Samstag, der 5. Januar

Man glaubt es nicht. Wer schrieb mir heute Morgen eine SMS und wollte sich mit mir treffen? Annalena! Sie schlug vor, dass wir zusammen in die Stadt ins Kino fahren. Vorher wollte sie durch die Läden ziehen und ich sollte mit. Eigentlich hatte ich keine Lust auf das Gedränge. Leute auf Schnäppchenjagd sind schlimmer als eine Horde Fünftklässler auf dem Schulklo. Ich weiß, es gab mal Zeiten, da hätte ich mich um den Job als Tütenschlepper bei Annalena gerissen. Inzwischen hat sich das gelegt. Trotzdem. Es machte mich neugierig, was sie von mir wollte. Hat ihr Tobias’ Auftritt mir gegenüber auch nicht gefallen? Wollte sie mir das sagen? Oder wollte sie mir erklären, dass sie mit ihm zusammen ist und deshalb die AG mit ihm machen will. Soll sie doch.

Ich ließ mich auf ein Meeting mit ihr ein und dachte, es wäre auf jeden Fall besser, als nur zu Hause herumzuhängen und den Alten zu begegnen, die mich ständig mit Hungerblick anschauen und mich anbetteln, nicht mehr böse auf sie zu sein. Sie möchten, dass alles wieder so ist wie früher. Gelitten!

Früher, das gibt es nicht mehr. Es hat noch nie ein »Früher« gegeben. Ich bin gerade damit beschäftigt, mir meine Vergangenheit mühsam neu zusammenzubasteln! Und dabei seid ihr keine große Hilfe, Sonja und Andreas!

Ich stand also heute Mittag mit Annalena am S-Bahnhof. Es war wie immer ein mulmiges Gefühl. Es gibt kaum jemanden, der hier steht und nicht daran denkt. Man sieht es in den Gesichtern der Leute. Sie versuchen so betont cool aus der Wäsche zu gucken. Schon wieder hat einer aus dem Modertal-Schild »Mördertal« gemacht. Sie können das abwischen, so oft sie wollen. Immer gibt es irgendwen, der es wieder erneuert. Ich dachte gerade darüber nach, ob es immer dieselbe Person ist, die das tut, und ob sie es deshalb tut, weil sie mehr weiß als ich. Annalena muss ähnliche Gedanken gehabt haben, denn plötzlich fragte sie mich: Glaubst du immer noch daran, dass ihn damals jemand gestoßen hat? Ich schaute sie an. In ihren Augen stand Angst, richtige Angst.

Dann legte sie los: Ich sage dir jetzt etwas, was du noch nicht weißt. Etwas, was ich keinem in der Klasse erzählt habe. Aber du musst mir versprechen, dass du es für dich behältst und dass du mir glaubst.

Einen Moment musste ich nachdenken. Kann man das alles auf einmal versprechen? Andererseits bin ich oberneugierig. Deshalb sagte ich: Okay, ist gebongt.

Und dann rückte sie raus mit einem ziemlichen Hammer. Sie erzählte mir, dass die Polizei sie verhört hatte, damals. Sie hatten Maurice Handy zwischen den Gleisen gefunden und hatten einiges wiederherstellen können. Es gab eine SMS. Er war um Mitternacht zum S-Bahnhof bestellt worden.

Ich konnte es nicht fassen. Dann ist doch klar, dass es Mord war! Wer wird von jemand anderem zu seinem Suizid bestellt? Das gibt es wohl nicht! Haben sie herausgefunden, von wem die SMS kam?, wollte ich von ihr wissen.

Sie guckte mich an, als hätte ihr jemand gerade sämtliche Knochen gebrochen. Von mir, flüsterte sie dann.

Waaas?, schrie ich, von dir? Du hast ihn herbestellt? Wie kaputt ist das denn? Was bist denn du für eine?

