Der einzige Tod in der Stadt

(PARIS)

 

Sie wurde die Stadt der Lichter genannt. Während der langen Geschichte der Erde hatte sie schon andere Namen getragen, in den Jahren, bevor die Sonne matt geworden war und von Krankheiten befallen, bevor der Mond glühend und riesig am Himmel hing, in den Raumhäfen die Schiffe von den Sternen weniger geworden waren und der Gründe für Ambitionen noch weniger. Die Stadt erstreckte sich, so weit das Auge reichte – wenn man sie von außen betrachtete, was die Einwohner nie taten. Sie war so gewaltig, daß ein Fluß durch sie hindurchströmte, Sin genannt, die in der unvorstellbaren Vergangenheit durch einen Wald von urzeitlicher Schönheit geflossen war und dann durch eine zahllose Folge von Städten im Verlauf der antiken Zeitalter der Weltreiche. Die Stadt wuchs an den Ufern der Sin und umschloß den Fluß gänzlich, so daß er, in einem steinernen Bett kanalisiert, durch die Hallen der Stadt strömte, im freien Fall von der zehnten auf die vierzehnte Ebene hinabdonnerte und anschließend sanft durch den Kanal auf der vierzehnten Ebene floß, einen großen Kanal, der die Stadt versorgte und sie unabhängig machte. Die Sin kam von außen, aber sie wurde so verwandelt und kanalisiert, daß sich niemand an diese Tatsache erinnerte. Niemand erinnerte sich an die Außenwelt. Niemand kümmerte sich darum. Die Stadt war hermetisch abgeschlossen, und das schon seit Jahrtausenden.

Es gab Fenster, aber sie lagen auf den höchsten Ebenen und waren fest verschlossen. Die Einwohner fürchteten die Sonne, denn Gerüchte besagten, daß sie eine Quelle übler Strahlungen sei, ungesund, Ursprung von Seuchen. Es gab Fenster, aber keine Türen, denn niemand wollte hinausgehen. Niemand war mehr fortgegangen seit Errichtung der äußeren Wälle. Wenn die Stadt in diesem Zeitalter noch bauen mußte, dann tat sie es nach unten, grub eine zwanzigste und einundzwanzigste Ebene als Begräbnisstätte für die Toten frei... denn die Toten der Stadt waren Durchreisende in Steinsärgen, die immer damit rechnen mußten, nach weiter unten verlegt zu werden, wenn die Lebenden mehr Raum benötigten.

Früher einmal war es ein Hauptzeitvertreib in der Stadt gewesen, die unteren Ebenen zu bereisen, die bemalten Sarkophage von Vorfahren herauszusuchen, die Ähnlichkeit des lebenden Gesichts mit dem toten zu suchen, die so normal war in dieser seit langem von der Außenwelt abgeschnittenen Stadt. Aber jetzt waren diese Ebenen voller Staub, und nur wenige Leute zeigten noch Interesse, dorthin zu gehen, es sei denn, Begräbnisse fanden statt.

Früher einmal war es ein Vergnügen für die Einwohner der Stadt gewesen, die gewaltigen Bibliotheken und Kunsthallen nach Geschichten zu durchforschen, denn die Stadt lebte weitgehend in der Vergangenheit und feierte alten Ruhm – aber heute wurden die Bibliotheken nicht mehr benutzt, es sei denn für leichteste Unterhaltungskost, und diese war sehr abstrakt und voller drogenerträumter Phantasien.

Mehr und mehr hatten die Einwohner – Erinnerungen.

Zu Anfang waren es wenige, die Sorgen hatten mit Erinnerungen und einer gründlichen Vertrautheit mit den Hallen – wie zu der Zeit, als es nicht ungewöhnlich gewesen war, seine Zeit damit zuzubringen, die Stadt in ihrer gewaltigen Ausdehnung zu bereisen und neue Anblicke in sich aufzunehmen. Diese Visionäre versanken in Langeweile – oder in Angst, als die Erinnerungen sehr lebhaft wurden.

Es war nicht nötig, auf der Suche nach Vorfahren zu den unteren Ebenen zu gehen, denn die Vorfahren lebten – fleischgeworden in den steinernen Hallen der Stadt, in den Personen ihrer Nachkommen, in Seelen, schon so lange eingekerkert innerhalb der Megalopolis, daß sie anfingen, in früheren Zeitaltern zu erwachen, denn waren sie gestorben, wurden sie wiedergeboren, und behielten schließlich dabei ihr Gedächtnis. So scharf waren ihre Erinnerungen, daß jetzt selbst Säuglinge nicht mehr schrien, sondern geduldig träumend in ihren Wiegen lagen, oder erwachend aus gehetzten Augen blickten, aus Jahrtausenden angesammelter Menschenleben heraus in die Augen ihrer Mütter blickten, bewußt und auf das Erwachsenwerden wartend, darauf, daß der Körper die Erinnerung einholte.

Kinder spielten – mannigfache Spiele, entwickelt aus früheren Leben.

Die Leute lebten in einer seltsamen Mischung aus Vorsicht und Sorglosigkeit: Vorsicht, denn sie umgaben sich selbst mit der Gegenwart, kannten die Gefahr von Verwicklungen; Sorglosigkeit, denn die Vergangenheit hörte auf, sie als ein Unbekanntes zu faszinieren, und nichts hatte eine dauerhafte Bedeutung. Nur das Vergnügen blieb und die Zukunft, die die Gewißheit weiterer Leben enthielt und die Erinnerung an die, die sie jetzt lebten. Und für eine lange Zeit weilte der Tod nicht in den Hallen der Stadt der Lichter.

Bis einer unter ihnen geboren wurde.

Nur selten wurden Menschen neu geboren, neue Seelen ohne vorherige Reisen durch die Stadt, Babies, die schrien, Kinder, die im Bewußtsein ihres Gebrechens aufwuchsen, echte Kinder unter zahllosen Wiedergeborenen.

Ein solches Kind war Alain.

Er wurde in einer der größten Familien geboren – diesen Familien auf der Grundlage von Verbindungen, die mehr durch vorherige Leben bestimmt wurden als durch das Blut, denn obwohl es stimmte, daß die Reinkarnation dazu neigte, den Abstammungslinien zu folgen, so war es doch nicht in jedem Fall so; und manchmal kamen Kinder von draußen, außerhalb der Blutlinie, wurden hereingeschwemmt, manche suchten schon mit den ersten unsicheren Schritten eine alte Liebe, alte Bekanntschaften. Aber Alain war neu. Er wurde in der Familie des Jadepalastes geboren, der die zehnte Ebene nahe der Treppe ausfüllte, obwohl er nicht von dieser Familie war oder tatsächlich überhaupt von irgendeiner Familie, und deshalb wuchs er weniger zivilisiert auf.

