Der General

(PEKING)

 

Seit unvordenklichen Zeiten lebte der Mensch schon in diesem Land. Sein Staub war eins geworden mit dem Staub, den der Wind über das Land blies, der seit dem Altertum gelb und unaufhörlich darüber hinweggetragen worden war – er befleckte den großen Fluß und legte sich über das Land, kam wieder zur Ruhe. Die Verbotene Stadt blickte hinaus auf ein Land, das sich bewegte, dessen Schichten sich in diesem letzten Zeitalter der Welt verschoben unter einem sinkenden Mond und der alternden Sonne. Im Norden lag die gewaltige Eisfläche, aber die südlichen Winde wehrten diesen alten Feind ab. Im Osten lag das Meer und im Süden die Fremdheit der Halbinseln und Inseln; im Westen lagen die Ebenen, die endlosen Ebenen, über die Menschen und Tiere wieder ihres Weges zogen, wie schon in Äonen zuvor – die Menschen eingehüllt und geschützt gegen die Sonne, fremdartig und zottig wie die Tiere, auf denen sie ritten.

In der Verbotenen Stadt blühte das Leben, abgeschirmt durch die Mauern. Die Jahreszeiten zeigten ihre Schönheit, und Künste wurden gepflegt, die von der Aufzucht seltener Blumen bis hin zum komplizierten Symbolismus der Gesten und Nuancen der Kleidung reichten. Sie hatten genug Zeit gehabt, verfeinert und überzüchtet zu werden. Die Einwohner nannten ihre Stadt die Stadt des Himmels, und ihre Schönheit überstieg jeden Traum. Sie verfügte über Soldaten – unverzichtbar, wenn die verarmten Stämme mit den Winterstürmen kamen, Stämme, die in guten Zeiten mit der Stadt Handel trieben, die aber – selten – sich gegen sie wandten und verzweifelt und vergeblich gegen ihre Wälle anrannten.

Im Inneren der Stadt, das Angreifer nie zu sehen bekamen, herrschte Ruhe. Sogar die Soldaten, die sie verteidigten, waren mit Schönheit bewaffnet; ihre Waffen waren Kunstwerke; und sie waren das einzige, das nach außen gezeigt werden durfte, denn die Mauern waren einfach. Das Innere glänzte in der Schönheit, die angehäufte Schätze von Äonen ihm verleihen konnten. Nicht alles Schöne bestand aus Gold und Juwelen und Jade, obwohl sehr viele solche Arbeiter zu finden waren; aber die stille, geduldige Arbeit der gewöhnlichen Dinge, ein Sinn für Ort und Dauerhaftigkeit und vor allem die Zeit... – denn obwohl die Stadt des Himmels nicht die älteste Stadt der Welt war, war sie sich doch ihrer verstreichenden Jahre bewußt und lagerte sie wie Schätze. Sie liebte ihr Alter. Sie fand das Leben schön. Sie wußte kein großes Ziel mehr für sich, denn ihr letzter Zug nach draußen lag schon lange zurück; sie ruhte am Ende der Tage. Ihre Eigenschaft bestand jetzt in Geduld und sorgfältig ausgearbeiteter Schönheit, der Kontemplation über ihr Alter und dem Aufgehen in ihren inneren Gedanken. Sogar das Wetter war in den Jahren ihrer früheren Erinnerungen immer freundlich gewesen und neigte erst in letzter Zeit zur Trockenheit.

Nur kam letztendlich die Jahreszeit des gelben Windes und des Staubes, des schlimmsten Staubes, an den sich die Lebenden erinnern konnten.

Manche flüsterten, daß diese Jahreszeit einen schlimmeren Winter ankündigte, als ihn die Lebenden je gesehen hatten.

Manche flüsterten, daß sie eine Invasion ankündigte, denn das Gras mußte trocken sein, dann setzten sich die Horden in Marsch und führten Krieg untereinander.

Aber ein Stamm, friedlicher als die anderen, kam zum jahreszeitlichen Handel und sagte, bevor er wieder in die Ebenen hinauszog, daß sich in den Jahren des grünen Grases und des nur geringfügig auftretenden Staubes die Horden vermehrt hätten, die menschlichen und tierischen gleichermaßen. Das kündete von der Ankunft noch größerer Massen. Und sie sagten der Stadt, was die Stämme schon seit Jahren wußten, daß die Stadt Frieden gehabt hatte, weil die Horden sich zu Kriegen weit im Westen versammelt hatten... daß eine einzelne Horde alle anderen unterworfen hatte und ein einzelner Führer aufgestiegen war, unter dessen Pferdeschwanzbanner alle Horden der Weltebene marschierten. Sie selbst, sagten die von dem friedlicheren Stamm, bereiteten sich darauf vor, weit weg zu ziehen: das taten alle freundlichen Stämme, die Freunde der Stadt, die einer solchen Streitmacht nicht widerstehen konnten. Aber die Stadt argwöhnte etwas anderes, tat es in dem Wissen, daß die Stämme sie nicht liebten. Es handelte sich um ein bloßes Gerücht, wurde im Rat gesagt: ein schlauer Trick, um ihren Mut zu schwächen für den Fall, daß diesen sehr friedlichen Stämmen die Handelsgüter ausgingen und sie sich der Räuberei zuwandten.

Aber die Staubstürme wurden heftiger, und die Stämme verschwanden tatsächlich.

Die Stadt des Himmels durchforschte ihre Aufzeichnungen und ihr langes Gedächtnis jetzt mit größerem Ernst. In der Tat wurden all diese Zeichen bestätigt, daß eine Sache dazu neigte, zur nächsten zu führen. Sie hätten den grünen Jahren mißtrauen und größere Vorräte an Waffen anlegen sollen.

Vielleicht, schlugen manche jetzt vor, sollten sie die Fremden, ihre Kinder, herbeirufen, damit sie mit ihren Maschinen und Sternfahrerwaffen kamen und dabei halfen, die Eindringlinge zurückzuschlagen. Aber die Bürger wollten es nicht, denn die Fremden, ihre Kinder, waren grob und ungestüm und schätzten es, die Dinge auf ihre Weise zu handhaben, was – wieder eine Warnung ihrer uralten Erfahrungen – dazu führen würde, daß die Fremden die Schönheiten der Stadt erblickten, und das Erblicken führte wiederum zum Begehren; das Begehren wiederum zu streitsüchtigen Drohungen und zu Unruhen in der Stadt. Die Sternfahrer zu rufen bedeutete, eine weit größere Horde einzuladen als die, die sich vielleicht auf den gewaltigen Ebenen sammelte, und damit eine ebenso schlimme Plünderung.

Also taten sie es nicht.

Schließlich zeigten die Berichte, daß in den vergangenen Epochen solche Angriffe schon oft erfolgt waren, und daß die Stadt, sofern gut vorbereitet und gut geführt, stets obsiegt hatte.

Erst als der Staub im Westen eine stärkere Färbung annahm, war die Stadt eindeutig alarmiert. Diese Rauchfahne inmitten der wehenden Wolken war tatsächlich breiter als je zuvor in der Erinnerung der Lebenden, und dunkler. Es war ihre einzige Warnung, jetzt, wo die Stämme der Umgebung verschwunden waren und sie keine Augen und Ohren mehr hatten – wohl aber waren sie geistig vorbereitet. Die Soldaten der Verbotenen Stadt schmückten ihre Rüstungen mit Bändern, polierten ihre Waffen und kümmerten sich um ihren Vorrat an Schießpulver – denn noch tödlichere Waffen würden wieder die undankbaren und flegelhaften Sternfahrer ins Spiel bringen, und davon wollte die Stadt nichts wissen, da auch der Feind, wie sie sicher annahm, keine derartigen Waffen besaß. So marschierten sie in großer Zahl hinaus, Fußtruppen, denn das Volk der Verbotenen Stadt machte keine Reisen mehr und bevorzugte die Stabilität der Infanterie in den wenigen Kriegen, die es noch führte. Sie bereiteten sich darauf vor, so zu kämpfen, wie sie lebten, mit Genauigkeit und Eleganz, mit Bändern, die an Rüstungen und Waffen flatterten, und mit Blumen auf den Helmen.

Die ganze Stadt blickte nach draußen, um die Soldaten beim Abmarsch zu sehen, winkte mit farbenfroh bestickten Kopftüchern von den schönen Mauern herab, veranstaltete Drachentänze auf den Straßen, warf Blumen und jubelte den tapferen Verteidigern der Stadt zu.

Es war ein Ereignis, keine Krise. Ah, sie wußten von der Gefahr, aber die Gefahr war fern, und der lange stille Frieden hinter den Mauern hatte die Menschen philosophisch und glücklich gemacht.

Die Zahl derer, die hinausmarschierten, entsprach bei weitem nicht der Gesamtzahl junger Menschen in der Stadt. Tatsächlich war es nur die Hälfte, die Löwen- und Phönix-Regimenter, die Streitkräfte, die im Zuge des Jahreswechsels aktiviert worden waren. Die übrigen schauten nur zu.

So auch Tao Hua und Kan Te, beide vom Drachen.

Kan Te war jung und hochgewachsen, ein Sohn des Wächters vom Tor des Morgens, ein herausragender junger Mann mit geraden Gliedern und hellem Blick und obendrein einem tapferen Herzen; und Tao Hua, eine so wunderschöne junge Frau, wie Kan Te ein prächtiger junger Mann war, Tochter berühmter Tuschmaler. Sie sollten in Kürze heiraten. Alle Welt war gut zu Tao Hua und Kan Te, und gemeinsam mit dem Rest der jubelnden Stadt zeigten sie sich voller Optimismus, standen auf den Wällen neben dem westlichen Tor, um ihren Kameraden jubelnd zuzuwinken und das Spektakel zu betrachten. Ihre Stimmung hob sich bei dieser Herausstellung der Tapferkeit. Der Kampf selbst war etwas jenseits ihrer Vorstellungskraft, denn obwohl sie Soldaten waren, hatten sie noch nie ernsthaft kämpfen müssen. Gewöhnlich wurden aus der Ferne Schüsse abgegeben, ein paar Barbaren fielen, und das war schon das Ende des Krieges. Alles verlief sehr ordentlich und keine blanke, blumengeschmückte Rüstung wurde besudelt; tatsächlich war, lange vor der Geburt von Tao Hua und Kan Te, die Armee von ihrer letzten Schlacht mit unverwelkten Blumen und siegreich zurückgekehrt.

