Der Spukturm

(LONDON)

 

Geister hausten im alten London, dem Teil Londons, der außerhalb der Wälle am Ufer des Flusses lag, oder zumindest glaubten die Stadtleute außerhalb der Wälle an sie: überwiegend wurden die Gespenster den Randbereichen der Stadt zugeordnet, und die Ungläubigen innerhalb der Wälle beharrten darauf, daß sie Ausgeburten vom Sonnenstich geplagter Gehirne waren, von Sinnen, getäuscht durch die Strahlungen der sterbenden Sonne und die Nebel, die sich üblicherweise nahe der Themse zusammenballten. Gespenster waren gewiß aus der Mode für eine Stadtverwaltung, die sich auf ihre Technik etwas einbildete, die den größten Teil von sich selbst auf einen wohlgeordneten Würfel beschränkte (geometrisch perfekt, abgesehen von dem zentralen Bogengang, der der Themse den Durchfluß gestattete), in dem die meisten Einwohner ein präzise geordnetes Leben führten. London besaß seinen eigenen Raumflughafen, unterhielt Büros bedeutender außerplanetarer Gesellschaften und gedieh durch den Handel. Es bezeichnete andere Städte in seiner Nähe als heruntergekommen und degeneriert und nahm für sich selbst in Anspruch, ausgezeichnet und aufgeklärt regiert zu werden. Seit der Restauration und der Einführung des Neuen Bürgermeisteramtes herrschte die Vernunft in London und wurden Traditionen nur insoweit gepflegt, als sie zur Behaglichkeit der Stadt beitrugen und derjenigen, die sie regierten. Wenn die Regierten in der Stadt an Gespenster glaubten und an andere nicht greifbare Dinge, dann war das nur recht: das Vertrauen auf die Astrologie und auf das Glück und auf ektoplasmatische Äußerungen machten es weniger wahrscheinlich, daß die Regierten danach trachten würden, die Taten der Herrschenden weiter oben auf dem Treppchen zu analysieren.

Es gab einige Einzelpersonen, die das Wesen der Dinge analysierten und zu gewissen Schlüssen kamen und Versuche starteten, an die Macht zu kommen.

Für sie war der Tower bestimmt, ein zweiter Würfel, der ein Stück weit flußabwärts lag, der uralte Fundamente besaß und uralte Traditionen. Er wurde genutzt aufgrund einer Inspiration des Neuen Bürgermeisteramtes, das seine historischen Unterlagen studiert und darin eine Möglichkeit gefunden hatte, sich unerwünschte Meinungen vom Hals zu schaffen. Die Stadt war unabhängig. Der Tower ebenfalls. Was im Tower verschwand, tauchte nur selten wieder daraus auf... und zwischen Tower und Stadt lag der Fluß, ein geheimer, unantastbarer Highway für die Verdammten, so daß es auch keine unpassende Publizität gab.

Normalerweise handelte es sich bei den Passagieren um die gestürzten Mächtigen, die sich durch dieses schreckliche, am Fluß gelegene Tor der Stadt London hinaus auf den Weg machten.

Bei dieser Gelegenheit kam eine Bettine Maunfry die Treppe hinab zu dem rostigen Eisenboot und den Wassern der alten Themse. Ihr Gepäck (drei große Schachteln) wurde von den Polizisten mitgebracht, und obwohl die Polizisten grimmig waren, beschimpften sie sie nicht, dachten an die Persönlichkeit, die sie gewesen war und vielleicht wieder sein würde, wenn die unsichtbaren Sterne ihr wohlgesonnen waren.

Sie bestieg das Boot in einem Schockzustand, setzte sich mit im Schoß verschränkten Händen und starrte auf irgend etwas anderes als die Polizisten, die ihr Gepäck an Bord brachten und dann die Tür der Kabine schlossen. Dieser Teil der Stadt war ein über das Wasser geschwungener Bogen, ein finsterer Tunnel, beleuchtet von Lampen, die bei weitem unzureichend wirkten; und Bettine Maunfry schluckte und klammerte die Hände noch fester ineinander, als die Motoren ihren Weg flußabwärts zu tuckern begannen, auf das Tageslicht zu, das am Ende des Tunnels zu sehen war.

Sie fuhren schließlich in das matte Licht der Sonne hinaus, wo Farben sich in Bernstein- und Orangetönungen auf den schmutzigen Kabinenfenstern ausbreiteten. Die antiken Ruinen des alten London tauchten entlang der Ufer auf, in den Himmel stoßende Monolithen und Säulen und Teile zerstörter Fassaden, die sich nie jemand anschauen mußte außer denen, die draußen geboren waren – wie auch sie einmal, was sie zu vergessen versucht hatte.

Nach nicht sehr langer Zeit trat eine glatte moderne Wand am linken Ufer ins Blickfeld, die Wand des Tower, und das Boot knirschte und schlug an die Landestelle.

Jetzt mußte sie wieder hinaus, und da sie verängstigt war und schwankte, streckte sie die Hand aus, damit die Polizisten ihr über die schmale Rampe ans Ufer und zum offenen Tor in dieser Wand halfen. Sie halfen ihr auch und übergaben sie an die Wärter, die sie ins Innere führten; dort stand sie auf Steinen, die zum Altertümlichsten im ganzen alten London gehörten, und die Stahltore, in keiner Weise altertümlich und sehr solide, gähnten und zischten und schnitten und schlossen sich mit bedrohlicher Autorität. Der Chefaufseher, ein grauhaariger Mann, führte sie am Torhäuschen vorbei in das Innere des Towers, der zu ihrer Überraschung sich nicht als Bauwerk erwies, sondern als Mauer, die zahlreiche Gebäude umschloß, von denen viele aus zerbröckelnden Ziegelsteinen bestanden und außerordentlich alt aussahen. Wärter folgten mit ihrem Gepäck, während sie über diesen seltsamen und öden Hof zwischen zerfallenden Gebäuden ging.

»Was sind das für Steine?« fragte sie den älteren Mann, der sie führte, der korrekt war und militärisch schlank. »Woraus sind sie?«

Aber er wollte ihr nicht antworten, wie überhaupt keiner mit ihr sprach. Sie führten sie zu den Stufen eines modernen Turms, der auf alten Steinen errichtet war, so daß sie einen Teil seiner Struktur bildeten, alte Ziegelsteine mit schimmerndem Stahl. Der ältere Mann führte sie durch den Eingang und die Treppe hinauf, während die anderen folgten. Es war ein langer Anstieg, und es gab keinen Aufzug, nichts von der Art; die Lampen waren alle abgeschirmt und die Türen, an denen sie vorbeikamen, alle ohne Klinken.

Dritter Stock; der Chefaufseher winkte sie durch eine Tür unmittelbar oben an der Treppe, und diese Tür führte in einen Gang, der an einer geschlossenen Tür endete. Sie sah zu, wie die Wächter ihr Gepäck an ihr vorbei in diesen kurzen Korridor stießen, und als sie selbst sich nicht bewegte, packte sie der Chefaufseher am Arm und schob sie durch den Bogengang, blieb selbst aber draußen. »Warten Sie!« schrie sie. »Warten Sie!« Aber niemand wartete und niemand kümmerte sich darum. Die Tür ging zu. Sie weinte, schlug mit den Fäusten gegen die geschlossene Tür, trat auch dagegen und tat es sicherheitshalber gleich noch einmal, versuchte es dann schließlich mit der Tür am anderen Ende des Gangs, drückte den einzigen Türgriff, den sie hatte und der ihr den Weg in ein funktionell eingerichtetes Ein-Raum-Apartment freigab, teilweise aus Ziegelstein und teilweise aus Stahl, mit einem Bett, das nicht bequem aussah und nur eine dünne Matratze besaß. Das Bad war wenigstens von dem einen Raum abgetrennt, ein Fenster gab es, eine Wandkonsole; auf der Stelle drückte sie panisch auf die Knöpfe darauf, aber sie blieb tot, völlig tot. Tränen strömten ihr übers Gesicht, und sie wischte sie mit dem Handrücken weg und schniefte, denn es war ja auch niemand da, der dieses erbärmliche Verhalten hätte sehen können.

Daraufhin trat sie ans Fenster und blickte hinaus, sah den Hof und die Wärter, die sie gebracht hatten, wie sie jetzt wieder zu den Toren gingen; und die Tore öffneten sich zum Fluß hin und schlossen sich wieder.

Furcht überfiel sie, der Schrecken, daß sie vielleicht allein war an diesem Ort und die Steine und die Maschinen möglicherweise alles, was es hier gab. Sie rannte zur Konsole und drückte auf die Knöpfe und flehte, aber es erfolgte keine Reaktion; dann hatte sie Angst, daß die Apartmenttür vielleicht von selbst zuginge. Sie eilte hinaus in den kurzen Gang und zerrte ihre drei Schachteln ins Zimmer, setzte sich auf die dünne Matratze und weinte.

Der Vorrat an Tränen erschöpfte sich mit der Zeit; sie hatte sehr viel geweint, und es hatte nicht geholfen, und so saß sie da mit den Händen im Schoß und hoffte ernsthaft, daß Bildschirm und Telephon zum Leben erwachten und es Richard sein würde, Seine Ehren Richard Collier, der Bürgermeister, um ihr zu sagen, daß er ihr nun genug Angst eingejagt hatte, und das hatte er wirklich.

Der Bildschirm blieb jedoch dunkel. Schließlich schniefte sie wieder und wischte sich die Augen und erkannte, daß sie zumindest – zumindest eine kurze Weile doch bleiben würde. Sie holte ihre Kleider aus den Schachteln und hängte sie auf; breitete ihre Magazine und Bücher aus, ihr Strickzeug und ihre Näharbeit, den Schmuck und die Kosmetiksachen und all die Dinge, die sie eingepackt hatte... Wenigstens hatten sie sie packen lassen. Sie ging ins Bad und setzte sich und frischte ihr Makeup auf, malte sich ein völlig unbekümmertes Gesicht auf und fand in dieser profanen Handlung ein wenig Trost.

Sie war nicht die Art von Person, die normalerweise in den Tower gesteckt wurde; sie war nur ein Mädchen (wenn auch dreißig), die Geliebte des Bürgermeisters. Sie war die einfache Bettine Maunfry. Die Ehefrau Seiner Ehren wußte von ihr und hatte nichts dagegen; es konnte einfach nicht sein, daß Marge sich gegen sie gewandt hatte; sie war nicht die erste Geliebte Seiner Ehren und nicht einmal zur Zeit seine einzige. Richard war eifersüchtig, sonst nichts, zornig, weil er herausgefunden hatte, daß es noch jemand gegeben hatte, und er besaß Macht und benutzte sie, um ihr Angst zu machen. So mußte es sein. Richard hatte noch andere Geliebte und eine Ehefrau und besaß keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Aber er war es, und obendrein war er nachtragend. Und weil er ein wichtiger Mann war und sie niemand, hatte sie jetzt mehr Angst als je zuvor in ihrem Leben.

Der Tower war für die gefährlichen Kriminellen da. Aber Richard hatte das tun, sich das erlauben können, wovon sie nie zu träumen gewagt hätte; es war ein allzu grausamer Scherz. Er verfügte über enorme Macht, und die Richter taten, was er wollte; oder er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ein Gericht einzuschalten.

Wieder rollten die Tränen, und sie schniefte und starrte ohne zu blinzeln auf ihr Spiegelbild, bis die Tränen versiegten. Ihr Gesicht war ihre Abwehrmauer, ihre Schönheit ihr Schutz. Sie hatte sich stets darauf verstanden, anderen zu gefallen. Ihr ganzes Leben hatte sie daran gearbeitet. Sie hatte gelernt, daß darin Macht lag, von den Tagen an, als sie ein kleines Mädchen gewesen war; daß sie es anderen gestatten mußte, die Dinge zu kontrollieren, aber sie mit ihnen spielen und sie dazu bringen konnte, die meisten Dinge zu tun, die sie wollte. Ich mag Menschen, waren die Worte, in die sie das kleidete, in einem Dutzend Varianten, von denen alle besagten, daß, sosehr sie technische Dinge haßte, sie alles über die verschiedenen Arten von Persönlichkeiten herausfinden wollte; es hörte sich altruistisch an und gab ihr auch Macht von der Art, die sie wollte. Die meiste Zeit hatte sie sogar an den Altruismus geglaubt... – bis zu diesem Vorfall, diesem schrecklich grausamen Scherz. Diesmal hatte es nicht funktioniert, und nichts davon hätte geschehen sollen.

Es würde weiterhin funktionieren, wenn sie wieder Richard von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen konnte, Richard, und nicht Richard dem Oberbürgermeister. Sie probierte ein absichtliches, gewinnendes Lächeln vor dem Spiegel, zeigte ihre perfekten Zähne und eine berückende kleine Drehung der Schultern.

Daunenweiche Wimpern, die blaue Augen umrahmten, ein Mund, der schmollen und zittern und Emotionen reflektieren konnte wie der Atem des Windes auf einer Wasserfläche, so zart, so willig reagierend, daß ein Mann wie Seine Ehren sich mächtig vorkam... das war alles schön und gut; sie wußte, wie man das machte. Er liebte sie – in seiner besitzergreifenden Weise; er hatte das nie gesagt, aber sie nährte seine mittelalterliche Eitelkeit, und diese war es, die verletzt worden war. Das mußte es sein; sie hatte ihn wohl stärker verletzt, als sie geglaubt hatte, und darauf hatte er das getan, um ihr zu zeigen, wie mächtig er war.

Aber er würde kommen müssen und dann sehen, wie sie zur Einsicht gekommen war, und dann würde er bedauern, was er getan hatte, und sie würden sich versöhnen, und Bettine konnte sicher wieder in die Stadt zurückkehren.

Er würde kommen.

Sie zog sich um, legte ihr Straßenkleid an, das einen sehr tiefen Ausschnitt hatte, ging zurück ins Bad und kämmte die Fülle ihres dunklen Haares so, daß es vollkommen zu dem Rubinkleid mit dem tiefen Ausschnitt paßte und dem klein bißchen rubinroten Glitzerstaub, blasser als der blutrote Stoff... Ein Geschenk von ihm. Er würde sich an jenen Abend erinnern, wenn er sah, wie sie es trug.