Durch mein Gebrüll verschreckte ich sie. Sie stand nur noch da und heulte. Die S-Bahn kam. Wir stiegen ein. Als ich mich neben sie setzte, stand sie auf und setzte sich drei Reihen weiter nach vorne. Ich überlegte, ob ich nicht wieder aussteigen und sie da sitzen lassen sollte. In diesem Moment hasste ich sie richtig. Sie ist die Pest! Sie ist genauso eine wie ihr neuer Freund Tobias. Am Ende ist es folgendermaßen gelaufen, dachte ich plötzlich. Tobias war schon damals wegen Annalena eifersüchtig auf Maurice. Sie wollten ihn loswerden. Sie bestellten ihn zur S-Bahn-Haltestelle und er gab ihm einen Tritt. Eigentlich müsste ich sofort zur Polizei und sie anzeigen. Ich stand auf. Die S-Bahn würde erst in 5 Minuten losfahren. Modertal ist die Endstation. »Endstation Mördertal«, dachte ich.

Doch dann wurde es langsam wieder etwas klarer in meinem Hirn. Warum sollte ich zur Polizei gehen? Die Polizei hat sie doch schon verhört, die haben doch schon einiges herausgefunden und anscheinend konnten sie ihr nichts nachweisen. Ich schaute nach vorne, sah wie schief ihre Strickmütze auf dem Kopf saß und wie sie zitterte. Die ist echt fertig, dachte ich. Sieht so eine Mörderin aus? Eigentlich nicht, musste ich zugeben. Aber vielleicht sah so jemand aus, der etwas mit sich herumschleppt, was er endlich loswerden will. Ich ärgerte mich, dass ich es verbockt hatte. Sie hätte mir alles erzählt. Also, probierte ich es noch einmal.

Ich setzte mich neben sie. Sie blieb sitzen. Ich strich ihr ein bisschen über den Arm. Sie ließ es sich gefallen. Die Bahn fuhr los. Eine Weile schauten wir aus dem Fenster. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt in die Stadt, eine halbe Stunde, in der ich mehr erfuhr als im letzten halben Jahr. Ihr Handy sei ihr an dem Tag geklaut worden. Es war ein Samstag. Am Vormittag, im Reitstall, hätte sie es noch gehabt. Auf dem Heimweg hat sie in ihrer Tasche gewühlt und es nicht mehr gefunden. Sie dachte, es sei im Reitkoffer. Dann hat sie alles durchsucht, im Reitstall angerufen und gesagt, dass sie ihr Handy vermisse. Das hat die Polizei nachgeprüft und gemeint, dass sei ein Punkt, der sie entlaste. Ihr Handy ist nie wieder aufgetaucht. Es konnte auch nicht von der Polizei geortet werden, weil es abgeschaltet war. Sie konnten nur ermitteln, dass es zum Zeitpunkt, als die SMS verschickt wurde, am Modertaler Sendemast eingeloggt war. Dieser Mast steht auf dem kleinen bewaldeten Hügel, der zwischen Modertal und unserer Schule liegt. Ich komme jeden Tag da vorbei. Ab jetzt werde ich beim Anblick des Mastes immer an diese SMS denken. Wer stand in der Nähe und bestellte Maurice dort hin?

Annalena hat nur noch geheult. Vielleicht hat es sie erleichtert.

Warum hast du mir das jetzt plötzlich alles erzählt?, fragte ich.

Da rückte sie mit der Sprache heraus. Sie will, dass ich endlich aufhöre, weiter in vergangenen Geschichten herumzuwühlen und am Ende vielleicht noch Tobias verdächtige.

Genau das hatte ich ja bereits wenige Minuten vorher getan. Daher fragte ich sie, wie sie darauf kommt, dass ich ihn verdächtigen könnte und warum das so schlimm für sie wäre? (Ich hatte mich absichtlich ein bisschen doof gestellt.) Da erzählte sie mir einige Details, die ich so genau noch nicht kannte.

Tobias und Maurice müssen einerseits viel zusammen abgehangen haben, andererseits muss es zwischen den beiden auch voll die Konkurrenz gewesen sein. Es ging das Gerücht, dass Tobias und Maurice da was am Laufen hatten, was ihnen eine Menge Kohle brachte. Als Annalena mit Tobias zusammenkam, hat sie ihn darauf angesprochen. Er hat ihr gesagt, dass das nur böse Gerüchte gewesen seien. Sie glaubte ihm das. Er sei eigentlich ein ganz Netter und total süß zu ihr. (Kotz!) Sie meinte, viele hätten über die beiden nur deshalb abgelästert, weil sie total neidisch darauf gewesen seien, dass Tobias und Maurice immer flüssig waren. Maurice hätte von zu Hause her genug bekommen und Tobias hätte immer gejobbt. Sie drängelte, wer immer das damals mit der SMS gewesen sei, Tobias jedenfalls nicht! Deshalb sollte ich aufhören, weiter nachzuforschen.