Trommeln und Becken erschallten, und die Drachentänzer schlängelten sich in einer Kette an der Flanke der Armee entlang, während sie durch das Tor zog.

»Vielleicht werden wir einberufen«, sagte Tao Hua. »Vielleicht«, meinte Kan Te eingedenk des Umfangs der Wolke; aber eine leise Furcht war in seinem Herzen, denn er hatte seinen Urgroßvater mit seinen Großeltern und Eltern sprechen hören, als er vom Rat gekommen war. »Der Rat war gespalten in der Frage, ob mehr ausgeschickt werden sollen.«

»Löwe und Phönix sind sehr tapfer«, sagte Tao Hua.

»Es sind nicht genug«, sagte Kan Te, dessen Gewißheit in dieser Frage immer größer wurde. Er sollte eigentlich keine Geschichten weitererzählen, Sachen, die er im Familienkreis gehört hatte, aber Tao Hua behielt sie ja für sich. Er nahm sie an der Hand, und sie sahen zu, wie das Licht der sterbenden Sonne den Staub mit seltsamen Farben überzog. »Einige wollten die Mauern von innen her verteidigen, und andere wollten mit allen Kräften hinausmarschieren; und das Ergebnis war... der Rat schickt eine Hälfte hinaus und hält die andere zurück. Sie meinen, es würde die Leute unnötig in Panik versetzen, wenn man mehr schickt.«

Tao Hua blickte zu ihm auf, ihr Gesicht ganz gelassen und vergoldet von der Sonne, und Kan Te dachte wieder daran, wie sehr er sie liebte. Er hatte Angst, spürte, wie seine Welt erschüttert wurde, ausgelöst durch trampelnde Hufe und Füße, angekündigt vom Staub.

»Ich hatte einen Traum«, sagte er weiter, »in dem alles Gras auf den Ebenen verschwunden war. Ich träumte, daß die Erde vor Menschen und Tieren wimmelte und daß sie sich sehr ähnelten. Ich träumte von Zelten und Lagerfeuern, wie Sterne über alle Ebenen der Welt ausgebreitet; ich träumte, daß der Mond vom Himmel fiel, und der Mond war stets die Hoffnung der Stadt.«

Tao Hua starrte ihn an, wobei ihre schwarzen Augen die dahinziehenden Wolken reflektierten, und er dachte wieder an den herabfallenden Mond, empfand in keiner Hinsicht Trost darüber, daß er von dem Traum erzählt hatte. Stets hatte es so ausgesehen, als sei ausreichend Zeit: das Ende der Welt kroch in gemächlichem Tempo heran, und in diesem Ende waren der Schönheiten genug. Ambitionen bestanden keine mehr; wohl aber Zeit – all die Zeit, die die Menschen für ihr Leben brauchten. Nur die Erde war alt geworden, die Liebe nicht.

Zum erstenmal trat der Gedanke an den Tod zwischen sie.

Die Marschkolonne bewegte sich langsam, unaufhaltsam in ihrem Zug über die Ebene der Welt, ein Strom, der vor Jahren in Tarim begonnen hatte und der bis an den westlichen Rand der Weltebene gewogt war; der jetzt vervielfacht zurückfloß, bis das Auge seine Breite nicht mehr überblicken konnte, ganz zu schweigen von der Länge.

Der General ritt an der Spitze der Kolonne, Yilan Baba, wie ihn seine Männer nannten, Vater Schlange – ja, eine Schlange war er schon seit seiner Jugend gewesen, listig und tödlich in seinem Biß. Aber jetzt war er sehr alt, im Sattel gehalten von Pelzen und der Gewohnheit langer Jahre auf Pferderücken. Was ihn trug, war ein altes Pony, ein Tier, das er Pferd nannte, eines in einer langen Nachfolge von zotteligen mutigen Tieren von ähnlicher rotbrauner Farbe – wie viele schon, das hatte Yilan vergessen; und dieses Tier war geduldig geworden auf den langen Reisen und ruhig in seinem Gebaren, müde vielleicht, wie auch Yilan müde war, und alt, wie auch Yilan alt geworden war... – aber das war nicht die Klage, die Yilan verzehrte. Er war dünn unter seinen wattierten Mänteln und Ledern und Fellen, dünn bis an die Grenze der Hagerkeit. Sein Schnurrbart war ergraut; seine Zöpfe waren grau, seine schmalen Augen fast verschwunden zwischen Sonnenrunzeln, seine Wangen faltig und hohl vor Alter und der Auszehrung, die seinen Körper in diesem letzten Jahr befallen hatte.

Aber wenn er Ausschau hielt, dabei die Augen zusammendrückte, durch den sonnengetränkten Staub blickte, der sie umwirbelte, schien es, als könne er den Ort seiner Träume sehen, die Verbotene Stadt, die Stadt des Himmels. Er malte sich aus, daß er sie sehen konnte, tat es zu jeder Morgendämmerung, wenn im Osten die Sonne aufstieg und ihre Farben durch den staubigen Wind flossen. Der Ostwind flüsterte von grünen Ländern, Schönheit und Wohlstand...

... von einem Ende. Einem Platz zum Ausruhen. Jenseits davon lag nur noch das Meer.

»Gebt mir die Stadt!« hatte er die Horden gebeten, die er um sich gesammelt hatte. Sein ganzes Leben lang hatte er sie um sich versammelt, er, Yilan die Schlange, aufgestiegen von der Herrschaft über den eigenen Stamm bis zur Herrschaft über alle Stämme, die auf der Weltebene ritten.

Sie kamen mit Zelten und Wagen, mit Ochsen und schnellen Pferden und geduldigen Füßen, die Männer und Frauen und Kinder der Horden. Durch die Dürre auf der Ebene hätte er sie vielleicht verloren, aber er trieb sie jetzt mit Visionen von einem endgültigen Paradies an, mit einem Traum, den er von den Lippen eines Mannes gepreßt hatte, der die Stadt des Himmels wirklich gesehen hatte.

Sein ganzes Leben lang hatte er Macht angesammelt, neunundfünfzig Jahre lang, die ihn – wie er wußte – nicht noch einmal erwarteten. Er wollte diese Stadt, er wollte sie... ah, es war nicht in Worte zu fassen, wie sehr.

Und das Fleisch wurde dünner und der Schmerz in den Knochen, die auf den Sattel drückten, nahezu unerträglich; er blutete aus den Sattelwunden, so dünn war er, und seine Augen wässerten, so daß er oft mit der Schmach von Tränen auf seinen Wangen ritt.

»Trink, Yilan Baba«, sagte eine Stimme an seiner Seite. Er blickte in das junge Gesicht Shimsheks, dunkel und wild wie ein Drachen, der ihm Kumyß anbot, sein Pony eng an Pferd herangeführt hatte, damit er ihn halten konnte. Yilan trank, und der Alkohol wärmte ihn, aber seine Hand war jetzt so schwach, daß er den Schlauch nicht wieder zustöpseln oder überhaupt lange festhalten konnte. Shimshek fing ihn rechtzeitig auf und hielt Yilan dann an der Schulter fest, während sie dicht nebeneinander ritten. »Halte durch, Vater! Wir werden bald anhalten.«

»Wir werden dann die Stadt sehen«, sagte er, und getröstet durch die Anwesenheit seines jungen Stellvertreters, konzentrierte er seinen Geist und den Blick seiner Augen und überlegte sich, seit wann die Fahne ihres Staubes vielleicht schon sichtbar war. »Falke und Fuchs werden mit allen anderen hinausgehen, die du überreden kannst«, sagte er, und die Stimme versagte ihm; er räusperte sich und deutete nach Osten, wohin er seine Streitmacht zu senden gedachte. »Und du mußt sie führen. Ich kann es nicht mehr, Shimshek.«

»Vater«, klagte Shimshek. Große Traurigkeit lag in seinen Augen, ein echter Kummer.

»Ich habe es dir beigebracht«, sagte Yilan. Shimshek war in Wirklichkeit nicht sein Sohn; er hatte keinen Sohn, wenn auch der Bauch seiner Frau fruchtbar neues Leben hervorbrachte. Er liebte diesen Mann jedoch, als wäre er ein Sohn, und vertraute ihm in allen Dingen, auf die es ankam. »Geh!« sagte er. »Diesmal hast du die Führung.«

Shimshek blickte zurück zu der Wagenkolonne, die ihnen ächzend folgte, und seine Augen zeigten jenen Blick, der der Frau galt, die sie beide liebten, und den Dingen, die er nicht sagen konnte. Eine Furcht lag in Shimsheks Augen, deren Grund nicht der Feind war, für deren Grund er überhaupt noch keine Bezeichnung wußte. Gut, dachte Yilan; gut, er weiß Bescheid; und doch sagte Shimshek nichts, denn da war nichts, was gesagt werden konnte. Die Aufgabe war zu erledigen, und er hatte dafür keine Hilfe: Yilan hatte seine letzte Schlacht bereits geführt, und er wußte es; und Pferd wußte es, denn es alterte selbst... – andernfalls hätte es den Feind schon gespürt, die Nüstern geweitet und den Kopf geworfen, mit wachsamem und eifrigem Schritt durch den Geruch von Fremden und einem fremden Land, der mit dem Wind kam. Aber es trottete mit hängendem Kopf einher.