Sie wartete. Die Stille hier war tief, so furchtbar tief. Irgendwo in diesem großen Gebäude mußte es irgend jemanden geben. Draußen vor dem Fenster war es Nacht geworden, und sie blickte hinaus und konnte es nicht ertragen, tat es kein zweites Mal, denn dort war nur Schwärze, die sie daran erinnerte, daß sie allein war. Sie wünschte sich, einen Vorhang davorziehen zu können; sie hätte irgend etwas vor das Fenster hängen können, aber das Zimmer hätte dann schäbig ausgesehen, wo doch die Schönheit ihr Leben war. Ihr Überleben. Sie setzte sich auf den Stuhl und schaltete das Licht ein und las ihre Magazine, Artikel über Schönheit und darüber, wie man begehrenswert wurde, was jetzt, obwohl es sie früher bloß unterhalten hatte, erschlagend wichtig geworden war.

Ihr Horoskop war gut. Es besagte, daß sie Glück in der Liebe haben würde. Sie versuchte, das als hoffnungsvolles Zeichen zu verstehen. Sie war ein Fisch. Richard hatte ihr diesen reizenden Talisman gegeben, den sie um den Hals trug; die Augen des Fisches waren echte Diamanten. Richard lachte über ihre Horoskope, aber sie wußte, daß sie zutrafen.

Diesmal mußten sie es tun. Meine kleine Auswärtige, nannte er sie, denn wie die meisten derer, die an Horoskope glaubten, stammte sie von draußen. Aber sie hatte ihre Herkunft überwunden. Sie war ein schönes Kind gewesen, und weil ihr Vater in der Stadt gearbeitet hatte, hatte sie sich Bildung angeeignet – war absolut gebildet in all den Dingen, die für ein Mädchen angemessen waren, nicht in ernsten oder gelehrsamen Dingen, nichts, was wirklichen Sachverstand erforderte, außer den Umgang mit Menschen, denn sie wußte, daß es einfach überhaupt nicht klug war für ein Mädchen, zu offensichtlich gescheit zu sein... Bescheidenheit brachte ein Mädchen viel weiter... sie und das Glück, schön zu sein, das es ihr ermöglichte, hübsch zu weinen. Ihre kindischen Wutanfälle hatten raschen Trost gefunden, während ihre Brüder jeweils einen Klaps bekommen hatten, und bei jener Gelegenheit hatte sie zum erstenmal von dieser Art Macht erfahren, die sie stets besaß. Es war eben Glück, und das lag in den Sternen. Und ihre Magazine sagten ihr, wie sie sogar noch gefälliger und angenehmer sein konnte und daß sie Erfolg hatte in dem, was sie zu tun glaubte. Daß es funktionierte, erwies sich von selbst; ein Mädchen wie sie, das von draußen stammte, eine Empfangsdame im Büro Seiner Ehren des Bürgermeisters, und von ihm in einem Stil gehalten, den sich die Menschen draußen nicht vorstellen konnten...

Nur besaß diese Angelegenheit eben auch ihre Schattenseiten, und daß sie hier war, war eine davon, die sie nie erwogen hatte...

Irgendwo unten ging eine Tür auf. Ihr Herz machte einen Satz. Sie wollte schon aufspringen und überlegte sich dann, daß es besser war, beiläufig zu wirken, dann wieder, ob es vielleicht nicht doch besser sei, ängstlich und besorgt zu wirken, dem Grund angemessen, aus dem Richard sie hierher geschickt hatte. Vielleicht sollte sie weinen. Vielleicht war es Richard. Es mußte Richard sein.

Sie legte das Magazin weg und rang die Hände, dieses eine Mal in ihrem Leben nicht wissend, was sie mit ihnen machen sollte, aber selbst das war eine hübsche Geste, und sie wußte es.

Die Tür ging auf. Es war der militärische Aufseher mit dem Abendessen.

»Ich kann nichts essen«, sagte sie. Im Augenblick schien starke Niedergeschlagenheit der Trick der Wahl zu sein. Sie wandte das Gesicht ab, aber er kam herein und stellte das Essen auf den Tisch.

»Das ist Ihr Problem«, sagte er und machte Anstalten zu gehen.

»Warten Sie!« Er blieb stehen, und sie warf ihm ihren besten flehenden Blick zu... ein älterer Mann und der Typ, dem durch Schönheit sehr stark geschmeichelt werden konnte... geschmeichelt dann, wenn sie wunderbar wirkte, und sie legte ein entsprechendes Gehabe an den Tag. »Bitte. Ist irgendeine Nachricht... von Richard gekommen?«

»Nein«, sagte er bestürzend unzugänglich. »Rechnen Sie auch nicht mit einer.«

»Bitte. Bitte sagen Sie ihm, daß ich mit ihm sprechen möchte!«

»Wenn er danach fragt.«
»Bitte! Mein Telephon funktioniert nicht.«
»Soll es auch nicht. Bei keinem Gefangenen funktioniert es. Nur bei denen mit Privilegien. Sie haben keine.«

»Sagen Sie ihm, daß ich mit ihm sprechen möchte. Sagen Sie es ihm. Die Nachricht ist für ihn. Wird nicht er entscheiden, ob er sie hören will?«

Das traf. Sie erkannte am Mund die Unentschiedenheit. Der Mann schloß die Tür; sie hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Sie verschränkte die Hände fest ineinander, als sie feststellte, daß sie zitterten.

Und sie ignorierte das Essen, holte wieder ihre Zeitschriften hervor und versuchte zu lesen, aber es beschäftigte ihren Verstand kaum. Sie wagte nicht, sich auf das Bett zu setzen und die Knie hochzuziehen und zu lesen; oder sich hinzusetzen und zu essen; beides wäre zu formlos gewesen, zu reizlos. Sie wollte sich schon mit der Hand durchs Haar fahren, aber damit hätte sie es in Unordnung gebracht. Sie ging hin und her und verzehrte sich dabei, kam schließlich zu dem Entschluß, daß sie ihr Negligé anlegen konnte, und wenn Seine Ehren zu ihr hereinkäme und sie darin sähe, umso besser.

Sie holte nicht das helle, orangefarbene hervor, sondern das weiße, mit Spitzen besetzte, nur da und dort durchsichtig, unschuldig. Unschuld schien im Moment sehr kostbar. Sie ging ins Bad zum Spiegel, wischte sich den Lippenstift ab und wusch sich das Gesicht und machte alles noch einmal von neuem, mit weichem Rosa und rosigen Tönungen; danach fühlte sie sich tapferer. Aber als sie wieder hinausging, um sich aufs Bett zu setzen, war da dieses schwarze Fenster, leer und kalt und ohne irgendeinen Vorhang, den man vor die Nacht ziehen konnte. Es war sehr einsam, an diesem Ort zu schlafen. Sie ertrug es nicht, allein zu sein.

Und sie hatte so manche Nacht allein geschlafen, bis Tom in ihr Leben getreten war. Tom Ash war ein Angestellter im Büro des Bürgermeisters, in dem Amtszimmer direkt neben ihrem. Und er war süß und nett – schließlich war sie schön und immer noch jung, erst dreißig, und sieben Jahre hatte sie Richard geschenkt, der nicht schön war, wenn auch attraktiv in der Art der älteren und mächtigen Männer; aber Tom war... Tom war stattlich und ein guter Liebhaber und besaß all die Eigenschaften, die ihr zustanden, wenn man den Liebesgeschichten glaubte, und überdies liebte er sie. Das hatte er gesagt.

Richard wußte nichts von ihm. Argwöhnte es nur. Tom war zur Tür hinausgeeilt, bevor Richard eintraf, und es bestand überhaupt keine Möglichkeit, daß Richard wußte, wer er war; um genauer zu sein: Richard hatte gefragt, wer es war.

Und wenn Richard die Macht hatte, sie entgegen allen Gesetzen hier einzusperren, dann hatte er auch die Macht, Tom hierher zu bringen, und vielleicht noch schlimmere Dinge zu tun.

Sie würde es Richard nicht beichten, das war alles. Sie wollte es nicht beichten, oder sie würde ihm einfach einen anderen Namen nennen und es Richard überlassen, sich alles auszurechnen.

Richard hatte keinen Beweis für irgend etwas.

Und abgesehen davon war sie nicht sein Eigentum. Nur gefielen ihr einfach die schönen Sachen und hübschen Kleider und die nette Wohnung – all die Dinge, die Tom ihr nie geben konnte. Selbst ihren Schmuck... Richard konnte einen Weg finden, ihn ihr wieder wegzunehmen. Konnte sie auf die schwarze Liste setzen, so daß sie nie wieder eine Stelle fand, sie im Exil außerhalb der Wälle enden würde.

Sie las gerade eine Liebesgeschichte über eine Frau, die in ein ähnliches romantisches Dreiecksverhältnis geraten war, und diese Geschichte ähnelte ihrer Situation nur allzu sehr. Sie hatte fast Angst davor herauszufinden, wie sie endete. Leichter Lesestoff. Sie hatte stets leichten Lesestoff gemocht, der von wirklichen, engagierten Menschen handelte, aber auf einmal war er zu dramatisch und bezog sie mit ein.

Aber die Geschichte mußte ein glückliches Ende haben; alle derartigen Geschichten hatten eines, was der Grund war, warum sie sie immer wieder las; sie gewann daraus die Gewißheit, daß es auch für sie ein glückliches Ende gab, und daß schöne Frauen auch weiterhin klug sein und ein glückliches Geschick haben konnten.

Wer um alles in der Welt wollte eigentlich eine Tragödie?

Das Lesen machte sie müde, da sie auch schon mehrfach den Faden verloren hatte, und sie rückte die Kissen zurecht und legte sich in eine so dekorative Position, wie es nur ging, drückte auf den Lichtschalter am Kopfende des Bettes und schloß die Augen.

Sie schlief tatsächlich eine Zeitlang, war erschöpfter, als sie es je gekannt hatte, und kam mit dem bestimmten Eindruck wieder zu sich, daß jemand in ihrer Nähe geflüstert hatte, zwei Personen sogar, mit sehr hellen Stimmen.

Kinder – um alles in der Welt – Kinder im Tower? Sie öffnete die Augen und starrte in Kerzenlicht, erblickte zu ihrer Verwunderung zwei kleine Jungen an der Ziegelsteinwand, bekleidet mit rotem und blauem Brokat, mit bleichen Gesichtern, zerzaustem Haar und wunderbar hellen Augen.

»Oh«, sagte einer, »sie ist wach.«
»Wer seid ihr?« wollte sie wissen.
»Sie ist schön«, sagte der andere. »Ich frage mich, ob sie auch nett ist.«

Sie setzte sich kerzengerade auf, und die beiden Jungen hielten sich gegenseitig fest, als seien sie von ihr erschreckt worden... – sie konnten kaum älter als zwölf sein –, und starrten sie mit geweiteten Augen an.

»Wer seid ihr?« fragte Bettine.
»Ich bin Edward«, sagte der eine; »Ich bin Richard«, der andere.

»Und wie seid ihr hier hereingekommen?« Edward ließ Richards Arm los und deutete vage nach unten. »Wir leben hier«, sagte er, und ein Teil seiner Hand schien mitten durch die Wand zu gehen.

Da erkannte sie, wer sie sein mußten, wenn sie nicht Geschöpfe eines Traums waren, und das Haar auf ihrem Nacken stellte sich auf, und sie zog die Decke hoch, um sich zuzudecken, denn das Kleid verhüllte sie kaum, und es waren tatsächlich Kinder. Es waren reizende Kinder mit ziemlich klugen Augen, angetan mit Erwachsenenkleidern, die alt und verstaubt aussahen.

»Wie bist du hergekommen?« fragte Richard wie ein Echo zu ihrer Frage. »Wer hat dich hergeschickt? Bist du eine Königin?«

»Richard Collier, der Oberbürgermeister.«
»Ah«, sagte Edward. »Auch uns hat ein Richard hierhergeschickt. Er soll uns beide ermordet haben, aber das hat er nicht, weißt du.«

Sie schüttelte den Kopf. Sie wußte es nicht. Sie hatte sich nie für Geschichte interessiert. Weiterhin hielt sie sich an der Idee fest, daß die beiden Kinder ein Traum waren, irgendeine alte Schulstunde, die aus ihrem Unterbewußtsein hervortrat, denn obwohl sie an Geister und Horoskope glaubte, drehte sich ihr Verstand noch unter dem Einfluß der vorangegangenen Schocks.

»Wir kommen immer als erste«, sagte Edward. »Ich bin ein König, weißt du.«

»Als erste? Wer seid ihr? Was macht ihr hier?«

»Na, so ziemlich dasselbe wie alle anderen auch«, erwiderte der junge Edward lachend, und seine Augen wirkten, obwohl sein Gesicht das eines Kindes war, jetzt furchterregend alt. »Wir leben hier, das ist alles. Wie heißt du?«

»Bettine.«
»Bettine? Was für ein seltsamer Name. Aber heutzutage sind die meisten seltsam. Und letztlich sind es so wenige, die hierherkommen. Glaubst du, er läßt dich wieder gehen?«

»Natürlich wird er das tun.«
»Nur sehr wenige gehen jemals wieder von hier weg. Und in letzter Zeit – niemand mehr.«

»Ihr seid tot!« schrie sie. »Geht weg! Geht weg!« 

»Wir sind schon länger tot, als wir gelebt haben«, sagte Richard.

»Länger als dieses London steht«, sagte Edward. »Mein London hat mir besser gefallen. Es war heller. Ich werde es immer vorziehen. Spielst du Karten?«

Sie saß nur da und zitterte, und Richard zupfte Edward am Ärmel.

»Ich denke, wir sollten gehen«, sagte er. »Ich denke, sie fängt an, sich zu fürchten.«

»Sie ist sehr hübsch«, meinte Edward. »Aber ich glaube nicht, daß es ihr etwas nützen wird.«

»Das tut es nie«, sagte Richard.
»Ich gehe als erster«, sagte Edward, »da ich König bin.«

Und er verschwand mitten durch die Wand; und Richard folgte ihm; und das Kerzenlicht ging aus und ließ Dunkelheit zurück.

Bettine saß reglos da, die Bettücher um sich gewickelt, streckte schließlich die Hand nach dem Lichtschalter aus, fiebrig, wahnsinnig, und blinzelte in dem grellen weißen Schein, der nichts offenbarte, was nicht stimmte, überhaupt nichts. Aber eine tödliche Kälte hing in der Luft.

