geschickt hat, mir seine Ansprüche mitzuteilen, den will ich nicht. Der existiert für mich nicht!

Chiara: Er hat mich nicht geschickt! Er weiß gar nichts davon. Ich hatte gehofft, dass du in dem Gespräch mit mir zur Vernunft kommst. Dass du zu ihm gehst und ihn und seine Familie beim Neubau ihres Hauses unterstützt. Es wäre ein Klacks für dich, seinem Vater Arbeit zu geben. Wenn du das alles tust, kann ich vielleicht einiges für mich behalten.

Von Bentheim: Ach, erpressen willst du mich auch noch? Hör mal gut zu, ich will mit diesen Leuten nichts zu tun haben! Keinen Cent habe ich gesagt!

Chiara: Er ist dein Sohn, ob du willst oder nicht! Und er ist dein Erbe.

Von Bentheim: Für mich ist er ein Fremder. Die Verhältnisse, unter denen er aufgewachsen ist, befähigen ihn vielleicht mal dazu, ein kleiner Angestellter oder Handwerker zu werden, aber sicherlich nicht, eine Firma zu führen. Das wird eines Tages Michelle übernehmen. Ich brauche diesen Erben nicht. Und an der Art, wie du dich hier aufführst, merke ich, wie gut ich daran getan habe, dich nicht zu adoptieren.

Chiara: Ja, dafür bin ich dir auch dankbar. Aber so leicht kommst du mir nicht davon. Ich werde Max alles erzählen.

Von Bentheim: Was hast du davon?

Chiara: Gerechtigkeit! Ein einfacher Gentest wird beweisen, dass du sein Vater bist.

Von Bentheim: Ich werde einen Vaterschaftstest verweigern.

Chiara (lacht böse auf): Das kannst du gar nicht. Außerdem, vergisst du, dass ich in diesem Haus wohne. Deine Gene liegen hier überall herum. Da brauchst du nichts abzugeben, das besorge ich gerne!

Von Bentheim (brüllt): Das wirst du nicht tun.

(Ein Stuhl fällt polternd um.)

Chiara: Wie willst du das verhindern?

Von Bentheim: Das wirst du gleich sehen!

Chiara (schreit verzweifelt): Nicht! Lass mich, du hast zu viel getrunken. Du tust mir weh. Nicht!

(Ein Gegenstand poltert dumpf zu Boden. Glas klirrt. Das Gerät schaltet sich plötzlich aus.)

Max legte das Gerät beiseite. Im Ofen knisterte die Glut. Justin schmiegte sich noch dichter an ihn. »Er ist auf sie losgegangen wie ein wilder Stier«, flüsterte er. »So sind sie immer, wenn sie besoffen sind.«

Max legte den Arm um Justin. Dann sagte er beklommen: »Hast du gehört? Maurice war mein Bruder.«

»Für mich war er manchmal auch wie ein großer Bruder«, erklärte Justin.

»Ihr habt euch wohl gut verstanden. Nach Mittelerde lässt du nicht jeden, oder? Aber ihm hast du vertraut.«

»Ja. Nur ihm. Aber dann wollte er auf einmal sie mit hierher bringen.«

»Wen?«

»Annalena.«

»Und das war dir nicht recht?«

»Nein. Er hat es aber trotzdem gemacht und mich weggejagt, damit er alleine mit ihr sein konnte. Sie war ihm viel wichtiger als ich. Er hat mir mein Mittelerde wegnehmen wollen! Er hat gesagt, er lässt sich von keinem mehr was sagen und nimmt sich, was er will, von wem er will und so oft er will. »

»Das hat dich bestimmt ganz schön wütend gemacht. Aber jetzt, wo wir das Band gehört haben, verstehst du ihn vielleicht ein bisschen. Er hat geglaubt, dass er früh sterben würde, weil er eine schreckliche Erbkrankheit hatte.«

»So ganz habe ich das nicht verstanden, was die da geredet haben.«

»Ich schon. Aber ich wusste auch, worum es geht. Auf jeden Fall wissen wir jetzt, warum Maurice sich umgebracht hat.«

»Das hat er nicht.«

»Was?«

»Er hat sich nicht umgebracht. Er wurde gestoßen.«

Ruckartig setzte Max sich auf. Er packte Justin an beiden Oberarmen und drehte ihn zu sich. »Was redest du da?«

Max spürte, wie Justins Körper plötzlich zu zittern begann. Ob er weinte, war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Max tastete mit den Fingerspitzen über Justins Gesicht. Es war trocken. Dennoch kam so etwas wie ein Schluchzen aus seiner Kehle. Dann folgten Worte. Sie kamen zögerlich und tonlos aus Justin heraus, wie eingesperrte Vögel, denen man plötzlich das Flugloch öffnete.

»Ich war drüben im Reitstall. Da kriegst du ein paar Cent. Fürs Ausmisten. Da höre ich Annalena. Sie labert mit ihren Tussen über Maurice und Sex. Sie hat abgelästert über mich und meine verlauste Hütte. Sie hat Mittelerde beleidigt! Da hab ich ihr später das Handy aus ihrem Putzkoffer geklaut. Maurice hab ich damit nachts zur S-Bahn bestellt. Wollte ja nur wissen, ob er immer kommt, wenn sie ihn haben will. Er ist hingegangen. Ich hab ihn getroffen. Mich hat er weggeschickt. Aber ich bin ihm bis zur Bahn nachgeschlichen. Er stand da so komisch an der Kante. Und hat nach dem Zug gesehen. Er stand wie einer, der gleich springen wird. Plötzlich wollte ich das. Ich wollte, dass etwas ganz Schlimmes passiert. Das ist bei mir manchmal so. Es ist wie Armritzen, verstehst du? Du willst was ganz Starkes spüren, was dich zerreißt, weil du es sonst nicht mehr aushältst. Dann dachte ich daran, dass er Mittelerde verraten hat und habe ihn gestoßen.«

In einem ersten Implus wollte Max den Kleinen am liebsten schütteln und anschreien. Er hatte Mühe sich zu beherrschen. Doch dann spürte er, wie er zunehmend erstarrte. Die Glut im Herd knisterte. Sie war zu Asche zusammengesunken und es war fast vollständig finster geworden. So fühlte sich Max gerade: wie Asche in einer unendlichen Finsternis.

Nach langer Zeit konnte er wieder sprechen. Seine Stimme klang rau und zittrig, als hätte er vergessen, wie man Worte formt. »Du hast mir gerade erzählt, dass du meinen Bruder umgebracht hast.«

Justin sagte kein Wort. Er drängte sich an Max heran und griff nach seiner Hand. Max zog die Hand weg und spürte, wie die kleine Gestalt an seiner Seite zitternd in sich zusammensackte. Max legte seinen Arm um die knochigen Schultern und zog Justin an sich heran. Jetzt spürte er, dass es nass wurde an seiner Brust.

»Ich habe dir das nur erzählt, weil du mein Freund bist. Und Freunde verrät man nicht!«, schluchzte Justin.

Max hatte das Gefühl, Justins Körper läge wie ein Eisengewicht auf ihm. Er atmete mühsam dagegen an.