In dem Moment hatte ich einen Flash. Hast du Tobias das mit der SMS von dir an Maurice erzählt?, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf und versicherte mir, dass es niemand außer mir weiß! Ha, ha. Wer’s glaubt. Wahrscheinlich hat Tobias sie auf mich angesetzt, damit ich aufhöre weiter nachzuhaken. Der Junge hat eine Leiche im Keller und will mich auf Abstand halten! Ich werde also dranbleiben! Danke, Annalena, damit hast du das Gegenteil von dem erreicht, was du wolltest.

Unten in der Küche klappte die alte Frau Wirsing die Backofentür auf, und bückte sich, um den Braten herauszuziehen. Sonja kam heran und nahm ihr sanft die Topflappen aus den Händen.

»Lass mich das machen, der Bräter ist doch viel zu schwer.«

Max’ Großmutter trat zur Seite. Sie musterte ihre Schwiegertochter besorgt. Sonjas Gesicht hatte eine durchsichtige Blässe bekommen und ihre Stimme klang rau und matt. Im Flur hörte man die alte Holztreppe knarren. Andreas Wirsing kam mit schweren Schritten die Treppe hinunter.

»Und? Kommt er wenigstens zum Essen?«, erkundigte sich die alte Frau Wirsing.

Andreas schüttelte den Kopf und brummte etwas Unverständliches.

Seine alte Mutter seufzte. »Den Sonntagsbraten hat er noch nie versäumt! Es ist doch sein Lieblingsessen! Ich habe eine Extraportion Klöße gemacht.« Ihre Stimme klang, als hätte sie gerade eine schlimme Diagnose gestellt.

»Dann fangen wir eben ohne ihn an«, sagte Sonja resigniert.

»Kommt überhaupt nicht infrage!«, rief Frau Wirsing und stapfte entschlossen die Treppe hinauf. Nach wenigen Stufen hielt sie inne und rief den beiden in der Küche zu: »Und nach dem Essen reden wir noch einmal mit ihm. Und zwar alle! So geht das nicht weiter. Das hält ja kein Mensch aus, was ihr einander antut! Heute kommt alles auf den Tisch und nicht nur der Braten.« Dann setzte sie ihren Weg fort.

Es war ihr tatsächlich gelungen, Max zu holen. Nach einem schweigsamen Essen saßen sie um den abgeräumten Tisch. Andreas und Sonja hatten Max angekündigt, noch einmal mit ihm über das Thema von Neujahr reden zu wollen. Sie versprachen, mit nichts mehr hinter dem Berg zu halten, sondern ihm alles zu erzählen, was sie wüssten.

»Schonungslose Aufklärung«, hatte Andreas gesagt, und Max hatte ihn aufmerksam angesehen.

»Schonungslos für jeden? Auch für euch?«

Andreas nickte. »Wir werden dir alles erzählen, was du wissen willst. Es wird dir nicht gefallen, deshalb hatten wir dir nicht alles erzählt.«

Sonja schaltete sich ein. »Eigentlich wollten wir warten, bis du achtzehn bist und schon viel mehr auf eigenen Füßen stehst. Aber als du plötzlich anfingst zu drängeln, dass du unbedingt deine Geburtsurkunde sehen wolltest, da merkten wir, dass man dir nicht länger verschweigen konnte, dass du unser Adoptivsohn bist. Aber glaube mir, Max, du bist für uns wie unser eigenes Kind! Du bist unser Sohn, ich hab dich lieb wie –«

»Schon gut!«, unterbrach Max und bemühte sich, seiner Stimme einen besonders harten Ton zu verleihen.