Sie hatte geträumt. Dieser seltsame alte Ort erzeugte Alpträume in ihr. Das mußte es sein. Tränen strömten ihr aus den Augen. Sie zitterte und stand schließlich auf und stocherte in ihrem kalten Abendessen, weil sie sich von der Einsamkeit ablenken wollte. Sie wollte nicht zu dem Fenster über dem Tisch aufblicken, nicht, solange draußen die Nacht herrschte.

Am nächsten Morgen würde sie Schatten unter den Augen haben und nicht schön sein, aber schön mußte sie sein. Schließlich raffte sie ihren Mut zusammen und legte sich wieder ins Bett, lag dort in ihren Bademantel gewickelt und zitterte bei voller Beleuchtung, die sie auf keinen Fall löschen wollte.

Am nächsten Morgen probierte sie das Telephon wieder aus, und es weigerte sich immer noch, zu funktionieren. Sie fand, daß mit dem durch das Fenster einfallenden Tageslicht alles klarer schien, und der Raum wirkte sogar wärmer dadurch. Sie badete und wusch sich das Haar und trocknete es, bürstete es dabei sorgfältig durch. Es hatte natürliche Locken, und sie arrangierte es zu Ringellocken und machte mehrere Versuche, es um ihr Gesicht zu ordnen.

Plötzlich ging die Tür zu dem kurzen Flur, die offen stand, zu; sie sprang auf und blickte sie bestürzt an, hörte im unteren Stockwerk Schritte und fuhr in Panik herum, zog sich schließlich ein Kleid über und vermasselte sich dabei die Frisur, und während sie hörte, wie Schritte die lange Treppe heraufkamen, beugte sie sich im Bad dicht an den Spiegel heran und trug mit schnellen und sicheren Strichen das Makeup auf, nicht das ganze, denn dafür reichte die Zeit nicht, aber zumindest einen Hauch von Hervorhebung der Augen, Röte auf Lippen und Wangen...

Es war Richard, der kam, um sie zu holen, sie zu fragen, ob sie genug hatte, und sie hatte, oh, sie hatte genug...

Die Tür am anderen Ende ging auf. Sie rannte zu der Tür auf ihrer Seite, wartete mit gefalteten Händen und ängstlich, wollte auch ängstlich und zerknirscht aussehen und überhaupt nach allem und jedem, worauf er aus sein konnte.

Dann ging die äußere Tür wieder zu und ihre auf. Sie eilte hinaus, um den Besucher zu empfangen.

Dort stand nur ein Frühstückstablett auf dem Boden, und die Tür war geschlossen, und die Schritte draußen verklangen.

»Kommen Sie zurück!« schrie sie, weinte, jammerte. Die Schritte entfernten sich weiter die Treppe hinab. Sie stand da und weinte lange; und als ihr dann nichts anderes einfiel, hob sie das Tablett hoch. Dazu mußte sie sich herabbeugen, was ihr Haar in Unordnung brachte und sie erschütterte und demütigte, sogar hier, wo niemand da war, um es zu beobachten. Sie war zornig und verängstigt und wollte das Tablett wegschleudern und alle Dinge in Sichtweite kaputtschlagen; aber das würde aus der Mahlzeit ein schreckliches Chaos machen, und sie überlegte sich, daß sie wohl darin leben mußte, wenn sie es einmal angerichtet hatte, oder es selbst aufwischen mußte, also ersparte sie sich diese Mühe und trug das Tablett geduldig zurück zum Tisch. Sie verspürte Übelkeit, denn da stand noch das alte Tablett, das mittlerweile stank, und das neue strömte frische, starke Düfte aus. Sie machte sich über beide Gedanken, wo ihr Magen so verspannt war vor Furcht und ihre Kehle so verengt vor Zorn und Enttäuschung, daß sie kaum ihre Atemzüge hereinbekam, ganz zu schweigen, vom Essen.

Sie trug das alte Tablett in den Vorraum und stellte es auf den Boden, und fing plötzlich, durch eine Inspiration angeregt, damit an, ihre Habseligkeiten nach Papier zu durchsuchen... sie hatte etwas in ihrem Nähkasten mitgebracht, denn sie entwarf darauf Muster für ihre Stickereien und das Stricken. Sie wühlte sich durch die Nadeln und das Garn und entdeckte das Papier auf dem Grund, fand den Schreiber und setzte sich an den Tisch, kaute auf der Kappe des Schreibers und versuchte nachzudenken.

»Richard«, schrieb sie, nicht »Liebster Richard«, was, wie sie glaubte, vielleicht nicht die richtige Anrede für einen zornigen Mann war. »Ich habe Angst hier. Ich muß dich sehen. Bitte. Bettine.«

So war es richtig, dachte sie. Zurückhaltend sein, ruhig sein, und es ihm zur gleichen Zeit ausreden, ihr noch größere Angst einzujagen. Pathos. Das war der richtige Ton. Sie faltete den Zettel zusammen, und auf einen schlauen Gedanken hin verschloß sie ihn mit einem Faden, den sie hindurchstieß, damit der Wärter nicht neugierig werden konnte, ohne es zu verraten. »An Seine Ehren Richard Collier«, schrieb sie auf die Außenseite, mit den schönen Buchstaben, die zu schreiben sie immer wieder geübt hatte. Und dann nahm sie den Brief und legte ihn draußen auf das Mittagessentablett im Gang, damit er mit dem Geschirr hinausgelangte und jeder es sich überlegen mußte, was er damit machte, denn einen Brief an den Bürgermeister einfach wegzuwerfen, war nicht klug.

Danach schniefte sie befriedigt, setzte sich und verzehrte ihr Frühstück, was einen kleinen Teil der Einsamkeit in ihrem Bauch stillte und anschließend in ihr ein Gefühl der Schuld und des Elends hervorrief, denn sie hatte zuviel gegessen; sie würde fett werden, das war es, was sie wollten, indem sie sie mit all dem Zeug fütterten und ihr nichts anderes zu tun erlaubten als zu essen. In Kürze würde sie dick und reizlos sein, wenn sie hier nicht mehr zu tun fand, als zu essen und auf und ab zu gehen.

Und vielleicht stand ihr hier ein langer Aufenthalt bevor. Dieser Gedanke drang jetzt mit einer Kraft in sie ein, die er bisher nicht besessen hatte. Ein zweiter Tag an diesem Ort... und wie viele Tage überhaupt; und Beschäftigung und Lesestoff würden ihr ausgehen... Sie stellte auch das zweite Tablett in den Flur, um den Essensgeruch loszuwerden, drückte dann einige Schalter in dem Versuch, die Tür von innen zu schließen; die ganze Konsole war kompliziert angelegt, und sie begann, indem sie die Schalter aufs Geratewohl drückte. Sie fand Kontrollen, die sie nicht kannte, drückte verschiedene Kombinationen und hatte nur darin Erfolg, das Licht auf eine Weise auszuschalten, daß sie es nicht mehr anbekam, nicht durch irgendeine Kombination von Schaltern, bis sie den am Bett benutzte. Die Sache machte ihr Angst davor, vielleicht die Heizung auszuschalten oder das Licht gänzlich zu verlieren und allein in der Dunkelheit zu sein, sobald die Sonne unterging. Sie ließ die Schalter in Ruhe, da sie doch nicht wußte, was sie mit ihnen machte, obwohl sie auf der Schule auch einen Kurs im Umgang mit Computern absolviert hatte... – aber das war etwas, was die anderen Mädchen taten, die einfache lange Gesichter hatten und ihr Haar hinten hochsteckten und flache Brüste hatten und an nichts dachten als an das Studium und die Arbeit. Sie haßte sie. Haßte die ganze Sache. Haßte Gefängnisse, die aus solchen Dingen gebaut werden konnten.

Sie nahm ihr Strickzeug und dachte an Tom, an seine Augen, seinen Körper, seine Stimme... Er liebte sie, und Richard tat es vielleicht nicht, sondern benutzte sie, weil sie schön war, und damit mußte man sich abfinden. Es brachte andere Dinge mit sich. Würde ihr einen Ausweg von hier verschaffen. Richard mochte stolz und zornig sein und verletzte Gefühle haben, aber letztlich wollte er bestimmt seinen Stolz retten, wozu sie ihm ausgiebig verhelfen konnte, wenn sie ihm zusicherte, zerknirscht zu sein – letztlich schon alles, was sie tun mußte.

Es war Tom, um den ihre Tagträume kreisten, und sie fragte sich, ob er wohlauf war, oder ob er auch im Tower steckte. Oh, ganz bestimmt nicht; aber die Bücher, die sie las, wirkten so furchteinflößend real, und aus Eifersucht geschahen furchtbare Dinge. Sie machte sich langsam mit dem Gedanken vertraut, daß Tom auch in Schwierigkeiten steckte, während ihre Hände das bunte Garn handhabten und rhythmisch strickten, klick, klick, klick, die Zeit maßen, Stich auf Stich und Reihe auf Reihe. Frauen führten solche Dinge aus und fuhren damit fort, während die Sonne starb, weil es im Leben aller Frauen so viele Augenblicke gab, die den Geist töteten, wenn man darüber nachdachte, die das Herz aussaugten und einem das Leben entzogen, Furchen in das Gesicht gruben und das Haar grau machten, wenn man nur gestattete, daß der eigene Geist jemals arbeitete. Aber im Rhythmus und der Faszination des Strickens lag ein Verlust des Denkens, eine Leere, eine weiße Fläche, die nur aus Zahlen bestand und nicht einmal daraus, denn nicht der Geist mußte zählen, sondern die Finger taten es, denn die Länge eines Fadens wurde gleichmäßig anhand eines Fingers gemessen, wie es sonst nur ein Lineal konnte, der leichte Spannungsunterschied so fein empfunden wie sonst nur bei einer Maschine möglich, und die genaue Zahl der Stiche wahrte ihr Muster, ohne daß man wirklich zählen mußte, war vielmehr etwas so Innerliches und Regelmäßiges wie der Herzschlag wie das langsame Verstreichen der Zeit, die in solchen Handlungen stehenbleiben konnte oder auch schneller vorübergehen.

So verging der Tag; und klick, klick, klick machten die Nadeln, brauchten das Garn auf, wenn sie nicht gerade las; und sie wickelte weiter und strickte weiter, Reihe auf Reihe, ohne zu denken.

Keine Mittagsmahlzeit wurde gebracht; langsam ging die Sonne unter, und im Zimmer wurde es kälter. Eines Tages werde ich um mehr Garn bitten müssen, dachte sie mit überraschender Gelassenheit, und sie erkannte, was dieser Gedanke einschloß, weigerte sich dann, weiterzudenken. Endlich hörte sie wieder die Schritte zur Tür heraufkommen, lehnte es diesmal ab aufzuspringen und zu erwarten, daß es Richard war. Sie strickte weiter, klick, klick, während die Schritte heraufkamen und die Tür öffneten und wieder schlossen.

Dann ging sie völlig ruhig hinaus und holte das neue Tablett herein, sah mit leicht aufwallender Hoffnung, daß die Nachricht mit den anderen Tabletts abgeholt worden war. So, dachte sie; so, sie wird ihn erreichen; und sie setzte sich und verzehrte ihr Abendessen, wenn auch nicht alles. Danach brachte sie das Tablett wieder in den Vorraum, kam zurück und machte sich für das Bett fertig.

Das Licht draußen vor dem Fenster verblaßte, und die Welt dort wurde wieder schwarz. Auch an diesem Abend wollte sie nicht hinausblicken, weil es sie so deprimierte und das kleine Zimmer im dritten Stock so einsam und isoliert erscheinen ließ.

Und erneut ließ sie das Licht brennen, als sie zu Bett ging, denn sie wollte nicht wieder solche Halluzinationen bekommen... – es waren Halluzinationen gewesen, und sie hatte sich den ganzen Tag lang geweigert, an sie zu denken. Sie glaubte an das Übernatürliche, aber das hatte jetzt aufgehört, etwas zu sein, was anderen Leuten widerfuhr, war jetzt vielmehr etwas, das darauf wartete, ihr zu widerfahren, und das war nicht schaurig unterhaltsam, ganz und gar nicht. Eher flößte es ihr die Furcht ein, daß sie ihren Realitätsbezug verlor und auch die Herrschaft über ihre Einbildungskraft, und sie weigerte sich, das zuzulassen.

Wieder legte sie das weiße Negligé an, weil sie sich überlegte, daß sie vielleicht von einem Anruf direkt aus dem Bett geholt wurde... – schließlich war es immerhin möglich, daß ihre Nachricht direkt an Seine Ehren Richard Collier weitergegeben wurde. Wahrscheinlicher jedoch war, daß sie zuerst in sein Büro kam und der Anruf demzufolge erst morgen erfolgte, also konnte sie sich ein wenig entspannen und schlafen, was sie auch wirklich brauchte. In dieser zweiten Nacht hatte sie keine richtige Angst, und so lange die Lichter brannten, war es auch nicht wahrscheinlich, daß sie idiotische Träume von toten Kindern hatte.

Tote Kinder. Sie erschauerte, entsetzt darüber, daß ein solcher Traum aus ihrer eigenen Vorstellungskraft entstanden sein konnte; das war ja nun überhaupt nichts von der Art, worüber sich ein Mädchen Gedanken machen wollte.

Tom... nun, er war es wert, daß man an ihn dachte. Sie las in ihrer Geschichte weiter; und die Frau darin hatte Probleme, die nicht ernster waren als ihre eigenen, was ihre eigenen schlimmer erscheinen ließ und die Geschichte noch trivialer. Aber sie würde ein Happy-End haben. Dessen war sie sich sicher, und das würde sie aufheitern.

Würden sie ihr weitere Bücher geben, fragte sie sich, wenn sie ihre durch hatte? Sie überlegte, am Morgen wieder eine Notiz auf das Tablett zu legen und um Bücher für sich zu bitten. Und vielleicht sollte sie es nicht tun, denn damit würde sie dem Wärter gegenüber zugeben, daß sie damit rechnete zu bleiben; und das würde auch Richard erreichen, der sicher danach fragte, wie sie sich hielt. Sie war sich ganz sicher, ob er danach fragte.

Nein. Sie würde nicht um Sachen bitten, die auf einen langen Aufenthalt hindeuteten. Möglicherweise gaben sie sie ihr, und das würde sie nicht ertragen können.

Wieder stellte sie fest, daß sie den Faden der Geschichte verloren hatte, und legte das Buch neben das Bett. Sie versuchte, an Tom zu denken, schaffte es aber nicht, verlor auch dabei den Faden. Sie träumte nur von den Stricknadeln, die hin und her gingen, rein und raus, klick, klick.

