Sonntag, der 13. Januar

So, jetzt sind sie vorbei, diese Ferien, und ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht. Wenn ich zurückblicke, dann haben diese drei Wochen in mein Leben reingehauen, als wären es Jahre gewesen. An den Max vor den Ferien kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Morgen fängt die Schule wieder an, und ich frage mich, ob die anderen auch merken werden, dass ich mich verändert habe, und wie sie auf mich reagieren werden. Vorhin habe ich echt wie ein Mädchen pausenlos überlegt, mit welchen Klamotten ich morgen einlaufen soll. Ich habe keinen Bock darauf, dass sie wieder anfangen, mich zu mobben und zu dizzen. Ich weiß auch, dass ich im Moment nicht viel aushalten kann. Irgendwie bin ich hellhörig wie ein Sioux auf dem Kriegspfad geworden und reagiere auf jede kleinste Regung. Richtig klamm ist mir, wenn ich daran denke, dass ich morgen Chiara wiedersehen werde. Sie hat es wirklich fertiggebracht, mir für den Rest der Woche aus dem Weg zu gehen. Grippe, hat sie gesagt und dass sie für die Schule lernen muss. Wer’s glaubt! Ich zermartere mir seit Tagen das Hirn, was ich falsch gemacht habe und komme eigentlich nur auf die Erklärung, dass ich mich als Lover an dem Nachmittag ziemlich dämlich angestellt habe. Da habe ich wohl akuten Förderbedarf, wie die Lehrer sagen würden. Womit meine Gedanken wieder bei der Schule wären.

Also, was ziehe ich morgen an und mit welcher Haltung laufe ich da ein? Soll ich versuchen, wie vor den Ferien einen auf coolen Maurice zu machen, auch wenn ich das längst nicht mehr draufhabe? Aber eigentlich geht das gar nicht mehr, denn das passende Marken-Outfit habe ich längst im Second-Hand-Laden vertickt. Ich jage im Moment der Kohle nach mit der Gier eines Investmentbankers, denn ich will endlich wieder ins Internet und spare für ein Smartphone. Nur läuft es jobmäßig gerade nicht so gut, denn wie gesagt, aus der AG will Tobias mich raushaben. Nachhilfe in den Weihnachtsferien wollte auch keiner haben. Das boomt erst wieder im Februar nach den Zeugnissen, wenn plötzlich alle merken, dass es eng wird bis zur Versetzung. In der Nachbarschaft habe ich mehrere Jobs zum Schneeschippen an Land gezogen. Und was gibt es zurzeit nicht? Schnee. Die Tierarztrechnung für Schorsch hat übrigens Oma aus ihrem Sparstrumpf beglichen und auch dem Köhler alles zurückgegeben, was er mir vorgeschossen hat. Sie hat gesagt, sie fühlt sich schuldig an dem Schlamassel, weil Schorsch an dem Abend ja mit ihr im Garten war. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr Geld nur als »geliehen« akzeptiere und es ihr bis auf den letzten Cent zurückgeben werde. Ich möchte nicht, dass Leute, die eigentlich nichts mit mir zu tun haben, so viel Geld für mich ausgeben, das sie selbst viel nötiger hätten.

Andreas hat übrigens wieder eine Absage bekommen. Es war eine Stelle als Verkäufer im Baumarkt. Das muss man sich mal überlegen! Er ist Bauingenieur und denen noch nicht mal gut genug dafür, das abgepackte Zeug an die Leute zu bringen.

In Franca von Bentheims Schlafzimmer standen überall geöffnete Koffer und Taschen. Gerade hielt sie ein dünnes, bunt bemaltes Seidenkleid am Bügel in die Höhe und betrachtete es zufrieden, als es zaghaft an der Tür klopfte.

Chiara trat ein. »Soll ich dir beim Auspacken helfen?«, fragte sie.

Erstaunt sah Franca ihre Tochter an. »Nein, kein Thema, ich sortiere nur, was in die Wäsche oder Reinigung muss und was ich gleich in den Schrank zurückhängen kann.« Sie hielt das Kleid in Chiaras Richtung. »Schau mal, das habe ich mir in Thailand gekauft, schön, nicht?«

Chiara nickte. Für die gertenschlanke Franca war ein solch groß gemustertes Kleid durchaus tragbar, sie selbst sähe darin aus wie ein altmodisches Sofakissen. Dies war sicherlich auch Francas Einschätzung gewesen, denn sie hatte ihrer Tochter kein Kleid, sondern einen Seidenschal mitgebracht. Chiara verletzte diese Art der Rücksichtnahme, die Franca bei vielen Gelegenheiten durchblicken ließ. Betrat Chiara das Zimmer, wurden die Süßigkeiten schnell weggepackt. Aß die Familie ohne Chiara, gab es Tiramisu zum Nachtisch, wenn Chiara dabei war, gab es Obst. Franca hing das neue Kleid in den Schrank. Chiara hatte sich auf die Bettkante gesetzt und zeigte damit, dass sie sich noch ein wenig mit ihrer Mutter unterhalten wollte. Franca ließ sich neben ihr nieder und lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu. »Na, und wie ist es dir ergangen hier allein im Haus? War das wirklich besser als Italien?«

Chiara zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall besser als bei Francesco in Sizilien. In Monza wäre ich noch länger geblieben, aber irgendwie hatte ich dann Lust, meine Freunde wiederzusehen und auch einmal für mich zu sein.«

Franca lachte. »Oh, oh, unsere Bambina wird erwachsen! Und hattest du eben Freunde gesagt oder Freund?«

Chiara spürte, wie sie rot wurde, und dass Franca es registrierte. »Eigentlich beides. Max war übrigens hier.«

Das Lächeln in Francas Gesicht erstarrte ein wenig. »Und was willst du mir damit sagen?«

Chiara zuckte wieder mit den Schultern. »Nichts, nur dass er eben hier war, oder hast du etwas dagegen?«

Franca sog die Luft hörbar ein. »Nein, ich habe nichts dagegen. Meine Meinung ist, dass du aufgeklärt bist und wissen musst, was du tust und dein Freund hoffentlich auch.«

Chiara deutete ein Nicken an. »Gero ist da allerdings anderer Meinung.«

»So, ist er das?«

»Ja. Er möchte mir den Umgang mit Max verbieten. Hat er nicht mit dir darüber gesprochen?«

Francas Gesicht wurde nachdenklich. »Nein. Ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, ob du dir da nicht etwas einbildest, denn Gero hat doch gar nicht so viel Einblick in dein Leben, als dass er etwas über deine Freunde wüsste.«

»Er hat Max mehr oder weniger rausgeschmissen, als wir einmal oben in Maurice’ Zimmer waren.«

»Nun, dann hast du doch schon eine Erklärung. Er hatte nichts gegen deinen Freund Max, sondern dagegen, dass ihr in Maurice’ Zimmer wart. Das musst du verstehen, für Gero war Maurice so etwas wie sein Lebenssinn, seine ganze Hoffnung. Er ist noch lange nicht über seinen Tod hinweg und erträgt es nicht, wenn man sich unbefugt diesem Ort der Erinnerung nähert.«

Chiara verzog das Gesicht und schüttelte abwehrend den Kopf. »Was ist an diesem leer geräumten Raum da oben Erinnerung? Nichts. Es gibt doch kaum noch etwas von Maurice da drin.«

»Es ist aber auch nichts ausgeräumt worden. Du weißt doch selbst, dass Maurice dieses Zimmer mit der Zeit immer spärlicher mit persönlichen Dingen bestückt hat.«

Chiara nickte. »Besonders in den Wochen vor seinem Tod.«

Franca nickte. »Anfangs dachte ich, er hat sich irgendwo heimlich neu eingerichtet, weil so gar nichts Persönliches mehr zu sehen war. Aber jetzt erkläre ich mir das natürlich damit, dass er seinen Selbstmord von langer Hand geplant hat.«

Chiara zuckte zusammen. Ein Gedanke war ihr gekommen und im gleichen Moment wieder verflogen, als Franca weitergesprochen hatte. Angestrengt versuchte sie, das Bild wieder zu fassen, das eben in ihrem Kopf aufgeflackert war. Es hatte etwas mit dem zu tun, wovon Franca gesprochen hatte. Chiara versuchte sich zu erinnern. Franca hatte vermutet, dass …

Plötzlich hatte sie es wieder vor Augen. Sie sah sich an einem Nachmittag nach Hause kommen. Am Gartentor war sie Maurice begegnet. Er trug einen Rucksack und zwei gut gefüllte Sporttaschen. Schwer beladen schob er das Tor mit den Knien auf. Chiara hatte helfend zugepackt und gefragt: »Hey, Bruder, was ist, fährst du vorzeitig in Urlaub?« »Nee«, hatte er geantwortet. »Das ist eher das Eichhörnchen-Prinzip. Und jetzt lass mich vorbei.« Sie hatte sich über diesen Ausdruck gewundert und nicht verstanden, was er damit gemeint hatte. Allerdings hatte er auch wieder diese Rühr-mich-nicht-an-Miene aufgesetzt gehabt, sodass sie es nicht gewagt hatte, nachzufragen. Sie hatte ihm nachgesehen, wie er den Weg in Richtung Klapperwiese gegangen war. Nicht hinüber zur Modertal-Siedlung wohlgemerkt.

»Was ist mit dir, woran denkst du?«, riss Franca sie aus ihrem Tagtraum.