Sonja zuckte zusammen. Tränen standen in ihren Augen. Max wandte den Blick von ihr ab und sah durch die Terrassentür hinaus in den verwilderten Garten, der mit seinen vertrockneten Stängeln und den kahlen Ästen an den Bäumen traurig und verloren wirkte. Hinten am Zaun tropfte der Regen vom rissigen Holzdach einer kleinen schiefen Hütte. Max schluckte. In ihm stiegen die Bilder einer sonnigen Zeit auf, als er dort draußen mit Hammer und Nägeln gewerkelt hatte. Später hatte Andreas ihm geholfen, dem Bauwerk Stabilität zu verleihen. Max konnte sich noch gut an seine Sprüche von damals erinnern. »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann! – Es ist gut, wenn du beizeiten lernst, mit Werkzeug umzugehen. – Ein Haus bauen, einen Baum pflanzen und ein Kind zeugen. Das sind die drei Dinge, die ein Mann in seinem Leben tun sollte.«

Wieder stieg die Wut vom Neujahrstag in Max auf. Sie hatten ihn betrogen! Sie hatten ihm alles genommen! Er war plötzlich ein Wesen ohne Vergangenheit. Max verzog den Mund, als habe er auf etwas Bitteres gebissen. Dann spuckte er die Worte in Andreas’ Richtung: »Haus bauen und Baum pflanzen kannst du wenigstens.«

Andreas wurde weiß im Gesicht und Max tat im selben Moment leid, was er gesagt hatte, doch er nahm es nicht zurück.

»Also, was willst du wissen?«, fragte Andreas sehr leise und sah ebenfalls hinaus in den Garten. Sonja schnäuzte in ein Taschentuch.

Max bemühte sich um eine feste Stimme: »Warum ihr mir die Geburtsurkunde nicht zeigen wollt. Und mir Geschichten erzählt, sie wäre in einer Umzugskiste verräumt worden. Für wie blöd haltet ihr mich? Sonja ist ein Dokumentenfreak, die weiß von jedem Zettel, wo er ist!«

Sonja räusperte sich. »Wir wollten dir das erst einmal mit der Adoption erklären und dann über diese Urkunde sprechen. Aber du bist ja gleich aufgestanden und rausgerannt. Wolltest nichts mehr hören! Ich verstehe ja, dass du –«

»Das ist nicht die Antwort auf meine Frage«, fuhr Max dazwischen. »Wo ist sie, und warum wollt ihr sie mir nicht zeigen?«

Andreas’ Blicke hefteten sich auf Max. »Weil da ein Name drin steht, mit dem du nichts anfangen kannst.«

Max horchte auf. »Ein Name? Was für ein Name?« In seinem Inneren meinte er es flüstern zu hören: Siehst du, Bruder! Also doch! Von Bentheim steht in deiner Geburtsurkunde!

Andreas erhob sich und verließ das Zimmer. Alle sahen ihm schweigend nach. Max kannte jedes Geräusch in diesem alten Haus. Er hörte, dass Andreas hinauf ins Schlafzimmer der Eltern ging, die Schublade der Kommode aufzog und wieder zurückkam. Er klappte eine Mappe auf, die er mitgebracht hatte, und legte vor Max ein Blatt Papier auf den Tisch. Das Geburtsdatum kannte er: 1. März 1997. Den Geburtsort auch. Ebenso den Vornamen Maximillian. Als Nachname stand dort etwas anderes.

»Busch?« schrie Max. »Was ist denn das für ein Name? Wer ist das?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass du damit nichts anfangen kannst«, erklärte Andreas kühl.

Max schaute hilfesuchend zu Sonja. »Sind das meine Eltern? Heißen die so?«

Sonja schüttelte den Kopf. Sie tupfte sich die Tränen aus den Augen. »Dieser Name wurde dir gegeben.«

»Von wem?«, rief Max.

»Von einem Amtsvormund. Kinder, die keinen Namen haben, erhalten einen Namen, damit man sie standesamtlich melden und eine Geburtsurkunde ausstellen kann.«

Max schüttelte den Kopf, als wollte er wirre Gedanken loswerden. »Das heißt also, meine echten Eltern haben mir keinen Namen gegeben, sondern haben das jemand anderem überlassen. Weiß man aber trotzdem, wer meine Eltern sind?«

»Das ist in deinem Fall nicht so«, erklärte Andreas.