Das Licht wurde matter... und zu Kerzenlicht; sie spürte es matt durch die Augenlider. Eines öffnete sie äußerst vorsichtig einen Spalt weit, ihre Muskeln starr und kurz davor zu zittern. Der Traum war wieder da; sie hörte die Kinder einander zulachen.

»Na«, sagte Edwards Stimme, »hallo, Bettine.«

Sie sah hin; sie mußte es, da sie nicht wußte, wie nah sie bei ihr standen, fürchtete, daß sie sie vielleicht berührten. Wieder standen sie beide an der Wand, machten feierliche Gesichter wie Jungen, die irgendeinen großartigen Witz für den rechten Augenblick zurückhielten.

»Natürlich sind wir wieder da«, sagte einer der Jungen, Richard. »Wie geht es dir, Lady Bettine?«

»Geht weg!« sagte sie; und dann sagte eine winzige Ecke ihres Herzens, daß sie das nicht wirklich wollte. Sie blinzelte und setzte sich auf, und eine Frau kam aus der Wand heraus auf sie zu, wurde größer und größer, während die Jungen sich zurückzogen. Die Neuankommende war schön auf ihre altertümliche Weise, trug ein goldenes Brokatkleid. Die Besucherin machte einen kurzen Knicks vor dem jungen König Edward, der sich seinerseits vor ihr verneigte. »Madam«, sagte der Knabenkönig; und »Majestät«, sagte die Fremde und richtete dann ihren neugierigen Blick auf Bettine. »Das ist Bettine«, stellte Edward sie vor. »Sei höflich, Bettine; Anne ist eine der Königinnen.«

»Königin Anne?« fragte Bettine und wünschte sich jetzt, etwas mehr über den alten Tower zu wissen. Wenn man schon von Spukgestalten heimgesucht wurde, dann war es zumindest hilfreich, wenn man wußte, um wen es sich dabei handelte; aber sie hatte der Geschichte herzlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt – es war ein so umfangreiches Gebiet.

»Boleyn«, sagte die Königin, breitete ihre Röcke aus und setzte sich auf das Fußende des Bettes, verfehlte dabei nur knapp Bettines Füße, sehr direkt für einen Traum. »Und wie geht es Ihnen, meine Liebe?«

»Sehr gut, danke, Majestät.«

Die Jungen lachten. »Sie glaubt gar nicht richtig an uns, aber sie spielt mit, nicht wahr? Heutzutage haben sie keine Königinnen mehr.«

»Wie hübsch sie ist«, meinte die Königin. »Ich war es auch.«

»Ich werde nicht hierbleiben«, sagte Bettine. In diesem Netz der Illusionen schien es wichtig, das klarzustellen. »Ich glaube eigentlich nicht ganz an Sie. Ich träume es auf jeden Fall.«

»Keineswegs, meine Liebe, aber na ja, glauben Sie, was Sie gerne möchten.« Die Königin drehte sich um, blickte zurück. Die Kinder waren verschwunden, und jemand anderes kam durch die Wand, ein stattlicher Mann in elegantem Brokat. »Robert Devereaux«, sagte Anne. »Robert, sie heißt Bettine.«

»Wer ist das?« fragte Bettine. »Ist er der König?« Der Mann namens Robert lachte freundlich und verneigte sich schwungvoll. »Ich hätte es sein können«, sagte er. »Aber es ist schiefgegangen.«

»Der Earl of Essex«, sagte Anne sanft, stand auf und nahm seine Hand. »Die Jungen sagten, hier sei jemand, der trotzdem an uns glaubt. Wie nett. Es ist so lange her.«

»Sie machen mich sehr nervös«, sagte Bettine.

»Wenn Sie echt wären, glaube ich, würden Sie anders sprechen, irgendwie altertümlich. Sie sind aber ziemlich so wie ich.«

Robert lachte. »Aber wir sind nicht wie die Mauern, Bettine. Wir verändern uns tatsächlich. Wir hören zu, und wir lernen und beobachten die ganze verstreichende Zeit.«

»Sogar die Kinder«, sagte Anne.
»Sie sind hier gestorben.«
»In der Tat. Und auf die gleiche Weise.« 

»Ermordet?« fragte Bettine mit einem Schauder. Anne runzelte die Stirn. »Enthauptet, meine Liebe.

Eine ganze Menge Leute hatten ihre Finger im Spiel, als das arrangiert wurde. Sehen Sie, man hat mich manipuliert. Und woher sollte ich wissen, daß man uns ausspionierte?«

»Sie und Essex?«
»Ah, nein«, sagte Robert. »Wir waren damals kein Liebespaar.«

»Erst heute«, sagte Anne. »Wir haben uns... ah... von meiner Warte aus posthum kennengelernt. Und wie sind Sie hergekommen, meine Liebe?«

»Ich bin die Geliebte des Bürgermeisters«, erzählte Bettine. Es war schön zu reden, sogar wenn man nur Schatten als Gesprächspartner hatte. Sie beugte sich vor und legte die Arme um die Knie. Plötzlich brach sie in Tränen aus, wischte sich mit dem Bettuch über die Augen, fühlte sich ein wenig töricht, daß sie mit Phantasiegestalten, mit Ektoplasmen redete, deren Existenz alle modernen Leute abstreiten würden; und doch half es. »Wir haben uns gestritten, und er hat mich hier hineingesteckt.«

»Oh, meine Liebe«, sagte Anne.

»In der Tat«, meinte Lord Essex und tätschelte Annes Hand. »Deshalb sagten die Jungen, wir sollten kommen. Es ist ziemlich so wie bei uns.«

»Sie sind der Liebe wegen gestorben?«
»Der Politik wegen«, sagte Anne. »Wie Sie es werden.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. Dieser Traum gehorchte nicht ihren Befehlen, und sie versuchte, die Dinge in ihre Richtung zu ziehen. »Aber es war ein dummer Streit. Und ich werde nicht sterben. Sie bringen hier keine Leute um, das machen sie nicht.«

»Sie machen es«, flüsterte Anne. »Genauso wie früher.«

»Na ja«, meinte Essex. »Nicht mehr mit Äxten. Heute sind sie viel hygienischer als früher.«

»Verschwinden Sie!« schrie Bettine. »Verschwinden Sie! Verschwinden Sie! Verschwinden Sie!«

»Es wäre gut für Sie, mit uns zu sprechen«, meinte Anne. »Wir könnten Ihnen begreiflich machen, was Sie wirklich zu erwarten haben. Und da gibt es wirklich sehr viel, das Sie anscheinend nicht sehen, Bettine.«

»Denken Sie nicht an Liebe«, sagte Essex. »Wissen Sie, es ist nicht wegen der Liebe, daß die Leute hergeschickt werden. Alles nur Politik. Ich weiß das. Und Anne auch. Abgesehen davon hören Sie sich nicht wie jemand an, der verliebt ist, nicht wahr? Sie hören sich nicht wie jemand an, der verliebt ist, Bettine.«

Sie zuckte die Achseln und senkte den Blick, erwartete, daß sie verschwunden sein würden, wenn sie wieder aufsah. »Es gibt jemanden, den ich liebe«, sagte sie mit der Andeutung eines Flüsterns, als sie sah, daß sie nicht verschwunden waren.

Anne schnaubte zierlich. »Das hat hier keinen großen Wert. Die Ewigkeit dauert lang, Bettine. Und es gibt Liebe und Liebe, Bettine.« Sie verschränkte ihre substanzlosen Finger mit denen des Earl. »Sie dürfen es nicht als Liebe betrachten. Das ist nicht der Grund, warum Sie hier sind. Seien Sie klug, Bettine. Diese Steine haben viel kommen und gehen sehen. Ebenso wir; und Sie haben nicht das Gesicht von jemandem, der liebt.«

»Was wissen Sie denn schon?« schrie sie. »Sie sind nichts. Ich verstehe etwas von Menschen, glauben Sie mir. Und ich kenne Richard.«

»Gute Nacht, Bettine«, sagte Anne.
»Gute Nacht«, sagte Essex sehr sanft und geduldig; anscheinend hatte sie keinen von ihnen verärgert. Und auch die Kinder waren wieder da, verneigten sich zu einem ironischen Abschiedsgruß und verblaßten. Die Lampen leuchteten wieder.

Sie drehte sich zwischen ihren Bettdecken um und schmollte über diese deprimierenden Vorstellungen, und sie hatte nicht wenig Angst; zwar nicht vor den Geistern... wohl aber vor ihrer Situation. Vor den Dingen, die sie gesagt hatten. Kälte lag in der Luft und ein Hauch von getrockneten alten Blumen und Gewürzen... die Blumen, dachte sie, stammten von Anne; und der Gewürzduft mußte von Essex herrühren. Oder vielleicht von den Kindern, von Edward und Richard. Die Erscheinungen bedrohten sie nicht; sie faßten ihre Ängste nur in Worte. Das war es, woraus sie letztlich wirklich bestanden. Ektoplasma, in der Tat. Bettine vergrub sich in den Decken und löschte das Licht, nachdem sie ihre Angst vor den Geistern abgelegt hatte. Die Augen taten ihr weh, und sie war müde. Sie streckte sich in völliger Selbstvergessenheit aus, was sie seit ihrer Ankunft nicht mehr getan hatte, vergrub sich in den Kissen und versuchte, überhaupt nicht mehr zu denken oder zu träumen.

Am Morgen meldete sich das Telefon und erwachte der Bildschirm zum Leben.

»Bettine«, sagte Richard mit sehr strenger, zorniger Stimme.

Sie sprang aus den Decken hervor, wurde für einen Moment ausdruckslos und legte dann einen ihrer Schlafzimmerblicke an den Tag, lockerte die dichte Masse ihres Haares, erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und blickte in die Kamera, zeigte ein besorgtes Stirnrunzeln, ein Zittern, ein Gesicht, als wolle sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.

»Richard. Richard, ich hatte solche Angst. Bitte.« Ihm die Möglichkeit bieten, sich überlegen vorzukommen, sich groß und mächtig zu fühlen, das war letztlich, wofür sie in der Welt gut war und lebte. Sie trat näher an die Kamera und lehnte sich an. »Ich möchte hier raus, Richard. Ich verstehe nicht, was hier vorgeht.« Naivität und Hilflosigkeit nützten immer. Und abgesehen davon entsprach es auch der Wahrheit. »Der Wärter war schrecklich.« Eifersucht, wenn es ihr gelang, sie zu wecken. »Bitte, laß mich zurückkehren. Ich hatte nie vor, etwas Unrechtes zu tun... was habe ich überhaupt getan, Richard?«

»Wer war er?«

Ihr Herz schlug sehr schnell. Entrüstung jetzt; ihn aus dem Gleichgewicht bringen. »Niemand. Ich meine, es war nur eine kleine Sache, und er war niemand Besonderes, und ich habe vorher nie so etwas gemacht, Richard, aber du hast mich alleingelassen, und was soll ein Mädchen dann letztlich machen? Zwei Wochen, und du hattest weder angerufen noch mit mir gesprochen...«

»Wie lautet der Name, Bettine? Und wo ist die Rang-Fünfzig-Akte? Wo ist sie, Bettine?«

Sie war es, die aus dem Gleichgewicht war. Sie führte eine zitternde Hand an die Lippen, blinzelte, schüttelte in echter Verwirrung den Kopf. »Ich weiß überhaupt nichts von der Akte.« Das war es nicht, das war überhaupt nicht, was es sein sollte. »Ehrlich, Richard, ich weiß es nicht. Was für eine Akte? Geht es darum? Daß du glaubst, ich hätte etwas gestohlen? Richard, ich habe niemals etwas gestohlen.«

»Jemand ist in das Büro eingedrungen. Jemand, der dort nichts zu suchen hat, Bettine. Und du hast einen Schlüssel, und ich habe einen, und das bedeutet eine recht kleine Auswahl, nicht wahr? Mein Büro. Mein Privatbüro. Wer war es, Bettine?«

»Ich weiß nicht«, jammerte sie und schob das Haar zur Seite... die hübschen Gesten waren ein Leben lang erlernt und erfolgten automatisch. »Richard, ich bin da in etwas geraten, wovon ich gar nichts verstehe; ich verstehe es nicht, ich verstehe es nicht, und ich habe da nie jemanden hineingelassen.« (Aber Tom war eingedrungen; er hätte es jederzeit tun können, da er im angrenzenden Büro tätig war.) »Die Tür vielleicht... vielleicht habe ich sie offen gelassen, und hätte es nicht tun sollen, aber, Richard, ich weiß nicht einmal, was in dieser Akte steht, das schwöre ich dir.«

»Wer war in dieser Nacht in deiner Wohnung?«

»Ich... das hatte nichts damit zu tun, auf keinen Fall, Richard, und ich wünschte, ich würde das alles begreifen. Es war überhaupt nichts, außer daß ich einsam war und alles ein schrecklicher Fehler, und wenn ich dir jetzt einen Namen nennen würde, dann geriete jemand in Schwierigkeiten, der nie etwas damit zu tun hatte; ich meine, ich war vielleicht unvorsichtig, Richard, ich schätze schon; es tut mir schrecklich leid wegen der Akte, aber ich habe die Tür wirklich manchmal offen gelassen, und du warst häufig weg. Ich meine... es ist möglich, daß jemand hineingehen konnte, aber du hattest mir nie gesagt, daß es da Schwierigkeiten solcher Art geben könnte...«

»Die Zugangszahlen. Verstehst du?«
»Das tue ich nicht. Ich habe diese Akte nie gesehen.«

»Wer war in deiner Wohnung?«

Sie schwieg und dachte an Tom, und ihre Lippen bebten. Sie bebten auch weiter, während Richard sie anfunkelte, denn sie konnte sich nicht entschließen, was sie tun sollte und was sicher war. Sie konnte mit Richard umgehen. Sie war sicher, daß sie es konnte.

Und dann schaltete er von sich aus ab.
»Richard!« kreischte sie. Vergebens drückte sie auf die Schalter. Der Bildschirm war tot. Sie schritt im Zimmer auf und ab und rang die Hände und starrte zum Fenster hinaus.