Chiara schüttelte den Kopf. »Ich habe nur an Maurice gedacht. Wusstest du, dass er als kleines Kind in psychologischer Behandlung war?«

Franca nickte. »Er hat sehr unter dem Tod von Margit Köhler gelitten. Sie war seine Kinderfrau und hat sich um ihn gekümmert wie eine Mutter. Als er drei Jahre alt war, wurde sie schwer krank und starb etwa zwei Jahre später. Das hat er nicht verkraftet. Es hat mich viel Mühe gekostet, sein Vertrauen zu gewinnen. Aber ein Schatten bleibt bei solchen Dingen immer zurück.«

»In dem Gutachten steht das aber anders.«

»In welchem Gutachten?«

Chiara berichtete von dem Ordner, den sie gefunden und durchgelesen hatte. Köhlers Auftritt dabei ließ sie unerwähnt.

Francas Gesicht wurde trotz der Urlaubsbräune zunehmend blasser. »Es ist nicht in Ordnung, Chiara, dass du einfach an Geros Unterlagen gehst!«

»Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn du das selbst einmal getan hättest, dann könnte er dir nicht so einfach seine Geschichten erzählen. Von wegen, die Frau ist nach Maurice’ Geburt gestorben. Ist sie nicht, wie man da schwarz auf weiß sieht. Du musst Gero zur Rede stellen und herausfinden, was eigentlich mit seiner Frau passiert ist. Vielleicht ist deine Ehe mit ihm ungültig, weil es die andere immer noch irgendwo gibt.«

Franca schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Chiara, hör auf! Ich muss ihn nicht zur Rede stellen. Ich wusste, dass seine Frau damals noch lebte. Er ist ordnungsgemäß von ihr geschieden worden, bevor wir geheiratet haben. Wir haben das nur euch Kindern so nicht erzählt.«

»Und warum habt ihr uns angelogen?«

»Weil die Wahrheit viel unerträglicher und für kleine Kinder nicht zu verstehen gewesen wäre.«

»Aha. Und jetzt? Bin ich jetzt langsam in einem Alter, in dem ich das verstehen kann?«

Franca nickte flüchtig. Sie fuhr sich hektisch durch ihr langes, dunkles Haar und strich es über die Schultern zurück.

Chiara beobachtete sie dabei mit herausforderndem Blick. »Nun sag schon! Erkläre es mir!«

Franca zwinkerte nervös und sagte mit brüchiger Stimme: »Ich werde es dir erklären, aber bitte belaste Gero nicht mit Fragen zu diesen Ereignissen. Wir haben gemeinsam beschlossen, die Vergangenheit, Vergangenheit sein zu lassen. Friederike von Bentheim hatte eine psychische Krankheit. Diese Krankheit war sehr belastend für alle, die mit ihr zu tun hatten. Es gab Momente, da war sie ganz normal und dann benahm sie sich plötzlich wie ein Monster. So jedenfalls hat Gero es mir erzählt. Es war eine schreckliche und für die Familie nicht mehr tragbare Situation. In hellen Momenten erkannte sie das und hat in die Scheidung eingewilligt. Sie ist in eine geschlossene psychiatrische Klinik gekommen. Dort ist sie vor eineinhalb Jahren gestorben.«

»Vor eineinhalb Jahren erst? Also in Maurice’ Todesjahr?«

Franca nickte. »Sie hat Maurice um einen Monat überlebt. Sie starb im September 2011.«

»Und da bist du nicht auf die Idee gekommen, dass es einen Zusammenhang geben könnte mit Maurice’ Tod? Vielleicht hat Maurice sie ja dort besucht und das nicht verkraftet. Vielleicht war das der Auslöser!«

Franca schüttelte den Kopf. »Nein, das kann nicht sein. Für Maurice war sie seit seiner Geburt tot. Gero hat keinerlei Hinweise auf sie hier im Haus gehabt und niemand außer ihm wusste, in welcher Klinik sie war, noch nicht einmal ich.«

»Es sei denn, eine alte Hexe hat alles gewusst und wollte Gero und Maurice Böses antun, indem sie Maurice alles verriet.«

»Bina, was redest du da für einen Unsinn?«

»Das ist kein Unsinn«, erklärte Chiara und berichtete Franca von der Streitszene zwischen Gero und der alten Frau, die sie und Maurice belauscht hatten.

Franca starrte ihre Tochter entsetzt an. Mit zitternden Lippen fragte sie: »Und du meinst, Maurice hat seine Mutter besucht, ihren schrecklichen Zustand erlebt und sich umgebracht, weil er das nicht verkraftet hat?«

»Vielleicht«, flüsterte Chiara. »Irgendwie klingt es plausibel.«

Franca schüttelte abwehrend den Kopf. »Aber so einer war Maurice nicht. Ich habe ihn als einen erlebt, den das Schicksal anderer nicht sonderlich berührte.«

»Vielleicht ist das bei der eigenen Mutter anders.«

»Aber er hat diese Frau doch gar nicht gekannt und keinerlei Beziehung zu ihr gehabt. Und niemand außer Gero wusste, dass sie noch lebte und wo sie war.«

»Vielleicht hat die Alte, mit der Gero sich so lautstark gestritten hat, es irgendwie herausbekommen.«

Francas Miene wurde immer skeptischer. »Wer soll diese alte Frau gewesen sein und welches Interesse sollte sie daran gehabt haben, diese Information weiterzugeben?«

Chiara zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wer sie war. Vielleicht wollte sie Geld für ihr Schweigen, und als Gero es ihr nicht gab, hat sie Maurice eingeweiht. Es muss doch auch einen Grund gehabt haben, warum Gero Maurice damals einschärfte, der alten Hexe nichts zu glauben.«

»Genau. Und wie ich Maurice kenne, hat er Gero eher geglaubt als einer keifenden alten Frau, die nur Geld kassieren wollte. Maurice hat sich mit Sicherheit nicht darauf eingelassen.«

»Die Alte hat damals gesagt, sie hätte Beweise.«

»Das musste sie wohl sagen, um ihre Forderung zu untermauern. Lass diese Geschichten ruhen, Chiara, es hilft niemandem, in alten Wunden zu stochern!«

Chiara schaute ihrer Mutter zu, die aufgestanden war und vor sich auf dem Bett ein Kleidungsstück glättete und zusammenlegte. Chiara wusste nur zu gut, was das zu bedeuten hatte: Thema beendet. Dennoch gab sie nicht so schnell auf. »Du solltest auf jeden Fall mit Gero darüber reden«, forderte sie.

Franca funkelte sie aus dunklen Augen an: »Das werde ich mit Sicherheit nicht tun!«

In diesem Moment wurde die Tür mit Schwung geöffnet. Wie es seine Art war, hielt Gero von Bentheim es nicht für nötig, in seinem Haus an geschlossene Türen zu klopfen. Seine Miene verriet, dass er aufgebracht war. In entsprechendem Ton hakte er daher sofort nach. »Was wirst du mit Sicherheit nicht tun?«

Franca sah auf. Ihr Blick glitt mit kühler Verbitterung von ihrem Ehemann zu ihrer Tochter, in deren Augen er sich einbohrte. »Schokoladenpudding«, sagte sie in einer Art, als habe sie gerade »tote Frösche« gesagt. »Chiara will, dass ich Schokoladenpudding zum Nachtisch koche und ich habe abgelehnt.«

Chiara spürte, wie mit einem Schwall die Tränen in ihre Augen schossen. Tiefe Verletzung und Wut rangen in ihr miteinander. Was war das für eine Mutter, die ihre Tochter für einen wie Gero sturmreif schießt?

»Mich interessiert weniger, was die ewig hungrige Chiara zum Dessert möchte«, donnerte Gero von Bentheim los, »sondern viel mehr der Grund, warum sie in Maurice’ Ordner und in meiner Schreibtischschublade herumgeschnüffelt hat.«

»Hat Köhler dir das erzählt?«, fragte Chiara tonlos.

Gero von Bentheim lachte trocken auf. »So etwas erkenne ich selbst, dazu brauch ich keine Spione. Die Sachen standen anders an ihrem Platz und die Schublade war nur einmal abgeschlossen, während ich den Schlüssel zweimal drehe. Es ist wie immer, eure Schlampigkeit verrät euch. Also, was hattest du dort verloren?«

Chiara fühlte sich elend wie ein ausgescholtenes Kind. Aber wer war hier eigentlich im Unrecht? Wer spielte mit gezinkten Karten? Doch er! Finsterer Trotz stieg in ihr auf. »Ich wollte nachschauen, ob die Geburtsurkunde von Maurice’ Zwillingsbruder vielleicht fein säuberlich in dem Ordner abgeheftet ist. Und den Totenschein der Mutter, die ja bei der Geburt gestorben sein soll, wollte ich mir auch einmal ansehen.« Chiara wunderte sich über die Ruhe, die ihr die kalte Wut verliehen hatte.

Geros Miene war plötzlich wie mit Eiswasser übergossen. Nur in seinen Augen glomm einen winzigen Augenblick lang ein leichtes Flackern, das schnell erstarrte. War das Angst gewesen? Zumindest Unsicherheit! Sie hatte den großen Gero von Bentheim aus dem Takt gebracht, registrierte Chiara zufrieden und spürte, wie ihre Sicherheit wieder anwuchs. Was uns nicht umbringt, macht uns nur härter. Das war einer von Maurice’ Sprüchen gewesen. Chiara begegnete Geros Blicken mit schmalen Augen.