»Geh!« sagte Yilan erneut, und Shimshek drückte ihm die Schulter und galoppierte davon, tief über sein Pony gebeugt, drückte ihm die Fersen in die Seiten, schrie und wirbelte den Staub auf. »Hai ahi hai!« schrie er, und die Wolfsstandarte folgte seinem Ruf, denn der Wolf war sein Clan. Falke und Fuchs setzten sich in Bewegung, als Yilan den Arm hob und diese beiden Einheiten nach vorne winkte. Die Krieger donnerten an ihm vorbei zum Wolfsbanner. Weitere Kuriere eilten mit ihren schnellen Ponies hinaus, um zusätzliche Einheiten zusammenzurufen, eine gewaltige Horde, die sich unter dem Kommando Shimsheks des Wolfes zum ersten Scharmützel dieses Feldzuges versammelte.

Ein anderer Reiter zügelte sein Tier neben Yilan und machte dabei ein mürrisches und finsteres Gesicht. Er war von Yilans Alter, aber gesund und kraftvoll. Yilan neidete ihm die Kraft und die ihm noch verbleibenden Jahre und blickte ihm in die Augen. Boga hieß dieser Mann, grau und von breitem Körperbau. Bulle nannte man ihn, und er hatte einst alle Horden der Donau geführt.

Einst.
»Du hast den Wolf geschickt... – wohin?«
»Um zu kommandieren.« Wieder diese Heiserkeit, die seiner Stimme den Befehlston raubte, den sie einst besessen hatte. Er war zweifach dankbar für Shimsheks Loyalität; der Rücken würde ihm wirklich kalt werden, wenn er Boga dort wußte. »Um zu führen, Boga. Und deine Männer werden die Kolonne schützen.«

Haß brannte in den Augen des alten Mannes, tief und rachsüchtig. Ja, dachte Yilan, und jetzt fürchtet sogar Shimshek diesen Mann. Bewußt, wenn auch ohne Wissen.

Boga ritt davon. Yilan beobachtete die Versammlung von Anführern, die sich sofort um ihn bildete. »Komm schon, Pferd«, sagte er, schlug dem Pony auf die Flanke und ritt auf diese Gruppe zu, in ihre Mitte hinein, erzielte schuldbewußte Blicke, als er sich dazwischendrängte. »Los«, sagte er, »zurück zu euren Truppen!« befahl er einigen; und »Reitet mit Shimshek!« befahl er anderen. Er gab Befehle, und Köpfe wurden gesenkt und Reiter galoppierten davon, und Boga blieb es belassen, neben ihm zu reiten. Die Geste hatte Yilan ermüdet. Er starrte in das wechselnde Licht und den Staub, den Shimsheks Reiter aufwirbelten, und wußte, welcher Haß neben ihm ritt.

»Nach einem weiteren Maß der Sonne schlagen wir das Lager auf«, sagte er. Er wußte mit Sicherheit, was Shimshek seit den letzten Tagen vielleicht auch schon argwöhnte, daß es nämlich schnell mit ihm zu Ende ging. Und daß Boga diesen Vorgang zu beschleunigen wünschte. »Die Stadt ist beinahe schon in Sichtweite«, sagte er, um Boga ein Stichwort zu geben, wegen einer Perversität, die er selbst nicht begriff, außer daß auch er im Krieg eine solche Gewohnheit pflegte, nämlich den Feind hinauslocken, es ihm niemals zu erlauben, in seinem Versteck liegenzubleiben.

»Ich habe nicht geglaubt, daß du es schaffen könntest, Yilan Baba. Ich habe es nicht geglaubt, aber du hast meine Einschätzung als Irrtum erwiesen.«

Boga hatte sich widersetzt. Er folgte ihm, weil sein Stamm es sich nicht leisten konnte, sich von den anderen Stämmen abzusondern, weil er die Donauhorden befehligt hatte und das immer noch tun konnte, wenn er ihnen dorthin folgte, wohin sie zogen. Unvermeidlicherweise war es immer Boga, der im Rat aufstand und sagte, daß die Stämme ihre Unabhängigkeit untereinander wahren müßten. Es hörte sich edel und traditionsbewußt an. Aber es bedeutete etwas anderes; denn je schwächer Yilan wurde, desto seltener sagte Boga dergleichen. Je mehr Yilan sich dem Tode näherte, desto mehr trat ein anderer Blick in Bogas geschlitzte Augen, ähnlich dem Blick eines hungrigen Tieres.

»Ich kenne dich«, sagte Yilan Baba mit heiserer Stimme.

»Du solltest mich auch gut kennen nach diesen vielen Jahren, Vater. Wir hatten unsere Meinungsverschiedenheiten, aber bin ich dir nicht tatsächlich gefolgt?«

»Ich kenne dich«, sagte Yilan wiederum, drehte den Kopf und blickte Boga ein zweites Mal in die Augen; und diesmal blickte etwas von Boga aus dessen Augen hervor und schien sehr kalt zu werden. »Wir sind alt«, sagte Yilan. »Sehr alt, Boga. Ich kenne dich.«

Der Blick wurde furchtsam. Vielleicht hätte sich Yilan nun seinerseits fürchten sollen, aber statt dessen lächelte er Boga an und sah dessen Furcht wachsen, die Gewißheit Bogas, daß er ihn in der Tat kannte, und daß die Dinge, die Boga mit anderen an fernen Stellen der Kolonne flüsternd austauschte, gehört wurden.

Sie ritten Seite an Seite, er und sein Mörder, während Shimshek und ein großer Teil der Vorhut davonritten, um die Kräfte zu vernichten, die die Stadt ihnen vielleicht entgegenschickte, die unmöglich standhalten konnten gegen die Macht aller Stämme von der Ebene der Welt.

Yilans Augen verströmten Tränen, diesmal nicht vom Wind erzeugt. Er hegte eine selbstsüchtige Hoffnung, daß es ihm vielleicht vergönnt war, die Stadt zu erblicken, bevor er starb. Er sprach nicht mit derartigen Worten darüber, bei weitem nicht. Er gestand gegenüber Boga und seinem Haufen keinerlei Schwäche ein. Tatsächlich wußte er, daß er durch die Herausforderung Bogas gerade den Zeitpunkt seines Todes beschleunigt hatte. Vielleicht hätte er es nicht tun sollen, aber sein ganzes Leben lang hatte er den Befehl geführt, und er würde es keinem anderen erlauben, die Wahl für ihn zu treffen. Dann also heute nacht, wahrscheinlich heute nacht. Boga war dabei, zu überlegen und zu planen, und sobald sich Boga seiner Sache sicher war, würde er zuschlagen.

Er dachte an Gunesh, die ihm im Wagen folgte, und der Gedanke an sie erfüllte ihn mit seinem einzigen Schmerz. Gunesh liebte ihn; Shimshek tat es; und sie waren die ganze Welt. Ein Baby wuchs in Guneshs Leib heran – nicht sein Sohn, sondern der Shimsheks. Er wußte es. Natürlich wußte er es. Seine Gesundheit erlaubte keine andere Antwort. Daß sogar Shimshek und Gunesh ihn in dieser Hinsicht betrogen, spielte keine Rolle, denn sie waren die beiden Menschen, die er am meisten liebte, und er konnte ihr nichts Besseres wünschen, als sie in diesem jungen Mann hatte, oder dieser in ihr, oder er, Yilan, in ihnen beiden. Sex war für ihn nie eine Frage des Stolzes gewesen. Zu keiner Zeit, seit seiner Jugend nicht. Er hatte das alles mitgemacht, sich auch an derben Witzen erfreut – aber dieser Bereich seiner Instinkte war seiner eigentlichen Besessenheit untergeordnet: nicht Macht, genaugenommen nicht – in Wirklichkeit langweilte ihn Macht –, vielleicht Hunger, aber er wollte ihn nicht gestillt haben. Sie war auch nicht vage oder gestaltlos. Er kannte sich – ah... sehr gut sogar –, und er liebte sie, wurde sogar getroffen durch den Schmerz, den er verursachte, aber er fuhr fort, ihn zu verursachen.

Er hatte sogar weiteres vorbereitet, als er Shimshek in die Position des Befehles über Boga manövriert hatte. Aber das war richtig so. Shimshek hatte jetzt seine Truppen, Stämme zuhauf... und es wäre eine Katastrophe für die anderen, Shimshek und die zurückkehrenden Truppen mit der Leiche eines ermordeten Yilan Baba zu konfrontieren. Ah, nein. Das würden sie nur machen, wenn es nicht anders ging.

Er lächelte in sich hinein und starrte in den Staub, während der Wind kalt seine Wangen streichelte und er spürte, wie Bogas Knie sich an seinem rieb, während die Ponies nebeneinander hergingen, und die Standarte der erobernden Horden vorausgetragen wurde, das Banner der sterbenden Sonne.

Er regierte immer noch, bestimmte sogar den Zeitpunkt, an dem sie ihn töten konnten. Darin hatte schon immer seine Macht bestanden, daß er jede ihm genehme Wahl traf und den Rest riskierte.

Und als sie das Lager aufschlugen, war die Stadt in ihr Blickfeld getreten. Ein Schrei stieg von der Marschkolonne auf, die sich so weit erstreckte, wie der Verstand es nur begreifen konnte. Ah, ächzten die Stämme. Ah, sagten die Frauen und Kinder, und es war wie das Seufzen des legendären Ozeans und das Rauschen des Windes, wie das Krachen von Donner. Ah. Die Stadt schimmerte wie ein Trugbild, ihre Dächer leuchteten vor Gold und Schönheit im Licht, und Staub verschleierte sie, dort, wo Shimshek und die anderen waren, wo die Schlacht tobte. Yilan zweifelte nicht an ihrem Ausgang; hätten diese Kräfte nicht ausgereicht, hätte er auch mehr schicken können. Sie konnten sogar die Stadt allein mit den Wagen der Frauen und Kinder niederwalzen, indem sie einfach weiterzogen.