Sie hörte den Wärter kommen, und ihre Tür ging zu und die äußere auf, um die Auswechslung der Tabletts zu ermöglichen. Dann öffnete sich die innere Tür wieder, und sie ging in den Vorraum hinaus, um das Tablett zu holen. Sie trug es herein und stellte es auf den Tisch, ging dann ins Bad und betrachtete sich im Spiegel, sah das vom Schlaf verwirrte Haar, die beschatteten Augen und die Flecken alter Kosmetik. Sie war entsetzt über das Gesicht, das sie Richard gezeigt hatte, der sie überrumpelt hatte, ihm das zu zeigen. Sie schrubbte es sofort ab und bürstete sich das Haar und zog Pantoffeln über die nackten Füße, die sich durch die Kälte der Fliesen schon fast wie betäubt anfühlten.

Dann verzehrte sie sparsam ihr Frühstück, denn sie wollte auf ihre Figur achtgeben, und zog sich an, setzte sich hin und nähte. Die Stille wirkte doppelt so schwer wie vorher. Sie summte sich selbst etwas vor, versuchte, die Leere auszufüllen. Sie sang... sie hatte eine schöne Stimme, und sie sang, bis sie heiser zu werden fürchtete, während das Muster wuchs. Eine Zeitlang las sie auch, und als sie sich langweilte, entdeckte sie eine neue Frisur; aber nachdem sie sich entsprechend zurechtgemacht hatte, dachte sie, daß diese Frisur Richard vielleicht nicht gefiele, wenn er wieder anrief, und es war wichtig, daß ihm ihr Aussehen gefiel. Sie kämmte das Haar also wieder in den alten Stil und mißtraute doch die ganze Zeit diesem Instinkt, diesem Vertrauen auf ein Aussehen, das bereits versagt hatte.

So ging der Tag vorüber, und Richard rief nicht mehr an.

Sie wollten Tom. Es bestand die Möglichkeit, daß, wenn sie Richard Toms Namen nannte, er der richtige war, denn es war nur zu offensichtlich, wer eine Akte aus Richards Büro geholt haben konnte, denn Richard war häufig nicht da gewesen und Tom ihr währenddessen bei ihren Pflichten nachgestiegen, hatte sie dabei geneckt.

Am sichersten war es, nicht zu fragen und nichts zu wissen. Dazu war sie entschlossen. Ihr widerstrebte, was geschehen war... Politik... Politik. Sie haßte die Politik.

Tom... war jemand zum Lieben. Jemand, der sie liebte; und Richard hatte so seine eigenen Gründe, aber letztlich lief alles auf zwei Männer hinaus, die eifersüchtig waren. Und Tom, der unschuldig war, hatte keine Vorstellung davon, was für einer Sache er sich gegenübersah... Tom konnte verletzt werden, aber Richard würde niemals sie verletzen; und solange sie ihm nichts sagte, hatte sie weiterhin die Macht, ihn zu verwirren. Solange er verwirrt war, würde er nichts tun.

Sie war nicht ganz überzeugt... – von Toms Unschuld oder von Richards Einstellung. Sie war es nicht gewöhnt, nein zu sagen. Sie war es nicht gewöhnt, in eine schwierige Position gebracht zu werden. Tom hätte das nicht von ihr erbitten sollen. Er hätte es besser wissen sollen. Es war nicht fair, was er tat, in was er sich da auch selbst verwickelt hatte – irgendein billiges kleines Aktenschwindelstück –; es war nicht fair, daß er sie in diese Lage gebracht hatte.

Das Muster wuchs, feine Reihen von Stichen, ein vielschichtiges Design, das keine Überlegung erforderte, sondern nur einen Blick, und sie weinte manchmal und wischte sich die Augen, während sie weiterarbeitete.

Das Licht verblaßte vor dem Fenster. Das Abendessen wurde gebracht, und sie aß, und an diesem Abend machte sie sich nicht für das Bett zurecht, sondern hüllte sich in ihren Bademantel, um sich zu wärmen, setzte sich auf den Stuhl und wartete; sie hatte keine Angst und wartete auf die Kinder, erwartete sie mit einem seltsam starken Verlangen, denn sie waren zumindest Gesellschaft für sie, und es war schön, an diesem grimmigen Ort Gelächter zu hören. Sogar das Gelächter ermordeter Kinder.

Eine gewaltige Stille trat ein. Und nicht das Lachen der Kinder diesmal, sondern der Tritt schwererer Füße, das gedämpfte Klirren von Metall. Ein grimmiges, stoppeliges Gesicht materialisierte im abgeschwächten Licht.

Sie stand beunruhigt auf und wärmte die frierenden Hände an ihren Lippen. »Edward!« rief sie laut. »Edward, Richard... seid ihr da?« Aber der auf sie zukam, war größer und nackt an Gesicht, Armen und Beinen; ansonsten war überall Bronze zu sehen, und er trug obendrein noch ein Schwert. Bettine wollte die Kinder, wollte Anne oder Robert Devereaux, irgendeinen von den anderen. Aber dieser jetzt... war anders.

»Bettine«, sagte er mit einer Stimme, die in großer Ferne widerhallte. »Bettine.«

»Ich denke nicht, daß ich Sie mag«, sagte sie.

Der Geist blieb mit leisem metallenen Klirren stehen, schwankte weiterhin zwischen klarer Sichtbarkeit und Verblassen. Er war jung, sogar stattlich auf eine fremdartige Weise. Er nahm den Helm ab und klemmte ihn sich unter den Arm. »Ich bin Marc«, sagte er. »Marcus Atilius Regulus. Sie sagten, ich sollte kommen. Könntest du dir eine Möglichkeit vorstellen, dir in den Finger zu stechen?«

»Warum sollte ich das tun?«
»Ich bin der Älteste«, sagte er. »Na ja, beinahe – und von einer anderen Überzeugung. Vielleicht ist sie altmodisch, aber sie würde unsere Unterhaltung erleichtern.«

Sie hob ihre Nähnadel auf und stach einmal heftig in einen ihrer kalten Finger, und das Blut quoll in dem matten Licht wie schwarz hervor und tropfte auf den Boden. Sie steckte sich den verletzten Finger in den Mund und starrte ihren Besucher ziemlich verwirrt an, denn er war jetzt viel deutlicher und schien einen lebendigen Atemrhythmus zu haben.

»Ah«, sagte er, »ich danke dir von ganzem Herzen, Bettine.«

»Ich bin mir überhaupt nicht sicher, ob ich es hätte tun sollen. Ich denke, du könntest gefährlich sein.«

»Ah, nein, Bettine.«
»Warst du ein Soldat, so eine Art Ritter?«
»Ein Soldat, ja; und ein Ritter, aber nicht von der Art, an die du denkst. Ich glaube, du meinst die Art, wie es sie in diesem Land gegeben hat. Ich komme aus dem Land des Tiber. Ich bin ein Römer, Bettine. Wir legten hier einige der ältesten Steine...« Er hob einen mit Reifen geschmückten Arm und deutete ziemlich verlegen auf eine der Stahlwände. »Aber der größte Teil der alten Bauten besteht jetzt nicht mehr. Es gibt hier noch ältere Ebenen; die meisten verdrießlichen Typen sammeln sich vorzugsweise dort, darunter sogar Leute aus neuerer Zeit und manche, die nie zivilisiert waren, nicht wirklich, oder die es nie ganz akzeptierten, daß sie jetzt tot sind, sie alle...« Er machte eine vage und mißbilligende Geste. »Aber wir haben jetzt nicht mehr viele Zugänge, denn hier war niemand mehr drin, der an uns glauben konnte... seit so langer Zeit... – tut der Finger weh?«

»Nein.« Sie saugte daran und wischte die Feuchtigkeit weg und betrachtete ihn sich genauer. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich an euch glaube.«

»Du bist dir nicht sicher, daß du es nicht tust, und das ist genug.«

»Warum bist du hier? Wo sind die anderen?«
»Oh, sie sind dort hinten.«
»Aber warum du? Warum wollten sie nicht kommen? Ich habe mit den Kindern gerechnet.«

»Oh. Sie sind da. Nette Jungs.«
»Und warum bist du gekommen? Was hat ein Soldat mit mir zu schaffen?«

»Ich... komme wegen der Toten. Ich bin der Psychopomp.«

»Der was?«
»Psychopomp. Seelenführer. Wenn du stirbst.«

»Aber ich werde nicht sterben«, jammerte sie, schlang die Arme um sich und betrachtete, ohne es zu wollen, das antike Schwert, das er trug. »Das Ganze ist ein Irrtum, mehr nicht. Ich habe versucht, es den anderen zu erklären, aber sie begreifen es nicht. Wir sind zivilisiert. Wir gehen nicht herum und bringen hier drin die Leute um, was immer auch früher passiert ist...«

»Oh, sie tun es, Bettine; aber wir bekommen sie nicht, denn sie sind sehr stur und glauben an nichts, und sie können uns nicht sehen. Letzten Monat habe ich einen verloren. Ich hatte ihn schon fast soweit, mich zu sehen, aber dann, zum Schluß, konnte er es einfach nicht. Und er entglitt mir; ich bin mir nicht sicher, wohin. Es sah hoffnungslos eintönig aus. Ich versuche es bei allen. Ich freue mich, daß du nicht so bist wie sie.«

»Aber du irrst dich. Ich werde nicht sterben.«

Er zuckte die Achseln, und seine dunklen Augen blickten sehr traurig.

»Ich kann hier hinauskommen«, sagte sie, entmutigt durch seinen mangelnden Glauben an sie. »Wenn ich wirklich muß, finde ich immer einen Weg. Ich kann ihnen einfach sagen, was sie wissen wollen, und sie werden mich gehen lassen.«

»Ah«, sagte er.
»Es ist wahr.«

Sein junges Gesicht, so schmal und ernst, wirkte noch trauriger. »Oh, Bettine.«

»Es ist wahr; was weißt du eigentlich?«
»Warum hast du ihnen nicht schon gegeben, was sie wollen?«

»Weil...« Sie setzte an zu erklären und schüttelte dann nur den Kopf. »Weil ich glaube, daß ich auch hinauskomme, ohne es zu tun.«

»Aus Stolz? Oder der Ehre wegen?«

Es hörte sich letztlich nach etwas an, das er sagen sollte, so angetan mit einer antiken Rüstung und mit einem Schwert gegürtet. »Du bist schon seit langem tot«, sagte sie.

»Fast schon die längste Zeit von allen. Superbia, nannten wir es. Das ist die falsche Art von Stolz; es bedeutet, aufgeblasen zu sein, und zu wichtigtuerisch, und die Dinge wirklich nicht richtig zu sehen. Und dann gibt es noch Exemplum. Das ist etwas, was man tut, weil die Welt es braucht, wie zum Beispiel, daß man etwas aufstellt, damit die Leute es anschauen, ein kleines Zeichen, das besagt, hier stand Marcus Regulus.«

»Und was, wenn es niemand sieht? Was nützt es dann, wenn ich nie mehr hier wegkomme? Man kann tapfer sein, und man kann dumm sein.«

Er schüttelte sehr ruhig den Kopf. »Ein Exemplum ist ein Exemplum, selbst wenn es niemand sieht. Es sind einfach Zeichen, die kundtun, daß dort jemand stand.«

»Sieh nach draußen, alter Geist! Die Sonne erlischt, und die Welt liegt im Sterben.«

»Und doch«, sagte er, »bleiben die Exempla bestehen... – denn niemand könnte irgend etwas tun, um sie auszulöschen.«

»Was, wie alte Steine?«
»Nein. Einfach Bedeutungen. Bedeutungen sind das eigentlich Wichtige. Nicht jede Bedeutung, aber mehr, als manche denken.«

»Na ja«, sagte sie verblüfft und beunruhigt. »Na ja, das ist alles sehr schön für Männer, die herumgehen und altertümliche Kriege ausfechten, aber ich kämpfe gegen niemanden. Ich mag überhaupt keine Gewalt, und ich tue für Tom, was ich kann, aber ich bin nicht tapfer und habe meine Grenzen.«

»Wo, Bettine?«
»Das nächstemal, wenn Richard mich fragt, da liegt sie. Ich möchte hier hinaus.«

Er machte ein trauriges Gesicht.
»Hör auf damit!« fuhr sie ihn an. »Ich nehme an, du hältst dich für überlegen.«

»Nein.«
»Ich bin nur ein Mädchen, das sich durchs Leben schlagen muß, und sie können mir meinen Beruf nehmen, und ich kann außerhalb der Wälle enden und hungern, das ist es, was mir passieren könnte.«

»Ja, manchmal sind Exempla einfach nicht schnell. Meines wäre es gewesen. Und ich habe versagt.«

»Du bist ein Soldat. Ich bin eine Frau.«
»Denkst du überhaupt nicht an die Ehre, Bettine?«

»Du bist nicht auf der Höhe der Zeit. Ich bin keine Jungfrau mehr, seit ich dreizehn wurde.«
»Nein. Ehre, Bettine.«
»Ich wette, du warst so eine Art Held, nicht wahr?

Ein Held aus irgendeinem alten Krieg?«

»O nein, Bettine. Das war ich nicht. Ich bin weggelaufen. Aus diesem Grund bin ich der Psychopomp, denn der alte Tower ist ein schrecklicher Ort; und ein großer Teil der Toten bricht wirklich zusammen, sobald der Tod kommt. Es gab auch andere, die den Job hätten übernehmen können: die Kinder kommen üblicherweise als erste, nur damit sich die Gefangenen an die Vorstellung von Geistern gewöhnen, aber ich komme zuletzt... weil ich weiß, was es bedeutet, Angst zu haben, und wie das ist, wenn man weglaufen möchte. Ich bin ein Atilius Regulus, und in meiner Familie fanden sich Helden, oh, sogar ein sehr großer... Ich könnte dir die Geschichte erzählen. Eines Tages werde ich es auch. Aber in derselben Familie gab es mich, und nach mir war sie nie mehr so edel. Exemplum hat etwas damit zu tun. Ich wünschte, ich hätte ein besseres hinterlassen. Die Gelegenheit eröffnete sich mir so schnell... nur ein Augenblick; man lebt sein ganzes Leben, um für Augenblicke bereit zu sein, wenn sie kommen. Ich habe mir immer selbst gesagt, weißt du, daß, wenn meiner einfach... langsam herangekrochen wäre, dann hätte ich ihn besser durchdacht. Ich habe immer nachgedacht. Aber ich habe so viel erlebt, so furchtbar viel, und ich kenne menschliche Wesen, und weißt du... ob es nun rasch oder langsam kommt, das, was ich war, machte letztlich den Unterschied, mit oder ohne Nachdenken. Und zu jenem Zeitpunkt war ich einfach nicht der, der ich jetzt bin.«

»Tot«, sagte sie rachsüchtig.