Von Bentheim schien sich langsam wieder zu fangen. In der Tonlage eines überlegenen Geschäftsmannes sagte er: »Woher hast du diese haltlosen Fantasien?« Sein Gesicht war bemüht regungslos.

Mit der Miene eines ebenso kühlen Verhandlungspartners antwortete Chiara: »Vielleicht habe ich Beweise?«

Wieder erschien dieses Flackern in Geros Augen. Diesmal dauerte es länger, bis er es unter Kontrolle hatte. Dann fragte er: »Und von wem hast du die bekommen?«

»Sag ich nicht!«, antwortete Chiara schnell. Plötzlich bekam sie Angst. Angst um Max.

»Chiara!«, fuhr Franca mit schriller Stimme dazwischen. »Lass diesen Blödsinn! Gero, das ist alles pure Fantasie! Sie fühlt sich betrogen, weil wir den Kindern vorenthalten haben, dass deine Ex-Frau nicht nach der Geburt von Maurice, sondern erst viel später in der Klinik gestorben ist. Jetzt reimt sie sich alle möglichen Geschichten zusammen.«

Gero von Bentheim hatte seinen kalten Blick nicht von seiner Stieftochter gelassen. Mit leiser Stimme, die etwas sehr Bedrohliches hatte, sagte er: »Nein, das glaube ich nicht. Da scheint ihr jemand etwas zugeflüstert zu haben. Vielleicht hat sie ja sogar den Auftrag, hier ein bisschen herumzuspionieren.« Er sog hörbar die Luft ein und dann brüllte er: »Schämst du dich nicht, in die Hand, die dich jahrelang – wie nicht zu übersehen ist – gut gefüttert und gekleidet hat, so hinterhältig hineinzubeißen?«

Chiara zuckte zusammen, doch sie hielt seinem Blick stand. »Es ist die Hand eines Lügners und Mörders!«, presste sie hervor. Ein wenig erschrak sie selbst über ihre Reaktion. Aber, warum musste er auch »gut gefüttert« sagen? Warum musste er so gemein sein?

Gero nickte ganz langsam. Er betrachtete Chiara mit angewiderter Miene: »Also gut. Du hast mir den Krieg erklärt. Ich verbiete dir, mein Arbeitszimmer noch einmal zu betreten! Ich verbiete dir, dich in die Angelegenheiten meiner Familie einzumischen und noch irgendein Wort in dieser Richtung zu verlieren. Solltest du dich nicht daran halten, kannst du sofort deine Koffer packen und zu deiner Familie nach Monza ziehen. Hast du verstanden?«

Chiara spürte, wie ihr wieder Tränen in die Augen schossen. Sie sprang auf, drängte sich an Gero vorbei, der dies mit eisiger Miene geschehen ließ, und rannte aus dem Zimmer. Sie hörte, wie Franca sich lautstark mit ihm zu streiten begann. Chiara wollte nur noch weg. Sie riss ihre Jacke vom Bügel und stürzte hinaus in die Dunkelheit. Ungewohnt eisiger Wind fegte ihr die Tränen aus den Augen. Das Wetter schien umzuschlagen.

Der Fiepton holte Max gnadenlos aus einem Traum, der sich sofort auflöste und jede Erinnerung löschte. Es blieb nur ein dumpfes Gefühl, das er nicht deuten konnte. Es hatte etwas mit tiefer Enttäuschung zu tun und mit der Angst, sich in einem grenzenlosen Universum von Möglichkeiten verirrt zu haben.

Max setzte sich auf und blinzelte zum Fenster hinaus. Der Himmel war noch dunkel, nur das fahle Licht der Straßenlaterne bahnte sich einen Weg durch helle, umherwehende Flusen. Es wirkte wie eine Bildstörung im Fernsehen. Inzwischen war Max eingefallen, warum sein Handywecker ihn zu dieser Nachtzeit aus dem Schlaf geholt hatte. Ferien vorbei! Der Schultrott nahm wieder seinen Lauf.

Schorsch stieß seine feuchte Nase gegen Max’ Knie und umtänzelte seinen Rudelführer mit wackelndem Hinterteil, als dieser sich erhob und zum Fenster hinausblickte. »Das gibt’s ja gar nicht«, flüsterte Max, als er mit der Nase dicht an der Scheibe die Außenwelt inspizierte. Über Nacht war der Winter gekommen. Die Flusen im Lichthof um die Laterne entpuppten sich als heftiges Schneegestöber. Dumpf hörte man das Kratzgeräusch der Schneeschieber und das Zischen der Besen rundherum aus der Siedlung. Max seufzte. Herold, Pfannmüller und die alte Frau Hufnagel. Bei diesen Nachbarn hatte er sich zum Schneeräumen verpflichtet und sich gedacht, dass das eine gute Einnahmequelle in den Ferien sein würde. Dass die Hauptsaison einfach am ersten Schultag begann, war nicht fair von diesem Winter. Aber avanti, würde Chiara jetzt sagen. Ein wehmütiges Lächeln glitt über Max’ Gesicht. »Avanti, Schorsch, es macht keinen guten Eindruck, wenn man gleich am ersten Schultag zu spät einläuft! Komm, wir gehen Schneeräumen!«

Wenig später versuchte Max nach Kräften auf dem Gehsteig der Hufnagel, deren herausgeputztes Häuschen direkt gegenüber dem der Wirsings lag, die Schneemassen zusammenzuschieben. Plötzlich hörte er, wie jemand hinter ihm mit heftigem Schrubbergeräusch kehrte. Er fuhr herum und entdeckte Chiara. Sie trug eine dicke Pudelmütze, unter der ihre wilden Locken hervorquollen. Ihre Wangen glühten vor Kälte. Um ihre Augen tanzte ein wärmendes Lächeln. Ihre Hände steckten in dicken Fäustlingen und umschlossen tatendurstig den Besenstiel. Die Hälfte des Weges hatte sie bereits gekehrt.

»Als ich heute morgen sah, dass alles weiß ist, erinnerte ich mich, dass du mir von deinem Schneeräumjob erzählt hast. Da dachte ich, das schaffst du nicht ohne mich«, rief sie ihm durch den Flockenwirbel zu.

»Danke«, hauchte Max und machte sich wieder an die Arbeit. In seinem Bauch wirbelten trotz der unpassenden Jahreszeit tausend bunte Schmetterlinge umeinander. Chiara begleitete ihn zu allen Arbeitsstellen. Schließlich kamen sie wieder vor dem Haus der Wirsings an. Sie befreiten auch dort den Gehweg vom Schnee und verteilten die letzten Reste des Streumittels aus dem Eimer. Plötzlich öffnete sich die Haustür. Max’ Großmutter erschien im Bademantel mit Streublümchenmuster und winkte sie herein zu heißem Kakao. »So viel Zeit muss noch sein«, erklärte sie.

»Eigentlich nicht«, brummte Max. »Bei dem Schnee brauchen wir eine halbe Stunde durch das Wäldchen bis zur Schule.«

»Eigentlich doch«, erklärte Chiara. Sie hatte die Fäustlinge bereits abgestreift und ihr Smartphone gezückt. Während ihre Finger über das Display glitten, sagte sie: »Wir müssen uns das jetzt nicht geben, mit der ganzen Meute durch den Schnee zu stapfen. Onkel Ernst kann uns mit dem SUV bringen. Oder hast du was dagegen?«

Max schob die Unterlippe vor. Eigentlich hatte er etwas dagegen. Jedoch wollte er Chiara nicht widersprechen – jetzt, wo sie nach dieser langen Woche zu ihm gekommen war. Vielleicht hatte sie ja wirklich nur die Grippe gehabt. Eigentlich war es verlockend, noch ein paar ruhige Minuten mit ihr verbringen zu können, und dafür nahm er den alten Köhler gerne in Kauf.

Seine Großmutter hatte die Zeichen verstanden und sich nach oben zurückgezogen. Chiara und Max saßen am Küchentisch. Darunter war Schorsch damit beschäftigt, das Handtuch, mit dem Max sein nasses Fell trockengerieben hatte, wie eine Beute niederzuringen und zu schütteln. Chiara umfasste mit beiden Händen die heiße Tasse und beobachte lächelnd das Treiben des Hundes. Max studierte ihre Körpersprache. Etwas war anders an ihr. Sie wirkte so durchsichtig. In ihren Augen lag ein Hauch von Traurigkeit. Das Lächeln war nicht das offene Chiara-Lächeln, das er kannte. Es schien wie mit einem Schleier verhangen. Ihr Oberkörper war gebeugt, wie unter einer schweren Last.

»Alles wieder okay bei dir?«, fragte Max vorsichtig.

Chiara sah erschreckt auf.

Max zuckte ebenfalls zusammen. Hätte er das nicht fragen dürfen? Noch nicht einmal das? »Ich meine wegen der Grippe«, schob er nach.