Er weinte, was er ständig tat, aber in diesem Augenblick besaß es Bedeutung; und tatsächlich weinten viele der Krieger und winkten mit ihren Lanzen und trieben ihre Ponies an. Hier und dort verschwendete ein Reiter kostbares Schießpulver, wofür er sie nicht tadelte, denn hiernach gab es keine Schlachten mehr für die Horden, weil sie dann die ganze bekannte Welt erobert haben sollten und nichts mehr auf sie wartete als das Meer.

»Schlagen wir das Lager auf?« fragte ein junger Reiter vom Fuchs. Er nickte und betrachtete Boga. »Gib die Befehle«, sagte er. Boga ritt davon, um dieser Weisung zu folgen. Die Kolonne hielt an, die Wagen wurden ausgespannt, die Tiere an Pflöcke gebunden. Yilan blieb auf seinem Pony sitzen und wartete, wie er es jeden Abend tat, bis alles in Ordnung war, bis die Kochtöpfe von den Wagen gebracht wurden und das Kochen begann.

Die Anordnung der Wagenzelte war nicht zufällig, sondern folgte den Rangunterschieden. Sein eigenes bildete den Mittelpunkt des Lagers, und die der Häuptlinge von Falke und Fuchs berührten es – aber die waren mit Shimshek geritten; und auch die des Wolfes, jedoch ohne Shimshek selbst und seine Unterführer, so daß jetzt nur noch ihre Familien da waren, Wagen ohne Beschützer. Tatsächlich flatterte zu seiner Linken Bogas Luchsstandarte, und nahe dabei die Standarten von Häuptlingen, die nicht mit Shimshek gezogen waren – alles seine Feinde.

Bogas Stunde war also gekommen, dachte Yilan bei sich, während er langsam in die Falle ritt, diesen harmlos aussehenden Bereich neben seinem eigenen Wagen, wo Gunesh auf ihn warten sollte. Aber tatsächlich standen dort Boga und die anderen, standen abgestiegen neben ihren Pferden und der Leiter seines Wagens. Er hielt Ausschau nach Klingen, während sein Herz ihn um Guneshs willen quälte, wo sie ja vielleicht tot war; aber nein, noch nicht, nicht, bis er selbst dran war. Das würden sie nicht wagen, aus Angst vor einem Fehlschlag. Man mußte der Schlange den Kopf abschlagen, bevor man anderweitige Provokationen riskierte. Boga war nicht dumm – und daher berechenbar.

Sie gaben ihm einfach etwas zu trinken, einen Schlauch Kumyß, sogar aus Bogas eigener Hand, während er noch im Sattel saß. Er betrachtete Boga, und ein furchterfülltes Schweigen herrschte hier, ungeachtet des geschäftigen Lärmes überall sonst im Lager – ein Schweigen, und nackte Angst in den Gesichtern aller in diesem Kreis um ihn, er auf dem Pferd und mit diesem tödlichen Geschenk in der Hand, und sein Blick schweifte von Boga zu den anderen.

»Ich kenne euch«, sagte er wieder und beobachtete, wie der Haß in Bogas Augen zunahm und die Furcht in den Augen der anderen.

Er trank. Er beobachtete sie danach. Sah, daß ihre Angst keine Spur nachgelassen hatte. Es war jetzt vielleicht eine andersartige Angst, die von Männern, die sich plötzlich durchsichtig fühlten und fragten, ob sie nicht in eine namenlose Falle geraten waren, in der die Einsätze nicht ganz dem entsprachen, was sie erwartet hatten.

»Helft mir beim Absteigen«, sagte Yilan Baba und schwang ein Bein hinüber, stützte sich auf Bogas Arme, ließ sich von Boga zur Leiter seines Wagens führen. Boga half ihm auch hinauf, in das mit Teppichen ausgelegte, dunkle Innere. »Zünde die Lampen an!« befahl Yilan, und Boga deckte den Feuertopf auf und tat wie geheißen, führte die Pflicht eines Dieners aus. Aber Boga gestattete ihm jetzt genau dies, war bereit, jeden möglichen Wunsch von ihm zu erfüllen – heute nacht.

Dann lehnte sich Yilan in die bestickten Lederpolster zurück und ruhte sich aus auf den Teppichen und im gelben Lampenlicht, das auf ihn herabschien. Er schloß die Augen und träumte von der Stadt, sah dann aus leicht geöffneten Augen, als er einen sich entfernenden Schritt hörte und der Wagen wackelte, daß Boga seines Weges gegangen war.

Zweifellos, um Fallen und Hinterhalte zu legen.

O Shimshek, paß auf!
»Mein Ehemann?«

Es war ein ganz anderer Schritt, der hinter den Vorhängen näherkam, durch die Tür zum vorderen Raum. Der Duft von Kräutern begleitete sie, ein Anflug von Süße, ganz unähnlich dem Staub und Uringestank, aus dem die Außenwelt bestand. Er öffnete lächelnd die Augen, denn Gunesh war bei ihm, die schöne, tapfere Gunesh, die alles miterlebt hatte; Schrecken stand in ihren Augen, als sie neben ihm niederkniete. Er hob die behandschuhte Hand und streichelte tröstend ihre Wange.

»Möchtest du essen, Yilan?«

Er schüttelte den Kopf, machte einen Versuch, sich die Handschuhe auszuziehen. Sie half ihm; selbst diese Anstrengung machte ihn jetzt schon müde. »Ich werde rauchen«, sagte er. »Und dann möchte ich, daß du gehst und ein wenig Nahrung zusammenpackst, Gunesh. Es könnte sich als nötig erweisen. Hast du beobachtet, was draußen geschah?«

Sie nickte. Ihre Lippen waren fest zusammengepreßt.

»Gut«, sagte er. »Geh und pack das Essen ein!«

Sie sagte nichts. Er war ein großer König, und sie früher, vor langer Zeit, war eine Gefangene gewesen. Sie hatte die Gewohnheit, zu tun, was ihr gesagt wurde, und dann ihre Meinung dazu zu sagen, und er wartete, während sie ihm die langstielige Pfeife brachte und den Kopf, und sie füllte ihn und steckte Yilan die Pfeife zwischen die Lippen. Eine Träne rollte an ihrer Wange hinab. Vielleicht dachte sie an seinen Tod, vielleicht an ihren eigenen, und vielleicht an den Shimsheks. Sie waren alle auf ihre Weise verdammt; er wußte es und glaubte, daß sie es möglicherweise auch tat.

Und immer noch hatte sie nichts zu sagen. Das machte ihn sicher, daß sie genau wußte, was vorging. »Sie warten«, sagte er offen, »denn sie wollen auch Shimshek in der Falle haben. Ich habe ihn mit Macht ausgestattet, und jetzt müssen sie sich eine Methode ausdenken, wie sie sie ihm wieder wegnehmen können. Wenn ich zu schwach werden sollte, Gunesh, meine tapfere Gunesh, dann wirst du ihm sagen, wie ich gestorben bin. Hast du deinen Dolch?«

Sie nickte, faßte an den Griff an ihrem Gürtel, zwischen den Fellen.

»Shimshek wird für dich sorgen.«

Ihr Kinn fing an zu zittern. »Warum, Yilan? Warum hast du es ihm gestattet?«

»Hör auf damit! Vertraue Shimshek, sage ich. Ich weiß, daß du es auch in anderen Dingen getan hast. Ah, glaubst du, ich wüßte nicht, wessen Kind du trägst? In diesem Sinn bist du nichts für mich, im Innersten meines Herzens aber alles, Gunesh. Du weißt, daß alles vor dir kommen mußte, aber niemand kann deine Stelle einnehmen.«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie.
»Du willst es leugnen. Tu es nicht. Ich kenne die Wahrheit.«

Jetzt ließ ihre Fassung sie beinahe im Stich. »Ich verstehe nicht. Ich tue es wirklich nicht.«

»Du verstehst.«
»Ich liebe dich.«
»Das hast du immer. Und ich dich, Gunesh, für immer und ewig. Geh weg! Laß mich allein! Was immer mir Boga verabreicht hat, ich glaube nicht, daß es schmerzhaft sein wird. Zwar würde ihm das gefallen, aber er möchte nicht, daß hinterher von Gift geflüstert wird. Ah, nein. Er gab mir dies mit eigener Hand.«

»Yilan, warum hast du es getrunken?«
»Um Shimshek zu retten. Und dich. Und das Kind; auch ihn. Ich sterbe – bedeuten mir ein paar Wochen vielleicht viel? Nein. Nicht bei meinen Schmerzen. Ich habe die Stadt gesehen. Aber selbst das spielt jetzt keine Rolle mehr, Gunesh. Sei nicht traurig. Ich habe alles erreicht, was ich wollte. Ich bin jetzt fertig. Rufe Shimshek zu mir, wenn er rechtzeitig kommt, und vergiß nicht, daß ich euch beide liebe.«

»Yilan...«
»Geh!« sagte er, mit jener Stimme, die Armeen in Marsch setzte und Häuptlinge dazu brachte, zusammenzuzucken. Aber Gunesh holte Luft und raffte ihre Gelassenheit um sich wie ein Staatsgewand, nickte befriedigt. Er lachte in sich hinein, denn der Rauch tötete den Schmerz, und er war erfreut: er konnte Gunesh niemals erschrecken, nicht auf diese Weise.

»Ich werde zurückkommen«, sagte sie.
»Ja.«

Dann drückte sie die Lippen auf die seinen, streichelte seine Hand und zog sich zurück.

Er atmete den Rauch tief ein, immer klarer im Geist, den Blick verschleiert vor fernen Perspektiven.

Die Reiter kamen aus dem Staub des Abends hervor, schwarze, schnelle Gestalten. »Seht!« hatten die von den Mauern Ausschau haltenden Bürger gerufen und Kopftücher geschwenkt, als die ersten Gestalten auftauchten, denn sie hatten geglaubt, es seien ihre eigenen zurückkehrenden Soldaten, vielleicht eine der siegreich heimkehrenden Einheiten. Aber allzu schnell wurde die Wahrheit erkennbar, und da stieg ein großes Wehklagen von der Stadt des Himmels auf, und die Bürger eilten sich, Speere zu holen und womit auch immer sie sich verteidigen konnten.