Er lachte lautlos. »Und um Zeitalter klüger.« Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. »Oh, Bettine, der Mut entsteht daraus, daß man bereit ist, wann immer der Augenblick eintritt, nicht mit dem Verstand... Ich glaube nicht, daß das bei irgend jemandem jemals geht. Aber das, was du bist... kann bereit sein.«

»Was ist mit dir geschehen?«
»Ich war Offizier, verstehst du...« Er deutete auf seine Rüstung. »Und als die Britannier über den Wall kamen... lief ich weg und nahm meine ganze Einheit mit. Ich dachte nicht über das nach, was ich tat; ich war auf dem Weg in die Freiheit. Aber ein kluger alter Zenturio kam mir entgegen und durchbohrte mich gleich dort. Daraufhin hörten die Männer auf zu fliehen und trieben den Feind über den Wall zurück; das taten sie wirklich. Und viele Männer wurden gerettet und die Disziplin aufrechterhalten. Also war ich letztlich doch ein Exemplum, wenn ich auch das von jemand anderem war. Es tat weh. Ich meine damit nicht die Wunde – die machen nie ganz das, was du meinst, das kann ich dir erzählen –, sondern ich meine wirklich, daß es weh tat, so daß es eine sehr lange Zeit dauerte, bis ich wieder ins Freie hinauskam – nachdem man aus dem Tower ein Gefängnis gemacht hatte. Nachdem ich so viele Menschenleben hier habe vorbeigehen sehen. Da entschloß ich mich, hinauszugehen. Darf ich dich anfassen?«

Sie wich zurück, stieß gegen den Sessel und zitterte. »Das ist doch nicht, wie du...«

»O nein. Ich nehme niemandem das Leben. Darf ich dich anfassen?«

Sie nickte mißtrauisch und hielt die Augen weit geöffnet, während er heranschwebte und eine Hand unter einem Armreifen sich ihrem Gesicht näherte, beringt und männlich und nur ein klein bißchen durchsichtig. Es war wie ein Hauch kalten Windes, und sein junges Gesicht wurde wehmütig. Weil sie schön war, glaubte sie, ein wenig stolz, und er jung und sehr gutaussehend – und schon lange tot.

Sie wunderte sich...
»Wärme«, sagte er, sein Gesicht sehr nahe, und seine dunklen Augen sehr schön. »Ich bin wieder in meine melancholische Stimmung geraten... in all diesen letzten, langen Jahrhunderten, seit es für mich nichts mehr zu tun gab, keine Seelen, die ich in Empfang nehmen konnte, kein einziger, der glaubte, überhaupt niemand. Ich dachte schon, alles sei vorüber. Gibt es noch mehr, die immer noch glauben?«

»Ja«, sagte sie. Und fuhr zusammen, denn Anne und Essex standen, sich an den Händen haltend, innerhalb der Mauer oder dahinter oder irgendwo, und außer ihnen noch weitere schattenhafte Gestalten. Die Kinder waren da und ein Mann, der betrunken aussah und leicht nach Alkohol stank, und es wurden immer mehr, Schatten, die außer Brokat auch Metall trugen, Leder, Felle und seltsame Helme.

»Geht weg!« schrie Bettine diese Menge an und floh, warf das Tablett vom Tisch und drängte sich in eine Ecke. »Geht weg von hier! Ich werde nicht sterben! Ich bin nicht tapfer, und ich will es auch nicht sein! Soll doch sonst jemand sterben! Ich will nicht sterben!«

Sie murmelten leise und verblaßten; und etwas berührte ihre Wange wie eine kalte Brise.

»Geht weg!« kreischte sie – und fand sich allein mit den Echos. »Ich werde verrückt«, sagte sie zu sich selbst, ließ sich auf den Stuhl fallen und stützte den Kopf in die Hände. Als sie schließlich ins Bett ging, setzte sie sich voll angezogen in die Ecke und ließ das Licht brennen.

Das Frühstück traf ein, und sie badete und zog sich an, las dann weiter in ihrem Buch, das sich langsam seinem leeren und glücklichen Ende näherte. Sie warf es zur Seite, denn ihr Leben würde nicht so verlaufen, und sie dachte weiter an Tom, weinte auch weiter, keine Schluchzer, sondern ein geduldiges, langsames Rinnen der Tränen, das ihr Makeup verwischte und ihre Augen verschwollen machte. Sie hatte keine Macht. Sie hatte alle diesbezüglichen Illusionen verloren. Sie wollte nur noch lebendig herauskommen, wollte leben und das alles vergessen. Sie versuchte sich erneut am Telefon, aber sie konnte aus der Tastatur nicht schlau werden, von der sie glaubte, sie könnte ihr vielleicht Zugang zu irgend jemandem verschaffen, wenn sie nur etwas über solche Systeme gewußt hätte, was nicht der Fall war.

Zum erstenmal kam sie zu der Überzeugung, daß sie in der Gefahr schwebte, hier zu sterben, oder daß statt dessen Tom sterben und sie in gewisser Weise die Verantwortung dafür tragen würde. Sie war niemand, einfach niemand angesichts der Gefahren, die sie umherwirbelten. Sie war vollkommen hilflos; und überhaupt nicht tapfer, und nichts in ihrem Leben hatte sie je darauf vorbereitet, es zu sein. Sie dachte zurück an die Tage ihrer Kindheit, an die Schule und all die Arten von Wissen, die vor ihr ausgebreitet worden waren. Sie hatte es nutzlos gefunden... was es auch war für ein zehnjähriges Mädchen, das in der Überzeugung lebte, die ganze Welt sei hübsch ordentlich um ihren Finger gewickelt. Das in diesem Alter glaubte, alles zu wissen, was wichtig war, daß die Welt stets in Ordnung sein würde, wenn sie nur anderen zu Gefallen war.

Abgesehen davon handelte die Vergangenheit von toten Leuten, während sie die Lebenden mochte. Und das Erlernen der Wissenschaft bedeutete das Erlernen der Tatsache, daß die Welt sich auf ihr Ende zu entwickelte, und darin lag keine Ermutigung. Sie wollte einfach Bettine Maunfry sein, die alles hatte, was sie je brauchte. Niemals, niemals an Tage denken, die zu weit in der Zukunft lagen, oder an Dinge, die zu weit entfernt beiderseits des Weges lagen, oder Dinge verstehen, die es erforderlich machten, Entscheidungen und Vorbereitungen zu treffen.

Augenblicke. Sie hatte sich nie vorstellen wollen, daß solche Augenblicke kommen würden. Zu keinem Zeitpunkt hatte sie die langen Ströme ihres Lebens hinabblicken können, die schließlich auch gar nicht lang waren, und niemals hätte sie vorhersagen können, daß Bettine Maunfry sich selbst in eine derartige Situation bringen konnte. Die Leute hätten eigentlich für sie sorgen sollen. Das bedeutete es doch schließlich, weiblich zu sein und schön und jung. Aber so, wie es sich entwickelt hatte, hätte es nicht kommen dürfen.

Tom, dachte sie. O Tom, was mache ich denn jetzt, was soll ich denn jetzt machen?

Aber natürlich lag es an ihr, etwas zu machen.

Mit ihm.

Sie hatte keine Ahnung, wie ihr oder sein Horoskop für diesen Tag aussah, aber sie dachte, daß es eine Katastrophe erwähnen müßte, und sie befingerte die kleinen Fische, die sie immer noch in ihrem Ausschnitt trug, damit Seine Ehren Richard Collier sie sah.

Und sie wartete darauf, sich beugen zu können, wie sie gelernt hatte, sich zu beugen; nur... sie begann an die Vielseitigkeit der guten Bettine zu denken... niemals einen Vorteil aufgeben. Niemals!

Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht und trug wieder das Makeup auf, hörte mit dem Weinen auf und reparierte all die feinen Beschädigungen, die die Tränen herbeigeführt hatten.

Sie zog ihr hübschestes Kleid an und wartete.

Und gegen Sonnenuntergang kam der Anruf. »Bettine«, sagte Seine Ehren. »Hast du es dir überlegt?«

Sie trat vor den Bildschirm und stand dort mit bebenden Lippen und zitterndem Kinn, denn Schwäche arbeitete für die, die sie zu nutzen verstanden.

»Ich könnte es«, sagte sie.
»Es gibt dabei kein ›könnte‹, Bettine«, sagte Richard Collier, sein breites Gesicht mit Röte überzogen. »Entweder du tust es oder du tust es nicht.«

»Wenn du hierherkommst«, sagte sie, »wenn du hierherkommst und mich holst, sage ich es dir.«

»Bevor ich komme.«
»Nein«, sagte sie, zeigte dabei das Beben überdeutlich. »Ich habe Angst, Richard; ich habe Angst. Wenn du persönlich herkommst und mich herausholst, verspreche ich, dir alles zu sagen, was ich weiß, was nicht viel ist, aber ich werde es dir sagen. Ich nenne dir seinen Namen, aber er hat mit nichts etwas zu tun, außer daß er sich dumm verknallt hatte, und ich einsam war. Aber ich werde überhaupt nichts sagen, wenn du nicht kommst und mich hier nicht herausholst. Du bist weit genug gegangen, Richard. Ich fürchte mich. Bring mich nach Hause!«

Er starrte sie finster an. »Wenn ich hinüberkomme und du es dir anders überlegst, Bettine, kannst du jede Gunst vergessen, die ich dir deiner Meinung nach schulde. Ich lasse keine Spielchen mit mir treiben. Verstehst du mich, Mädchen?«

Sie nickte.
»In Ordnung«, sagte er. »Du gibst mir seinen Namen, und du überlegst dir auch jedes andere Detail, das erklären könnte, wie es ihm möglich war, in dieses Büro zu gelangen, und du tust das noch heute abend. Ich bin sicher, daß sich in diesem hübschen Kopf etwas Verstand findet, Mädchen. Du überlegst es dir einfach, Bettine, du überlegst es dir schwer, und auch, wo du sein möchtest. Zu Hause, mit all seinem Komfort – oder dort, wo du jetzt bist, was überhaupt nicht komfortabel ist, nicht wahr, Bettine?«

»Nein«, sagte sie weinend. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es ist nicht komfortabel, Richard.«

»Ich sehe dich morgen früh, Bettine. Und du kannst packen, wenn du den richtigen Namen hast.«

»Richard...« Aber er hatte ausgeschaltet, und sie lehnte dort bebend an der Wand, die Hände zu Fäusten geballt und von dem Gefühl erfüllt, daß sie wirklich sehr klein war. Sie wollte keine weitere Nacht im Tower bleiben, wollte sich nicht den Geistern gegenübersehen, die sie mit traurigen Augen anstarrten und mit ihr über Ehre sprachen, über Dinge, die nicht zu Bettine Maunfry gehörten.

Es tut mir leid, dachte sie für sie. Ich werde schließlich doch nicht hierbleiben und sterben.

Aber Tom würde es. Dieser Gedanke bedrückte sie gewaltig. Sie fühlte sich irgendwie verantwortlich, und das war eine ernste Bürde, ernster als alles, womit sie es je zu tun gehabt hatte, abgesehen von den zehn Tagen, in denen sie einmal geglaubt hatte, schwanger zu sein. Vielleicht würde Tom – die anderen anlügen; vielleicht würde Tom versuchen, sie davon zu überzeugen, daß Bettine irgendwie die Schuld traf, in etwas, was nicht ihr Fehler war.

Das erschreckte sie. Aber Tom liebte sie. Das tat er wirklich. Tom würde nichts sagen, was ihr Schaden zufügte, wo er doch ein Mann war und tapferer als sie und motiviert durch irgendwelche vage andersartigen Absichten, die etwas mit Stolz zu tun hatten und damit, stark zu sein, Eigenschaften, denen sie ihr ganzes Leben lang aus dem Wege gegangen war.

Sie widmete sich der Routine des Tages, soviel von dem Tag noch übrig war, und packte alles ein, außer dem Kleid, von dem Richard gesagt hatte, es passe zu ihren Augen. Dieses zog sie an, weil sie die ganze Nacht sitzenbleiben wollte, denn sie wollte sicherstellen, daß Richard sie nicht in einem Zustand überraschte, in dem sie nicht schön war, und es würde ihm ähnlich sehen, diesen gemeinen Trick zu versuchen. Sie würde einfach, ganz mit Kissen abgestützt, im Sitzen schlafen und damit erreichen, daß ihre Röcke keine Falten bekamen. Auf diese Weise konnte sie gleichzeitig schön sein und etwas schlafen.

Und sie ließ das Licht an wegen der Geister, die sich wohl betrogen fühlen würden.

War er wirklich auf diese Weise gestorben? überlegte sie, im Fall des Römers, des jungen Römers, der über Schlachten aus vergangenen Zeitaltern berichtet hatte. War er wirklich so gestorben, oder hatte er es nur erfunden, damit sie ihm zuhörte? Sie dachte an Schlachten, die vielleicht genau hier geführt worden waren, wo dieses Gebäude stand, in all den vielen, vielen Zeitaltern.

Und das Licht verblaßte.

Die Kinder kamen, machten ernste Gesichter, erst Edward und dann Richard, der dastand und sie mit wäßrigen, mißbilligenden Augen anstarrte.

»Es tut mir leid«, sagte sie kurz. »Ich werde gehen.« Dann die anderen, Anne und Robert, Anne mit ihrem herzförmigen Gesicht und dunklem Haar und den liebreizenden Manieren, Essex groß und elegant, und beide blickten sie nicht ganz mit dem Ausdruck an, mit dem sie gerechnet hatte – nicht mißbilligend, mehr, als hätten sie Geheimnisse verschluckt. »Es war schließlich doch Politik«, fragte Anne, »nicht wahr, Bettine?«

»Vielleicht war es das«, sagte Bettine kurz angebunden, haßte es, daß sie unrecht gehabt hatte. »Aber was bedeutet mir das? Ich werde doch von hier wegkommen.«

»Was, wenn dein Liebhaber dich beschuldigt?« fragte Essex. »Es passiert schon mal, daß eine Liebe endet.«

»Das wird er nicht«, meinte sie. »Das würde er nicht. Wahrscheinlich nicht.«

»Exemplum«, sagte eine traurige Stimme. »O Bettine, ist das deines?«

»Halt den Mund!« wies sie Marc zurecht. Ihm gegenüberzustehen, war am schwersten, denn sein trauriger dunkler Blick schien etwas Besonderes von ihr zu erwarten. Es tat ihr sofort leid, daß sie grob gewesen war; er machte ein Gesicht, als wollte ihm das Herz brechen. Er schwankte, und sie sah, daß er mit Staub bedeckt war, seine Rüstung gespalten und blutig, und Tränen strömten an seinem Gesicht herunter. Sie schlug entsetzt die Hände vors Gesicht.