»Was soll das heißen, du redest schon wieder so um fünf Ecken herum! Wer sind meine echten Eltern? Raus damit!«

Die Großmutter erhob sich und ging zur Anrichte. Dort zog sie eine große Blechdose hervor. Max wusste, dass das ihre Sammelkiste für Rezepte und Zeitungsausschnitte war. Sie blätterte tief unten in der Kiste. Dann hatte sie ein vergilbtes Papier in der Hand und legte es vor Max auf den Tisch.

»Das hast du noch?«, rief Sonja erstaunt.

Die alte Frau nickte und beobachtete Max. Der starrte auf den alten Zeitungsartikel, der jetzt vor ihm auf dem Tisch lag. In der Mitte war eine Babymütze mit Streifenmuster abgebildet. Daneben lag ein Schnuller. Am Zeitungsrand zeigte ein Maßband die Größe der Gegenstände. Neugeborenes in der Uniklinik ausgesetzt. Max begann den Text zu lesen.

Ein Neugeborenes ist nur wenige Tage nach seiner Geburt in einer Besuchertoilette des Klinikums der Universität ausgesetzt worden. Die Herkunft des Kindes ist unklar. Die Polizei sucht auch am heutigen Freitag weiter nach der Mutter. Das Kind befindet sich in Obhut des Krankenhauses. Von dort erfuhren wir, dass es am Donnerstagabend gegen 18 Uhr von einer Besucherin entdeckt wurde. Das Baby war in eine hellblau-weiße Decke gewickelt und mit einer blauen Strampelhose mit Schmetterlingsapplikation und einem weißen Hemdchen bekleidet. Dazu trug es die abgebildete blau-weiß geringelte Mütze. Laut einer Sprecherin der Uniklinik soll der Säugling leicht unterkühlt, aber ansonsten gesund sein. Allerdings ist das Kind mit 47 cm recht klein und wiegt nur 2300 g. Es sei aber gut gepflegt und der Nabel professionell versorgt worden. Die Sprecherin meint, es könne sich durchaus um ein Frühgeborenes handeln. Der genaue Tag der Geburt sei schwer zu bestimmen. Das Kind wird vorerst in der Klinik verbleiben, bis es deutlich an Gewicht zugenommen hat. Das Jugendamt wurde benachrichtigt. Aus Datenschutzgründen wurde nicht bekannt gegeben, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Ferner wurden am Kind und in der Tragetasche, in der es ausgesetzt wurde, Gegenstände gefunden, welche nur die Mutter bzw. die Person kennen kann, die das Kind in der Uniklinik abgelegt hat. Aus ermittlungstechnischen Gründen werden diese Gegenstände noch geheim gehalten. Die Polizei hat ein Verfahren wegen Kindesaussetzung nach Paragraph 221 des Strafgesetzbuches eingeleitet und sucht nach Zeugen, die am Donnerstagnachmittag im Bereich der Kliniktoilette Beobachtungen gemacht haben, die mit dem Ablegen des Kindes in Zusammenhang stehen könnten. Auch wer Angaben über Frauen machen kann, die schwanger waren, jetzt aber kein Kind haben, wird gebeten, sich bei der nächsten Polizeidienststelle zu melden.

Max las den Artikel ein zweites Mal. »Und das soll ich gewesen sein?«, flüsterte er schließlich.

Sonja nickte. »Ich erinnere mich an den Artikel. Ich weiß noch, wie ich damals dachte: Da ist eine verzweifelte Frau, die das Kind weggeben muss, und wir wünschen uns ein Kind und bekommen keins. Das ist ungerecht! Ich wusste, dass ich wegen einer Unterleibsinfektion keine Kinder haben konnte. Andreas und ich standen längst auf der Adoptionsliste des Jugendamtes. Ich weiß noch genau, wie ich damals im Mai 1997 plötzlich den Anruf bekam: ›Wir haben ein Kind für Sie!‹ Das ist noch heute die beste Nachricht, die ich in meinem Leben je erhalten habe. Endlich hatte das Warten ein Ende, wir haben uns so sehr gefreut. Wir erfuhren dann vom Jugendamt, dass du das Findelkind aus der Uniklinik bist. Du warst damals erst einmal in einer Pflegefamilie untergebracht, denn sie müssen bis acht Wochen nach der Geburt warten, ob sich die leibliche Mutter nicht doch noch meldet. Dann erst dürfen sie das Kind zur Adoption freigeben. Aber so lange darf ein Kind nicht namenlos und ohne Geburtsurkunde bleiben, deshalb wurde dieser Name für dich bestimmt.«