»Hier! Oh, hier!« rief Kan Te aus und schob Tao Hua ein Bündel Speere in die Hände, als er sich auf der Mauer zu ihr gesellte. Arsenal und Museum hatten die Waffen an jeden ausgegeben, der auf der Mauer stehen und sie werfen wollte, und Kan Te erduldete eine schreckliche Vision von Tao Huas bleichem, verwirrtem Gesicht, während der staubige Wind ihre Zöpfe packte und ihre Quasten und die Blätter der Blüte bewegte, die sie an der Wange trug.

Sie umklammerte ihre kriegerische Last und reichte eine an ihn weiter, den stärkeren Arm, während rings um sie her Bürger ihre Stellungen bezogen, die Schwächeren, um zu halten und weiterzureichen, die Stärkeren, um die Waffen zu schleudern, und Tränen standen auf den Gesichtern sowohl der Männer als auch der Frauen, während sie den herankommenden Reitern entgegenblickten. »Oh, wo sind sie?« hörten sie, wie der Wind gefragt wurde, denn Phönix und Löwe waren nicht heimgekommen, und hier kam schon der Feind über sie. Kan Te hob den Speer hoch, den Tao Hua ihm reichte, und er war hell und nadelscharf. Die Bänder flatterten tapfer von der Waffe, und Tao Hua dachte, während sie ihren Gefährten über der Brüstung lehnen sah, seine Gewänder im Wind flatternd, sein Gesicht eine Grimasse der Entschlossenheit, wie sehr sie sich liebten. Sie wandte sich zum Feind um, den Horden, die töteten und niederbrannten und zerstörten. Sie lehnte das Bündel Speere an die Mauer und nahm einen in die eigene winzige Hand, eine Waffe, von deren scharlachroten Bändern Papierblumen flatterten, und sie lehnte sich neben Kan Te, um zu warten, ahmte seinen Griff um die Waffe nach, obwohl überall entlang der Stadtmauer ein Dutzend unterschiedliche Griffe zu sehen waren, Griffe von Leuten, die nicht die geringste Vorstellung vom Gebrauch solcher Dinge hatten, wie sie beide selbst auch nicht. Sie hatten mit langen Gewehren geübt, aber davon gab es nicht mehr genug.

Die Reiter schwärmten wie Donner heran, und viel zu früh wurden einige Speere mit wehenden Bändern von den Mauern geworfen. »Wartet, wartet!« riefen sie beide den anderen zu, schalten ihre Kameraden, und mahnten sie zur Geduld. Einen Augenblick später kamen noch mehr Reiter in Reichweite, eine ganze Flut von ihnen, und sie schleuderten dunkle Gegenstände prasselnd an das Tor; Speere flogen mit ihren Bändern und Blumen herab, und einige wenige trafen auch, streckten entweder Pferd oder Reiter nieder, aber viele, deren Pferde stürzten, kletterten hinter Kameraden hinauf, wenn auch nie so viele, wie liegenblieben. Und die Gegenstände donnerten weiterhin wie Steine an das Tor.

»Es sind Köpfe!« schrie jemand entsetzt in der Nähe des Tores, und der furchtbare Schrei rief Echos überall auf den Wällen hervor.

Wieder ging ein Speerhagel nieder, und weiterhin schlugen die von den Reitern geworfenen Gegenstände dumpf an das Tor; jeder Reiter kam nur heran, um sein Geschoß zu werfen, und galoppierte wieder davon, die meisten unversehrt. Bevor die Flut der Reiter aufhörte, hatten die Verteidiger schon keine Waffen mehr; die letzten Reiter kamen ungehindert heran, warfen die abgehauenen Köpfe ans Tor und ritten mit höhnischen Rufen wieder davon.

Überall wurde geweint. Da und dort erklang ein Schrei, wenn ein neuer Betrachter diese Stelle auf der Mauer erreichte, von wo aus die Tore zu sehen waren.

Und zur Dämmerung hin wagten sie es, das Tor zu öffnen, wo ein Haufen von tausend Köpfen lag, und manche davon rollten herein und über die schönen Steine der Straße, Köpfe von Kameraden des Phönix und des Löwen, Söhne und Töchter der Stadt – und ein lebender Mann, der zum Phönix gehörte. Die Schreie von Verwandten durchschnitten die Nacht.

Freunde sammelten die Überreste ein und trugen sie fort, wenn Eltern und Partner zu benommen oder erschreckt waren. Sie entzündeten einen Scheiterhaufen in der Stadt und verbrannten sie, weil sie nichts anderes mit ihnen tun konnten.

Und Kan Te und Tao Hua klammerten sich aneinander und weinten um Freunde, und sie zitterten. Der Phönix-Soldat überbrachte weinend die Nachricht von Feinden, so zahlreich wie Sandkörner, von einem lebenden Wind, der sie zu überspülen drohte. Nur ein Teil dieser Horde hatte sich aufgemacht, um sich mit der Stadt auseinanderzusetzen.

Da wußte die Stadt, daß sie verloren war. Das Fieber breitete sich aus; Liebende und Hinterbliebene sprangen auf den Scheiterhaufen, der vernichtete, was von Phönix und Löwe übrig war; und der letzte Phönix-Soldat folgte ihnen.

Andere starrten nur verwirrt auf den Tod und den Wahnsinn, und der Rauch stieg auf vom Platz der Stadt des Himmels, um sich mit dem Staub zu vermischen.

»Er ist zurück.« Der Wagen wackelte, als Gunesh hinauskletterte, während sich mehrere Reiter donnernd näherten. »Ah«, sagte Yilan Baba zu niemandem im besonderen, saugte an der Pfeife und lehnte sich in seinen Kissen zurück, zufrieden darüber, daß die Droge den Schmerz genommen hatte – oder das Gift. Nicht nötig, sich Sorgen zu machen; Shimshek hatte seine Schlacht gewonnen, und Boga und seine Genossen ließen Shimshek und einige seiner Leute zu ihm durch. Wie konnten sie es schon mit Würde verhindern?

Und sicherlich wollten sie es nicht verhindern, damit sie beide Opfer auf einem Haufen hatten.

Sie kamen zusammen herein, seine lieben Freunde; als erste stieg Gunesh die Leiter hinauf, unmittelbar gefolgt von Shimshek, selbst jetzt noch bedeckt vom Staub des Reitens und dem Blut seiner Feinde. Gunesh hatte ihm draußen rechtzeitig etwas ins Ohr flüstern können. Yilan sah den Ausdruck des Schmerzes auf Shimsheks Gesicht. »Setz dich!« sagte er. »Gunesh, du nicht... geh weiter!«

Ihre Augen blitzten.
»Geh«, sagte er mit freundlicher Stimme. »Gib mir ein wenig Zeit, mit diesem jungen Mann privat zu reden. Es betrifft euch beide, aber gib mir die Zeit, mit ihm zu reden.«

»Wenn es mich betrifft...«
»Hinaus!« sagte er. Sie ging, spürte vielleicht, daß er zu schwach war für einen Streit. Ein Schmerz packte ihn; er preßte die Kiefer zusammen, zog die Pfeife heraus, packte sie wieder mit zitternden Händen. Er streckte die Hand nach dem Licht aus, und Shimshek beeilte sich fieberhaft, ihm zu helfen, alles für ihn zu tun, verweilte in der Unmittelbarkeit dieses Augenblicks, war voller Schmerz. Yilan wandte den Blick ab und hatte für einen Moment eine Vision von dem, was Gunesh von ihnen sah – einen ergrauten, zerfurchten alten Mann, und Shimsheks göttliche Schönheit, dunkel und stark. Er sog den Rauch ein, streckte die Hand nach Shimsheks Gesicht aus, die Berührung eines Vaters diesmal.

Shimshek brach in Tränen aus, und sie strömten ungehindert an seinem Gesicht herab.

»Sie haben mich umgebracht«, sagte Yilan. »Gunesh hat es dir natürlich gesagt. Wenn ich nicht bald tot bin, werden sie sich darum kümmern; dann auch um dich und um sie. Hauptsächlich das Baby, das sie trägt; ob deines oder meines, spielt dabei keine Rolle... – o Shimshek, selbstverständlich weiß ich Bescheid; wie kannst du dich darüber nur täuschen?«

Shimshek senkte den Kopf, und Yilan streckte die Hand aus und hob sein Gesicht wieder an.

»Stolzer Unfug. Denkst du, der alte Mann wäre blind? Setz dich für einen Moment zu mir! Nur für ganz kurz.«

»Für alle Zeit, Vater, wenn du es wünschst.«

Er warf dem jungen Mann einen durchdringenden Blick zu, lehnte sich in die Kissen zurück und blickte ihn aus beschatteten Augen an. »Du hast nichts davon gesagt, wie es war. Waren es nicht die Nachrichten, die du mir überbringen wolltest? Sind sie nicht wichtig?«

»Sie fielen wie Gras unter unseren Hufen. Morgen werden wir die Stadt nehmen, Yilan Baba; wir werden sie dir schenken.«

Er grinste schwach und wurde wieder ernst, sog den angenehmen Rauch ein. »Tapferer Freund. Rom und Karthago, Theben und Ur... – wie viele, und wie viele noch...?«

Shimshek schüttelte verwirrt den Kopf.
»Oh, mein junger Freund«, seufzte Yilan. »Ich bin müde. Ich bin diesmal müde, und es spielt keine Rolle. Ich habe alles Nötige getan; ich weiß das. Das ist der Grund, warum ich hier sitze und rauche. Von Yilan ist nichts mehr geblieben, nur von dir und von Gunesh. Bei dir habe ich etwas Hoffnung, wenn du schnell bist.«

»Ich werde den Stamm aufrütteln. Ich werde Bogas Haufen aus deiner Nähe treiben...«