Chiara schien unmerklich aufzuatmen. »Die Grippe. Ja, das ist wieder okay«, antwortete sie und schaute erneut unter den Tisch und von dort zu der verglasten Terrassentür, die in den Garten hinausführte. Inzwischen war es hell geworden. Draußen löste sich plötzlich ein pudriger Schneeschauer aus einer Fichte und stob über die wippenden Zweige hinab. Dadurch lösten sich immer weitere Kaskaden bis sich alles in einem kleinen Schneeberg unter dem Baum ansammelte. Verursacher war ein Eichhörnchen, das mühsam versucht hatte, sich von Ast zu Ast durch den verschneiten Baum zu bewegen. Auch Max war aufmerksam geworden und beobachtete das emsige Tierchen. »Der Kleine wird es heute nicht so leicht haben, seine Vorräte zu finden«, kommentierte er.

Chiara horchte auf. »Halten die nicht eigentlich Winterschlaf?«, fragte sie.

Max schüttelte den Kopf. »Eichhörnchen sind Winterruher. Sie ziehen sich in ihr Nest zurück, aber wenn sie Hunger haben, stehen sie auf und gehen an ihre Vorratskammern, die sie sich im Herbst angelegt haben.«

»Und das nennt sich dann das Eichhörnchen-Prinzip?«, fragte Chiara.

Max sah sie erstaunt an. »Das Wort habe ich noch nicht gehört.«

Chiara wirkte plötzlich seltsam alarmiert »Wie würdest du es deuten, wenn jemand zu dir sagt, dass er etwas nach dem Eichhörnchen-Prinzip macht?«

»Ich würde sagen, er sammelt alle möglichen Vorräte und versteckt sie dann irgendwo.«

Chiara schüttelte den Kopf. »Darüber habe ich auch schon nachgedacht, aber das kann er nicht gemeint haben. Es muss noch etwas anderes geben, was Eichhörnchen tun und was man so bezeichnen könnte.«

Über Max’ Gesicht huschte plötzlich ein Ausdruck des Verstehens. »Der das zu dir gesagt hat, war Maurice, nicht wahr?«

Chiara nickte. Ihre Augen wurden sofort feucht. »Es ist mir plötzlich wieder eingefallen. Er sagte es in der Zeit, als er sich so verändert hatte. Er verließ behängt mit Taschen das Haus, als ginge er campen.«

Max nickte. Seine Augen leuchteten auf. »Dann weiß ich, was gemeint ist. Eichhörnchen haben immer mehrere Kobel, zur Sicherheit sozusagen!«

Chiara runzelte die Stirn. »Kobel?«

»So nennt man die Nester der Eichhörnchen. Sie bauen sich mehrere. Falls mal der Baum gefällt wird, in dem sie ein Nest haben, oder falls dort ein Marder auf sie lauert.«

Chiaras Augen leuchteten auf. »Genau! Das ist es. Deshalb sah sein Zimmer so leer geräumt aus. Er hat seine Sachen woanders in Sicherheit gebracht.«

Max legte die Stirn in Falten. »In Sicherheit? Gibt es denn bei euch im Haus einen Marder?«

Chiara nickte. »Oh ja, den gibt es!«

»Köhler?«, fragte Max.

Chiara schüttelte den Kopf. Plötzlich standen Tränen in ihren Augen. »Onkel Ernst macht doch nur, was Gero ihm sagt.«

»Hast du gerade Stress mit deinem Stiefvater?«, forschte Max.

»Ich habe in seinem Arbeitszimmer die Unterlagen über Maurice gelesen.« Dann berichtete sie von ihren Erlebnissen in den letzten Tagen.

»War das der Grund, warum du dich nicht mit mir treffen wolltest?«, fragte Max.

»Ich musste mir erst selbst darüber klar werden, was ich mit den Informationen anfange, ob ich es auf sich beruhen lassen oder weiter nachforschen soll. Ich bin mir inzwischen sicher, dass es einen triftigen Grund für Maurice’ Selbstmord gibt und dass Gero den sogar kennt oder zumindest ahnt.«

Max schüttelte abwehrend den Kopf. »Er wurde zum Bahnhof hinbestellt. Wir suchen nicht nach einem Motiv für einen Selbstmörder, sondern für einen Mord!«

Chiara nickte und flüsterte: »Inzwischen traue ich ihm alles zu.«

Max musterte sie aufmerksam. Er wagte nicht nachzufragen, wen genau sie meinte. Schließlich schlug er vor: »Vielleicht können wir ja herausfinden, wo Maurice damals seinen zweiten Kobel angelegt hat. Vielleicht gibt es dort Hinweise.«

Chiara beschrieb ihm noch einmal alle Einzelheiten, an die sie sich erinnern konnte und Max entschied: »Okay, dann machen wir heute Nachmittag einen schönen Hundespaziergang in Richtung Klapperwiese.« Schorsch kam sofort unter dem Tisch hervor und bellte auffordernd. Gewisse wichtige Vokabeln der menschlichen Kommunikation waren ihm geläufig.

Eine SMS von Köhler erinnerte daran, dass er vorgefahren war. Eigentlich ganz praktisch, so ein Leben mit Chauffeur, dachte Max.

Max saß im Dienstzimmer der Schulleiterin vor deren Schreibtisch. Er fühlte sich ein wenig unbehaglich und war dennoch froh, dass sie trotz des Trubels am ersten Schultag Zeit für ihn gefunden hatte. Sie saß ihm gegenüber und schaute auf ihren Bildschirm. Ihre schmalen, sorgfältig manikürten Finger glitten mit leichtem Klickern über die Tastatur. »Ich mach das gerade noch fertig, dann habe ich Zeit für dich«, sagte sie dabei. Max nickte und schaute ihr zu. Sie mochte in Sonjas Alter sein, sah aber viel frischer und besser gestylt aus. Ihr mittelblondes Haar war von einem sicher teuren Friseur mit einem aufwendigen Stufenschnitt in Form gebracht worden. Vorne reichte es bis zum Kinn, am Hinterkopf wölbte es sich und ließ den Nacken frei, um den sie locker ein bunt bedrucktes Seidentuch geschlungen hatte. Eine der Farben des Tuches passte im Ton genau zum Blau ihres Kostüms. Irgendwie hatte sie etwas von einer Flugbegleiterin, auch ihr Lächeln wirkte ähnlich professionell, als sie sich ihm endlich zuwandte. Max trug sein Anliegen vor. In ihrem Gesicht entstand ehrliches Erstaunen.

»Das wurde mir aber von Tobias Hofmann ganz anders geschildert. Er meinte, du hättest den Wunsch geäußert, dich aus der AG zurückziehen zu wollen. Du hättest eingesehen, dass du mit diesen schwierigen Kindern nicht so gut zurechtkommst und wolltest deshalb die Arbeit dort beenden. Ich fand seine Idee gut, mit Annalena nun auch ein Mädchen als Betreuerin mit ins Boot zu holen.«

Max spürte, wie die Wut in ihm aufstieg. »Davon ist kein Wort wahr. Ich bin mit den Jungs so gut oder schlecht zurechtgekommen wie er auch.«

Im Gesicht der Direktorin stand Skepsis. Sie blätterte in einem Papierstapel und zog dann ein Blatt hervor, das sie Max über die Schreibtischplatte zuschob. »Hier! Das habe ich heute Morgen in meinem Postfach gefunden. Zumindest dieser Justin Kinkel möchte nicht von dir betreut werden. Eine Erinnerung blitzte in Max auf, als er das aus einem Spiralblock herausgerissene Blatt sah. Die ungelenke Schrift erkannte er sofort. Aufmerksam las er den Text.

Wier wollen nicht mehr Max als Träner. Er kreischt mit uns rum und bildet sich ein er wär Moriz. Justin Kinkel, Klasse 6b

»So ist das also«, flüsterte Max. »Und Sie glauben, das hat er von sich aus geschrieben und nicht nach Diktat von Tobias Hofmann?«

Die Schulleiterin schaute Max mit strenger Miene an: »Maximillian. Ich möchte nicht, dass du den kleinen Justin zur Rede stellst oder gar einschüchterst. Wenn du denkst, dass Tobias da ein wenig vorschnell gehandelt hat, solltest du jetzt keinen Ärger machen, sondern es akzeptieren. Offensichtlich seid ihr beiden nicht ganz grün miteinander. Da ist es auf jeden Fall besser, wenn ihr eure Zusammenarbeit beendet.«

Max fuhr auf: »Ach und warum muss dann ich gehen und nicht er

»Weil er der Ältere und Erfahrenere ist und schon von Beginn an mit dabei war. Herr Maurer lobt Tobias’ Unterstützung sehr.«

Max nickte. Er war blass vor mühsam beherrschter Wut. »Kann ich eine Kopie von dem Brief haben?«

»Wozu?«

»Für meine Unterlagen.«

»Gut, aber du versprichst, dass du mit Justin vernünftig und ruhig redest und dich überhaupt in dieser Angelegenheit deeskalierend verhältst!«

Max nickte mit kühler Miene und griff das sprachliche Repertoire der Streitschlichterschulung auf, das die Direktorin verwendet hatte.

»Hab verstanden, ich werde nur nicht verletzende Ärgermitteilungen absondern!«

Die Schulleiterin schüttelte stumm den Kopf, als sie Max beim Verlassen des Raumes nachschaute.

Eigentlich hatte Max vorgehabt, Chiara am Bentheim-Schlösschen abzuholen, doch Chiara wollte das nicht. »Es ist besser, wenn er dich nicht zu Gesicht bekommt«, kommentierte sie. Also hatten sie sich in der Nähe verabredet, dort, wo der Weg sich gabelte.

»Ich hatte Maurice damals noch lange nachgesehen und beobachten können, dass er hier zur Klapperwiese abgebogen ist. Dann ist er dahinten im Wald verschwunden«, erinnerte sich Chiara.

