Der Highliner

(NEW YORK)

 

Die Stadt stieg nach oben, ein einzelner Turm, der auf die Wolken zielte, konkav gekrümmt von der riesigen Basis bis zum nadelspitzen Gipfel. Sie hatte im Verlauf ihrer Geschichte viele Phasen durchlaufen. Kriege waren gekommen und gegangen. Wenn zerstört, war sie auf den Ruinen neu errichtet worden, hartnäckig immer weiter nach oben, als sei dies die einzige Richtung, die sie kannte. Wie es ursprünglich zu dieser Bauweise gekommen war, wußte niemand mehr, sondern man wußte nur, daß sie wuchs, und im Alter der Sonne, als die Tage der Erde seltsam wurden, wuchs sie in ihre letzte Verrücktheit hinein, wurde zu einem Berg mit Fenstern, einem Turm, einem Babel des Jüngsten Tages, das in den düsteren Himmel ragte. Ihre Ausdehnung war an der Basis gewaltig, und sie zerbröckelte ständig unter dem eigenen Gewicht, jedoch verlief ihr Wachstum schneller als diese Zerstörung, und sie wurde unten immer breiter und an Basis und Kern immer solider, und die Wände bildeten die verrücktesten Winkel, um die Spannungen zu absorbieren.

Im Verlauf ihres Lebens hatte sich das Klima viele Male verändert. Jetzt kam das Eis und erstarrte auf ihrem Gipfel, und sogar im Sommer gefroren die Abendnebel auf der windzugewandten Seite und zerbröselten sie weiter; aber immer noch wuchs die Stadt, ständig war sie von Gerüsten durchzogen, sogar in den extremen Höhen; und die kleineren Türme der Vororte folgten ihrem Beispiel, so daß sich an ihrer Peripherie, wo die Fundamente ineinander übergingen und dann auch ihres berührten, sich seltsame konkave Kegel in den Himmel erhoben, ein Ring von Turmspitzen um den größeren und unmöglichen Turm der eigentlichen Stadt herum, auf allen Seiten außer am Meer.

Nachts leuchteten die Fenster der Stadt und ihrer kleineren Begleiter, ein Schauspiel, das die Bewohner der außen liegenden Stadtberge aus ihren obersten Fenstern sehen konnten, wenn sie voller Ehrfurcht hinausblickten auf das größte und höchste Bauwerk, das der Mensch je auf der Erde errichtet hatte – oder jemals bauen würde. Und aus den weit höher gelegenen Fenstern der Stadt selbst hinausblickten auf eine Aussicht, die ihnen die Sinne raubte, so hoch über der ganzen Welt. Selbst bei getönten und gegen die Strahlungen der sterbenden Sonne abgeschirmten Fenstern funkelten die Reflexe mit störender Helligkeit über das Land und in den Fenstern der anderen Gebäude; und bei Nacht erhoben sich die Städte wie juwelenbedeckte Spitzen einer Krone der Welt, hochragende Erhebungen, die vielleicht eines Tages integriert sein würden, wie ihre Fundamente jetzt schon.

Sie waren allein, die Stadt und ihre sie umgebenden Begleiter, in einer Landschaft, die inzwischen verwildert war; auf einer Erde, abgesondert von den jüngeren bewohnten Welten, nur noch verbunden mit ihrem gealterten und unzuverlässigen Stern.

Der Turm war für die Elite da, die Künstler, die Analytiker, die Direktoren von Gesellschaften und die Gouverneure. Die Macher und Bauarbeiter und Arbeiter lebten unten an der ausgedehnten, labyrinthischen Basis und arbeiteten dort an der Füllung des Kerns oder auch draußen am Abbrechen von immer mehr Gestein, das die Wege heraufkam, von immer ferneren Quellen her; und manche arbeiteten an der äußeren Wand, bauten diese noch aus. Es war gleichzeitig ein Gebirge und eine Stadt, und doch mächtig. Sie hatte ihren Stolz, sowohl in den Händen ihrer Arbeiter als auch in der hinaufragenden Spitze.

Und die Highliner gingen mit einem besonderen Teil dieses Stolzes umher, waren stolz auf ihr Gewerbe und dessen Merkmale, wozu eine eher geringe Größe und einzigartiger Mut gehörten.

Johnny und Sarah Tallfeather waren solche, Bruder und Schwester; und Polly Din und Sam Kenny waren zwei weitere. Sie gehörten zur Ostfläche des achtundvierzigsten Sektors (wobei sie jedoch überall arbeiteten), und wenn sie am Grund waren, in der Domäne der Bauarbeiter, dann gingen sie dort mit der speziellen Arroganz ihres Schlages umher, dessen Angehörige dazu in der Lage waren, an einer Schnur in den großen kalten Winden des Draußen zu hängen und auf die Stadtberge hinabzublicken, einen Schweißbrenner zu handhaben oder Kräne aufzubauen, die hochgezogen werden mußten aus dem dichten Gewebe von Trossen und Winschen, die dann weitere Gerüste, Stein und Mörtel hochzogen. Die Highliner konnten dank Geduld und Geschicklichkeit große Gewichte in den Winden handhaben, aber am wichtigsten war, daß sie den Mut hatten für die Höhen und die Kanten.