»Nein. Du wirst die Stämme nehmen, die dir folgen wollen, und dann wegreiten, du und Gunesh. Verschwinde von hier!«

»Die Horden jetzt auseinanderzureißen...«
»Es spielt keine Rolle, verstehst du? Nein, natürlich verstehst du nicht.« Er sog an der Pfeife und reichte sie an Shimshek weiter, ließ sich von dem beruhigenden Rauch einhüllen. »Tu, was ich dir sage! Mehr will ich nicht.«

»Ich werde Bogas Kopf auf einen Pfosten stecken.«

»Nein. Auch das wirst du nicht tun.«
»Dann sag mir, was ich zu tun habe.«
»Gehorche mir einfach. Geh! Die Stadt bedeutet nichts.«

»So viele Jahre hast du gekämpft...«
»Ich bin hier. Ich bin hier, das ist alles.« Er nahm die Pfeife wieder entgegen und inhalierte. Der Rauch kräuselte sich nach oben und umhüllte sie im düsteren Licht der tiefhängenden Lampen, und der Rauch ballte sich zu Formen zusammen: Stadtmauern, seltsame Türme und ferne Länder, öde Wüsten, hohe Berge, saftige Hügel und befahrene Straßen, Tiere und phantastische Maschinen, Menschen in vielen Schattierungen und manche, die überhaupt keine Menschen waren. »Ich bin viele Leben alt, Shimshek; und ich kenne dich... ah, mein uralter Freund. Ich erinnere mich... ich erinnere mich wieder, seit ich krank geworden bin; ich habe Träume... Sie sind im Rauch zu erkennen. Siehst du sie?«

»Nur Rauch, Yilan Baba.«
»Solide wie immer. Ich kenne dein Herz, und es ist treu, wirklich. Wir haben so manchen Krieg ausgekämpft, Shimshek. Füll bitte die andere Pfeife! Füll sie und träume mit mir!«

»Draußen...«
»Tu, was ich sage!«

Shimshek langte nach dem Kopf der anderen Pfeife, füllte ihn, zündete sie an und lehnte sich mit einem Versuch, sich müßig zu geben, zurück, war gehorsam, obwohl seine Wunden – wie Yilan in plötzlicher Klarheit sah – noch nicht behandelt worden waren. Armer Shimshek; er war tatsächlich verwirrt. Schließlich geriet er ins Zittern.

»Besser?« fragte Yilan.
»Taub«, sagte Shimshek. Yilan lachte in sich hinein.

»Wie kannst du nur lachen, Baba?«

»Ich glaube, ich habe es gut gemacht«, meinte Yilan. »Habe mein Leben gut verbracht.«

»Niemand sonst hätte die Stämme vereinigen können – niemand – und wenn du nicht mehr bist – geht alles dahin. Ich kann sie nicht halten, Baba.«

»Das ist wahr«, sagte Yilan. »Ah, Boga könnte es. Er hat die Kraft. Aber ich denke nicht. Diesmal nicht.«

»Diesmal nicht?«

Yilan lächelte und betrachtete die Städte im Rauch und die vorüberziehenden Gestalten von Freunden. Enkindu, Patroklos, Hephestion, Antonius und tausend andere. »Patroklos«, nannte er ihn. »Und Lancelot. Und Roland. O mein Freund... siehst du es, siehst du es jetzt? Manchmal begegnen wir uns erst spät... du bist immer bei mir, wirst aber oft erst so spät geboren, mein großer, guter Freund. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich gewußt, daß mir etwas fehlt, und dann fand ich dich und Gunesh und ward ganz. Dann konnte es beginnen. Ich wußte in jenen Jahren nicht, worauf ich wartete, aber ich wußte Bescheid, als es eintraf, und jetzt kenne ich auch den Grund.«

Shimsheks Augen hoben sich zu den seinen, verströmten Tränen und Träume, waren jetzt so dunkel wie die Nacht, aber sie waren schon einmal grün und blau und grau und braun gewesen und auch alle Schattierungen dazwischen. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Ja. Jetzt glaube ich, daß du es tust. Mehr Städte als nur diese eine... Und Gunesh... sie ist immer da... alle Zeitalter hindurch.«

»Du bist wie ein Vater zu mir, Yilan Baba, mehr ein Vater als mein eigener. Sag mir, was ich glauben soll, und ich glaube es.«

Er schüttelte den Kopf. »Mich kennst du nur länger; erweise deinem Vater seine Ehre. Die Kluft der Jahre war nicht immer so groß; manchmal waren wir Brüder.«

»In anderen Leben, Baba? Ist es das, was du meinst?«

»Es gab einmal eine Stadt, die hieß Dursharrunkin; ich war Sargon; ich war Menes, an einem Fluß, der Nil genannt wurde. Ich war Hammurabi; und du warst immer dabei. Ich war Gilgamesch; wir sahen der Geburt der Städte zu, mein Freund, wie zum erstenmal in dieser Welt Stein auf Stein gelegt wurde.«

Shimshek erzitterte und blickte ihm in die Augen. »Achilles«, murmelte er. »Du trugst einst diesen Namen, nicht wahr?«

»Und Cyros der Perser. Und Alexander. Du warst Hephestion, und damals verlor ich dich zum erstenmal – ah, das tat weh –, und die Generale ermordeten dann auch mich, da sie nicht weiterziehen wollten. Wie ich dich brauchte.«

»O Gott«, weinte Shimshek.

Yilan streckte die Hand aus und packte Shimsheks starken jungen Arm. »Ich war Hannibal, hörst du? Und du Hasdrubal, mein Bruder; Cäsar, und du Antonius. Ich war Germanicus und Artus und Attila; Karl der Große und Wilhelm der Eroberer; Saladin und Dschingis Khan. Ich habe gekämpft; ich habe die Kriege der Welt geführt, und der jetzige ist beendet, hat den Punkt erreicht, den er erreichen mußte, hörst du, mein Sohn, mein Bruder, mein Freund? Bin ich nicht stets derselbe? Behalte ich jemals lange, was ich erringe?«

»Yilan Baba...«
»Gewinne ich jemals wirklich? Oder verliere ich?

Nur du und Gunesh... Roxana und Kleopatra; Guinevere und Helena... Gestalten, so zahlreich wie meine und deine; und stets liebst du sie.«

Schrecken und Kummer standen in Shimsheks Augen.

»Glaubst du, es macht mir etwas?« fragte Yilan. »Ich liebe dich und ich liebe sie. Und in all meinen Leben – hat es nie eine Rolle gespielt. Begreifst du jetzt? Nein. Für dich ist es Liebe; für Gunesh ist es Sex... seltsam, nicht wahr? Für sie ist es der Sex, der so viele in dieser Welt bewegt, aber dich hat stets die Liebe bewegt, und ich... ich habe kein starkes Interesse in dieser Hinsicht... aber Liebe... ah... eine andere Art von Liebe; die Liebe wahrer Freunde. Ich liebe euch beide, aber Sex... spielte dabei nie eine Rolle. Hör mir zu! Ich spreche offen, weil wir keine Zeit mehr haben. Daß ein Kind zur Welt kommen wird – macht mich glücklich; kannst du das verstehen? Du warst so darauf bedacht, mich nicht zu verletzen; aber ich wußte es schon, bevor du anfingst. Wirklich, mein Freund. In deiner Jugend kam es stets zu Kindern, wenn sich auch nur andeutungsweise eine Möglichkeit bot – und ich mißgönne dir keines, nein, niemals.«

»Das Leben blieb ihnen nicht«, flüsterte Shimshek, als habe die Erinnerung ihn durchzuckt. Sein Schmerz war furchtbar, und Yilan streckte die Hand aus und tätschelte seinen Arm.

»Aber einige haben weitergelebt. Einige. Das ist stets unsere Bestimmung... du hast mehr von meinen Erben gezeugt, als ich jemals selbst. Meine wurden ermordet... Vielleicht ist deshalb meine Begeisterung dafür, sie zu zeugen, so gering. Aber du hattest mehr Glück; du kannst hoffen. Deine Erben wurden meine Nachfolger in Rom. Habe mehr Zuversicht.«

»Und sie haben das Reich zugrundegerichtet, nicht wahr? Ich habe kein Glück, Baba.«

»Begreifst du noch immer nicht, daß es keine Rolle spielt?«

»Aber ich kann nicht aufhören, weh zu tun, Baba.« Er betrachtete die Pfeife, von seiner hohlen Hand umfaßt, und blickte wieder auf. »Ich kann nicht.«

»So ist der Lauf dieser Dinge, nicht wahr?«

»Konnte sich auch Gunesh erinnern?«

Er schüttelte den Kopf. »Manchmal habe ich es geglaubt, manchmal nicht. Ich habe es... dieses ganze Jahr, und in letzter Zeit immer mehr. Darum bin ich sicher, daß es kurz bevorsteht. Darum kämpfe ich auch nicht mehr weiter. Ich erinnere mich auch an andere Gelegenheiten, zu denen ich mich erinnert habe; ist das nicht komisch? Die Verschwörer in Rom... ich wußte, daß sie kommen würden, lange bevor sie es selbst wußten. Ich fühlte es kommen. Modred auch. Ich sah es in seinen Augen. Sie werden dich auch diesmal des Ehebruchs beschuldigen, rechnest du nicht auch damit? Sie werden sagen, Gunesh trage dein Kind, und sie werden deinen Tod ebenso fordern wie den ihren. Und Boga rechnet natürlich damit, daß er der Anführer sein wird, wenn wir alle tot sind.«

»Ich werde ihn töten.«

Yilan schüttelte den Kopf. »Du kannst mich nicht retten. Rette dich selbst! Es wäre nur vernünftig... auch Boga trägt noch weitere Namen, weißt du. Agamemnon, Xerxes, Bessus... mache ihn nicht verächtlich.«

»Modred.«
»Der auch.«
»Fluch über ihn!«
»Ist schon. Wie bei uns.«
»Baba?«
»Er ist die dunkle Kraft. Meine Prüfung. Damit ich nicht zu mächtig werde. Ich selbst könnte ungesund für die Welt sein, gäbe es nicht Boga. Er erinnert mich... an das, was ich sein könnte. Und oft genug hat er mich getötet. Das ist seine Aufgabe. Wehe nur der Welt, wenn wir getrennt auftreten. Hitler war so ein Fall. Ich war die halbe Welt weit entfernt; wir beide waren es. Er hatte die Macht für sich.«

»Lawrence.«
»So lautete der Name. Das ist das schlimmste, wenn wir beide einander verfehlen; am härtesten die Welt, wo Boga und ich es tun. Armer Boga, er hat keinen Patroklos, keine Guinevere.«

Shimshek rauchte eine Zeitlang, und sein Blick schweifte durch den gepolsterten Innenraum des Wagens, der nur ein Wagen war und auf der Weltebene stand, rauchig und in tiefem Schatten. Aber es schienen keine Grenzen oder Wände mehr zu bestehen, als ob ein großer Teil der Zeit hier hinge.