Max sah den von ihr beschriebenen Weg entlang. »Und er ist nicht dort vorne in den Hasenpfad abgebogen?« Chiara schüttelte den Kopf. »In den Harzerpfad? Was sollte er da? Nein, er lief weiter Richtung Wald.«

»Der Weg führt zur Reitschule Moderbachtal im Erlenhof. Meinst du, er wollte dort hin?«

»Er hatte es nicht so mit Pferden. Dafür ist Michelle zuständig. Die verbringt fast jeden Nachmittag dort.«

»Dann gehen wir jetzt einfach diesen Weg entlang, vielleicht fällt uns etwas auf.«

Chiara nickte und folgte ihm. Eine Weile liefen sie schweigend, doch dann berichtete Max noch einmal ausführlich von seinem Besuch bei der Schulleiterin. Bereits heute Mittag nach der Schule hatte er Chiara kurz erzählt, dass er Justin verdächtigte, Gift in den Garten geworfen zu haben. Chiara hatte ihn eingeladen, wieder mit Köhler im Auto zurückzufahren, doch diesmal hatte Max abgelehnt.

Inzwischen war es bereits dämmerig geworden. Wind war aufgekommen und blies ihnen feine Eiskristalle entgegen. Chiara zog ihre Pudelmütze tiefer ins Gesicht.

»Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum Justin das getan haben sollte. Neulich hast du noch erzählt, dass er sich an dich hängt wie eine Klette und deine Freundschaft sucht«, sinnierte sie.

»Ich habe ihn auch nie angeschrien, vielleicht hin und wieder mal nicht ganz so freundlich angeredet, wenn er mir total auf den Keks ging. Aber ein Grund zum Hundevergiften und Brief an die Schulleitung zu schreiben ist das nicht. Justin ist weich wie Butter. Der tut alles, was man ihm sagt. Hauptsache, er hat das Gefühl, akzeptiert zu werden. Ich glaube eher, dass ihn jemand angestiftet hat.«

»Und wer soll das gewesen sein?«

»Eine Idee habe ich schon. Tobias will mich da heraushaben. Und Old Schepperhand vermutlich auch.«

»Der Maurer? Diesen vertrockneten Playboy nimmt doch keiner Ernst.«

»Du weißt, warum sie ihn Old Schepperhand nennen?«

»Das weiß hier jeder.«

»Vor den Weihnachtsferien habe ich gesehen, wie er in einem seiner legendären Wutanfälle einen Jungen am Arm herumgerissen hat, dass dieser vor Schmerz aufschrie und zu Boden ging. Ich bin hin und habe Schepperhand gesagt, er soll das gefälligst lassen, sonst würde ich es der Schulleitung melden. Da war er auf einmal ganz klein mit Hut und ist grummelnd abgezogen. Seitdem sind Tobias und er deutlich auf Distanz zu mir gegangen.«

»Tobias auch?«

»Ja, gerade der. Er packt die Jungs noch viel rauer an. Deshalb spuren sie bei ihm auch besser als bei mir. Für die bin ich das Weichei und Tobias der große Terminator.«

»Das ist aber doch alles kein Grund zum Hundevergiften.«

Max zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. Er ahnte, dass er jetzt ein brisantes Thema vorsichtig verpacken musste.

»Vielleicht bildet er sich auch was ein – wegen Annalena.«

»Annalena?«, fuhr Chiara auf und Max zuckte zusammen. Er nickte mit gequälter Miene. »Er bewacht sie eifersüchtig und bildet sich ein, ich wolle was von ihr.«

»Und? Willst du?«, fragte Chiara spitz.

»Ich sagte doch, er bildet sich das ein«, brummte Max.

Doch Chiara blieb am Ball.

»Sarah hat mir erzählt, sie hätte euch in den Ferien in der S-Bahn gesehen. Ihr hättet euch gestritten wie ein altes Ehepaar.«

»Das war, als sie mir das mit dem Handy erzählt hat. Das weißt du doch.«

»Warum erzählt sie das, was sie sonst noch keinem erzählt hat, ausgerechnet dir?«

»Keine Ahnung.«

»Ich schon. Sarah sagt, Annalena hat ihr gestanden, dass sie total hin und her gerissen ist zwischen Tobias und dir.«

»Na bitte, da hast du doch das Motiv für den Hundevergifter«, versuchte Max so kühl wie möglich zu sagen und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

»Eifersucht!«, zischte Chiara. »Würde gerne wissen, ob er einen Grund dazu hat.«

Max betrachtete Chiara von der Seite. Ihr Gesicht war nicht nur wegen der Kälte dunkelrot angelaufen. Ihre Augen funkelten kriegslustig. Max musste heimlich grinsen und schaute schnell zur anderen Seite, damit Chiara es nicht bemerkte. In dem kleinen Waldstück war es bereits finster und sie mussten auf den Weg achten. Eine Weile tasteten sie sich schweigend voran.

»Das ist nicht das Motiv«, sagte Chiara plötzlich.

»Und warum bist du da so sicher?«

»Weil dann der Wortlaut des Briefes anders gewesen wäre. Finger weg von Annalena oder so.«

»Dann hätte ich sofort gewusst, wer der Briefeschreiber ist.«

»Trotzdem. Was genau hat er noch mal geschrieben?«

»Dass ich mit der erbärmlichen Show aufhören soll, weil ich nicht Maurice wäre, sondern nur ein verkleideter Emo.«

»Sagtest du nicht, dass Tobias anfangs positiv auf dich angesprungen ist und dich sogar gefragt hat, ob du ihm wie früher Maurice bei der AG helfen willst?«

»Ja, hat er. Er sagte zu mir: ›Hey, du siehst aus wie einer, der Geld braucht‹ …«

»Wie viel bekommst du für die AG?«

»Fünfzig im Monat für zweimal die Woche je eine Stunde.«

»Das sind noch nicht mal 6 Euro die Stunde! Ein Hungerlohn!«

»Es soll ja auch nur eine Aufwandsentschädigung sein. Es geht vor allem um das soziale Engagement, so wurde mir das jedenfalls erklärt.«

Chiara lachte bitter auf. »Tobias und Maurice als Sozialarbeiter. Das passt nicht. Hier liegt die Leiche im Keller!«

»Ich versteh dich nicht. Aus welchem Grund soll sich Maurice denn sonst in der AG engagiert haben? Aufs Geld musste er doch noch weniger achten als Tobias.«

»Da irrst du dich! Du kennst Geros Erziehungsprinzipien nicht. Er hat uns oft sehr knapp gehalten und wollte, dass wir dadurch lernen, mit Geld auszukommen. Gleichzeitig hat er uns verboten, irgendwo Jobs anzunehmen. ›Die Schule ist euer Job‹, hat er immer gesagt. Mir hat mein Geld meistens trotzdem gereicht, weil ich nicht so auf diesen Klamottenzirkus und Labelwahn abfahre. Aber für Maurice war das was anderes, der konnte jeden Euro gebrauchen. Aber dass er sich für 6 Euro die Stunde mit diesen verrückten Kindern abgibt, passt eigentlich nicht zu ihm. Das hat mich schon damals gewundert.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass es für Maurice und Tobias noch einen anderen einträglichen Grund gegeben haben muss, warum sie diese AG zusammen gemacht haben. Als du plötzlich aufgetaucht bist, hat Tobias vermutlich gedacht, oh, der wäre ein guter Ersatz für Maurice. Dann musste er feststellen, dass du anders bist, dass du dich nicht auf Sachen einlässt, auf die Maurice sich eingelassen hat. Wahrscheinlich bist du für ihn sogar zur Gefahr geworden, weil du ihm auf die Finger geguckt hast. Also versucht er, dich loszuwerden.«

»Und was sollen das für Sachen sein? Das klingt irgendwie ziemlich an den Haaren herbeigezogen.«

»Du hast Maurice nicht gekannt! Es würde zu ihm passen. Maurice war einer, der nach vorne heraus artig funktioniert hat. Ein Vorzeigesohn. Ein bisschen arrogant vielleicht. Aber hintenherum hat er gnadenlos sein Ding gemacht. Also ganz anders als du.«

»Womit kann man zusätzlich Geld verdienen, wenn man so eine AG macht?«

»Das müssen wir herausfinden. Vielleicht wissen wir dann auch, wer Hunde vergiftet oder Selbstmorde inszeniert.«

Sie waren am Ende des Wäldchens angekommen. Ein grauer Himmel sandte spärliches Licht. Die Schneeflocken fielen dichter und hatten schon eine neue Schicht über die Fahrspuren auf dem Weg und die Halme der angrenzenden Wiesen gelegt. Weiter weg waren im nebligen Dunst die Umrisse von Gebäuden zu erkennen. Das größte davon war die Reithalle. Gelbliches Licht fiel durch schmale Fensterscheiben.

Schorsch stob wie befreit über eine Wiese, pflügte mit der Schnauze durch den Neuschnee und stieß sie tief zwischen die Grasbüschel, wenn er schnaubend der Witterung einer Maus nachging. Linkerhand, gleich an den Waldrand angrenzend, bot sich ihnen ein anderes Bild. Verwitterte, teilweise eingestürzte Zäune umgrenzten ein verlassenes Schrebergartengelände. Auch von den Hütten waren nur Ruinen übrig geblieben. Einige wiesen deutliche Brandspuren auf.