Er versuchte es. Er war sich seines Mangels an G eschmack schrecklich bewußt, seines Mangels an Unterscheidungsvermögen, den er nicht als Originalität entschuldigen konnte: Originalität war eine Eigenschaft älterer Geister und Erinnerungen. Sein Betragen war einfach unbeholfen, und er blieb überwiegend im Schatten des Jadepalastes, ertrug sein Leben und dachte, daß sein nächstes sicher besser werden würde.

Aber der Jadepalast lag neben dem Onyxpalast, und es war nicht zu vermeiden, daß diese beiden Häuser sich anläßlich von Jahrestagen durcheinandermischten. Diese Zeiten waren eine Qual für Alain in seiner Kindheit, da zu ihnen sein naives und echtes Kindsein Außenseitern offenbart wurde; sie wurden eine Qual anderer Art in seinem vierzehnten Lebensjahr, als sich plötzlich gerade sein neu entstehendes Unterscheidungsvermögen auf ein bestimmtes Gesicht konzentrierte, eine bestimmte blasse Lieblichkeit aus dem Onyxhaus.

»Nichts anderes war zu erwarten«, seufzte seine Mutter. Er hatte sie viele Male in Verlegenheit gebracht, und zaghaft kam er jetzt mit diesem Geständnis zu ihr, daß er in dieser Onyxprinzessin etwas gesehen hatte, was andere innerhalb ihrer eigenen Häuser erblickten; eine Dringlichkeit des Verlangens ergriff von ihm Besitz, die, wie andere behaupteten, nur für alte Bekanntschaften und alte Lieben aus früheren Leben galt. Er war neu, und dies war sein erstes Mal. »Ihr Name?« fragte seine Mutter.

»Ermine«, flüsterte er, die Augen gesenkt, gerichtet auf die Muster des Teppichs, den seine Tante in einem lange zurückliegenden Leben selbst gewebt hatte. »Sie heißt Ermine.«

»Junge«, sagte seine Mutter, »du bist nur ein Tropfen im Kanal ihrer Leben. Vergiß sie!«

Er hörte aufrichtiges Mitgefühl aus der Stimme seiner Mutter heraus, und dergleichen war selten. Du amüsierst mich, war das freundlichste, was sie bislang zu ihm gesagt hatte, ein Kompliment, das die Erwartung zum Ausdruck brachte, er würde noch einmal den Reiz des Neuartigen erlangen. Jetzt trieb ihm ihr freundlicher Ratschlag Tränen in die Augen, aber er schüttelte den Kopf und blickte auf, sah ihr ins Gesicht, was er nur selten tat: sie war sehr alt und klug, und er spürte, wie sie ihn ständig mit der Erinnerung an vergangene Zeiten verglich.

»Vergißt irgend jemand jemals?« fragte er.
»Junge, ich gebe dir einen guten Rat. Natürlich kann ich dich nicht aufhalten. Du wirst tausendmal geboren werden, und sie ebenfalls; und du wirst deine Jugend nie wettmachen können. Aber ein solches Verlangen kommt wieder zum Vorschein, wenn du nicht aufpaßt, in diesem Leben oder dem nächsten, und dann erzeugt es Elend. Schlafe mit vielen; such dir gute Freunde, die in dein nächstes Leben hineingeboren werden können; du kannst nicht wissen, ob du Mann oder Frau sein wirst, oder ob sie bleiben, was sie sind. Such dir viele Freunde, das rate ich dir, so daß es – gleichgültig, ob manche vor dir geboren werden und andere nach dir, welches Geschlecht sie haben oder was sie sein werden – immer einige Menschen gibt, die sich freuen, dich bei sich zu sehen. Auf diese Weise schafft man sich einen Platz für sich selbst. Ich tat es vor Äonen, bevor ich begann, mich an mein Leben zu erinnern. Aber ich vertraue völlig darauf, daß du dich sofort an deines erinnern wirst; so liegen die Dinge jetzt. Und wenn du die Möglichkeit hast, eine intelligente Wahl zu treffen, wie du es in diesen Tagen kannst, dann, Junge, freue dich über einen guten Rat. Achte darauf, daß du dich nicht in deinem allerersten Leben einer zu starken Zuneigung ergibst! Und mach dir andererseits auch keine Feinde! Denk an deinen Onkel Legran und an Pertito, die einander in jedem Leben, in das sie geboren werden, erneut umbringen, in welcher Gestalt sie auch zur Welt kommen. Erzeuge nie ein unumstößliches Muster! Sei klug. Ein zu früh entworfenes Muster könnte alle deine Leben zu Tragödien machen.«

»Ich liebe sie«, sagte er mit der hilflosen Inbrunst seiner allerersten vierzehn Jahre.

»Oh, mein Liebling«, sagte seine Mutter und schüttelte traurig den Kopf. Sie würde ihm gleich von einem ihrer Leben erzählen, wußte er, und er blickte wieder auf den Teppich, dazu verurteilt, es zu ertragen.

Er sah Onyx Ermine in diesem Jahr kein weiteres Mal, auch nicht im nächsten und den beiden darauffolgenden. Seine Mutter handhabte die Angelegenheit sehr feinfühlig und machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Aber in seinem achtzehnten Jahr wurde aus dem Streit zwischen Pertito und Onkel Legran eine Fehde, und seine Mutter starb, während der Streitigkeiten erdolcht.

Sie hatte ihn vor Komplikationen gewarnt. Er stand da am Tag des Begräbnisses und betrachtete ihren Sarg, grämte sich bitter um den Verlust von ihr, die seine beste und freundlichste Ratgeberin gewesen war, grämte sich auch um ihretwillen, weil sie in ein Muster hineingewebt worden war, das zu vermeiden sie ihn gewarnt hatte. Pertito und Legran waren beide anwesend und blickten einander voller Haß an. »Du hast Claudette mit hineingezogen!« hatte Pertito Legran angeschrien, während sie sterbend zwischen ihnen auf dem Teppich gelegen hatte; und die Fehde zwischen den beiden war jetzt bitterer denn je zuvor, denn sie beide hatten Claudette, seine Mutter, geliebt.