»Manchmal«, sagte Yilan langsam, »verbringe ich mein ganzes Leben, ohne das Muster dessen zu erkennen, was ich tue; manchmal... existiert kein erkennbarer Entwurf und Boga und ich und du und Gunesh... leben voneinander getrennt und verloren. Manchmal in bedeutungslosen Leben und manchmal in bedeutungsvollen; gelegentlich war ich ein Baby, das vor Vollendung eines Jahres starb, nur um die Zeit zu kennzeichnen, bis meine Seele anderswo sein konnte. Oder um auszuruhen, vielleicht, nur auszuruhen. Manche von meinen Toden waren schlimm.«

»Ich gehe diesmal mit dir hinaus. Ich fürchte mich nicht davor.«

Yilan lachte in sich hinein und zuckte dann zusammen, als ein leichter Schmerz in seine Eingeweide stach. »Shimshek, du lügst. Du fürchtest dich.«

»Ja.«
»Und Gunesh zu verlieren, würde dein Herz brechen und meines; sorge für sie.«

»Ah, Baba.«
»Du bist derjenige, der liebt, verstehst du. Mein lieber Freund, ich glaube wirklich, daß du mich diesmal überleben könntest. Du wirst Möglichkeiten zur Rache finden, wenn du abwartest und beobachtest.«

»Was bedeutet Rache, wenn sie nie endet?«
»In der Tat. In der Tat, alter Freund. Ich will dir etwas erzählen, was mir langsam aufgeht. Das Pendel schwingt hin und her. Ich kann die Menschen in einer Lebenszeit nur so oder soweit treiben; nur so oder so viel in irgendeine Richtung helfen. Ich war Akkadianer, Sumerer, Ägypter, Kushite, Grieche, Mazedonier... Ich begründete Persien, verteidigte Griechenland an den Thermopylen gegen Persien, errichtete als Alexander ein östliches Weltreich und als Hannibal ein westliches; ich prüfte beide als Cäsar und zog auch nach Norden und nach Süden; war Chinese und Inder und Afrikaner... – eine Seite gegen die andere. Wir leben durch Gleichgewicht; es gibt keine Rache und es gibt doch eine. Eine Frage des Standpunktes, Shimshek.«

Shimshek starrte ihn nur an.
»Liebe Gunesh«, sagte Yilan. »Lebe. Ich möchte, daß du vor der Morgendämmerung von hier verschwindest; schaff sie in dein Lager! Wenn ich tot bin, wird es etwas Aufruhr geben. Dann stoße ins Horn und reite los! Wahrscheinlich wird mächtig viel Durcheinander herrschen – manche werden die Stadt angreifen, andere werden dieses oder jenes tun; du siehst, der alte Mann macht sich immer noch Gedanken. Das ist eine meiner besten Kriegslisten.«

»Nein, Baba. Ich lasse dich nicht hier, damit du getötet wirst.«

»Sei nicht stur! Du würdest meinen Tod nur beschleunigen. Und Guneshs.«

»Soll ich ihr erzählen – was du mir gesagt hast?«

»Bringt es dir Frieden, zu wissen, was ich dir gesagt habe?«

»Nein«, sagte Shimshek schwer. »Nein, Vater, kein Friede... es gibt kein Ende, nicht wahr?«

»Was das anbetrifft... ich weiß nicht. Aber von der Morgendämmerung der Welt bis zu ihrem Ende... sind wir dieselben. Unveränderlich.«

»Boga und du, ihr seid die Mächtigen«, meinte Shimshek. »Ist es nicht so... daß Gunesh und ich machtlos sind?«

»Überwiegend schon«, antwortete Yilan und beobachtete, wie tief Shimsheks Stolz verletzt war. »Nur... Shimshek, wenn es nicht um dich ginge, könnte ich Boga sein. Denk daran! Wenn nicht deinetwegen – und ihretwegen. Weil ich dich liebe.«

»Baba«, murmelte Shimshek, legte die Pfeife weg und umarmte ihn sanft, küßte ihn auf die Stirn.

»Geh!« sagte Yilan. »Geh jetzt! Und wenn du den Aufruhr hörst, der meinem Tod folgen wird... reite mit Gunesh davon!«

»Ich werde dich nicht verlassen, Baba. Nicht, damit du in deinem Bett stirbst.«

»Kannst du es nicht tun? Gönnst du mir keinen ruhigen Tod? Selbst Boga hat ihn diesmal für mich vorgesehen, und ich bin müde, junger Unruhestifter; der alte Mann ist müde.«

Der Vorhang wurde zurückgezogen. Shimshek riß heftig das Schwert aus der Scheide, aber es war Gunesh.

»Wieviel Zeit muß ich euch geben?« fragte sie. »Setz dich!« sagte Yilan und klopfte auf den Teppich neben sich, und sie hockte sich dort auf die Fersen. »Du verfügst über einiges an Überredungskraft, Frau. Überzeuge diesen jungen Mann.«

»Davon, dich zu verlassen?«

Yilan nickte grimmig, deutete mit dem Pfeifenstiel zum Rand des Lagers. »Wie sieht es da draußen aus?«

»Wie Sterne«, sagte sie. »Wenn der Himmel so viele tragen könnte.«

»Wie der alte Himmel«, meinte er. »So viele mehr als jetzt. Träumst du manchmal von solchen Sternen, Gunesh? Ich tue es. Und ich sage dir, daß du mit diesem verrückten jungen Mann weggehen mußt, um nicht dein und sein Kind zu verlieren. Kannst du reiten, Gunesh?«

Sie nickte, und ihre Augen waren feucht. Er hatte schon genug Tränen von Shimshek gesehen.

»Macht keinen Unsinn!« sagte er.
»Ich habe geträumt«, erzählte sie, »daß wir diese Worte schon früher gewechselt haben.«

»In der Tat«, sagte er. »In der Tat. Und wir werden es wieder tun. Eines Tages wird Shimshek es dir erzählen.«

»Sie sind wahr«, sagte sie und zitterte dabei heftig. »Ja«, gab er schließlich zu, wußte sehr gut, welche »sie« sie meinte. »Ja, Gunesh. Die Träume. Vielleicht haben wir alle drei sie.«

Shimshek schloß die Augen und wandte das Gesicht ab.

»Yilan«, weinte Gunesh.
»Also kommt es nicht zum Streit. Ihr beide müßt von hier verschwinden! So sieht dieses Mal das Muster aus. Ich brauche euch jetzt nicht mehr.«

»Nicht?« fragte Shimshek.
»Nicht in dieser Weise«, gestand er. Er konnte es keinesfalls ertragen, sie zu verletzen. Und langsam nahm die Sache den Geschmack von etwas an, das sie schon oft getan hatten, eine Bewegung wie ein Ritual, zu dem sie die Worte kannten, schon seit dem ganzen Lebensalter der Erde. »Haltet mich fest!« sagte Yilan und breitete die Arme aus. Es war das einzig Wirkliche, was ihnen geblieben war, das, was sie alle am meisten wollten. Sie umarmten sich, er und sie und er, und es war ein Lohn für all den Schmerz, der mehr bedeutete als Städte, mehr als Weltreiche... – eine sehr seltene Gelegenheit, daß sie einander so gut verstanden; Montmorency und Dunstan und Kuwei; Arslan und Kemal; so viele Gestalten. Nichts war ihnen gegeben, das sie mitnehmen konnten, außer der Erinnerung, der Liebe und dem Wissen – daß das Muster sich fortsetzte.

»Ich liebe euch«, sagte er ihnen. »Die Nacht ist zur Hälfte vorüber, und es gibt nichts mehr, was ihr noch tun könntet. Ich sehe euch wieder. Könnt ihr denn daran zweifeln?«

Der Rauch der Scheiterhaufen war zu einer stetig aufsteigenden Wolke abgeflaut, die vom Wind weggerissen wurde. Viele Menschen aus der Stadt des Himmels versammelten sich auf dem dunkel gewordenen Platz, um zu trauern; weiße Knochen waren in diesem mitleiderregenden Gewirr zu sehen, in der Glut dieses Feuers, in das viel vom Reichtum dieser Stadt geworfen worden war, damit es Barbarenhände nicht mehr berühren konnten.

Ein großer Teil der Vergangenheit starb hier, ein bittererer Verlust noch als die Menschenleben. Es war die Schönheit der Stadt, die gestorben war.

Und manche beteten, und andere waren betrunken, erwarteten den Tod.

Und manche suchten sich ihre eigenen Plätze und ihre vertrauten Heime.

Und Liebende berührten einander stumm. Niemand konnte Worte finden für das, was geschah, obwohl es schon immer geschehen war, seit die erste Armee das erste Dorf aus Stroh geplündert hatte. Sie fanden keine Worte, weil es ihnen selbst geschah und weil es Morgen war, und sie waren betäubt in dem Bereich ihres Geistes, der die Situation eigentlich hätte verstehen sollen; und allzu schnell auch in dem Bereich ihrer Herzen, der sie fühlte.