Andere mochten ihnen folgen, nachdem sie dafür die Plattformen errichtet hatten, krochen auf diesen Plattformen herum, die von den Trossen der Highliner gehalten wurden, Bauarbeiter, die tapfer genug waren, verglichen mit anderen, die ihre ganze innere Kraft benötigten, über die Zweihundert hochzuklettern und zu den Fenstern der Außenwand hinauszublicken; aber diejenigen, die nur von Seilen gehalten ganz oben an der Außenwand arbeiteten, waren ein besonderer Schlag, die wenigen, die diese furchtbare Faszination ertragen konnten, die zwischen der sterbenden Sonne und den geringen Städten arbeiten konnten, die es fertigbrachten, hinaus ins Nichts zu treten und wie Spinnen in den heulenden Stürmen zu hängen und den eiskalten Nebeln; und noch seltener waren die, die es sowohl mit Mut als auch den Fähigkeiten von Ingenieuren taten. Sie waren die ersten Teams auf jeder Baustelle, die Elite einer besonderen Art.

So auch der achtundvierzigste.

Der Befehl war ergangen: die Stadt würde in östlicher Richtung wachsen, hin zum Queens-Turm; die Arbeit war schon im Gang, die Oberlichter des Grundes auf dieser Seite zugedeckt, denn die Arbeit in der Höhe erforderte es. Im Osten des Grundes stieg der Wohlstand explosionsartig an durch die Einrichtungen, die für Verpflegung und Unterkunft der dorthin verlegten Bauarbeiter sorgten.

»Es wird Veränderungen geben«, murrten einige von weiter oben, die weniger glücklich darüber waren, denn es bedeutete, daß dieser begünstigte Stadtbezirk seine Aussicht verlor und Zugänge, Übergang in den Kern, um letztendlich gefüllt zu werden, und ihre Fenster würde man herausnehmen und vorsichtig und liebevoll weiter draußen anbringen, während die Bauarbeiter vorangingen. Die Computer regierten, diktierten die kostenwirksamen Vorgänge; und die Highliner kamen herein.

Sie fingen damit an, die unteren Stockwerke zu begehen, eine Arbeit, die sie ungeduldig machte, die sie meistens den Bauarbeitern überließen, die dazu ausreichend befähigt waren; dann begann ihre eigentliche Arbeit, die Besteigung der Ostfläche selbst, Stockwerk auf Stockwerk, wobei sie in die Stürme hinausschwangen und das Bauwerk mit den Augen nach irgendwelchen Schwächen der Konstruktion oder des Gesteins absuchten, die abwichen von dem, was die Computer vorhersagten. Kleine Risse waren reichlich vorhanden und bedeuteten nichts Ungewöhnliches; die Highliner notierten sie auf Karten, und die regulären Linermannschaften schlossen sie.

Die Liner arbeiteten immer weiter oben und suchten jede Nacht in wachsender Zahl den Grund auf, denn der Gerüstbau hatte jetzt begonnen und bedeckte den Grund weithin, und neue Freudenhöhlen und Schlafunterkünfte waren weithin im Grund eröffnet worden, um sie zu versorgen.

Es existierten natürlich noch tiefere Ebenen, als die Liner jemals zu sehen bekamen, und auch sie wurden von einem speziellen Schlag bearbeitet, der dort seine Arbeit tat, Menschen, die die Fundamente sondierten, auf denen dieses zusätzliche Gewicht ruhen sollte, die durch die engen Tunnels krochen, tief eingelassen in das steinerne Herz der Basis. Flüsse, behaupteten Gerüchte, strömten immer noch dort unten, aber schon vor langer Zeit hatte die Stadt sie eingeschlossen und kanalisiert, sich zum Felsgestein darunter durchgegraben und ihre breite Unterseite auf das tiefe Gestein gelegt, um dort für alle künftigen Zeitalter zu hocken. Dieses riesige Gewicht zerbrach hin und wieder seine Stützen, und kostbare Leitungen für Energie und Wasser mußten neu verlegt werden zum Ausgleich für seitliches Wegrutschen, das auch passierte, in Bruchteilen von Zoll pro Jahr oder manchmal auch mehr, wenn die Erde sich über das enorme Gewicht beschwerte, das sie tragen mußte. Auch das Meer schlug dort unten an eine Seite, aber dieser Rand war abgestützt und ausgekleidet; die Toten waren da unten zu finden, die Asche der gewöhnlichen Toten und die von so manchem Bauarbeiter, der es nicht geschafft hatte, von einem zusammenstürzenden Durchgang wegzukommen... aber die Toten dienten demselben Zweck wie der andere Staub, nämlich zur Füllung der Risse, und so traf es zu, daß die Lebenden auf den Toten bauten.