Es würde nicht lange dauern, überlegte er innerhalb der Grenzen seiner Erfahrung mit solchen Dingen, bis Pertito und Legran ihr folgten. Er war klug und empfand keinen Haß auf sie, riß sich los von der kleinen Familienversammlung und der größeren Ansammlung von Neugierigen außerhalb des Jadepalastes, denn er hatte mit seinen Leben andere Dinge vor, und er dachte, daß seine Mutter seinem klaren Verstand starken Beifall zollen würde.

Aber während er sich noch von der Versammlung entfernte, sah er dort Ermine bei ihren Verwandten aus dem Haus Onyx stehen.

Und wenn sie schon eine Schönheit gewesen war zu der Zeit, als sie beide vierzehn gewesen waren, dann jetzt umso mehr. Er blieb stehen und starrte sie an, eine Vision in weißer Seide und Perlen aus der Sin, mit bleichem Haar und rosa überhauchter Haut. Es war Ermine, die ihn zurückzog zum Begräbnis seiner Mutter... Claudette, wie er seine Mutter jetzt innerlich nannte, mit ihrem richtigen Namen rief, denn sie hatte aufgehört, seine Mutter zu sein, und wurde vielleicht schon in diesem Moment am anderen Ende der Stadt neu geboren, um ihre Reise zurück zu ihren Angehörigen zu machen. Diese Trauer war nur eine Zeremonie, so etwas wie der Abschied zu einer Reise und der Anlaß zu einer Party. Diese nahm an Ausmaß zu, während sie über die Treppe schritten, vorbei an den brausenden Fluten der Sin, als immer mehr Neugierige auf eigene Faust dazukamen und fragten, wer denn gestorben sei und wie, und die Geschichte wurde erzählt und auf anderen Ebenen wieder erzählt. Aber es waren die Verwandten, die Claudette wirklich gekannt hatten, die das Erzählen besorgten; und Alain blieb aufgrund seines niedrigen Standes schweigsam und war bald schon der ganzen leeren Show leid – seine Augen waren nur noch auf Ermine gerichtet.

Er ging an ihrer Seite, während sie unablässig die lange Treppe hinabschritten, die um den Schacht der Sin herum verlief. »Treffen wir uns später?« fragte er, ohne sie anzuschauen, denn Schüchternheit beherrschte sein junges, unerfahrenes Leben.

Er spürte, wie sie ihn betrachtete; zumindest nahm er eine Bewegung wahr, ein gewisses abschätzendes Schweigen, und Hitze kroch in sein Gesicht. »Ich denke, das könnten wir«, sagte sie, und das Herz hämmerte in seiner Brust.

Erzeuge nie ein unumstößliches Muster! hatte Claudette ihn gewarnt. Und jetzt vor der Grablegung ihres Leichnams schien ihre Stimme weit entfernt und ihr Ratschlag weniger klug als zuvor. Schließlich war sie auf diese Weise gestorben, und er stand im Begriff, sein eigenes Leben zu leben.

Ich werde klug sein, versprach er ihrem Geist. Claudette würde ein Kind seiner Generation sein, ganz sicher... vielleicht sogar... – der Gedanke betäubte ihn – vielleicht sogar sein eigenes mit Ermine. Sie würde sehr willkommen sein, sollte sie sich dazu entschließen. Er würde ihr so viele Dinge erzählen, die er bis dahin gelernt hatte. Seine Heirat mit Ermine würde eine dieser seltenen, ewigen Eheschließungen sein; Ermine würde ihn lieben... – eine derartige Anziehung konnte nicht einseitig sein. Das in ihm aufsteigende Gefühl war seine ganze Welt, und er hielt es für widersinnig, daß Ermine unbewegt bleiben konnte.

Er war jetzt um vier Jahre klüger als damals und erfüllt mit der ganzen Geschichte, die er seitdem durch Lesen und Zuhören in sich hatte aufnehmen können.

Pertito und Legran stritten in seiner Nähe laut miteinander. Er schenkte ihnen keine Beachtung. Sie erreichten die Ebene der Gräber weit unterhalb des Flußbetts der Sin, und mit großer Feierlichkeit – alle liebten sie den Pomp, und sie entfalteten ihn, wann immer sie nur einen Anlaß dafür fanden – legten sie Claudette in ihr Grab. Die Masse war entzückt, als Pertito Legran des Mordes beschuldigte; geriet in Hochstimmung, als das ganze Begräbnis in eine Schlägerei ausartete und der Pertito/Legran-Streit andere mit hineinzog. Die Sache fand einen großartigen Höhepunkt, als Messer gezogen wurden und Onkel Legran und Pertito schworen, Selbstmord zu begehen, um das Unrecht zu sühnen, das Claudette zugefügt worden war. Das war eine hervorragende neue Wendung in dem jahrhundertealten Drama, und die Menge schnappte nach Luft und applaudierte, ungeheuer begeistert durch eine Variation in einer Vendetta, die nun schon dreißig Jahrhunderte dauerte. Die beiden Akteure gingen der Menge auf ihrem Rückmarsch voraus und sprangen dann von der zehnten Ebene in den Schacht der Sin, begleitet vom donnernden Applaus vieler Einwohner der Stadt. Alle waren fröhlich, erwarteten für die nächsten Leben von Pertito und Legran eine Änderung im Verlauf des Dramas. So selten nur war etwas Neues zu erleben, und so sehr mußte man es genießen. Die Seelen von Pertito und Legran würden willkommen sein, wo immer sie sich verkörperten, und eine Orgie würde stattfinden, um der großen Ereignisse dieses Tages zu gedenken, belebt von der kühnen Hoffnung, die Rückkehr von drei der begeisterndsten Teilnehmer an den Zyklen der Stadt zu beschleunigen.

Und Jade Alain sprang ganz schön schnell die lange, lange Treppe rings um die donnernde Flut der Sin hinauf, um sich umzuziehen, seinen besten Festanzug anzuziehen und Onyx Ermine aufzuwarten.

Er schmückte sich mit Zobel und den grünen und weißen Steinen seines Namens, und lächelnd ging er leichten Schrittes zu den Toren des Onyxpalastes.

Dort waren natürlich weder Schlösser noch Wachtposten zu finden. Die Verbrecher der Stadt waren im Verlauf der Jahrhunderte zu Meistern geworden und nicht so ordinär. Er ging völlig frei hinein, wie er früher auch in Begleitung zu den großen Jahrestagen der Häuser gekommen war, fragte ein Onyxkind, wo die Prinzessin Ermine sich aufhalten mochte. Das Kind betrachtete ihn mit klugen Augen von Kopf bis Fuß und führte ihn feierlich durch den Irrgarten der Flure in eine weiße und gelbe Halle, wo Ermine inmitten einer Gruppe junger Freunde saß.