Sie faßten einander an, Kan Te und Tao Hua, und aus Berührungen wurden Liebkosungen; dann wurden die Liebkosungen grenzenlos angenehm, ein Mittel, um die Existenz des Todes zu leugnen. Sie waren nicht verheiratet – und so war es nicht rechtmäßig –, aber es blieb keine Zeit mehr für Hochzeiten. Die Asche der Toten senkte sich auf ihr Dach und trieb durch das offene Fenster herein, legte sich auf ihr Bett.

Sie liebten sich; und sie verbrauchten sich, schliefen mit Tränen auf den Wimpern den Erschöpfungsschlaf von Liebenden, die keine Zukunft hatten.

»Nein«, sagte Gunesh und berührte Yilans Gesicht mit jener geheimen, liebenden Geste. Sie hatten eine zu lange Zukunft. »Diesmal... bleiben wir. Diesmal – nach all den Zeitaltern der Welt – könnten wir den Unterschied herbeiführen. Wir könnten es... nicht wahr? Wenn wir schon vorher in die Falle gegangen sind, können wir dann diesmal nicht kämpfen?«

Eine seltsame Wärme berührte Yilans kaltes Herz. Er drehte sich um, so schmerzhaft es war, und umfaßte Guneshs schönes Gesicht mit den zernarbten Händen. »Ich habe mir gedacht... daß du vielleicht... eines Tages eine Rolle zu spielen haben könntest.«

»Dann gewähre es uns doch!« rief Lancelot/Shimshek/Antonius. »O Yilan, laß uns!«

Er überlegte. »Wir kommen nur langsam voran, meine Freunde. Oh, so langsam; vielleicht wartet das alte Muster auf eine Veränderung. Vielleicht löst es sich selbst im Verlauf der langen Zeitalter. Ich werde weiser; und Boga – möglicherweise auch! Vielleicht könnt ihr eines Tages das verändern, was ist. Vielleicht haben wir durch diese Erkenntnis mehr als ein Weltreich gewonnen, meine Freunde; und vielleicht seid ihr diejenigen... eines Tages. Aber diesmal nicht. Diesmal nicht, denke ich. Es ist zu spät. Wir haben zuviel verloren.«

»Wissen wir das denn?«

Er betrachtete Shimshek, lächelte und verlor dabei plötzlich die Ängste, die ihn alt gemacht hatten. Lachte, wie er in seiner Jugend gelacht hatte und in der Jugend der Welt, als sie noch nichts von dem gewußt hatten, was kommen würde. »Nein. Nein. Hai, meine Freunde, meine lieben Freunde, es ist etwas geblieben, was wir nicht kennen.«

»Sag mir, was wir machen sollen«, sagte Shimshek. »Sag es mir, Yilan, und ich werde es tun!«

»Erinnere dich«, sagte er. »Erinnere dich! Wir werden kämpfen, mein alter Freund, wir werden jedesmal kämpfen. Wir werden das Muster auf ihm verändern, und du wirst bei mir sein. Und du wirst... eines Tages... die Waage kippen. Daran glaube ich. Oh, meine Freunde, daran glaube ich wirklich.«

»Ich werde jetzt kämpfen«, sagte Gunesh und zog ihren kleinen Dolch.

»Wir sind alle ziemlich berauscht vom Rauch.« Yilan lachte. »Wir träumen von alten Helden und alten Kriegen. Aber die Träume sind wahr. Und wir sind diese Helden.«

Er mühte sich aufzustehen, ein letztes Mal zu gehen, und Shimshek gab ihm das Schwert in die Hand. Gemeinsam halfen sie ihm die Stufen hinab, und Gunesh hatte sich sein zweites Schwert angeeignet. Altes Pferd stand dort neben Shimsheks Tier. Armes Pferd, niemand hatte sich um ihn gekümmert. Und einige Krieger von Shimsheks Garde standen dort... und einige von Bogas. »Tötet sie!« befahl Shimshek, und so schnell Schwerter gezogen werden konnten, wurde der Kampf eingeleitet. Ehrenvoll war er nicht – Bogas Männer sanken in ihr Blut, und ringsumher strömten Männer mit Schwertern in den Händen aus den Wagen. »Hebt mich hinauf!« tobte Yilan, und Shimsheks Krieger brachten ihnen Pferde. Pferd wurde zurückgelassen, um an Altersschwäche zu sterben.

Er fiel in den Sattel, zuckte zusammen, packte das Schwert fester. »Fluch über Boga!« schrie er. »Tötet Boga! Verräter!«

Der Schrei wurde weitergetragen und zerstörte den Frieden der Nacht, und überall im Lager brach das Chaos aus, als Männer aus den Wagen sprangen und nach ihren Pferden brüllten.

Und Shimshek ritt wie ein Wahnsinniger, Yilan und Gunesh hinter ihm her, die Nacht vor ihnen in Aufruhr, wo die dunklen Gestalten von Männern und Pferden hierhin und dorthin stürzten, wo eine Flut aus Rufen und Schreien meilenweit über die Ebene gellte. Feuer wurden gelöscht, und es war, als gingen alle Sterne des Himmels aus, und Männer stürmten zum Zentrum, um gegen die unbekannten Angreifer zu kämpfen.

Unmittelbar an Bogas Luchsstandarte ritten sie vorbei, und Shimshek hieb in seinem Zorn die Fahnenwache nieder. Er beugte sich aus dem Sattel und packte die Fahne und trug sie wie eine Lanze in das Zentrum der Männer Bogas, die sich zur Abwehr gesammelt hatten.

Er brach durch ihre Reihen hindurch. Ein Gemetzel begann; und Gunesh brauste hindurch und schwang das ungewohnte Schwert auf die Köpfe von allen, die ihr in den Weg gerieten; Yilan kam als letzter... schlug mit Wut zu, aber schwach, mit Verlangen, mit einem Zorn, geboren aus der Enttäuschung ganzer Zeitalter.

»Verräter!« schrie er.

Und ein Speer, schneller als Gift, traf ihn in den Bauch. Er sah Boga, der ihn geworfen hatte, sah auch Shimsheks Klinge herabsausen, um Boga zu töten, wie er ihn schon viele tausend Male getötet hatte; sah, wie Gunesh fiel.

»Meine Freunde«, klagte Yilan, und Tränen blendeten seine Augen, bevor es der Tod tat.

Sie richteten ihn schrecklich zu, aber er spürte nichts mehr davon.

Sie hatten es schon am Standbild des Pompejus g etan, an den Thermopylen und tausend Male vorher.

Shimshek starb, und Gunesh starb unter ihrem Pferd, ein ungeborener Sohn mit ihr.

Der Kampf breitete sich in der großen Horde aus; eine Horde spaltete sich von der anderen; Leichen lagen über die Ebene verstreut. Manche Horden zogen führerlos und verwirrt ab. Bogas Stamm tat es, auch Yilans und Shimsheks. Und hundert andere folgten. Die Zurückbleibenden kämpften um die Vorherrschaft, töteten und töteten, bis die Sonne ihnen zeigte, was sie getan hatten.

In der seltsamen Geistesklarheit dieses Wartens ging die Sonne über einem ruhigen Tag auf. Die Stadt des Himmels wartete, hatte ihren Wahnsinn verausgabt, und Männer und Frauen standen auf den Wällen, hielten die Speere, die sie draußen aufgesammelt hatten, hatten die Tore fest verschlossen und verrammelt, hatten in ihren Herzen wieder Mut gefaßt. Keine Blumen waren mehr zu sehen und keine Bänder; sie waren hier, um ihre Heimat zu verteidigen, eine gehärtete, entschlossene Truppe.

Aber der Staub ließ nach; er zog in den Westen und legte sich. Als Späher hinauszogen, sahen sie schon aus großer Ferne die Aasvögel kreisen und erblickten die niedergemetzelten Überreste eines großen Heeres, die zertrampelte Spur eines Rückzuges.

Sie fanden das zerrissene Banner Yilans des Eroberers, aber seine Leiche entdeckten sie nicht; sie brachten das Banner im Triumph zurück in die Stadt, und deren Geist schwoll an vor Stolz, denn sie waren groß und vermuteten es auch mit einem wilderen, kriegerischen Geist.

»Wir haben sie abgewehrt«, sagte Kan Te, als die Nachrichten eintrafen, und umklammerte seinen Speer um so fester. »Wir werden die Geschichte weitererzählen«, sagte Tao Hua, »und diesen Tag niemals vergessen.«

Sie gingen jetzt mit einem anderen, einem tödlicheren Schritt, ein Volk, das sich des Todes bewußt war und des Landes, das sie umgab, das nach Rache lechzte.

Ein neuer, grausamer Geist hatte Einzug gehalten durch die Tore und klammerte sich überall mit dem Gestank des Rauches fest.

»Wir werden richtig heiraten«, sagte Kan Te. »Ich glaube nicht, daß es eine Rolle spielt. Viele werden dasselbe getan haben wie wir. Darin liegt keine Schande, aber wir werden richtig heiraten.«

»Ich schäme mich nicht«, sagte sie.
»Und ich auch nicht«, sagte er. Er küßte sie dort auf der Mauer, vor den Augen der Menschen, die sich durch nichts mehr schockieren ließen, und sie erwiderte den Kuß. Gemeinsam gingen sie weg, und sie legte sich eine Hand auf den Bauch, getroffen von der Erinnerung an Schmerz und Vergnügen und eine anhaltende Wärme... – sie konnte geschwängert worden sein, erkannte sie. Daran hatte sie vorher noch nicht gedacht, hatte nicht mehr daran geglaubt, noch lange genug zu leben; und das Leben war gut. Die Wärme war seltsam, so als wäre eine Form von Energie in sie eingedrungen, eine seltsame Kraft des Begehrens und des Wollens.

Als wäre irgendein Fremder gekommen, um dort zu wohnen, geboren aus dem Tod und der Erschütterung ihrer Welt.

So war es tatsächlich.