So wuchs die Stadt.
»Morgen geht's hinauf zu den Neunzigern«, sagte der Liner-Boß, und die vier anderen Mitglieder von 48 Ost, müde vom Tag, bis auf die Knochen durchgefroren vom Nebel und eifrig bedacht, schnell auf den Grund und in seine Höhlen zu kommen, nahmen Jino Browns Anweisungen entgegen und reichten ihre Karten ein. »Wo warst du denn, Boß?« fragte Sam Kenny. Manchmal ging Jino mit ihnen hinaus und manchmal nicht. Und es war ein kalter, bis auf die Knochen gehender Tag dort draußen gewesen.

»Ja«, sagte Johnny. »Der Wind frischt auf, Jino, und wo hast du gesteckt?«

»Sitzung«, sagte Jino; als Ersatz für den zurückgetretenen Boß reagierte er auf solche Scherze mit einem finsteren Stirnrunzeln, hatte nicht die gute Laune, die sie an ihm ausprobierten. »Du machst dir zu viele Sorgen«, meinte Johnny und öffnete den Gürtel seines Geschirrs. Er war als letzter hereingekommen, zitterte immer noch und hüpfte auf und ab, um seine Muskeln zu wärmen. Er schälte sich aus dem schwarzen Gummianzug, hängte seine Ausrüstung neben die der anderen im engen Einstiegsraum, an dessen äußerem Ende die große, nach außen führende Luke fest und sicher verschlossen war. Sie hatten dort auch eine Dusche, und Sarah und Poll durften sie als erste benutzen. Sie sahen glücklicher aus, als sie herauskamen, während Johnny sich noch von den letzten Teilen seiner Ausrüstung befreite, sich ein Handtuch schnappte und dann mit Sam in die Dusche begab. Sie heulten auf unter der Temperatur, die die Frauen dort zurückgelassen hatten und die auf ihre ausgekühlten Körper siedend heiß wirkte. Sam regelte sie nach unten, und sie seiften sich ein und spülten sich ab und kamen wieder heraus, während sie sich trockenrieben.

Die Frauen waren bereits angezogen und warteten. »Wo ist Jino jetzt hingegangen?« fragte Sam. Die Frauen zuckten die Achseln.

»Wir müssen vorsichtig mit ihm sein«, meinte Sarah. »Ich glaube, wir haben seine Gefühle verletzt.«

»Ah«, sagte Johnny, genau die Reaktion, die das verdiente. Er griff nach seinen Kleidungsstücken und zog sich an, und Sam folgte seinem Beispiel, während die Frauen warteten.

»Runter geht's«, sang Sarah anschließend und hängte sich bei ihm ein, hakte Sam mit der Linken unter und lachte. Er packte Polly, und sie schlängelten sich hinaus und den Gang hinunter, lachten aus bloßem Vergnügen daran, hier an dieser mit Teppichen ausgestatteten, vornehmen Stelle des Turms mit den ruhigen, teuren Wohnungen der Einwohner. Sie benutzten den Dienstaufzug, ihr Privileg – was günstiger war, denn dieser Aufzug hielt nur selten und diesmal gar nicht, sondern schoß mit ihnen abwärts, während sie an den Wänden lehnten und sich gegenseitig erwartungsfroh angrinsten.

»Wurm«, schlug Sarah vor, ein bevorzugtes Stammlokal. »Säule«, sagte Poll.

»Geht ihr euren Weg, wir unseren.«
»In Ordnung«, sagte Sam, und es war auch gut so: Sam und Sarah hatten etwas miteinander; er und Poll ebenfalls, und er dachte bereits mit Wärme daran... daran und an das Abendessen, was beides im Moment ihm gleichermaßen begehrenswert schien. Der Aufzug hielt abrupt auf der zweiten Ebene an, und die Tür ging auf, ließ sie hinaus in den engen Irrgarten fensterloser Windungen von Treppen und Durchgängen, Granit, aus dem Wasser sickerte, herausgequetscht aus dem Gestein durch die gewaltige Masse über ihnen.

Und Musik – Musik wurde hier fortwährend gespielt und erzeugte verrückte Echos in den tiefen Steinkatakomben. Auch eine andere Art von Musik war zu hören, die der Leitungen von den Flüssen herauf, und diese sangen leise, wenn man die Hand darauf legte, durch die Kraft des Wassers, das darin auf- und abstieg. Energieleitungen waren zu sehen, isoliert und farbig bemalt; es gab Bereiche, abgegrenzt durch gelbe Schilder mit den Aufschriften GE-FAHR und KEIN ZUTRITT, unterirdische Mysterien, wo die Aufgabenbereiche der Tiefenarbeiter lagen, nicht für die Liner und schon gar nicht für die Einwohner des hohen Turms mit ihren zarten Händen, die sich auf der Suche nach Nervenkitzeln hier unters Volk mischten.