»Na, ist das doch tatsächlich der Jade-Knabe!« stellte sie entzückt fest.

»Es ist Jade Alain«, sagte eine andere gähnend. »Er ist ziemlich neu.«

»Geht weg!« forderte Ermine sie alle auf. Sie gingen, ohne sich dabei groß zu beeilen. Die Gelangweilte blieb stehen und betrachtete ihn von oben bis unten, aber Alain wich ihren Augen aus... blickte erst wieder auf, als er mit Ermine allein war.

»Komm her!« sagte sie. Er trat zu ihr, kniete nieder und drückte ihre Hand.

»Ich bin gekommen«, sagte er, »weil ich um deine Hand anhalten will, Onyx Ermine.«
»Um mit mir zu schlafen?«
»Weil ich um deine Hand anhalten will«, sagte er.

»Um dich zu heiraten.«

Sie lachte leise. »Ich bin nicht gewohnt zu heiraten. Ich habe nur selten geheiratet.«

»Ich liebe dich«, sagte er. »Ich liebe dich schon seit vier Jahren.«

»Mehr nicht?« Ihr Lachen klang süß. Er blickte auf in ihre Augen und wünschte sich, das nicht getan zu haben, angesichts des Alters, das er dort erblickte. »Vier Jahre«, verspottete sie ihn. »Aber wie alt bist du, Jade Alain?«

»Es ist«, sagte er mit schwacher Stimme, »mein erstes Leben. Und ich habe nie eine andere als dich geliebt.«

»Reizend«, sagte sie, beugte sich vor und küßte ihn auf die Lippen, nahm seine beiden Hände und legte sie an ihre Brüste. »Und sollen wir uns heute nachmittag lieben?«

Er willigte ein. Es war ein Delirium, ein Traum, der zum Teil der Wirklichkeit entsprach. Sie führte ihn durch Gänge aus weißem und gelbem Stein und in ein Zimmer mit einem Bett aus Safransatin. Dort liebten sie sich den ganzen Nachmittag hindurch, obwohl er naiv war und sie manchmal über seine Unschuld lachte, obwohl er manchmal versehentlich in ihre Augen blickte und sah, wie alle Zeitalter der Stadt seinen Blick erwiderten. Und endlich schliefen sie erschöpft ein und wachten später wieder auf.

»Komm wieder zurück«, sagte sie, »wenn du erneut geboren wurdest. Wir werden unser Vergnügen darin finden.«

»Ermine!« rief er. »Ermine!«

Aber sie verließ das Bett und schlüpfte die Achseln windend in ihr Kleid, rief nach Dienerinnen und zögerte dort inmitten ihrer Zofen, ein Lachen in den uralten Augen. »Im Onyxpalast, neugeborener Geliebter, sind Menschen wie du nur Diener... wie diese hier selbst nach mehreren Lebenszeiten noch. Welche Dekadenz das Haus Jade doch duldet, wenn sie einen wie dich als Prinzen großziehen! Du hast mich unterhalten und einem denkwürdigen Tag die Krone aufgesetzt. Nun scher dich fort! Ich spüre, wie ich mich allmählich langweile.«

Er war wie betäubt. Er blieb noch eine geraume Weile sitzen, nachdem sie schon in Gesellschaft ihrer Zofen gegangen war, und er war im Herzen verwundet und hatte ein heißes Gesicht. Aber letztlich waren die Wiedergeborenen es gewöhnt, ihn und einander mit äußerster Arroganz anzureden. Er hielt es für einen Test, wie seine Mutter ihn auf die Probe gestellt hatte, als Pertito und Legran ihn als hoffnungslos jung bezeichnet hatten, das allerdings nicht ohne Zuneigung... Er überlegte, während er dort saß, und überlegte noch, nachdem er sich angezogen hatte, um zu gehen... und kam endlich zu dem Schluß, daß er nicht ganz darin versagt hatte, Ermine zu amüsieren. Es war das Neue, woran es ihm mangelte.

Vielleicht gelang es ihm, das durch irgendeine Extravaganz zu erreichen, einen vierten Jadetod – eilig in das nächste Leben hinüberzugehen –, aber dann würde er hinter Onyx Ermine zurückbleiben um die Jahre, die sie weiterlebte, und er würde mehrere Lebenszeiten durchleiden müssen, ehe sie sich an Alter erneut gleichkamen.

Er verzweifelte. Er zog sich wieder an und ging hinaus, um sie in den Hallen zu suchen, fand sie schließlich in der Gesellschaft ihrer Onyxfreunde, und der Raum war von Gelächter erfüllt.

Über ihn.

Es erstarb für einen Moment, als sie ihn dort stehen sah. Ermine streckte die Hand nach ihm aus, obwohl ihre Augen Mißvergnügen zum Ausdruck brachten, und er trat zu ihr, stand zwischen den anderen.

Ein leises Gekicher erhob sich unter den Umstehenden.

»Du hättest ihn zu mir schicken sollen«, sagte eine Frau über das Flüstern der anderen hinweg, und alle lachten.

»Für dich gibt es nichts Neues«, sagte Ermine lachend. Sie lümmelte sich sorglos in ihren Sessel und blickte auf zu Alain. »Geh jetzt wirklich, bevor du noch größeren Schmerz empfindest. Soll ich dich meinem letzten Ehemann vorstellen?« Sie streichelte den Arm der jungen Frau, die ihr am nächsten stand. »Sie war es, aber es ist schon lange her. Und du bist bereits gefährlich gut vorherzusagen. Ich fürchte, ich werde mich langweilen.«

»Oh, wie könnten wir?« lachte die Frau, die ihr Ehemann gewesen war. »Wir werden uns auf Jahre hinaus auf Kosten der Jades amüsieren. Er ist sehr entschlossen. Schau ihn dir bloß an! Das ist ein Bursche, der ein Muster erzeugen kann, nicht wahr? Liebe Ermine, er wird uns allen das Leben schwermachen, bevor er fertig ist; er wird irgendeinen gräßlichen Skandal vom Zaun brechen, und wir werden dann alle sein wie Pertito und Legran und die arme Claudette – oder wie immer sie in Zukunft heißen. Wir werden Zyklus auf Zyklus in diesem Zimmer sitzen und diesen unverschämten Burschen abwimmeln.«