»Du hast ihm weh getan«, sagte Anne. »Wir kehren in unseren schlimmsten Augenblick zurück, wenn man uns derartig weh tut.«

»O Marc«, sagte sie, »es tut mir leid. Ich möchte dich nicht verletzen. Aber ich möchte leben, verstehst du... kannst du dich nicht daran erinnern? Hättest du dafür nicht auch alles hergegeben? Und du hattest so viel... als die Sonne noch jung war und alle Dinge neu. O Marc, machst du mir Vorwürfe?«

»Es stellt sich nur eine Frage«, sagte er, seine Augen in Trauer schmelzend. »Es ist dein Augenblick, Bettine. Deiner.«

»Na ja, ich bin nicht wie du; ich war es nie und werde es nie sein. Was nützt es, recht zu haben und tot zu sein? Und was ist recht? Wer weiß das schon? Es ist alles relativ. Tom ist nicht so wundervoll, muß ich dir sagen. Und Richard auch nicht. Und ein Mädchen schlägt sich durch, so gut es eben kann.«

Ein Wind blies und eine Regung ging durch die anderen, das Einziehen von Atem. Essex umfaßte Annes schlanke Gestalt, und die Kinder zogen sich an ihre Röcke zurück. »Es ist sie«, sagte der junge Edward. »Sie ist gekommen.«

Nur Marc entzog sich der Panik, die von den anderen Besitz ergriff; jetzt wieder deutlich, bewegte er sich mit militärischer Präzision an eine Seite, warf einen Blick zurück durch die hindernde Wand, wo eine winzige Gestalt näher kam.

»Sie ist nicht hier gestorben«, sagte er ruhig. »Aber sie hat viele Bindungen an diesen Ort. Sie ist eine der Königinnen, Bettine, eine große Königin. Und nur sehr selten kommt sie hervor.«

»Wegen mir?«
»Weil du eine der letzten bist, vielleicht.«

Sie schüttelte den Kopf und blickte verwirrt, als Anne und Robert und der junge Richard sich verbeugten und Edward den Kopf senkte. Marc faßte nur an sein Herz und trat einen Schritt weiter zurück. »Marc!« protestierte Bettine, wollte ihn nicht verlieren, den einen, dem sie vertraute.

»Nun«, sagte die Besucherin mit einer Stimme wie das Knacken von Eis. Sie schien weniger eine Frau zu sein als vielmehr ein kleines Denkmal, in einem roten und goldenen Kleid, bedeckt mit Stickereien und Perlen, und ganze Bänder mit Perlen und nochmals Perlen in festem, rotem Haar. Sie hatte ein verkniffenes Gesicht, aus dem zwei Augen blickten wie lebendige Asche. »Nun?«

Bettine verbeugte sich wie die anderen; sie glaubte, es tun zu sollen. Die Königin machte einige langsame Schritte, hatte einen Blick für Essex und ein kurzes Nicken für Anne übrig. »Nun?«

»Meine Tochter«, sagte Anne. »Die erste Elisabeth.«

»In der Tat«, sagte die Königin. »Und Marc, guten Abend. Marc, wie geht es dir? Und die jungen Prinzen. Ein ziemlicher Aufruhr, meine Liebe, wirklich ein Aufruhr, den du hier herbeigeführt hast. Ich habe meine Spione; nicht nötig, sich zu wiederholen.«

»Ich werde nicht sterben«, sagte Bettine. »Ihr irrt euch alle. Ich habe ihnen gesagt, daß ich nicht sterben werde. Ich kehre zu Richard zurück.«

Die Königin blickte zu Essex und reichte ihm die Hand. Essex küßte sie und hielt sie dann fest, lächelte ironisch. »Sagtest du nicht einmal etwas in der Art?« fragte die Königin.

»Das tat er«, sagte Anne. »Es war letztlich dein Fehler, meine Tochter.«

»Damals«, sagte Elisabeth. »Aber es war sehr dumm von dir, Robert, daß du alten Geliebten als Botschaftern vertraut hast.«

Essex zuckte die Achseln und lächelte wieder. »Wenn nicht in diesem Jahr, dann im nächsten. Es war vorherbestimmt, daß wir nicht übereinstimmen.«

»Natürlich«, sagte Elisabeth. »Einmal gibt es Liebe und zum anderen Macht; und wir alle drei wollten das letztere, nicht wahr? Und du...« Wieder wurde dieser brennende Blick auf Bettine gerichtet. »Was für eine Art bist du? Keine Gebieterin über, aber vielleicht eine Sucherin nach Macht?«

»Weder noch. Ich bin die Geliebte des Oberbürgermeisters, und ich gehe wieder nach Hause.«

»Die Geliebte des Oberbürgermeisters.« Elisabeth schnaubte. »Die Geliebte des Oberbürgermeisters. Ich habe meine Spione. In ganz London spukt es. Ich habe Fragen gestellt. Dieser Bursche hat dich überlistet, dieser Tom Ash. Ah, er selbst ist niemand. Er arbeitet für andere. Er braucht die Nummern, das ist alles, und dafür wird er bezahlt. Und mit dieser Liste in fremden Händen ist dein kostbarer Oberbürgermeister in ernsten Schwierigkeiten. Revolution, meine Liebe, der Sturz von Fürsten. Bist du derart blind? Dein Oberbürgermeister ist gar nicht so sicher, obwohl er ein Tyrann ist... wenn nicht diese Gruppe von Männern in diesem Jahr, dann im nächsten andere. Sie werden ihn kriegen. Die Stadt London hat sich nie etwas aus Despoten gemacht, gekrönten oder bürgerlichen. Nicht einmal in ihrem Alter ist sie auf den Kopf gefallen. Nur geduldiger geworden.«

»Ich möchte nichts davon hören. Tom hat mich geliebt, das ist alles. Wo immer er die Finger drin hat...«

Elisabeth lachte. »Ich wurde für die Macht geboren? War es Zufall? Frage meine Mutter hier, wie sie bezahlt hat. Frage Robert hier, wie er dafür hat bezahlen müssen, nach meiner Macht die Hand auszustrecken, und wie ich sie trotzdem behielt... keine harten Gefühle, überhaupt keine. Aber meinst du, dein Oberbürgermeister sei zufällig an die Macht gekommen? Du bewegst dich in trübem Wasser und hältst dabei die Augen geschlossen. Dein ganzes Leben lang hat es dich nach Macht gelüstet, und du hast geglaubt, es gäbe einen leichten Weg dorthin. Aber den gibt es für dich nicht, denn du begreifst nicht, was du möchtest. Wenn sie dir ganz London auf einem Tablett reichten, würdest du nur den Flitter sehen. Du würdest nach anderen Händen suchen, um die wirkliche Macht in sie zu legen. Du bist hilflos. Das zu sein hast du dein ganzes Leben lang geübt, da wette ich. Ich kenne deinen Typ. Bettine. Was für ein Name ist das? Abgekürzt und verniedlicht – herabgesetzt. E-lisabeth lautet unser Name in schönen runden Klängen. Du bist groß; du versuchst, anders zu erscheinen. Du kleidest dich, um allen anderen zu gefallen; ich habe nur Elisabeth gefallen, und andere haben mich nachgeahmt. Wenn ich etwas mochte, dann waren es Männer, aber da ich allen Grund dazu hatte, gab ich keinem je meine Krone. Wie schmerzlich die Entscheidung auch immer war... wie sehr mich auch die vielen sich selbst dienenden Minister in diese oder jene Richtung drängten, ich habe mir doch immer meine eigenen Gedanken gemacht. Ja, Essex, sogar bei dir. Natürlich habe ich stets gezögert, natürlich es den Ministern ermöglicht, mich zu drängen, natürlich empfand ich Kummer – ich bin nicht unmenschlich –, aber zur gleichen Zeit konnten sie herzlos erscheinen und ich gnädig. Und die Tat wurde vollbracht, nicht wahr, Robert?«

»Wirklich«, sagte er.
»Du warst einer meiner Günstlinge. Soviel du auch tatest, ich mochte dich immer; liebte dich natürlich, aber mochte dich auch, und davon gab es weniger als von den anderen. Und du, Mutter, auch eine von dieser Sorte. Aber diese neuzeitliche Trägerin meines Namens – du hast nichts davon, überhaupt kein Rückgrat.«

»Ich gehöre nicht zu Ihrer Klasse«, sagte Bettine. »Das ist nicht fair.«

»Jammern und winseln. Du bist das geborene Opfer. Ich könnte dich zu einer Königin machen, und innerhalb von vierzehn Tagen wärst du eine tote Königin.«

»Ich möchte es einfach gut haben, und ich möchte glücklich sein.«

»Nun, schau dich an!«
»Ich werde es wieder sein. Ich werde nicht sterben, sondern hier rauskommen.«

»Ah, du möchtest, möchtest, möchtest. Machst dir niemals die Mühe, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Du verbringst dein ganzes Leben, indem du nur auf das reagierst, was andere tun. Jemals daran gedacht, den ersten Streich zu führen? Nein, natürlich nicht. Ich bin Elisabeth. Du bist nur Bettine.«

»Ich wurde nicht mit Ihren Vorzügen geboren.« Elisabeth lachte. »Ich war ein Bastard... entschuldige, Mutter. Und was warst du? Warum bist nicht du der Bürgermeister? Jemals danach gefragt?«

Bettine wandte sich mit bebenden Lippen ab.
»Sieh mich an!« sagte die Königin.

Sie tat es, ohne es zu wollen, aber die Stimme hatte einfach Befehlsgewalt.

»Warum tatest du es?«
»Was?«
»Sieh mich an!«
»Sie haben gefragt.«
»Machst du alles, wonach die Leute fragen? Du bist jedermanns Opfer, mehr nicht. Die Geliebte des Bürgermeisters. Du hast dich dafür entschieden und kommst nicht mehr hinaus. Du hast dich entschieden, sogar durch die Entscheidung, dich nicht zu entscheiden. Du kehrst zurück und gibst Seinen Ehren, was er will, und du kommst dann zurück in deine Wohnung – vielleicht.«

»Was meinen Sie mit ›vielleicht‹?«
»Denk nach, Mädchen, denk nach! Ein Mädchen bist du; du hast dein ganzes mündiges Leben mit dem Versuch zugebracht, ein Nichts zu sein. Ich glaube, du könntest es erreichen.«

»Da wäre noch die Themse«, sagte Essex.
»Es ist nicht, was sie dir nehmen«, meinte Anne.

»Es ist, was du aufgibst.«

»Das Wasser«, sagte Edward, »ist schrecklich kalt, habe ich gehört.«

»Was weißt du denn? Du hattest gar kein Leben.«

»Hatte ich doch«, sagte der Junge, und seine Augen tanzten. »Ich hatte meine Jahre... wie du schon sagtest, als die Sonne sehr gut war.«

»Ich hatte ein Pony«, sagte Richard. »Jungen haben so etwas heute nicht mehr.«

»Sei stolz«, sagte Elisabeth.
»Ich weiß etwas über Sie«, sagte Bettine. »Sie wurden alt und hatten keine Familie und keine Kinder, und ich bin sicher, da war der Stolz ein kalter Trost.«

Elisabeth lächelte. »Ich hasse es, dir die Illusionen zu nehmen, meine Liebe, aber ich war glücklich. Ah, ich habe ein paar Tränen vergossen, wer tut das nicht in seinem Leben? Aber ich hatte genau das, wofür ich mich entschieden hatte. Und wenn ich etwas hergab, dann wußte ich, daß ich es hergab. Ich tat genau das, was ich wollte. Nicht immer das Märchenbuch, wie ich es gerne gehabt hätte, aber trotzdem innerhalb meiner Möglichkeiten genau das, was ich wollte, mein ganzes Leben lang bis zu seinem Ende. Ich lebte, und ich war neugierig. Es gab nichts, was mir fremd vorkam. Ich sah mit einem flüchtigen Blick mehr von der Welt, als du dir für ein ganzes Leben vorstellen konntest. Ich war meiner Zeit voraus, wurde niemals von dem haarsträubend Unerwarteten eingeholt; aber dein ganzes Leben ist ein einziger Zufall, nicht wahr, kleine Elisabeth?«

»Bettine«, sagte sie und reckte das Kinn. »Ich heiße Bettine.«

»Gut«, lachte die Königin und schlug sich auf die Schenkel. »Exzellent. Denke auch weiterhin; und straffe dein Rückgrat, Frau! Sieh dir die Augen an! Sieh dir stets die Augen an!«

Die Königin verschwand mit einem kurzen Donnerschlag; Essex fluchte, und Anne tätschelte seinen Arm. »Sie war nie angenehm«, sagte sie. »Ich hätte ihr gerne freundlichere Manieren beigebracht.«

»Wenn ich dein Sohn wäre...«, sagte Essex. »Wenn«, sagte Anne.
»Unten werden sie alle beunruhigt sein«, meinte der junge Edward. »Sind sie bestimmt, wenn sie durchkommt.«

Sie verblaßten – alle außer Marc.
»Sie können mich nicht von meiner Absicht abbringen«, sagte Bettine. »Die Königin war unverschämt.«

»Nein«, sagte Marc. »Königinnen sind das nicht. Sie sind einfach das, was sie sind.«

»Unverschämt«, wiederholte Bettine, noch immer aufrecht.

»Sei, was du bist«, sagte Marc. »Ich gehe jetzt. Es ist dein Augenblick.«

»Marc?« Sie streckte die Hand nach ihm aus, hatte schon vergessen. Berührte nichts. Sie war wieder allein, und es war zu still. Lieber hätte sie es gehabt, wenn Marc geblieben wäre. Er verstand, was Angst war.