»Und wie kam dieser Amtsvormund ausgerechnet auf Maximillian Busch? Denkt der sich das frei Schnauze aus?«, fragte Max.

»So genau weiß ich das nicht«, antwortete Sonja. »Die Frau vom Jugendamt hat uns damals gesagt, dass es in der Tragetasche einen Hinweis gab, der auf ›Max‹ und auf ›Busch‹ deutete. Daher hätten sie sich für diesen Namen entschieden, weil sie dem Kind damit wenigstens eine kleine Anbindung an seine Herkunft erhalten wollten.«

»Und den Friedhelm und Wirsing habe ich dann euch zu verdanken?«, fragte Max mit sichtlicher Geringschätzung.

»Wir durften deinen Vornamen noch ergänzen«, erklärte Sonja.

»Es war mein Wunsch«, schaltete sich die Großmutter ein. »Du weißt doch, dein Opa hieß Friedhelm. Was hätte der sich gefreut, wenn er dich noch hätte kennenlernen dürfen, aber leider war er im Jahr zuvor gestorben.«

Max verzog grübelnd das Gesicht und tat so, als lese er noch einmal in dem Zeitungsartikel. Die Erwachsenen beobachteten ihn dabei mit stummer Anspannung. Dann stellte er eine für sie völlig unerwartete Frage: »Gab es damals noch irgendwo so ein Findelkind?«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Sonja.

»Ich habe doch gerade was gefragt, wieso bekomme ich schon wieder nur eine Frage als Antwort?«, brauste Max auf.

Andreas hob die Stimme: »Max, ich verstehe deinen Frust. Glaub mir, ich verstehe das wirklich, aber trotzdem musst du deine Mutter nicht so anfahren. Das geht nicht!«

»Sie ist nicht meine Mutter, sie heißt Sonja«, entgegnete Max barsch.

Sonja schossen wieder die Tränen in die Augen. Andreas schüttelte stumm den Kopf und schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Garten hinaus.

»Max, du versündigst dich«, sagte die Großmutter leise.

Max schnaubte. »Ach ja, ich versündige mich? Dein Standardspruch! Dann geh doch in die Kirche und erzähl es deinem lieben Gott, aber vergiss nicht, ihm zu sagen, dass ich hier in diesem Haus jahrelang verarscht worden bin!«

Andreas erhob sich und knallte die Mappe auf den Esstisch, sodass alle im Raum zusammenfuhren und ihn erschreckt ansahen. »Jetzt reicht’s, Maximillian. Wenn das deine Antwort darauf ist, dass wir dir jahrelang ein Elternhaus geboten haben, in dem du dich bis vor Kurzem äußerst wohlgefühlt hast, ist das schlicht und einfach nicht fair! Wir haben uns um dich genauso bemüht, wie das leibliche Eltern tun, wir haben dich ernährt, gekleidet, erzogen. Wir haben uns die Nächte um die Ohren geschlagen, wenn du nicht schlafen konntest. Wir haben dich gepflegt, wenn du krank warst und uns gekümmert, wenn du Sorgen hattest. Das war und ist für uns völlig selbstverständlich, und zwar einzig und allein deshalb, weil wir dich lieben wie einen eigenen Sohn, auch wenn du das im Moment nicht glauben magst. Ja, es gibt irgendwo auf dieser Welt deine leiblichen Eltern, deine echten Eltern, wie du es vorhin nanntest. Aber diese Eltern wollten dich nicht. Sie wollten oder konnten das alles, was wir getan haben, nicht auf sich nehmen. Ja, wir sind Ersatzeltern für dich, aber dadurch sind wir nicht weniger wert.« Bei den letzten Worten bebte Andreas’ Stimme. Er drehte sich um und ging hinaus. An der Garderobe im Flur schlug ein Bügel scheppernd gegen die Holzpaneele, dann fiel die Haustür laut ins Schloss.

