Mittwoch, der 2. Januar 2013

Frohes neues Jahr, Max! LOL! Gratulation, das hat richtig super angefangen! Voller Griff ins Klo! Gestern war einer der härtesten Tage meines Lebens! Nicht körperlich. Es tut einfach scheiße weh, wenn man plötzlich die Wahrheit erfährt. Es ist, als würde dir jemand mit einem Stilett ins Herz stechen und noch ein bisschen hin und her drehen, damit es richtig durchzieht. Dabei kenne ich noch nicht mal die ganze Wahrheit, nein, die leider immer noch nicht. Damit rücken sie nicht heraus, trauen sich wohl nicht. Oder sie wissen wirklich nichts. Egal …

Eigentlich schreibe ich wegen etwas ganz anderem. Wegen der Briefe und weil ich Angst habe. Es gibt merkwürdige Ungereimtheiten im meinem Leben, die keine Zufälle sein können. Und merkwürdige Drohungen, die ich mir nicht einbilde. Ich hatte mir echt schon überlegt, ob ich damit nicht zur Polizei sollte. Aber ich ahne schon, was die sagen würden: Alles normal. Mobbing und geheime Drohungen gehören zum Schulalltag. Dumme-Jungen-Streiche! Das hört auch wieder auf!

So was in der Art würden auch meine Eltern sagen. Aber die wären im Moment eh die Letzten, an die ich mich wenden könnte. Die sind Meister in dem Triathlon »Aushalten, Anpassen, Abwarten«, wie sie mir gestern wieder mal bestens bewiesen haben.

Ich bin also erst mal allein mit meinen Problemen. Echt allein! Wenn ich über das alles reden will, muss ich es mit mir selbst tun. Deshalb also dieses Tagebuch – auch wenn ich kein geübter Tagebuchschreiber bin und so was eigentlich nur für Mädchen ist. Ich brauche jemandem, dem ich sagen kann, welche Scheißangst ich manchmal habe! Was ist, wenn das alles erst der Anfang ist, wenn sich mein Feind im Dunkeln langsam steigert? Die Mafia macht das doch auch so. Sie schicken dir erst einmal einen toten Fisch, dann nageln sie dir deinen toten Hund an die Haustür und dann geht es dir selbst an den Kragen. Den toten Fisch hatte ich schon. Der lag vor den Weihnachtsferien in meinem Schließfach in der Schule. Wohlgemerkt in dem Schließfach, zu dem nur ich den Schlüssel habe! Ich habe das widerlich stinkende Teil unauffällig entsorgt, was gar nicht so einfach war. Seitdem habe ich eine Todesangst um Schorsch. Das ist mein Cockerspaniel, den ich nicht mehr aus den Augen lasse. Seit die Weihnachtsferien angefangen haben, bekomme ich diese merkwürdigen Briefe, in denen immer derselbe Satz steht. Keine Ahnung, wer Grund hat, mir so was zu schreiben.

Immerhin habe ich eine Chance herauszufinden, wer hinter der Sache mit dem Fisch steckt. Es muss jemand sein, der an den Generalschlüssel für die Schließfächer kommt. Jonas? Das würde dem Oberwitzbold unserer Klasse ähnlich sehen, sich einen so saudummen Scherz auszudenken. In diesem Fall habe ich dem Vollpfosten durch mein Schweigen leider die Pointe genommen.

Aber was, wenn es nicht Jonas war und der Fischetäter identisch mit dem Briefeschreiber ist? Die Briefe kann man eigentlich nicht mehr unter »Joke« einordnen. Das geht eine Nummer zu weit! Wenn ich herauskriege, wer das ist, hat der ein Problem, aber hallo!