Sein, wer sie war. Sie lachte traurig, wischte sich über die Augen und ging ins Bad, um mit dem Schönsein anzufangen, blickte in Augen, die geschwollen waren und ständig gerötet aus Schlafmangel. Und vom Weinen. Sie stellte fest, daß sie auch jetzt weinte, wußte nicht, warum, außer vielleicht über den Anblick der Bettine Maunfry, wie sie war, kleine schlanke Hände, die nie etwas gemacht hatten, ein Gesicht, das ganz Sex war, und eine Stimme, der nie jemand gehorchen und die nie jemand ernst nehmen würde – lediglich zum Spielen war Bettine da. An diesem ganzen großen Ort, wo es verzweifelte Verbrecher gegeben hatte und in Ungnade gefallene Königinnen und Helden und Herren, nur Bettine, die das Naheliegende tun und Tom ausliefern wollte, Tom, der sie nie geliebt, sondern nur etwas gewollt hatte.

Tom ist auch so einer, dachte sie mit merkwürdig klarer Einsicht, ein schöner Mensch, der gut in dem war, was er machte, aber es war nicht er, der wichtig sein würde, sondern er war bloß glatt und gut und ganz hohl, und nichts war zu finden hinter den lächelnden weißen Zähnen und den klaren blauen Augen. Wenn man ihn zerbrach, wäre es wie bei einer Porzellanpuppe – innen hohl.

Genau wie bei Bettine.
»Ich liebe dich«, hatte er protestiert. Soweit sie wußte, hatte niemals jemand Bettine Maunfry wirklich geliebt, obwohl sie alles hergegeben hatte, was sie besaß, nur um den Leuten zu gefallen und sie zum Lächeln zu bringen, ihr ganzes Leben lang. Wenn sie darüber nachdachte, war sie sich nicht sicher, was sie täte, falls sie jemand liebte, oder ob sie überhaupt wissen würde, daß er es tat. Sie drehte sich um und betrachtete die Zeitschriften mit den Bildern von Augen und Lippen und den Artikeln darüber, wie man seine Seele verkaufte.

Artikel über Liebe.

Es gibt Liebe und Liebe, hatte Anne gesagt.

Den Leuten gefallen. Zu jedem nett sein, damit sie nett zu Bettine waren. Hübsche Kinder wurden fürs Weinen belohnt und Jungen wurden dafür verhauen.

Solange die Welt versöhnt war, würde sie Bettine nicht weh tun.

Augen und Lippen, uranfängliche Symbole.

Sie schminkte sich sorgfältig, machte ihr Haar zurecht, packte die letzten Sachen ein.

Außer ihrer Handarbeit, mit der sie ihren Verstand bewahrte. Klick, klick. Geistlose Geistesklarheit, Rhythmen und Muster. Licht fiel durch das Fenster herein. Wahrscheinlich würde bald das Frühstück eintreffen, aber sie war nicht hungrig.

Und schließlich waren die Türen zu hören und kamen die Schritte den Turm herauf.

Richard Collier kam. Er schloß die Tür hinter sich und blickte auf sie finster herab; und sie erhob sich vor dem einzigen Fenster.

Blick ihnen in die Augen, hatte die Königin gesagt. Sie betrachtete Richard jetzt unter diesem Gesichtspunkt, dem der Königin, und es gefiel ihm offensichtlich nicht.

»Den Namen«, sagte er.

Sie trat zu ihm, ihre Augen selbstvergessen mit Tränen erfüllt. »Ich will ihn dir nicht nennen«, sagte sie. »Es würde jemandem weh tun; und wenn du mir vertrauen würdest, würdest du es mir ermöglichen, die Sache zu klären. Ich kann deine Akte zurückholen.«

»Überlaß das mir!« sagte Richard. »Den Namen, Mädchen, und sonst kein...«

Sie hatte keine Vorstellung, warum sie es tat. Sicherlich war Richards Ausdruck einer der Überraschung, als hätte er irgend etwas völlig falsch berechnet. Blut bedeckte sie, und die lange Nadel war zwischen seinen Rippen vergraben, und er sank zu Boden, um dort zu kreischen und sich umherzuwälzen, oder es zumindest zu versuchen. Der Raum war sehr gut geräuschisoliert, und niemand kam. Sie stand dabei und sah zu, völlig taub in dem Bereich ihrer selbst, der das Gewissen hätte sein sollen, und wenn sie überhaupt etwas empfand, so ein vages Gefühl von Rechtfertigung.

»Bettine«, sagte sie ruhig und setzte sich, wartete darauf, daß er starb, oder daß jemand, der ihn zum Turm begleitet hatte, ihn vermißte. Wer immer die Nummern besaß, hatte jetzt die Möglichkeit, von ihnen Gebrauch zu machen; eine neue Ordnung würde in der Stadt entstehen; viele Veränderungen würden eintreten. Sie überlegte, daß sie, hätte sie ihr Leben besser geordnet, jetzt vielleicht besser vorbereitet gewesen wäre und vielleicht eine Möglichkeit zur Flucht gehabt hätte. Aber das war nicht der Fall. Sie hatte es nicht geplant. Das ist keiner von den Augenblicken, die man planen kann, hätte der Römer gesagt. Es ist das Leben – das zu ihnen führt.

Und führte das Leben Londons – wirklich zu Bettine Maunfry? Sie verdächtigte sich selbst eines tiefen Gedankens. Sie war sogar stolz darauf. Richards Augen starrten jetzt ausdruckslos. Er hatte keine großen Schmerzen gehabt. Sie hatte das auch nicht eigentlich gewollt, wenn sie auch nicht davor zurückgeschreckt wäre. In einem solchen Augenblick hatte man nicht die Zeit zum Zurückschrecken.

Es gab Macht, und es gab Liebe, und sie war ohne beides durchs Leben gegangen. Sie konnte nicht erkennen, was das eine mit dem anderen zu tun hatte; nichts, entschied sie, außer in dem Sinn, daß nie eine Bettine Maunfry existiert hatte, nur eine Puppe, die auf die Impulse anderer reagierte. Und nichts an ihr hatte irgend jemand lieben können.

Sie verspürte nicht den Wunsch, rückgängig zu machen, was sie getan hatte; das war Elisabeths Probe für das Glücklichsein. Sie fragte sich, ob Richard sich anders entschieden hätte.

Wahrscheinlich nicht, wenn man bis zu den Augenblicken ging. Aber Richard war in manchen Dingen nicht besonders gescheit gewesen.

Ich frage mich, ob ich Bürgermeisterin hätte sein können, überlegte sie. Irgendwann habe ich eine Entscheidung dazu getroffen, und doch nie gewußt, daß ich sie traf.

Auf der Treppe waren jetzt Geräusche zu hören. Sie kamen. Sie saß reglos da und fragte sich, ob sie auch gegen diese Leute kämpfen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie war schließlich nicht verrückt. Es war Politik. Es hatte mit der Politik Seiner Ehren des Bürgermeisters zu tun und mit einer gewissen Bettine, einem Mädchen, das sich entschieden hatte, einen Namen nicht zu nennen.

Sie brachen ein, Soldaten, die die Leiche des Bürgermeisters mit großer Bestürzung entdeckten. Sie packten Bettine und brüllten Fragen.

»Ich habe ihn getötet«, sagte sie. Sie schwenkten Gewehre nach ihr und beschuldigten sie, Anteil an einer Revolution zu haben.

»Ich habe meine eigene durchgeführt«, sagte sie. Die Soldaten betrachteten sie daraufhin unsicher, besprachen sich untereinander und machten Anrufe in der Stadt. Bettine saß unter der Bewachung durch Gewehre da, und sie trugen den Bürgermeister hinaus, den armen toten Richard. Sie redeten von Mord und wunderten sich, wie sie die Kraft gehabt haben konnte, die Nadel so tief hineinzustoßen. Und was unglaublich war, sie erkundigten sich schließlich beim Wärter, was für eine Art Gefangene sie war, als glaubten sie, sie sei mehr, als die Akten besagten, die eingesperrte Anführerin irgendeiner Sache, das Zentrum der Bewegung, auf die sie Jagd gemacht hatten. Sie sprachen über mehr Wachtposten. Und die bekam Bettine letztlich in großer Zahl, und zum Abend hin war der ganze Tower von Soldaten umringt, schwere Geschütze fuhren in Stellung, große Batterien davon im Innenhof. Zwei Tage später blickte Bettine zum Fenster hinaus und sah Rauch dort, wo das äußere London lag, und sie wußte, daß in der Stadt Aufruhr herrschte.

Die Wachtposten behandelten sie mit Respekt. Bettine Maunfry riefen sie sie, wenn sie mit ihr zu tun hatten, nicht Mädchen und nicht Bettine. Und obendrein forderten sie sie auf, einen Aufruf zur Feuereinstellung aufs Band zu sprechen.

Aber was ihre nächtlichen Besucher anbetraf... – da war nichts mehr. Vielleicht scheuten sie sich zu kommen, denn nachts stand ein Posten draußen im Vorraum. Vielleicht war sie letztlich doch ein wenig verrückt. Ihre Abwesenheit bereitete Bettine Kummer, während sie in diesem Limbus einer tragischen Komödie lebte, Richard und Tom fehlten ihr jedoch nicht. Sie beobachtete, wie die Stadt brannte, und lauschte dem Schritt von Soldaten auf dem Hof, beobachtete aus ihrem einsamen Fenster auch die Geschützbesatzungen. Es war die Zeit vor dem Abendessen, als sie sie ein wenig sich selbst überließen – wenn man einen Posten an der Tür zur Treppe dabei vernachlässigen konnte. Sie hatten wie üblich den Vorraum abgeschlossen, um die Hereinreichung des Essens vorzubereiten.

»Ein ganz schöner Aufruhr, den du erzeugt hast.« Sie wandte sich vom Fenster ab und starrte Marc erstaunt an. »Aber es ist noch Tag.«

»Ich bin ein wenig blaß«, sagte er und betrachtete dabei seine Hand, blickte dann wieder auf. »Wie geht es dir, Bettine?«

»Es ist lächerlich, nicht wahr?« Sie deutete auf den Hof und die Kanonen. »Sie halten mich für gefährlich.«

»Aber das bist du auch.«

Sie dachte darüber nach, überlegte, wie verängstigt die Soldaten waren und was in London passierte. »Sie fragen mich ständig nach Namen. Heute haben sie mich bedroht. Ich bin nicht sicher, daß ich so tapfer bin, Marc. Das bin ich wirklich nicht.«

»Aber du kennst überhaupt keine.«
»Nein«, sagte sie, »natürlich nicht. Also gelte ich als tapfer, oder nicht?«

»Die andere Seite braucht einen Märtyrer, und das wirst du sein. Du weißt es.«

»Was passiert draußen? Hat die Königin es von ihren Spionen erfahren?«

»Oh, ziemlich viel Gewalt. Wäre ich noch am Leben, würde ich draußen mitmischen; das ist eine Sache für Soldaten. Die Sternenschiffe halten sich abseits und warten nur. Der alte Bürgermeister hat unter dem Tisch Geschäfte zugunsten einer bestimmten Gesellschaft gemacht; die Büros dieser Gesellschaft, die ihn unterstützte, wurden demoliert; andere halten sich bereit, einzugreifen und die Rebellen zu unterstützen, die eigenen Rivalen auszumanövrieren. Die Ausläufer dieser Sache gehen bis zu Sternen, die du nie gesehen hast.«

»Erstaunlich.«
»Du hast keine Angst.«
»Natürlich habe ich Angst.«
»Gestern bot sich eine Gelegenheit für dich, in einer Machtposition zu landen. Ein Mob war hierher unterwegs, um dich herauszuholen, aber die Soldaten haben ihn abgewehrt.«

»Na, es ist wahrscheinlich gut, daß sie nicht bis zu mir durchgekommen sind. Ich fürchte, ich wüßte nicht, was ich mit London machen sollte, wenn sie es mir geben würden. Elisabeth hatte recht.«

»Aber die wahren Anführer der Revolution sind inzwischen hervorgetreten. Sie benutzen deinen Namen, um daraus einen Fall zu konstruieren. Das ist der Funke, den sie schon so lange brauchen. Dein Name ist ihre Waffe.«

Sie zuckte die Achseln.
»Sie haben einen Mann hier innerhalb der Mauern, Bettine... verstehst du, was ich sagen will?«

»Nein, tue ich nicht.«
»Ich konnte nicht vorher kommen; es war immer noch dein Augenblick – diese letzten Tage. Niemand von uns konnte sich einmischen. Es wäre nicht richtig gewesen. Aber ich verschiebe die Linie etwas – nur ein wenig. Das mache ich immer. Verstehst du mich jetzt, Bettine?«

»Werde ich sterben?«
»Er ist unterwegs. Er gehört zu den Revolutionären – nicht zu den Loyalisten. Die Revolution braucht einen Märtyrer. Und sie haben Angst, du könntest hinauskommen. Sie können nicht zulassen, daß ihnen irgendein Mob die eigene Bewegung aus den Händen nimmt. Du wirst sterben, ja. Und sie werden behaupten, die Soldaten hätten dich getötet, um eine Rettung zu verhindern. Wie es auch ausgeht, sie gewinnen.«

Sie blickte zur Tür und biß sich auf die Lippen. Sie hörte, wie eine Tür aufging und Schritte heraufkamen. Ein kurzes Handgemenge.

»Ich bin hier«, sagte Marc.
»Mußt du nicht wieder weggehen? Ist das nicht...

etwas, was ich selbst tun muß?«
»Nur wenn du willst.«

Die innere Tür ging auf. Ein Mann mit wildem Blick stand dort. Er hatte eine Pistole und feuerte mitten in ihr Gesicht. Es tat weh. Es schien zu rasch zu kommen, zur falschen Zeit; sie war nicht bereit, hatte noch nicht alles gesagt, was sie sagen wollte.

»Es gibt noch vieles, was ich tun wollte«, beschwerte sie sich.

»Das gibt es immer.«

Sie hatte nicht gewußt, daß Marc noch da war; dieser Ort war unbestimmt und seltsam.

»Ist es vorbei? Marc, ich war noch nicht fertig. Ich hatte gerade erst angefangen, mir über die Dinge klarzuwerden.«

Er lachte und streckte die Hand aus. »Dann bist du den meisten voraus.«

Er war für sie klar und deutlich zu sehen; es war die Welt, die verschwommen war. Sie blickte sich um. Stimmen waren zu hören, das geschäftige Murmeln angehäufter Zeitalter, eine Zeit von solchem Gewicht, daß die Welt es kaum tragen konnte.

»Ich hätte es besser machen können.«

Die Hand blieb ausgestreckt, als sei die Geste von Bedeutung. Sie streckte die eigene aus, und seine war warm.

»Bis die Sonne stirbt«, sagte er. »Was dann?« Es war die erste Frage. Er sagte es ihr.