»Wie schrecklich«, sagte jemand gelangweilt. Wieder verbreitete sich Gelächter, und Ermine erhob sich aus ihrem Sessel, umfaßte sein brennendes Gesicht mit beiden Händen und lächelte ihn an. »Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, je ein Geschöpf wie du gewesen zu sein. Für dich besteht keine Hoffnung. Weißt du nicht, daß ich eine der Ältesten von Onyx bin? Du hattest jetzt deine erste Lektion in Erziehung. Scher dich fort!«

»Vier Jahre«, sagte jemand lachend. »Sie wird mich nicht einmal nach dreißig Leben eines Blickes würdigen.«

»Auf Wiedersehen«, sagte sie.
»Was könnte ich tun«, fragte er ruhig, »um dich von der Neuartigkeit zu überzeugen und dich zu überreden, in diesem Leben oder dem nächsten?«

Daraufhin lachte sie wirklich und überlegte einen Moment lang. »Stirb um der Liebe willen für mich! Das hat noch niemand getan.«

»Und willst du mich davor heiraten? Dann findet danach mit Sicherheit kein Handel mehr statt.«

Ein schockiertes Murmeln breitete sich unter ihren Freunden aus, und die Röte verschwand aus den Wangen von Onyx Ermine.

»Er ist völlig verrückt«, meinte jemand.
»Onyx bot eine Wette an«, sagte Alain. »Jade würde nie sagen, was es nicht meint. Soll ich das in Jade erzählen und meine Älteren mit der Geschichte amüsieren?«

»Ich gebe dir vier Jahre«, sagte sie, »da du das für eine sehr lange Zeit hältst.«

»Du wirst mich heiraten.«
»Du wirst nach diesem vierten Jahr den Tod erleiden, und ich werde im nächsten Leben nichts mit dir zu schaffen haben.«

»Nein«, sagte er, »du wirst nichts mit mir zu schaffen haben.«

Niemand lachte mehr. Er hatte etwas Neuartiges zustande gebracht. Die ältere Frau klatschte feierlich in die Hände, und die anderen fielen in den Applaus ein. Ermine neigte den Kopf vor ihnen und vor ihm; Alain verbeugte sich seinerseits vor ihnen allen.

»Richte sie aus!« sagte Ermine.

Es war eine prachtvolle Hochzeit, umso mehr, als Hochzeiten selten waren, und sie fand an den Ufern der Sin statt, der einzige Ort in der Stadt, der die Menge aufnehmen konnte. Alain trug Schwarz mit weißen Steinen; Ermine trug Weiß mit Gold. Es wurde getanzt und gefeiert, und die dunklen Wasser der Sin schimmerten im Licht der Laternen und glitzernden Feuer, dem Licht von Edelsteinen und den leuchtenden Farben der verschiedenen Paläste der Stadt.

Und danach liebten sie sich lange und ausgiebig, während die Zelebranten sich außerhalb der Tore des Jadepalastes bis zur Bewußtlosigkeit betranken und eine Sache feierten, wie sie noch niemand gesehen hatte, einen so bizarren Handel, und sie feierten ihn mit aller Ehre für das Paar, das ihn abgeschlossen hatte.

Während der Tage nach der Hochzeit defilierte die ganze Stadt in den Jadepalast, um ihre Aufwartung zu machen und um das vermählte Paar zu sehen – um der Neuerung, die der jüngste und tragischste Prinz der Stadt eingeführt hatte, höflich Beifall zu spenden. Sie war um so ergreifender, als es sich um eine wirkliche Tragödie handelte. Sie stellte diejenige der Großen Zyklischen in den Schatten. Sie war eines der Kennzeichen dieses Zeitalters, ein nicht kopierbares Ereignis, und niemand wollte es versäumen.

Sogar der Tod kam, fast als letzter Besucher, und das war ein Ereignis, das der ganzen überspannten Angelegenheit die Krone aufsetzte, eine Ankunft, die denen die Sprache verschlug, die in einer Reihe darauf warteten, ihren Respekt zu zollen, und diejenigen mit der bizarrsten und schrecklichsten aller Visionen belohnte, die nun einmal an diesem Tag anwesend waren.

Sie kam von weit her, die vielen Biegungen der Treppe von den untersten Tiefen der Stadt herauf, wo sie ihr einsames Lager dicht bei den Gräbern hatte. Sie kam in schwarzen Gewändern und Schleiern, eine dunkle Stelle in der Reihe. Zuerst erkannte niemand, wer dieser Gast war, aber plötzlich bemerkte es der älteste Besucher und flüsterte es den anderen zu.

Onyx Ermine merkte es, da sie eine der Ältesten war, und erhob sich in plötzlichem Schrecken von ihrem Thron. Alain stand ebenfalls auf und faßte Ermine an der Hand, hatte ein sinkendes Gefühl im Herzen.

Der Gast kam näher, umhüllt von nachtdunklen Gewändern... sie, denn sie war eine Frau, verkündeten die Gerüchte, hatte rechtmäßigen Zutritt bei Jade, war hier geboren – überhaupt nicht geboren, meinten andere, sondern erzeugt von all den Toden, die die Stadt nicht erlitt. Sie trank Seelen und Leben. In grauer Vorzeit war sie wie ein wildes Tier zwischen den Menschen umgegangen und hatte sie gegen ihren Willen gerissen, war in den Schatten aufgetaucht, wo es ihr paßte. Aber schließlich richtete sie sich unten bei den Gräbern ein, denn dort fand sie die, die nach ihr suchten, die Unglücklichen, für die jedes Leben nur noch eine unerträgliche Pein war. Sie war der einzige Tod in der Stadt, von dem es keine Wiedergeburt gab.

Sie war die eine, bei der die Respektlosen schworen, die keinen anderen Schrecken mehr kannten.

»Gehen Sie fort!« sagte der Älteste der Jade zu ihr. »Aber ich bin zu der Hochzeit gekommen«, sagte der Tod. Es war die Stimme einer Frau, die unter den Schleiern erklang. »Habe ich nicht Anteil an diesem Handel? Ich wurde nicht konsultiert, aber soll ich nicht einwilligen?«

»Wir haben gehört«, sagte Onyx Ermine, die schon zu oft gelebt hatte, um für lange Zeit eingeschüchtert zu bleiben, »wir haben gehört, daß Sie nicht wählerisch sind.«

»Ah«, sagte der Tod. »In letzter Zeit wahrlich nicht, so wenige nur haben mich aufgesucht. Aber soll ich den Handel nicht besiegeln?«

Es herrschte Schweigen, das Schweigen der Furcht. Und mit leisem Flüstern ihrer Gewänder trat der Tod vor, streckte die Hände nach Jade Alain aus und beugte sich zu einem Kuß vor.