»Gehen wir meinen Weg?« fragte Sarah Sam, und sie marschierten davon, die Treppe zum nächsten Stockwerk hinunter, zu dem altertümlichen Wurm; Johnny jedoch drückte Poll an sich und nahm den Korridor, der sich an einer der Wasserleitungen entlangschlängelte und zum Kern der zweiten Ebene führte; die Säule war bis hin zu ihrem Dekor etwas für Liner, das aus alter Ausrüstung bestand und hingekritzelten Unterschriften. Sie gingen hinein durch einen Torbogen, der nur durch lautere Musik von anderen zu unterscheiden war – man mußte schon wissen, wo man war hier unten auf dem Grund, oder einen Führer haben und dafür bezahlen; und keine Einwohner von oben wurden zur Säule oder zum Wurm geführt, nicht ums Leben der Führer. Johnny fand seinen Lieblingstisch neben dem großen Träger, der dem Lokal seinen Namen gab, um den herum die Tische in Schlangenlinien standen, eine Rundumbiegung, die Privatsphäre gewährte, und innerhalb des pochenden Herzschlages der Musik auch Ruhe und Wärme nach den heulenden Winden.

Er und Poll bestellten das Abendessen bei dem Jungen, der hier servierte; einen kleinen »Kleinen«, sagte er und maß eine Spanne mit den Fingern – ein Glas Tee, denn morgen ging es wieder hinaus an die Seile und Trossen, und dabei konnten sie keine dicken Köpfe gebrauchen.

Sie hatten natürlich noch weitere Vergnügungen im Sinn, denn in der Säule wurde mehr geboten als nur diese verräucherte, musikdurchpulste Höhle und Speis und Trank; darunter lagen weitere Räume, die Treppe im hinteren Bereich hinab, wo die Ruhe geboten wurde, die sie sich verdient hatten.

Sie beendeten ihre gute Mahlzeit, saßen dann dort und nippten an ihrem Tee, beäugten einander mit der Erwartung einer schon lange dauernden Bekanntschaft, aber auch der Tee war gut und genau das, worauf sie den ganzen Tag lang gewartet hatten, während die Welt unter ihren Füßen schwang und die Anstrengung ihnen alle Feuchtigkeit aussaugte. Sie waren alte Freunde, und die bedächtige Liebe konnte das Getränk noch abwarten, die Liebe und der lange ruhige Schlaf am Grund, das tröstende Gewicht der Stadt im Rücken, hier, wo die Welt fest war und warm.

»Tallfeather.«

Er blickte sich um, blickte in die Musik und den Rauch. Niemand gebrauchte sonst seinen Familiennamen, keiner von den Highlinern; aber es war auch keine Stimme, die er kannte... ein dünner Mann im blauen Overall der Bauarbeiter, andererseits aber ohne deren schleppenden Akzent.

»Tallfeather, ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Privat.«

Er runzelte die Stirn und betrachtete Poll, die ein besorgtes Gesicht machte. »Ein grober Mann, das.«

»Mr. Tallfeather.«

Niemand am Grund sagte Mister. Das machte ihn neugierig. »Poll, macht es dir etwas aus? Ich werde mich nicht lange mit diesem Mann aufhalten.«

»Ich gehe«, sagte Poll. Ein Schatten lag in ihren Augen, die leiseste Andeutung von Furcht, hätte er beinahe gemeint, aber es gab keinen Grund dafür, den er sich ausrechnen konnte.

»Spielt keine Rolle«, sagte der Mann und hakte ihn unter, um ihn hochzuziehen. »Wir haben ein Plätzchen, wo wir hingehen können.«

»Nein.« Er erhob sich und stellte sich breitbeinig auf, funkelte in das Gesicht des Mannes hinauf. »Sie sind dabei, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Wie heißen Sie? Zeigen Sie mir Ihre Karte!«

Der Mann griff in die Tasche und zog eine hervor. Manley, besagte sie, Joseph, und identifizierte ihn als einen Ostflächenbauarbeiter, was eine Lüge war bei diesem Akzent. Firmennummer 687. Privatbeschäftigter.

Also stand Geld hinter der Sache, womit man gefälschte Karten bekommen konnte. Er drehte sich um, um Poll nach ihrer Meinung zu fragen, aber sie war entwischt und er mit dem Mann allein. Er setzte sich wieder an den Tisch und deutete auf den anderen Stuhl. »Ich wäre verrückt, wenn ich mit Ihnen zusammen hinausginge. Setzen Sie sich dorthin und reden Sie vernünftig, oder ich führe ein Gespräch mit der Sicherheit, und ich glaube nicht, daß Ihnen das gefallen würde, oder?«

Manley setzte sich und streckte die Hand nach seiner Karte aus. Johnny gab sie ihm. »Also, wer sind Sie?« drängte er.

Im Augenblick hielt sich niemand in ihrer Nähe auf. Die riesige Säule schnitt sie von Augen und Ohren anderer ab, und der Kellner war entweder in der Küche verschwunden oder hinter der Biegung.