Manchmal denke ich, es ist nur jemand, dem es Spaß macht, anderen einen Schrecken einzujagen, und dass ich unter Verfolgungswahn leide. Es gibt aber auch Momente, in denen ich nicht so gut drauf bin und dann denke ich, da gibt es eine ganz schräge Gestalt, einen fürchterlich abgedrehten, gefährlichen Typ, der kein anderer ist als Maurice’ Mörder und der nichts anderes will, als mich daran zu hindern, ihn zu finden. Der Hauptgrund, warum ich ab heute Tagebuch schreibe, ist also, dass ich diese ganze unmögliche Story zu Papier bringen werde. Ich werde mich nicht kirre machen lassen, sondern weiter nachforschen. Anscheinend bin ich durch mein Stöbern in Maurice’ Leben jemandem sehr nahe gekommen (ohne es zu ahnen). Ich lass mich nicht aus der Spur bringen, und ich werde keine Ruhe geben, bis ich endlich die Wahrheit herausgefunden habe! Das ist das Einzige, was ich jetzt noch für Maurice tun kann. Er hat so viel für mich getan. Das klingt ein bisschen gaga, aber das ist echt so: Maurice ist inzwischen so was wie mein Schatten, immer in meiner Nähe. Er redet mit mir von irgendwo aus dem Orbit, wir denken gemeinsam nach. Er ist und bleibt mein dunkler Zwilling. So, und jetzt schön der Reihe nach.

Zuerst mal zu mir. Ich bin 15 Jahre alt und heiße Maximillian Friedhelm Wirsing. Brüller! Ja, ich weiß, mein Name ist so etwas wie eine Mobbing-Garantie. Vor allem, wenn man dann noch so aussieht wie ich, jedenfalls wie ich aussah, damals, letzten Sommer. Ich lege mal ein Foto von mir bei, das meine Mutter gleich am ersten Tag hier vor unserem »neuen« Heim geschossen hat. Ich steh da wie ein Fragezeichen, dünn und spillerig. Knochige Knie beulen sich aus viel zu weiten Shorts. Shorts, die meine Mama selbst genäht hat – sozusagen mit »homemade by Mama«-Label. Oberpeinlich! Dazu Kniestrümpfe und Turnschuhe. Kinnlange Spaghettihaare! Hornbrille! Voll der Lauch! Ich muss mich wirklich nicht wundern, warum die damals solche Gesichter gemacht haben, als ich als Neuer vor der Klasse stand. Im Nachhinein muss ich sagen, war das schon obernett von ihnen, dass sie mir nichts getan, sondern mich einfach nur links liegen gelassen haben.

Letzten Sommer also, genauer gesagt im Juli, bin ich mit meinen Eltern nach Modertal gezogen. Ich kannte das schon von Besuchen bei meiner Oma. Kleiner Vorort. Inzwischen mit S-Bahn-Anschluss. 30 Minuten Takt. 30 Minuten bis zur Innenstadt. Das geht gerade noch, um sich nicht völlig wie auf dem Kaff zu fühlen. Oma wohnt in einem hundert Jahre alten Siedlungshäuschen aus Backsteinen, die inzwischen mehr schwarz als rot sind. Überhaupt sehen Haus und Garten bei ihr ziemlich vergammelt aus. Das fällt besonders auf, weil sämtliche Nachbarn rundherum ihre Häuser verputzt und die Gärten mit Formschnitt und Gartenzwergen spießermäßig voll aufgerüstet haben. Bei meiner Oma wuchern die alten Obstbäume und die Brombeerhecken vor sich hin. Es gibt sogar noch einen Hühnerstall mit Hühnern, was die Nachbarn längst nicht mehr haben. Die gehen in den Supermarkt, kaufen Bioeier und beschweren sich fürchterlich, wenn sich mal eines von Omas Hühnern zu ihnen zwischen die Rosen verirrt. Als Kind war es für mich das Paradies. Überall konnte ich Löcher graben und Hütten bauen. Das hat nie jemanden gestört. Eine meiner zusammengenagelten Bretterbuden steht sogar heute noch.