Alain neigte sich herab und schloß die Augen, denn der Schleier war Gaze, und er hatte nicht den Wunsch, etwas zu sehen. Es war schlimm genug, den Blick der uralten Augen derer mit vielen Leben zu ertragen; die Augen von ihr wollte er nun wirklich überhaupt nicht sehen, sich nicht davon überzeugen, was die Gerüchte besagten, ob dort alle Seelen zu finden waren, die sie je aufgesogen hatte. Die Wärme ihrer Lippen war durch die Gaze hindurch zu spüren, berührte ihn sanft, und ihre Hände waren sanft und freundlich.

Dann ging sie fort. Er spürte, wie Ermine seine Hand ergriff, die kalt war und schweißbedeckt. Er setzte sich wieder auf den Thron der Gegenwartshalle, und Ermine nahm ihren Platz an seiner Seite ein. Ehrfurcht war in den Gesichtern der Umstehenden zu erkennen, aber kein Beifall.

»Sie ist wieder hervorgekommen«, flüsterte jemand. »Und sie hat es schon seit Äonen nicht mehr getan. Aber ich erinnere mich an die alten Tage. Vielleicht geht sie wieder auf die Jagd. Sie ist erwacht und spürt Interesse.«

»Onyx hat das angerichtet«, flüsterte eine andere Stimme. Und in dieser Kälte gingen die letzten der Hochzeitsgäste hinaus.

Die Türen des Jadepalastes wurden geschlossen. »Verriegelt sie!« befahl der Älteste. Es war das erste Mal seit Jahrhunderten.

Und Ermines Hand lag sehr kalt in der Alains. »Madam«, sagte er, »sind Sie zufrieden?«

Sie antwortete nicht und sprach auch später nicht mehr davon.

Die Stadt hatte ihre Zeiten besonderer Ereignisse. Sie wurden gekennzeichnet durch die Jahrestage der Paläste, durch vorzügliche Unterhaltungen, durch Geburten und Tode.

Die Rückkehr Claudettes war ein solches Ereignis, als ein Kind, kaum ein Jahr alt, mit klugen blauen Augen seinen früheren Namen bekanntgab und alte Freunde herbeiströmten, um die Angelegenheit zu feiern.

Die Wiederkehr von Pertito und Legran war ebenfalls ein Ereignis, denn sie erschienen als Zwillingsschwestern in Onyx, und diese Komplikation erregte die ganze Stadt mit wilden Spekulationen, deren Wert sich erst Jahre später erweisen würde.

Die Anwesenheit von Jade Alain bei jeder dieser Gelegenheiten wurde mit einer Schmerzlichkeit zur Kenntnis genommen, die jedes empfindsame Gemüt befriedigte aufgrund der bemerkenswerten Erkenntnis, daß Onyx Ermine, die sich in Schande verbarg, unvermeidlicherweise zu ihnen zurückkehren würde, dieser hervorragendste aller jungen Männer jedoch nicht.

Einer der größten Zyklen und eines der kürzesten Leben bestanden in inniger Beziehung zueinander. Das versprach Wandel.

Und was den Tod anbetraf... – sie mußte nicht auf die Jagd gehen, denn die geringeren Seelen, die die Mode in diesem Drama zu imitieren suchten, strömten in unüblich großer Zahl zu ihrem Lager – manche neugierig und manche aus selbstzerstörerischen Motiven, erstrebten für sich den einen großen Augenblick der Leidenschaft und traurigen Berühmtheit, nachdem tausendmal tausend Jahre es nicht geschafft hatten, ihnen zu Ruhm zu verhelfen.

Sie erreichten natürlich nicht, was sie wollten, denn solche Todesfälle folgten nur einer Mode und begründeten nicht selbst eine; und im Tode mangelte es ihnen genauso an Einfallsreichtum wie im Leben.

Es war das vierte Jahr, worauf die Stadt wartete. Und als es anbrach:
»Drei Viertel sind vorüber«, sagte Onyx Ermine. In der Schmach ihrer Einschließung im Jadepalast war sie noch blasser geworden. Während der Tage vor diesem Hochzeitstag hatte sie alte Freunde von Onyx empfangen, das erste Mal in ihrem ehelichen Leben, daß sie Besucher empfangen hatte. Alain hatte daraufhin einen Wandel in ihrer Liebeskunst festgestellt, daß nämlich, was vorher angenehm gleichgültig gewesen war, jetzt – Leidenschaft gewann. Vielleicht lag es am Anstieg ihrer Stimmung. Auch andere Möglichkeiten einschließlich eines früheren Geliebten kamen in Frage. Alain war zweiundzwanzig und erkannte Dinge jetzt deutlicher als früher.

»Du wirst etwas verlieren«, erinnerte er sie kalt, »ohne Widerruf und ohne Wiederholung. Das sollte dein langes Dasein beleben.«

»Ah«, sagte sie, »sprich nicht davon! Ich bereue diesen Handel. Ich möchte diese schreckliche Sache nicht, ich will sie nicht. Ich möchte nicht, daß du stirbst.«

»Dafür ist es zu spät«, sagte er.
»Ich liebe dich.«

Das überraschte ihn, erzeugte Furchen auf seiner Stirn und fast Wärme in seinem Herzen, aber er konnte nicht mehr aufbringen als Traurigkeit. »Das tust du nicht«, meinte er. »Du liebst das Neue, das ich mitgebracht habe. Du hast noch nie ein lebendes Wesen geliebt, nicht in einem einzigen deiner Leben. Du hättest nie lieben können. So ist das Wesen von Onyx.«

»Nein. Du hast keine Ahnung. Bitte. Jade bedrückt mich. Bitte, wir wollen umziehen und das Jahr in Onyx bei meinen Freunden verbringen. Ich muß sie zurückgewinnen, meine alten Verbindungen wiederherstellen. Sonst werde ich ganz allein sein. Wenn du dir auch nur ein klein wenig aus meinem Glück machst, laß uns heimkehren nach Onyx!«

»Wenn du willst«, sagte er, denn zum erstenmal hatte sie ihm jetzt ihr Herz gezeigt, und er konnte sich vorstellen, daß es sehr furchterregend sein konnte für jemanden, der so lange an einem Ort verkörpert gewesen war, zuviel Zeit getrennt von diesem Ort zu verbringen. Seine eigenen Bindungen waren flüchtig. »Wird es dich zufrieden machen?«

»Ich werde sehr dankbar sein«, sagte sie, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn zärtlich.