»Die Jugendfeuerwehr übt hier manchmal«, erklärte Chiara.

»Es sieht schrecklich aus«, kommentierte Max. »Immer, wenn ich hier vorbeikomme, frage ich mich, warum die Leute ihre Gärten verlassen haben. Meine Oma meint, daran sei von Bentheim schuld. Er habe das Land gekauft, die Leute vertrieben und darauf spekuliert, dass es Bauland wird.«

»Ja, das stimmt. Gero hat das alles vor ein paar Jahren gekauft. Michelle glaubte damals, dass er es als Weide für Artos wollte. Aber mit der Vertreibung der Leute aus den Gärten hatte er nichts zu tun. Die hätte Gero sogar gerne geduldet, weil er dann noch eine Pacht hätte kassieren können, bis das Gebiet zu Bauland erklärt worden wäre. Die Naturschutzbehörde hat ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die haben alles hier unter Schutz gestellt und Gero konnte sein Bauland abschreiben. Die vom Naturschutz haben angeordnet, dass alle Gärten und Hütten und Zäune verschwinden müssen.«

»Eine Naturschutzbehörde, die etwas gegen Gärten hat?«

»Ja, es soll eben alles wieder wild überwuchern. Gärten sind für die keine Natur.«

»Da müssten die aber mal zu meiner Oma kommen. Die Artenvielfalt bei ihr im Garten übertrifft so ein brachliegendes Ödland aber um einiges.«

»Letztes Jahr gab es eine Bürgerinitiative. Bestimmt war deine Oma mit dabei.«

»Ich glaube nicht. Der grausige Tod ihrer Freundin, mit der sie solche Sachen unternommen hat, hat sie schwer mitgenommen.«

»Grausiger Tod?«

»Sie ist in ihrem Haus verbrannt.«

»Ich erinnere mich an einen Hausbrand. Alle haben darüber geredet. Es war zu Beginn des Sommers, in dem Maurice starb. Und die Frau war die Freundin deiner Oma? Wie hieß sie?«

Max dachte einen Augenblick angestrengt nach.

»Brigitte. Brigitte Wiesner.«

»Brigitte Wiesner?«, rief Chiara und legte sofort die Stirn in Falten.

»Kanntest du sie?«, fragte Max.

Chiara schüttelte den Kopf. »Irgendwo habe ich den Namen in der letzten Zeit gehört. Warte. Ja, jetzt weiß ich es wieder!« Erschrocken starrte sie Max an. »Onkel Ernst hat ihren Namen genannt. Sie war die Hebamme, die bei Maurice’ Hausgeburt dabei war.«

»Ja, ich weiß«, bestätigte Max. »Meine Oma hat mir das erzählt, als ich noch der Meinung war, Maurice wäre mein Zwillingsbruder. Dabei fiel der Name von der Wiesner und Oma hat gesagt, dass sie Freundinnen waren und die Wiesner ihr nie etwas von Zwillingen berichtet hätte.«

»Meinst du, da gibt es trotzdem einen Zusammenhang?«

»Du meinst, dass jemand sie umgebracht hat? Aber warum?«

Chiara schloss die Augen. »Was, wenn sie etwas wusste, was sie nicht sagen durfte?«

»Aber warum hat sie dann so viele Jahre geschwiegen und will plötzlich raus damit? Ich glaube, wir fangen langsam an, uns zu verrennen. Meine Oma hat gesagt, dass das Haus der Wiesner ziemlich alt und die Elektrogeräte schlecht gewartet waren. Es war vermutlich Zufall.«

Chiara nickte und biss sich auf die Unterlippe. So ganz überzeugt schien sie nicht. Sie sah hinüber zur Reithalle und folgte mit den Blicken dem Weg, der sich daran vorbeischlängelte und im Nebel verlor. »Eigentlich ist es eine Schnapsidee, hier bei diesem Wetter herumzustapfen und zu glauben, noch etwas finden zu können, das uns einen Hinweis darauf gibt, wohin Maurice damals verschwunden ist. Lass uns abbrechen. Ich bin für Kino. Ich lade dich ein.«

Max nickte zögerlich. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und legte den Arm um Chiaras Schultern, um sie mit sich zu ziehen. »Okay, aber bezahlen will ich selbst.«

Sie stieß ihm sanft mit der Faust in die Seite. »Sei nicht so stolz!«, sagte sie lächelnd und küsste ihn.

Schorsch kam angesaust und sprang bellend an den beiden hoch. Max drückte ihn nach unten und löste sich von Chiara. »Der Hund muss abgelenkt werden«, erklärte er und formte einen kleinen, festen Schneeball, den er mit aller Kraft von sich warf. Schorsch konnte jedoch die Flugbahn des Balls in dem trüben Licht nicht ausmachen. Er stürzte zwar in die Wurfrichtung davon, stoppte dann aber, suchte schwanzwedelnd auf dem Boden und rannte plötzlich zu den verfallenen Schrebergärten hinüber. Max pfiff, doch Schorsch reagierte nicht und war bald zwischen den Hütten verschwunden.

»Oh, nee«, stöhnte Max, »da gibt es bestimmt jede Menge Kaninchen.«

»Und Ratten und Mäuse«, ergänzte Chiara schaudernd.

»Ich geh ihn holen. Bin gleich wieder da.« Er setzte sich in Bewegung. Chiara blieb jedoch nicht zurück, sondern griff nach seiner Hand und folgte ihm.

Das Eingangstor der Anlage hing schief in den Angeln. Schorsch musste sich durch den Spalt am Boden durchgemogelt haben. Max zeigte auf die frischen Pfotenabdrücke im Schnee und stutzte. Auch Chiara erkannte auf Anhieb, worauf Max aufmerksam geworden war. Hinter dem Tor war Schnee aufgehäuft und eine verschneite Schleifspur zeigte, dass dieses Tor vor Beginn des nachmittäglichen Schneefalls aufgeschoben worden war. Auch gab es Abdrücke im Schnee, die zwar mit neuem Schnee gefüllt, aber immer noch sichtbar waren. »Schuhgröße 35 oder 36 würd ich mal sagen«, spekulierte Max.

»Kinderschuhe«, deutete Chiara.

Sie öffneten das Tor und folgten den Spuren. Sie führten einen schmalen Weg entlang, an dem zu beiden Seiten kleine Gartenparzellen abgeteilt waren. Überall bot sich ihnen das gleiche Bild wie von außen. Die Hütten waren zerstört, die Zäune durchlöchert. In manchen hingen noch Gartentore, an denen verblichene Schilder mit Aufschriften wie »Gerdas Paradies« oder »Trauminsel« befestigt waren. Die Spuren führten bis weit in den hinteren Teil des Geländes. Hier war das Ausmaß mutwilliger Zerstörung nicht so groß. Die Gärten waren zwar mit borstigem, braunem Kraut überwuchert, doch die Hütten wirkten so, als hätten die Bewohner sie nur kurzzeitig verlassen. Hinter einem Fenster hingen rot-weiß-karierte Vorhänge. Auf einer kleinen Holzterrasse stand ein Korbstuhl mit einem weißen Schneepolster als Sitzfläche. Die Spuren endeten vor einem Tor aus blau gestrichenen Holzlatten, von denen die Farbe abblätterte. Am Tor war mit Kordel eine Holzlatte im Querformat angebracht. Mit schwarzer Farbe, die an manchen Stellen in Nasen herabgelaufen war, stand in schiefen Buchstaben das Wort MITTELERDE.

»Hier wohnt also der Herr der Ringe«, sagte Chiara spöttisch und schaute über das verwilderte und mit alten Gerätschaften und Schrott übersäte Grundstück.

»Sieht eher so aus, als wohnten hier die Olchis von der Müllhalde«, zitierte Max ein Buch aus seiner Kinderzeit.

»Der kleine Hobbit ist da drüben zu der Hütte gelaufen«, stellte Chiara fest und deutete auf die Spuren im Schnee.

In dem Moment wurde Max von Schorsch angesprungen, der von irgendwoher zurückgekehrt war und nun ein Begrüßungsfest feierte, als habe er Max jahrelang nicht gesehen. Max hockte sich hinab zu seinem Hund und sortierte ihm Tannennadeln, Hölzchen und Eisklümpchen aus dem langen Fell an Ohren und Beinen. Dabei redete er sanft auf das Tier ein: »Du bist vielleicht einer. Wie oft soll ich dir noch erklären, dass du nie im Leben ein Kaninchen erwischen wirst. Und jetzt hast du wieder den halben Wald in den Ohren.«

»Riechst du das?«, unterbrach Chiara ihn.

Max richtete sich auf. »Holzfeuer«, stellte er fest.

Beide sahen gleichzeitig hinüber zum Dach der Hütte. Und tatsächlich, aus einem metallenen Rohr zog eine dünne Rauchfahne.

»Sollen wir reingehen?«, fragte Chiara.