Schorsch erschien in der Zimmertür und schaute mit tief hängenden Ohren die dort sitzenden Menschen an, als wollte er fragen: Wieso geht der ohne mich weg, und was sitzt ihr hier so dumm herum, anstatt mit mir spazieren zu gehen? Die Menschen blieben reglos. Jeder starrte stumm vor sich hin. Schorsch verschwand wieder im Flur und trampelte sich knirschend eine Kuhle in seinem Körbchen zurecht, bevor er sich grunzend niedersinken ließ.

Max’ Finger ruhten auf dem Zeitungsartikel. »Sagt schon! Könnt ihr euch erinnern, ob es damals noch Berichte über ein zweites Findelkind gab?«

»Nein, gab es nicht«, sagte die Großmutter mit fester Stimme. »Das hätte man erfahren. Die ausführlichen Berichte standen zwar hier in den Regionalzeitungen, aber eine Nachricht über dein Auffinden kam abends sogar deutschlandweit in der Tagesschau. Hätte es ein zweites Kind gegeben, hätten sie darüber berichtet. Wie kommst du auf die Idee einen Zwillingsbruder zu haben?«

Max zuckte mit den Schultern.

Plötzlich sog die Großmutter hörbar die Luft ein. »Jetzt weiß ich, woran du denkst. Deshalb hattest du mich vor ein paar Wochen so wegen Maurice von Bentheim ausgefragt. Du glaubst jetzt, er sei dein Bruder! Aber das ist völlig unmöglich, Max!«

Max sah seine Großmutter trotzig an. »Wieso? Es kann doch sein, dass die erste Frau von Bentheim das Kind gar nicht selber bekommen hat, sondern dass meine echte Mutter es ihnen auf die Treppe gelegt hat. Und mich hat sie halt in der Uniklinik abgelegt. Einen hierhin, einen dahin.«

Die Großmutter schüttelte abwehrend den Kopf. »Hirngespinste! Junge, das sind Hirngespinste! Ich kannte die Hebamme, die Maurice auf die Welt gebracht hat. Ich war sogar befreundet mit ihr. Sie hat die sehr schwierige Schwangerschaft der Frau von Bentheim betreut und dann mit ihr diese äußerst problematische Geburt gemeistert.«

»Wieso schwierig?«, fragte Sonja.

Die Großmutter machte eine verächtliche Handbewegung. »Die Schwangerschaft und die Geburt waren vermutlich so leicht oder so schwierig wie jede andere auch. Die Frau von Bentheim war schwierig. Brigitte kam oft ganz aufgelöst zu mir. Die von Bentheim wollte keine ärztliche Hilfe und bestand auf einer Hausgeburt, obwohl von vorneherein klar war, dass das bei ihr nicht leicht sein würde. Ständig hatte sie Sonderwünsche und Brigitte ist gerannt und hat alles für sie erledigt. Trotzdem kam schon bald die nächste Forderung.«

»Brigitte? Ist das Brigitte Wiesner, mit der du 2005 diese Bürgerinitiative gegen die Bebauung der Klapperwiese gegründet hast?«, fragte Sonja.

Die Großmutter nickte.

Sonja lächelte ein wenig. »Ich wusste gar nicht, dass sie Hebamme war.«

»Ja, das war sie, und eine sehr gute. Alle hier haben auf sie geschworen und ihr mehr vertraut als so manchem studierten Mediziner. Maurice’ Geburt war, glaube ich, ihre letzte. Danach hat sie sich zur Ruhe gesetzt. Ach, ich vermisse sie. Wie oft haben wir da draußen im Garten gesessen und über die Pflanzen gesprochen. Sie kannte alle Heilkräuter und ihre Wirkungen und hat Vorträge über Naturmedizin gehalten.«

Max verzog nachdenklich die Stirn. Brigitte Wiesner? Der Name kam ihm bekannt vor, er erinnerte sich nur nicht mehr, woher.