Sie gingen noch an diesem Tag, und Onyx empfing sie, eine zurückhaltende und doch festliche Angelegenheit, wie sie für den Zustand von Ermines öffentlicher Ungnade angemessen war... – sie leuchtete aber geradezu vor Leben, als seien alle Schatten entschwunden, die sie in Jade gefürchtet hatte. »Wir wollen uns lieben!« sagte sie. »Oh, sofort!« Und sie lagen den ganzen Nachmittag auf dem Safranbett, eine ausgedehnte und angenehme Zeit.

»Du bist glücklich«, sagte er zu ihr. »Endlich bist du glücklich.«

»Ich liebe dich«, flüsterte sie ihm ins Ohr, als sie sich zum Abendessen ankleideten, sie mit ihrem Weiß und den Perlen und er mit seinem Schwarz und seiner grünen Jade. »Oh, laß uns hierbleiben und nicht an andere Dinge denken.«

»Oder an das Ende des Jahres?« fragte er und fand diesen Gedanken am heutigen Tag unglaublich schwer zu ertragen.

»Sei still!« sagte sie und reichte ihm einen Pokal voll Weißwein.

Sie tranken gemeinsam von den gegenüberliegenden Rändern eines Glases, setzten sich auf das Bett und verbanden das Weintrinken mit Küssen. Alain fühlte sich seltsam taub und legte sich zurück, als er die erste Andeutung von Verrat witterte. Er beobachtete, wie sie das Zimmer durchquerte und die Tür öffnete. Eine Träne entwich seinen Augen, aber es war ebenso eine Träne des Zorns wie des Schmerzes.

»Bringt ihn weg!« flüsterte Onyx Ermine ihren Freunden zu. »Oh, bringt ihn schnell fort und macht dieser Sache ein Ende! Ihr wird es nichts ausmachen, wenn er zu früh kommt.«

»Das Risiko, das wir auf uns nehmen...«
»Wollt ihr lieber, daß sie hierher kommt? Drei Jahre lang habe ich im Schmerz gelebt und sie in jedem Schatten erblickt. Ich kann es nicht länger ertragen. Ich kann es nicht länger ertragen zu berühren, was ich verlieren werde. Bringt ihn auf der Stelle dorthin!«

Er versuchte zu sprechen, aber es gelang ihm nicht. Sie wickelten ihn in die Laken und die Seidendecke und trugen ihn fort, zuerst ein kurzes Stück, dann eine lange Treppe hinunter. Schließlich vernahm er das Donnern des Wasserfalls der Sin und die Echos der unteren Ebenen – hörte gelegentlich in seiner Nähe das Murmeln von Zuschauern, wußte dabei, daß niemand außer Jade sich eingemischt hätte. Sie waren alles bloß Zuschauer. Das war alles, was sie sein wollten, um Komplikationen aus dem Wege zu gehen.

Vielleicht... schaute sogar Jade selbst zu.

Sie legten ihn schließlich an einer Stelle zu Boden, wo Füße trocken durch Staub schlurften, und flohen dann, hinterließen Schweigen und Dunkelheit. Lange blieb er reglos liegen, bis ein Prickeln in seinen Fingern sich in Schmerz verwandelte, der durch all seine Glieder wanderte, bis er sich wieder bewegen konnte. Er regte sich und erhob sich taumelnd auf die Füße, stand frierend in einem bitterkalten Wind, fröstelte in der einsamen Dunkelheit. Vor ihm leuchteten matte Lampen, und zwischen ihnen saß ein Schatten.

»Man hat dich verraten«, sagte der Tod.

Unter der Kälte schlang Alain die Arme um sich und starrte sie an.

»Sie liebt dich nicht«, sagte der Tod. »Weißt du das nicht?«

»Ich wußte es«, sagte Alain. »Aber dann hat es wohl nie jemand getan. Sie haben vergessen, wie es geht.«

Der Tod hob die Hände zu den Schleiern und ließ sie fallen. Sie war schön, von blasser Haut, hatte ebenholzschwarze Haare und einen blutroten Rubinfleck auf der Stirn. Sie streckte die Hände nach ihm aus, während sie sich erhob. Und als sie zu ihm trat, wandte er nicht den Blick ab. »Manche überlegen es sich anders«, sagte sie. »Selbst von denen, die aus eigenem Entschluß herkommen.«

Ihre Augen waren seltsam, und feine Farbschattierungen wechselten ständig darin... die Feuer vielleicht oder auch all die Seelen, die sie aufgesogen hatte, all die Qual. »Ich bringe Frieden«, sagte sie. »Wenn ich nicht existieren würde, gäbe es keinen Ausweg. Und sie alle würden wahnsinnig. Ich bin ihre Wahl. Ich bin eine Möglichkeit. Ich bin der Wandel in den Zyklen.«

Er starrte in die flackernden, allzuviel beherbergenden Augen. »Wie geschieht es?« fragte er und fürchtete dabei doch, es zu erfahren.

Sie umarmte ihn und legte den Kopf an seine Schulter. Er zuckte unter einem kurzen, scharfen Schmerz in seinem Hals zusammen, der rasch verging. Kälte breitete sich in seinen Gliedern aus, ein leichtes Schwindelgefühl, der Liebe ähnlich.

»Kehre zurück!« sagte sie, als sie ihn losließ. »Lauf weg, bis deine Zeit gekommen ist!«

Er taumelte rückwärts, fand die Tür, erkannte verspätet den Sinn ihrer Worte.

»Geh!« sagte sie. »Ich komme zu dir... zu dem Zeitpunkt, über den wir uns geeinigt haben. Ich zumindest halte mein Wort, Jade Alain.«

Und wenn er dann nicht mehr da wäre...
»Jade Alain«, sagte sie, »ich weiß, daß du nach Onyx umgezogen bist. Ich weiß über die meisten Dinge in der Stadt Bescheid. Sage deiner Frau – ich halte meine Versprechungen.«

»Sie fürchtet dich.«
»Sie ist nichts«, sagte der Tod. »Fürchtest du mich?«

Er dachte darüber nach. Die Frage erwischte ihn betäubt. Und trotz all seiner Taubheit ging er wieder zu ihr und blickte in die schrecklichen Augen. Er stellte dadurch seinen Mut auf die Probe. Er stellte ihn noch weitergehend auf die Probe, nahm das Gesicht des Todes zwischen die Hände und erwiderte den Kuß, den sie ihm vor drei Jahren gegeben hatte.