Max nickte. »Mit Schuhgröße 36 werde ich noch fertig. Außerdem haben wir einen Kampfhund dabei.« Er löste einen Draht, mit dem das Tor notdürftig verriegelt war und schob es nach innen auf. Schorsch sauste voran und kratzte sofort an der Hüttentür. »Das kann nur heißen, dass es da drin was zu essen gibt«, erklärte Max. Nachdem trotz ihres Klopfens und Rufens keine Reaktion erfolgt war, betätigte Max die Klinke. Die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen. Wohlige Wärme schlug ihnen entgegen und der Geruch eines Fertiggerichtes mit Tomatensoße.Gegenüber der Tür lag eine kleine Gestalt auf einer mit Blümchenkissen und Häkeldecken überladenen Couch. Sie schreckte hoch, als das Licht auf sie fiel. In ihren Ohren steckten Stöpsel und mündeten am anderen Ende in einem iPod, der auf der Bettdecke lag und von dem Max auf Anhieb erkannte, dass es ein teures Markengerät war.

»Justin!«, rief Max überrascht. Jetzt erkannte auch Chiara den Schüler aus ihrer Schule.

Justin zitterte vor Angst, aber Chiara gelang es, ihn mit freundlichen Worten zu beruhigen. Sie erklärte, dass sie auf der Suche nach einem Rückzugsort von Maurice seien. Dabei sah sie Max beschwörend an. An seiner Miene erkannte sie deutlich, dass er bezüglich Justin gerne etwas anderes erörtert hätte. Doch er verstand und ließ sie gewähren.

Justin bot ihnen Ravioli und Tee an. Beides köchelte auf einem uralten Küchenherd, in dem ein munteres Feuer prasselte. Justin legte dennoch Holz nach. »Das ist der Garten von meinem Opa. Er hat hier mehr gewohnt als bei uns in der Wohnung. Er hat geschrottelt und damit ein bisschen Geld verdient. Vor drei Jahren ist er gestorben. Er hat sich zu sehr aufgeregt darüber, dass sie ihm den Garten wegnehmen wollten. Aber ich bin immer noch hierher gekommen. Irgendwann habe ich Maurice davon erzählt. Er fand es sofort super hier, und ich habe ihm erlaubt, sich hier eine Ecke einzurichten.«

Chiara folgte mit den Blicken Justins Kopfbewegung und entdeckte einen kleinen Tisch unter dem Fenster neben der Eingangstür. Die Tischplatte war leer geräumt bis auf eine fein polierte Edelstahldose mit Stiften, an die sich Chiara aus Maurice’ Zimmer im Bentheim-Schlösschen erinnerte. Ihr edles Design passte so gar nicht hierher.

»Er war tatsächlich hier!«, flüsterte sie Max zu. Ihre Blicke suchten hektisch die Umgebung des Schreibplatzes ab. Neben der Tür an einem Haken hing eine Kapuzenjacke von Maurice.

»Seine Lederjacke habe ich Second-Hand verkauft«, erklärte Justin, der Chiara nicht aus den Augen gelassen hatte.

Sie schaute ihn herausfordernd an: »Ach, und sein Laptop wohl auch, oder?«

Justins Augen weiteten sich überrascht, dann nickte er stumm.

»Hast du überhaupt noch etwas von ihm übrig gelassen, du …«, rief Chiara schrill. Ihre Augen schimmerten feucht.

Justin zog den Kopf ein und deutete mit dem Finger hastig auf ein kleines Bord, das an der Wand über dem Tisch angebracht war. Dort befand sich ein unbeschrifteter Ordner. Er enthielt ungeordnete Papiere. Bei den meisten handelte es sich um unvollständige Ausdrucke, Grafiken und Bilder.

»Biologie«, erklärte Chiara, während sie den Ordner durchstöberte. »Lauter biologisches Zeugs. Man glaubt es nicht. Er hat hier gesessen und Bio gelernt.« Es gab handschriftliche Randbemerkungen. »Das ist Maurice’ Schrift«, erklärte Chiara und reichte einige Blätter an Max.

Seine Hand zitterte. Zum ersten Mal sah er etwas, das Maurice geschrieben hatte, und stellte mit einer gewissen Erleichterung fest, dass er selbst eine deutlich andere Handschrift hatte. Er räusperte sich und sagte: »Allerdings hat er lauter Sachen gelernt, die wir erst jetzt in der 10. Klasse haben. War er so ein Streber, dass er sich das Zeug zwei Jahre im Voraus eintrichtern musste?«

»Eigentlich ganz und gar nicht«, erklärte Chiara und nahm die Papiere wieder an sich. Mit nachdenklichem Blick blätterte sie die Seiten durch und las Überschriften vor: »Genetik. Aufbau der DNS. Mutationen. Erbgänge bei HD. Was ist HD

»Das ist Hüftgelenksdysplasie«, antwortete Max sofort und erntete Chiaras anerkennenden Blick. Max erklärte beinahe entschuldigend: »Das steht so in Schorschs Stammbaum. HD-freie Zuchtlinie. Bei Hunden kommt es vor, dass sie zu flache Gelenkpfannen erben und dann kaum noch laufen können. Daher darf nur mit Hunden weitergezüchtet werden, bei denen durch eine Röntgenuntersuchung festgestellt wurde, dass ihre Hüftgelenke in Ordnung sind. Meinst du, Maurice befürchtete, das zu haben?«

Chiara las auf der Seite nach. »Hier steht, dass es erst im mittleren Lebensalter auftritt und dass es dann mehr als zehn Jahre dauern kann bis zur vollen Entfaltung der Symptomatik. Die nächste Seite fehlt. Hier kommt jetzt etwas über Zwillingsforschung.«

»Zwillingsforschung?«, schrie Max auf.

Chiara nickte und starrte ihn an. »Zwillingsforschung«, bestätigte sie. Ihr Blick fiel auf Justin, der zusammengesunken auf der Couch saß wie ein Gefängnisinsasse auf seiner Pritsche.

»Sag mal, weißt du, was Maurice hier bearbeitet hat?«

Justin zuckte mit den Schultern. »Für die Schule halt, hat er immer gesagt.«

Chiara legte nachdenklich die Blätter auf dem Tisch ab. »Die vollständigen Texte hatte er wahrscheinlich auf seinem Computer. Wenn wir den hätten, wüssten wir deutlich mehr.«

»Vielleicht hatte er Sicherheitskopien auf einem Stick. Wir müssen danach suchen«, schlug Max vor.

Doch er wurde sofort von Justin unterbrochen: »Ihr braucht hier nicht herumzuwühlen. Hier ist nichts mehr. Die Sticks habe ich für 2 Euro das Stück vertickt.«

Max schnaubte. »Na toll, du bist ja ein super Geschäftsmann. Aber höre ich da gerade heraus, dass du es nicht gerne hast, wenn wir nach etwas suchen, weil wir hier vielleicht etwas ganz anderes finden könnten?«

Justins »Nein« klang wenig überzeugend. Seine Gesichtshaut war noch heller geworden und die Schatten unter seinen feucht schimmernden Augen kerbten sich noch einen Ton dunkler ein. In seinem Gesicht stand etwas Verloschenes wie bei einem Alten, dem die Welt nichts mehr zu bieten hat.

Max sah keinen Anlass mehr, den Kleinen noch zu schonen, nachdem Chiara keine Fragen mehr hatte. Er trat mit einem Schritt an Justin heran und baute sich vor ihm auf: »So, du kleine Ratte, jetzt reden wir mal Klartext! Und damit meine ich, dass du jetzt gefälligst damit herausrückst, wie du darauf gekommen bist, mir diese irren Drohbriefe zu schreiben und meinen Hund zu vergiften!«

»Ich habe keinen Hund vergiftet!«, schrie Justin. Er sprang auf und wollte davonlaufen, doch Max packte ihn sofort am Arm und schleuderte ihn auf die Couch zurück. »Hiergeblieben!«, herrschte er ihn an.

»Max!«, rief Chiara. »Nicht so hart. So erfährst du gar nichts von ihm.«

»Der Schonwaschgang ist aber jetzt vorbei!«, presste Max hervor. Es ärgerte ihn, dass Justin hoffnungsvoll zu Chiara blickte. Max schnaubte. »Wenn du mir jetzt nicht alles klipp und klar erzählst, werde ich noch heute bei diesen Naturschutzheinis anrufen und ihnen stecken, dass hier einer illegal wohnt. Dann machen sie dein Mittelerde schneller platt, als du deinen Schrott rausräumen kannst!«

»Nicht! Das darfst du nicht! Lieber will ich sterben. Ich will sterben!«, schrie Justin. Tiefe Schluchzer pressten sich aus seiner Kehle. Aus den Augen goss sich ein Schwall Tränen, den er mit seinen schmutzigen Händen wegzuwischen versuchte. Dunkle Schmiere verteilte sich über sein Gesicht.

Chiara saß plötzlich neben dem Jungen auf der Couch. Sie legte einen Arm um seine Schultern und reichte ihm ein Taschentuch. Als er damit nichts anzufangen wusste, tupfte sie ihm das Gesicht trocken und hielt das Tuch vor seine Nase, damit er sich schnäuzen konnte. Mit beruhigenden Worten sprach sie auf ihn ein. Das nahm Schorsch zum Anlass, ebenfalls auf die Couch zu springen und sich auf der anderen Seite neben Justin gemütlich einzurollen. Justin strich zunächst vorsichtig, dann mit immer kräftigeren Bewegungen über das seidige Fell des Hundes und kraulte seine Ohren. Als dieser das mit einem wohligen Grunzen kommentierte, flog ein kleines Lächeln über Justins Gesicht. Dann verfinsterte sich seine Miene wieder. »Es ist alles wegen Rita«, begann er.