»Sie sind vom 48. Ost«, sagte Manley. »Und dieses Projekt, bei dem Sie beschäftigt sind... Sie wissen, welche Art Geld dabei herumgeworfen wird. Wollen Sie Ihr ganzes Leben in den Seilen hängen, Tallfeather, oder denken Sie auch schon mal an das Alter?«

»Die Seile machen mir nichts aus«, erwiderte Johnny. »Da liegt meine Aufgabe.«

»Es würde sich für Sie lohnen, mit mir zu kommen. Nicht weit. Keine Tricks. Ich habe da einen Freund von Ihnen, der bestätigen wird, was ich sage. Sie werden ihm vertrauen.«

»Was für ein Freund?«
»Jino Brown.«

Das beunruhigte Johnny. Jino mit etwas verwickelt, das eine solche Geheimniskrämerei mit sich brachte? Jino hatte stets Geldsorgen. Beteiligte sich an Glücksspielen. Das war wieder etwas anderes. »Ich habe einen Zeugen, erinnern Sie sich? Meine Teamgefährtin wird erfahren, wer Sie sind, nur für den Fall, daß Sie auf dumme Gedanken kommen.«

»Oh, sie kennt mich bereits, Mr. Tallfeather.«

Das erschütterte sein Vertrauen noch weiter, denn er kannte Poll sein ganzes Leben lang, und sie war ehrlich.

Und verängstigt.
»In Ordnung. Schlage vor, wir machen diesen Gang.«

»Gut«, sagte Manley und stand auf. Johnny folgte seinem Beispiel und begleitete ihn zur Tür, erwischte den jungen Kellner, bevor er hinausging. »Tommy, ich gehe mit diesem Mr. Manley.« Er zog den Bestellblock aus der Tasche des Jungen und notierte den Namen und die Firmennummer, die wahrscheinlich falsch war. »Und du gibst meine Rechnung in den Comp und setzt dein Trinkgeld darauf, und du vergißt nicht, mit wem ich gegangen bin, klar?«

»Klar«, sagte der Junge. Ein Bauarbeiter von Geburt war dieser Tommy Pratt, aber klein und kränklich und beklagenswert bleich. »Hast du irgendwelche Schwierigkeiten, Johnny?«

»Behalte einfach den Namen im Gedächtnis und flüstere ihn den Linern ins Ohr, wenn ich bis zum Morgen nicht zurück bin. Sonst vergiß ihn!«

»Ja, Sir.«

Manley gefiel das nicht. Johnny zeigte ein gespanntes, hartes Lächeln und ging dann mit ihm, die gewundenen Wege hinaus, wohin der Mann ihn führen wollte. Tatsächlich waren es Neugier und Mut, die ihn veranlaßten, mit Manley zu gehen, eine scheußliche Art von Neugier. Er war kein Mensch, der weiche Knie bekam beim Anblick der Seile, aber diese Sache hatte etwas mit denen zu tun, mit denen zusammen er dort hinausging, und wo ihre Gedanken waren, darüber wollte er Bescheid wissen.

Nach einer guten Strecke folgte ein weiterer Abstieg, eine Reihe von Biegungen hinunter, und dann eine Treppe hinauf und wieder hinunter, schon am Rande des Grundbereiches, den er kannte; und dem Verlust der Orientierung so nahe zu sein, machte ihn auch nervös.

Jino saß an dem Tisch, der der Tür am nächsten stand; er erhob sich, um ihn zu begrüßen, führte ihn aber nicht an den Tisch, sondern, eine Hand auf seine Schulter gelegt, nach hinten in einen der Räume, wie es sie an den meisten derartiger Stellen gab, wo die hämmernde Musik und der Irrgarten für alles die nötige Heimlichkeit boten.

»Was bedeutet das?« fragte Johnny, der jetzt niemandem mehr vertraute; aber Jino schob ihn zu einem Stuhl an dem runden Tisch, der den Raum fast ausfüllte und der wahrscheinlich dem Glücksspiel diente... Jino kannte natürlich solche Plätze. Manley hatte sich bereits hingesetzt, als gehörte ihm das Lokal, und starrte sie beide an, während sie sich setzten. »Ich werde Ihnen erzählen, worum es geht«, sagte er. »Die Ostfläche am neunzigsten hat einen Fehler, verstehen Sie?«

»Sie hat keinen Fehler.«
»Einen großen«, widersprach Manley. »Er wird das ganze Projekt einen Grad vom Kurs abbringen.«

»Wir werden irgend etwas Wichtiges übersehen«, meinte Jino, »was auch immer die Computer projektiert haben. Wir sind die, die hinausgehen, nicht die Computer. Wir sagen, was richtig ist und was nicht.«

Er betrachtete Jino, bekam langsam die ganze Richtung mit, und sie gefiel ihm überhaupt nicht.