»Ah«, sagte sie, »das war nett.«
»Du bist sehr freundlich«, sagte er. »Es wird mir nichts ausmachen.«

»Armer Jadeprinz. Geh! Geh sofort!«

Er drehte sich um und ging durch die grimmige Tür hinaus ins Licht, dann die Treppe hinauf, ein sehr langer Weg, auf dem ihm nur wenige Passanten begegneten, denn jetzt herrschte in der Stadt das, was als Nacht betrachtet wurde, und er war sehr froh darüber, wenn er an die Schmach dachte, die Onyx ihm zugefügt hatte, und an den Zorn, den er empfand. Diejenigen, welche ihn doch sahen, starrten ihn an, murmelten hinter vorgehaltener Hand und zuckten vor ihm zurück. Desgleichen taten die an den Toren von Onyx, die bleich wurden und sich ihm in den Weg stellten.

Aber die Tore gingen auf, und Ermines zahlreiche Freunde standen dort mit Messern in den Händen.

»Geh fort!« sagten sie.
»So lautete der Handel nicht«, entgegnete er. »Deine Frau ist der Handel«, sagte die älteste Frau.

»Bring Ermine zurück nach Jade! Laß uns in Frieden!«

»Nein!« jammerte Ermine aus der Halle innen; aber sie führten sie zu ihm, und er packte sie an der Hand und zerrte sie zu seinen eigenen Toren. Sie hörte auf zu kämpfen. Sie betraten die prunkvollen Hallen des Jadepalastes, und unter den furchtsamen Blicken seiner eigenen Verwandten zerrte er sie durch das Labyrinth der Korridore zu seinen Gemächern und verschloß hinter ihnen fest die Tür.

Sie war da. Eigentlich bestand keine Möglichkeit für sie, hier zu sein... aber dort stand der Tod in schwarzen Gewändern zwischen den grünen Vorhängen neben dem Bett. Ermine warf sich herum und schrie laut auf, wurde von seinen Armen festgehalten.

»Geh!« sagte der Tod. »Ich habe mit dir noch nichts zu schaffen. Deine Frau und ich haben etwas zu besprechen.«

Er hielt Ermine fest, und sie zitterte und klammerte sich an ihn und begrub ihr Gesicht an seinem Körper. Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »ich kann nicht. Ich kann sie dir nicht geben.«

»Man hat mich beleidigt«, sagte der Tod. »Wie soll ich für diese Kränkung meiner Würde entschädigt werden?«

Er überlegte für einen Moment. Glättete das bleiche Haar Ermines. »Das Jahr, das mir noch bleibt. Was bedeutet es mir? Nimm nicht Ermines Leben! Sie möchte sie sich so gern bewahren.«

»Ist Ermine einverstanden?« fragte der Tod.
»Ja«, schluchzte Ermine, wollte sich dabei aber nicht umdrehen.

Alain seufzte, letztlich doch verwundet, und schob Ermine von sich. Der Tod streckte die Hand aus, und er trat zu ihr und umarmte sie, blickte zurück, als sie die schwarzgewandeten Arme um ihn legte. Ermine kauerte in der Ecke, den Kopf auf den Knien.

»Vetter«, flüsterte der Tod ihm ins Ohr, denn sie stammte aus Jade. Er blickte in die sich wandelnden Augen, und sie berührte mit den Fingern zuerst seinen Mund und dann den ihren; ihr Mund blutete und hinterließ das Blut auf seinen Lippen. »Mein«, sagte sie. »So wie du bist.«

Das war er. Er fühlte sich kalt, hatte Hunger nach dem Leben, ersehnte es sich mehr als je in seiner Jugend.

»Auch ich«, sagte der Tod, »wurde einmal geboren... und werde nie sterben. Ebensowenig wie du.

Noch wirst du je wieder einen Namen haben oder dich darum kümmern.«

»Ermine«, flüsterte er, um den Anblick ihres Gesichtes zurückzugewinnen. Sie sah auf.

Und kreischte und verbarg das Gesicht wieder in den Händen.

»Wenn es zu viele Leben werden«, sagte der Tod, »und du müde wirst, Ermine... wir warten.«

»Wann immer du wünschst«, sagte Alain zu Ermine, legte seine Hand in die warme Hand des Todes und betrat gemeinsam mit ihr die verborgenen Wege.

Pertito schüttelte traurig den Kopf, goß noch mehr Wein ein und streichelte die Wange Legrans, der in diesem Zyklus seine Geliebte war und obendrein Claudettes Schwester. Unterhalb von ihnen, hinter dem Balkon, schwankte eine blasse Gestalt auf den Stufen der zehnten Ebene, wo die Sin ihren schwindelerregenden Fall begann. »Ich wette, sie steht wieder auf dem Rand«, sagte er. »Arme Ermine. Tausende von Jahren, und keine Phantasie ist ihr geblieben. Nie mehr als zweiundzwanzig Jahre. Sobald sie dieses Alter erreicht... weg ist sie.«

»Diesmal nicht«, meinte Legran.
»Ah. Schau! Sie steht auf dem Rand.«

Legran machte einen langen Hals, um es zu sehen, blieb aber ruhig. »Eine Wette?«

»Hat sie deinem Bruder diesmal vielleicht etwas ins Ohr geflüstert? Vertraulichkeiten zwischen Verliebten?«

Legran seufzte und lächelte genüßlich, ließ sich faul wieder zurücksinken. Sie nippte an ihrer Tasse, und ihre rauchfarbenen Augen tanzten über deren Rand. Eine Menge versammelte sich bereits, um den bevorstehenden Sprung zu beobachten.

»Weißt du etwas?« wollte Pertito wissen.
»Ah, wie tragisch für meinen Bruder, sich in Ermine zu verlieben. Drei Lebenszeiten hintereinander konnte er sie jetzt nicht halten... Wollen wir darauf wetten, Liebster?«

Pertito zögerte. Einhundert Leben ohne Abwechslung. Es war eine kleine Menge, die dem Selbstmord gleichgültig entgegensah und von Ermine nichts Neues erwartete.

»Diesmal«, sagte Legran, und ihre Augen tanzten noch munterer, »gibt es einen Rivalen.«

»Einen zweiten Geliebten?«

Die weiße Gestalt balancierte gefühlvoll auf der obersten Stufe des Schachtes. Seufzer waren zu hören, höflicher Applaus breitete sich aus.

»Ein sehr alter«, sagte Legran. »Seit einigen Monaten schon. Ah. Da geht sie hin.«

Die Menge schnappte nach Luft und schwieg benommen.

An den Fällen vorbei diesmal, immer weiter die Treppe hinunter, ein Schimmer von Weiß und von Perlen.