Weil meine Oma nicht mehr so gut alleine zurechtkommt, haben meine Eltern also beschlossen, raus aus der Stadt zu ihr nach Modertal zu ziehen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit und typisch für meine Eltern. Halbe Wahrheiten sind ihre Spezialität! Das, was wehtun könnte, wird ausgeblendet. Wahrheit light – sozusagen. Meine Oma ist eigentlich noch ziemlich fit für ihre bald 76 Lenze. Nur Getränkekästen schleppen oder Hecken schneiden ist nicht mehr ihr Ding. Meine Eltern konnten, ehrlich gesagt, die Miete in unserer alten Wohnung in der Innenstadt nicht mehr bezahlen. Mein Vater ist Bauingenieur. Seine Firma ging pleite. Er hat über ein Jahr lang Bewerbungen geschrieben. Meine Mutter ist gelernte Kostümschneiderin. So was braucht heute auch kein Mensch mehr. Sie arbeitet jetzt an der Kasse bei einem Supermarkt in der Stadt. Mein Vater ist immer noch zu Hause und macht dort meine Oma verrückt, weil er ständig was zu zimmern, zu hämmern und zu bohren findet.

Moment! Was schreibe ich da eigentlich alles auf? Und auch noch mit der Hand in dieses große, leere Buch? Hallo? Wie gruftig ist das eigentlich? Okay, mein Laptop ist leider völlig im Eimer. Und es gibt, wie gesagt, kein Geld, um ein neues zu kaufen. Internet hat Oma eh nicht. Und dass ich das hier nicht an einem Computer in der Schule schreiben kann, versteht sich ja wohl von selbst! Aber muss ich jetzt so in aller Ausführlichkeit etwas aus meinem Leben vorheulen? Sollte ich mich nicht besser kürzer fassen und nur die Facts auflisten? Nein, das geht nicht! Wer immer das hier einmal – aus welchem Grund auch immer – zu lesen bekommt, der sollte einfach auch möglichst viel von mir als Person wissen, weil er oder sie mich persönlich eventuell nicht mehr fragen kann. Weil ich dann nämlich tot bin! Tot wie Maurice. Ich bin der festen Überzeugung, dass es kein Selbstmord war, sondern Mord! Und zwar, weil er etwas aufgestöbert hat, dem auch ich auf der Spur bin. Deshalb wollen die mich auch drankriegen. Dummerweise habe ich keine Ahnung, wer »die« sein könnten. Auch deshalb habe ich dieses Buch angefangen, um mir selbst Überblick und Klarheit zu verschaffen. Vielleicht habe ich ja irgendwann beim Durchlesen plötzlich einen Flash.

Vielleicht bist ja sogar du es, Chiara, die das alles liest. Ich hatte ernsthaft überlegt, ob ich nicht dir dieses Tagebuch zur Aufbewahrung geben sollte. Aber es gibt zwei Gründe, warum ich das nicht tue. Erstens könntest du es dann heimlich lesen und von mir denken, ich sei voll der Psycho und zweitens habe ich echt Angst, dich damit in Gefahr zu bringen, und das möchte ich auf keinen Fall! Wenn ich diese Hintergründe über mich also jetzt so genau schildere, so tue ich das, damit du eines Tages verstehst, wie alles gekommen ist. Eines auf jeden Fall sage ich hier klipp und klar: Ich habe keine Gründe, mich umzubringen! (Genauso wenig wie Maurice!)

Zugegeben, es gab Zeiten, da habe ich manchmal an so was gedacht. (Und wer tut das nicht mal?) Wenn es in der Schule weiter bergab ging, wenn sie mich wieder mal gemobbt und ausgelacht haben, wenn meine Eltern sich tagelang wegen dem Scheißgeld angeschrien haben usw. Solche Phasen hat wohl jeder irgendwann. Doch seit ich dich kenne, ist das alles anders geworden! Du bist ein Supermädchen! Ich glaube, ich bin seit einiger Zeit sogar voll verknallt in dich. Alle sagen, du würdest in mir nur so eine Art Ersatzbruder sehen. Ich hoffe sehr, dass das nicht der Fall ist! Und dass ich in diesen öden Ferien zu Hause herumhänge und dich nicht sehen kann, weil du in Italien Urlaub machst, ist auch ein Grund, warum ich jetzt in dieses Buch schreibe. Ich sitze gerade eingemummelt im Bett. Die Heizung ist aus, wir müssen sparen und –

Die alte, geschwungene Türklinke senkte sich quietschend. Max sah hoch. Schorsch, der ausgestreckt auf dem Bettvorleger geschlafen hatte, setzte sich auf und spitzte die Ohren, so weit das bei seinen langen Schlappohren möglich war. Max ließ Buch und Schreibstift schnell unter die Bettdecke verschwinden. Der graue Haarschopf seiner Großmutter schob sich vorsichtig durch den Türspalt.