»Mr. Tallfeather«, sagte Manley. »Eigentum hängt hiervon ab. Das große Geld. Und es wird weithin verteilt werden. Wir haben da, sehen Sie, eine Gesellschaft, die Hilfe braucht; die großen Schaden nehmen wird, wenn die Dinge so weiterlaufen, wie sie jetzt laufen; und vielleicht haben manche anderen Gesellschaften Beziehungen zu den Computerbetreibern, eh? Vielleicht werden die Bilanzen gerade ausgeglichen. Begreifen Sie?«

»Was für eine Gesellschaft? Meinen Sie diese ATELCORP-Geschichte, die Gesellschaft, die so viel Theater gemacht hat?«

»Sie brauchen keine Namen zu kennen, Mr. Tallfeather. Spielen Sie einfach mit dem Rest Ihres Teams weiter. Sie werden alle beteiligt sein. Alle. Und nichts ist nötig außer Ihrem kooperativen... ah... Stillschweigen.«

»Sicher, und vielleicht werden Sie allen erzählen, ich hätte mich einverstanden erklärt.«

Manley machte ein finsteres Gesicht. »Sie sind die letzten Verweigerer, Tallfeather, Sie und Ihre Schwester. Sie beide sind der große Hemmschuh, die Leute, bei denen es, wie wir wußten, schwierig sein würde, sie zu überzeugen. Aber diese Sache ist Teamarbeit. Das respektieren Sie. Sie werden doch nicht Ihre drei Partner aus der Dankbarkeit dieser Gesellschaft ausschließen wollen. Denken Sie an Ihr Alter, Tallfeather! Denken Sie daran, wie es sein wird, wenn Sie nicht mehr jung sind, wenn Sie immer noch hinausgehen müssen. Und die Dankbarkeit dieser Gesellschaft – kann lange vorhalten.«

»Geld«, sagte Jino. »Genug, um uns gutzutun. Wir sind vorbereitet, verstehst du, Johnny? Die Sache ist nicht krumm; genau wie er sagte – einfach nur den Einfluß ausgleichen, den andere auf die Computereingaben haben. So sind beide Seiten gekauft. Das hat riesige Auswirkungen, Johnny; der Rat, die Gesellschaften, die sie betreiben... – es ist ein Griff nach der Macht!«

»Mr. Brown«, mahnte Manley.
»Johnny ist vernünftig. Es ist eine Sache des Erklärens.«

»Ich denke, ich verstehe«, meinte Johnny mit flacher Stimme.

»Vertrauen Sie der Gesellschaft«, sagte Manley. »Jemand spricht auch mit Ihrer Schwester.«

Panik bemächtigte sich seiner. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Er ging mit diesen Leuten hinaus in die Seile. Er mußte. Es war alles, was er hatte. »Sarah wird mitmachen, wenn ich es tue. Wer finanziert es? Welche Gesellschaft? Wenn wir schon beteiligt sind, schätze ich, dann sollten wir auch Bescheid wissen.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken.«

»Halte einfach den Mund und nimm an«, sagte Jino. »Und stimme den Karten zu. Diesen Teil erledige ich. Du hältst einfach den Mund und streichst deinen Anteil ein.«

»In Ordnung«, sagte er. »In Ordnung. Kein Problem von meiner Seite.« Er schob sich vom Tisch zurück. »Ich gehe jetzt besser zurück. Macht es Ihnen etwas aus? Ich habe einige Anweisungen hinterlassen für den Fall, daß ich nicht schnell zurückkehre.«

Jino runzelte die Stirn und winkte ihm, zu gehen. Er stand auf und ging hinaus, durchquerte den großen Raum und ging die Korridore entlang, hatte ein Gefühl wachsender Schwere im Innern.

Tommys Gesicht hellte sich erleichtert auf, als er ihn sah; Johnny tätschelte dem Jungen die Schulter. »Poll?« fragte er, und Tommy blinzelte und sah sich um.

»Ich glaube, sie ist gegangen«, sagte Tommy.

Er überprüfte es. Sie war nicht in dem Zimmer, das sie gemietet hatten. Nicht oben. Er machte ein finsteres Gesicht und ging, begab sich auf der Suche nach Sarah zum Wurm.

Auch sie war fort. Ebenso Sam Kenny.

Er setzte sich und bestellte einen Drink, setzte sich damit an einen Tisch neben der Eingangstür des Wurms – eine Höhle, so dunkel und laut und rauchig wie die Säule, aber kleiner und älter; und er stellte einige Fragen, jedoch nicht zu viele, damit nicht irgend jemand von den Linern oder dem Management die Brauen hochzog. Er trank aus, saß mit einem Gefühl der Übelkeit da und bestellte noch Drinks.

Endlich kam sie herein. Er zwang sich dazu, sitzenzubleiben, saß kühl und schweigsam da, bis Sarah ihn ausfindig gemacht hatte und mit einem bekümmerten Blick zu ihm herüberkam, der davon zeugte, wo sie gewesen war. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich.

»Ich weiß Bescheid«, sagte er. »Sie sind zu dir und Sam gekommen?«

»Was sollen wir machen, Johnny?«
»Was, hast du ihnen gesagt, werden wir tun?«
»Ich habe ihnen gesagt, wir würden darüber nachdenken.«

»Ich habe ihnen gesagt, daß wir mitmachen«, sagte er. »Was, glaubst du, sind wir, Sarah?«

Ihre Schultern sanken herab, und sie saß da und sah mißmutig aus. Sein Drink traf ein, und er schob ihn zu ihr herüber und bestellte sich einen neuen. »Ich glaube nicht«, sagte sie, als sie allein waren, »ich glaube nicht, daß sie uns vertrauen, Johnny, egal, was sie uns versprechen.«

Er dachte darüber nach, und es machte ihm Angst, so gut paßte es zu seinen eigenen Gedanken. »Wir machen mit. Etwas anderes können wir nicht tun. Wenn wir es anzeigen – wissen wir nicht, was da aufgewirbelt wird oder wie weit das reichen würde, oder welche Feinde wir uns damit schaffen.«

Sie nickte.