»Rita? Kenn ich die?«, fragte Max immer noch aufgebracht und schaute Chiara an, die die Schultern hob und stumm mit dem Kopf schüttelte. Über Justins Gesicht flog ein gequältes Lächeln. Dann erzählte er ihnen alles.

Inzwischen war es dunkel geworden. Es schneite in dichten Schwaden feine Kristalle, die der Wind vor sich hertrieb und die eisig in die Haut bissen. Max hatte Chiara ein Stück nach Hause begleitet und sich dann knapp von ihr verabschiedet.

»Willst du ihn noch heute Abend zur Rede stellen?« fragte sie mit ängstlichem Blick. Max nickte heftig. »Aber, hallo! Das hat keine Zeit mehr. Der kriegt jetzt was gegeigt, darauf kannst du –«

Sie unterbrach ihn. »Sei vorsichtig!«

»So vorsichtig wie nötig!«, knurrte Max und ballte die Fäuste in den Taschen.

Kurze Zeit später klingelte er an der Haustür der Familie Hofmann. Jonas öffnete und hob erstaunt die Brauen.

»Ist dein Bruder da?«, grollte Max.

»Ja, oben«, erwiderte Jonas und deutete mit dem Kopf in Richtung Treppe.

»Er soll sofort rauskommen, ich will ihn sprechen«, forderte Max.

Kurze Zeit später standen sie sich auf dem Gehweg vor dem Grundstück gegenüber.

Max’ aufgestaute Wut brach in einem Redefluss aus ihm heraus: »Du brauchst dir jetzt keine Storys auszudenken. Ich weiß alles. Ich weiß, dass du mit Maurice zusammen die Kinder aus der Spiele-AG dazu angehalten hast, ihr Ritalin nicht einzunehmen, sondern die Kapseln zu sammeln und an euch für ein paar Cent abzutreten. Euch war total egal, dass das für diese ADHSler ein Medikament ist, das sie brauchen, um halbwegs normal durch ihren Tag zu kommen. Ihr beiden habt das Zeugs dann weitervertickt, weil es Leute gibt, die sich so was wie Koks durch die Nase ziehen und sich dann voll auf Speed fühlen. Bestimmt habt ihr eine irre Gewinnspanne dabei gehabt!«

Tobias spuckte verächtlich aus. »Das hast du alles von Jonas, diesem kleinen Kernasi. Der lügt doch, wenn er das Maul aufmacht!«

»Er lügt nicht. Es ist eine Sauerei, wie ihr die Kinder von euch abhängig gemacht habt, indem ihr euch als Freunde aufgespielt habt. Für einen wie Justin ist so was der Himmel auf Erden. Das habt ihr widerlich ausgenutzt und genau gewusst, die verraten euch nicht, mit denen könnt ihr tun und lassen, was ihr wollt.«

»Alles Spekulation, was du da laberst!«, wehrte Tobias grinsend ab.

Max schnaubte wütend. »Ist es nicht! Es passt einfach alles zu gut. Erst dachtest du, ich könnte als Nachfolger von Maurice dein neuer Partner werden. Doch dann hast du gemerkt, dass ich anders ticke und dein abgekartetes Spiel vorzeitig beenden könnte. Da hast du versucht, mich loszuwerden. Außerdem hat es dir gestunken, dass Annalena was von mir wollte.«

Tobias’ Augen wurden schmal. »Lass Annalena aus dem Spiel. Hörst du?«

»Gerne! Aber sie gehört dir nicht. Je mehr du sie bewachst, desto eher bist du sie los!«

»Das ist meine Sache!«

»Klar. Aber es ist meine Sache, wenn du mir einen toten Fisch ins Schließfach legst. Es ist meine Sache, wenn du Justin anstiftest, mir anonyme Briefe zu schreiben. Es ist meine Sache, wenn du selbst noch einen Schrieb nachschickst, und es ist meine Sache, wenn du dann auch noch Rattengift in unseren Garten wirfst und meinen Hund vergiftest!«

Tobias zog ein Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche und versuchte sich in der hohlen Hand eine anzustecken. Mit der Zigarette zwischen den Lippen nuschelte er: »Sieh die Briefe als gut gemeinte Beratung an. Schließlich ist es nur zu deinem Besten, wenn du mit der ärmlichen Show aufhörst.«

Max’ Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Verächtlich spuckte er vor Tobias aus. »Also gibst du alles zu!«, zischte er.

Tobias lächelte kalt. »Gar nichts tue ich. Alles, was du da erzählst, ist Quatsch.«

»Nichts davon ist Quatsch«, hörte man plötzlich eine aufgebrachte Stimme. Mit einem Satz war Jonas hinter der Hecke aufgetaucht. Offensichtlich war er seinem Bruder nachgeschlichen und hatte das Gespräch belauscht. »Als Max mir das von dem Fisch erzählt hat, habe ich gleich an dich gedacht, weil einer von unseren Kois am Morgen tot im Teich lag. Außerdem hatte ich dich oben bei uns im Schulflur getroffen und mich gefragt, was du da zu suchen hattest. Aber jetzt ist mir das klar! Du hast dir von Schepperhand den Hauptschlüssel ausgeliehen und dich an Max’ Schließfach rangemacht. Bestimmt hast du Annalena vorher unauffällig nach der Nummer ausgefragt. Damals habe ich meinen Mund gehalten und dich nicht verraten, aber jetzt reicht’s. Kleinen Kindern das Ritalin abzuluchsen! Und mich hast du auch noch beklaut! Immer war ich schuld, wenn mein Rita plötzlich weg war, aber Mama hat ja schnell Nachschub besorgt, damit der hippelige Jonas endlich Ruhe gibt. Aber ich will keine Ruhe mehr geben!«

Tobias warf seine Zigarette weg und packte seinen Bruder mit beiden Händen am Kragen. »Doch, du gibst jetzt Ruhe. Halt endlich den Rand, Jonas!«

Jonas versuchte, sich zu befreien, doch der Griff seines Bruders war eisenhart. Dennoch gab Jonas nicht auf. Obwohl er kaum noch Luft bekam, stieß er hervor: »Und den Hund hast du auch vergiftet. Ich habe mich neulich gewundert, warum im Schuppen lauter aufgerissene und leere Köderboxen herumlagen und dachte erst, es wären die Ratten gewesen. Aber kurze Zeit später lag alles in der Mülltonne. Das waren wohl nicht die Ratten, sondern du. Nur du kannst es gewesen sein!«

Tobias zog Jonas’ Kragen noch enger zusammen. »Sei endlich still!«, zischte er. Jonas röchelte.

In dem Moment warf Max sich dazwischen. Er trennte Tobias mit einem Handkantenschlag von seinem Bruder. Dann drängte er die beiden auseinander. Jonas rieb sich den Hals und schluchzte. »Der hätte mich umgebracht!«

Tobias schnaubte verächtlich. »Gar nichts hätte ich. Aber du kannst einfach deinen Rüssel nicht halten. Ich bin dein Bruder, vergiss das nicht!«, zischte er.

»So einen Bruder braucht kein Mensch«, schluchzte Jonas.

Max hatte sich dicht neben Jonas gestellt, bereit, erneut einzugreifen.

Tobias spannte die Schultern, blieb aber an seinem Platz stehen. An Max gerichtet sagte er: »Okay, also, du hast gehört, was Sache ist. Und was willst du jetzt? Mich anzeigen?« Tobias hielt seinen Zeigefinger wie den Lauf einer Pistole und deutete in Jonas Richtung. »Dann muss er gegen mich aussagen. Vielleicht überlegt er es sich noch einmal bis dahin, ob er seinen Bruder wirklich reinreißen will.«

»Sei dir da mal nicht so sicher«, warnte Max. »Aber Anzeigen muss auch nicht gleich sein. Drei Sachen will ich von dir.«

»Und die wären?«

»Du bezahlst die Tierarztrechnung.«

Tobias bemühte sich, eine betont gelangweilte Miene aufzusetzen.

»Okay. Kein Problem.«

»Du lässt Justin in Ruhe.«

»Okay. Kein Problem.«

»Du lässt den Kindern in Zukunft ihr Rita.«

Tobias grinste. »Wie willst du das überprüfen?«

»Du beweist es mir dadurch, dass du morgen zur Schulleitung gehst und sagst, dass du die Spiele-AG nicht mehr machst. Und du hältst dich von den Kindern fern. Justin wird mir das haarklein berichten.«

»Was hast du diesem Justin versprochen, dass er dir das alles gesteckt hat?«

»Geht dich nichts an und wehe, du versuchst, was aus ihm herauszuholen!«

»Schon verstanden.«

»Das heißt, du akzeptierst alle Bedingungen?«, hakte Max nach.

Tobias zögerte einen Moment. Dann sog er hörbar die Luft ein und sagte: »Kein Problem, du Saubermann. Ich akzeptiere. Diesmal steht es 1:0 für dich, aber nur diesmal. Ich krieg dich schon noch dran!« Bei diesen Worten wandte er sich mit großer Geste um und verschwand in Richtung Haustür.

Als diese ins Schloss gefallen war, regte sich Jonas. »Danke Max. Ich fand es super, dass du dem mal gezeigt hast, wo’s langgeht.« Jonas hielt die Hand hin und Max schlug ein.

»Schon gut. Ich hoffe, er hat es verstanden und hält sich dran.«

»Bestimmt! Vor Maurice hatte er auch immer Respekt und eben warst du 1:1 wie er.«

Max verzog das Gesicht.