»Oh, ich dachte, du schläfst. Es war so still«, sagte sie, schloss leise hinter sich die Tür und trat mit einem Schritt an sein Bett, das unter der Dachschräge den größten Teil des Zimmers einnahm. Der Cockerspaniel umtänzelte sie schwanzwedelnd. Sie streichelte ihm sanft über das goldbraune Fell.

»Bin gerade wach geworden«, erklärte Max.

Frau Wirsing betrachtete ihren Enkel, wie er da mit angezogenen Beinen im Bett saß und entdeckte eine Ecke des Buches, die unter der Bettdecke hervorlugte. Sie ließ sich nichts anmerken. »Du solltest noch einmal in aller Ruhe mit ihnen reden! Wenn du willst, komme ich dazu.«

Max zog die Decke bis zum Kinn. »Es gibt nichts mehr zu reden! Ich weiß jetzt Bescheid. Und es erklärt auch so manches!«, verkündete er düster, rollte sich mit dem Gesicht zur Wand und zog die Decke über die Ohren. Das Buch knisterte. Max rückte es unauffällig zurecht.

Frau Wirsing, senior, verzog schmerzlich das Gesicht. »Wie meinst du das? Was soll es erklären?«

»Dass sie so oft Zoff mit mir haben, dass sie mich nicht verstehen, dass sie mich mit dem Taschengeld so knapp halten, dass es in dem Scheißhaus kein Internet und keinen vernünftigen Computer gibt, dass es …«

»Nun mach aber mal halblang«, brauste die Großmutter auf. »So was kommt überall vor. Als dein Vater so alt war wie du, da …«

Max setzte sich mit einem Ruck auf. Mit wutverzerrtem Gesicht herrschte er sie an, wie er es noch nie getan hatte: »Mein Vater? Wer bitte schön? Mein Vater? Du weißt nicht, was mein Vater in meinem Alter getan hat, du weißt nur, was dein Sohn, dieser verlogene Schrottbastler in meinem Alter getan hat! Und das interessiert mich nicht!«

Die Großmutter war entsetzt einen Schritt zurückgewichen. »Max, du versündigst dich«, flüsterte sie. »Das kannst du nicht so meinen! Das sagst du jetzt nur, weil du so verletzt bist. Ich verstehe das. Aber du musst auch verstehen, dass deine Eltern …«

»Nein!«, brüllte Max. »Sag nie wieder ›deine Eltern‹ hörst du? Und jetzt geh raus und lass mich endlich in Ruhe! Lasst mich doch endlich alle in Ruhe!« Max drehte sich mit einer heftigen Bewegung wieder zur Wand.

Über das Gesicht der alten Frau rannen Tränen. Ihre Hände hoben sich in einer hilflosen Geste und senkten sich wieder. Schorsch winselte und kratzte an der Tür. »Ich lass ihn mal raus in den Garten«, sagte sie mit leiser Stimme und griff nach der Türklinke.

Mit einem Satz war Max aus dem Bett und drückte gegen die Tür. Schorsch verkroch sich mit eingezogenem Schwanz unter dem Schreibtisch. »Nein!« rief Max. »Du lässt Schorsch nicht mehr allein in den Garten! Hast du gehört?«

Die alte Frau Wirsing sah erschrocken zu ihrem Enkel auf, der sie um mehr als einen Kopf überragte. Ihre runzeligen Lippen zitterten, als sie sagte: »Aber der muss doch einmal raus, Max! Du kannst deine Wut doch jetzt nicht an dem Hund auslassen!«

»Mach ich ja nicht«, brummte Max. »Ich gehe gleich mit ihm um die Ecke. Und jetzt geh raus, damit ich mich umziehen kann!«

Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ja, dann …«, sagte sie und verließ mit müden Schritten das Zimmer, als seien ihre Knochen mit einem Mal um Jahre älter geworden.

Max starrte auf die geschlossene Tür.