Sie nahmen Zimmer im Wurm. Johnny nahm eine Flasche mit und Sarah tat es ebenfalls, und zumindest er schlief. Soweit er es mitbekam, kehrte Sam in dieser Nacht nicht zurück.

Und am späten Vormittag gingen er und Sarah zusammen zum Dienstaufzug und betraten ihn mit zwei Linern aus einem anderen Team, die zur zehnten Ebene hinauffuhren. Sie sprachen nicht miteinander. Die anderen Liner stiegen aus, und weiterhin wechselten sie kein Wort miteinander, die ganze lange Fahrt bis zur neunzehnten nicht.

Dort ging es den teppichbelegten Flur entlang zur Eingangshalle, wo sie als erste eintrafen. Sie zogen sich aus und legten die Arbeitskleidung an, warteten dann mit zurückgelegten Kapuzen und nicht angelegten Handschuhen. Sam tauchte auf, dann Poll, und sie wichen ihren Blicken aus. Gift hing in der Luft. So etwas hatte es noch nie gegeben – Streitereien ja, aber dergleichen noch nicht. Jino traf ein, das Clipbrett in der Hand, und das Schweigen dauerte an. »Verdammt«, sagte Jino. »Kopf hoch und seht lebendiger aus! Konzentriert euch darauf! Wer hat geredet?«

Johnny schüttelte den Kopf. Jino blickte von einem zum anderen. »Was stimmt nicht?« fragte Johnny. »Jino, vielleicht sollten wir alle das erst mal in Ordnung bringen. Oder vielleicht gehen wir heute nicht hinaus.«

»Fragen, sonst nichts.« Jino nahm Anzug und Geschirr vom Haken und zog sich um, wie die anderen. »Der Mann war noch einmal bei mir, versteht ihr? Hat mich angehalten und gefragt – gefragt, ob irgend jemand im Team vielleicht Hintergedanken haben könnte. Hat jemand von euch geredet?«

Alle schüttelten den Kopf, einer nach dem anderen. »In Ordnung dann.« Jino stieg in den Anzug, zog den Reißverschluß hoch, und die anderen zogen sich die Kapuzen über und hängten sich die Masken zurecht. »Alles klar«, meinte Jino. Er gurtete sich das Geschirr um die Brust und zwischen den Beinen hindurch, nahm das Clipbrett und hakte es sich an den Gürtel. »Die Sache ist sowieso schon in Gang. Ich habe die Zahlen bekommen. Alles, was wir tun müssen, ist, diese Daten zu entwickeln; alles ist durchgerechnet; sie haben mir den Entwurf für das gegeben, was wir einreichen müssen. Ist das schwierig?«

Wieder schüttelten sie die Köpfe. Johnny hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Er wand sich mit den Schultern in das eigene Geschirr, zog es hoch und hakte es fest, überprüfte das kostbare Seil, in seinem Behälter zusammengerollt, um sicherzugehen, daß es sich glatt aufrollte und die Bremse auch so stoppte, wie sie sollte.

»Also los!« sagte Jino. »Raus jetzt mit uns!«

Sie setzten sich in Bewegung. Sam öffnete die Zugangstür, eine runde Luke; der Wind heulte herein, zwar nicht mit der Kraft wie in dem Fall, wenn auch die hintere Tür offenstand, aber sie mußten sich festhalten, sonst hätte er sie umgerissen. Poll fluchte und hüpfte etwas, war nervös. So war es immer beim Hinausgehen. Sam ging als erster, hakte sein erstes Seil an das Zugangsöhr, schwang sich hinaus und war sofort außer Sicht. In den Wind gebeugt, blickte er für einen Moment nach unten und drehte sich erst dann zum Gebäude um. Sarah stieg als nächste hinauf, sobald das Uhr wieder frei war.

Dann war Johnny an der Reihe. Er hakte sich ein, blickte hinaus in den schmetternden Wind, in den Ausblick, den die Einwohner nie ungeschützt sahen. Er zog sich die getönte Maske über das Gesicht, und das Gleißen der Sonne löste sich im fernen, schwindelerregenden Horizont auf. Er trat auf den Sims, ruckte, um sicherzugehen, daß seine Seilbremse auch stoppte, bevor er diesem sein Gewicht anvertraute. Das war es, was die Bodenmenschen niemals auf sich nehmen konnten, diese erste vertrauende Bewegung, mit der er sich hinausschwang, die schwindelerregende Krümmung des Stadtberges unter sich, Fenster und Simse... abgeschirmte Simse weiter unten, wo die Krümmung stärker wurde, und schließlich nur noch Glasplatten, dick und solide, die Fenster des Grundes, die als Oberlichter funktionierten, die so dick waren, weil stets die Möglichkeit bestand, daß etwas durch eines hindurchfiel... Eis im Winter, das sich aufbaute und dann wie Speere hinunterkrachte, Speere mit einem Gewicht von mehreren Zentnern – oder der stürzende Körper eines Liners, was auch schon passiert war, oder etwas, was ein Liner fallenließ – wenn das vorkam, reichte es, um diese Person für einen Moment auf den Grund zu schicken: selbst ein Bolzen, der aus dieser Höhe herabstürzte, wurde zu einem tödlichen Geschoß.

Neunzig Stockwerke hinunter.

Die isolierten Anzüge schützten kaum vor der Kälte. Die Masken taten es, andernfalls wären ihre Augen in dem schneidenden Wind im Nu zugefroren, ebenso die Membranen der Atemgeräte, was Ersticken bedeutet hätte. Jeder Quadratzentimeter ihrer Körper war bedeckt. Johnny hakte sein Seil an einen weiteren Bolzen, zog den anderen heraus und schwang sich in einem weiten Bogen abwärts, so daß die Steine, an denen er vorbeiflog, sich verwischten, fing sich am nächstgünstigen Sims mit einem Griff ab, der Übung verhieß und von Verachtung für die Methoden von Neulingen kündete, die geradlinig an ihrem Seil hinabkletterten und sich mühsam wieder hocharbeiteten. Er hatte seine Aufstiegslinie jetzt über sich, die Nummer Zehn; Sarah hatte die elfte, Sam die zwölfte; Poll, die hinter ihm kam, die neunte; Jino die achte in der Nähe des Eingangs. Klettern und Kartographieren und nach Rissen Ausschau halten, nach wirklichen Rissen, das war ihr eigentlicher Job; und Fluch auf jede Lüge. Er versuchte, nicht daran zu denken. Sie hatten trotzdem noch einen Job zu verrichten, die Routine der Reparatur des Bauwerks. Und hier draußen zumindest war die Luft klar, hatte das Bewußtsein eine fortlaufende Aufgabe, die stetig alle Konzentration erforderte... eine kleine Bewegung nach der anderen, die Augen geradeaus gerichtet und den Verstand beisammen.

Sie prüften und kletterten, eine gleichmäßige Arbeit jetzt, die Füße abgestützt, den Rücken ins Geschirr gelehnt. Sie waren kurz nach Sonnenaufgang herausgekommen und legten oft Ruhepausen ein. Johnny spürte die Hitze des Tages an seinem Rücken zunehmen und den Schweiß an seinen Seiten hinabrieseln. Wenigstens wurde jetzt das Eis weggebrannt, so daß die Füße nicht mehr darauf ausrutschen und das Seil nicht mehr seiner Bremse entgleiten konnte, zu einem Sturz, der auch das Herz eines Liners zum Stillstand bringen konnte. Seine Maske hielt die Luft warm und sorgte selbsttätig und fehlerfrei dafür, nicht anzulaufen – ein Atmen, das diejenigen, die ihr ganzes Leben innerhalb der Stadt verbrachten, niemals erlebten, scharf und kalt und reinigend. Johnny gelangte in die Nähe der Fenster, während der Tag sich zum Nachmittag hin neigte. Er konnte sein eigenes monströses Spiegelbild in den getönten Glasflächen sehen, an denen er vorbeikam, wie eine schwarze Spinne mit einem blanken, spiegelnden Gesicht; und ganz matt auch das Innere der Büros von ATELCORP: er erkannte das Firmenzeichen.

Sie hatten es mit ihm verdorben. Aber eine Frau saß an dem Schreibtisch, der dem Fenster am nächsten stand, und sie blickte mit hellen, unschuldigen Augen zu ihm auf. Sie lächelte; auch er tat es, unkenntlich hinter seiner Maske – machte eine Hand frei und winkte ihr zu, beobachtete ihre Reaktion, die aussah, als risse sie den Mund auf. Er grinste, löste auch den Griff der anderen Hand und packte fachmännisch die nächste Halterung, glitt höher, kletterte wie eine Spinne hinüber auf die blanke Wand. Aber die Frau sagte mit Lippenbewegungen etwas zu ihm. Er winkte, und sie sagte es noch einmal. Er konnte Lippenbewegungen lesen, wie viele Liner, gewöhnt an die Höhenwinde, genauso wie sie auch Handzeichen benutzten. Er mimte Gelächter, klatschte sich mit der Hand auf den Bauch. Ihr halb gespiegeltes Gesicht wirkte ein wenig erschreckt. Dann lachte sie. Ihre Einladung war ebenso derb wie unmißverständlich gewesen.

Er ließ wieder los und mimte, mit der Hand zu schreiben, ging sie um ihre Nummer an. Sie lachte und schüttelte den Kopf, und er hielt es daraufhin für an der Zeit, weiterzuklettern.

Er war zurückgefallen. Poll und Sam und Sarah waren voraus, zwei Stockwerke über ihm, Jino etwa auf selber Höhe mit ihm. Johnny machte ein wenig Tempo auf der glatten Wand, genau wie die anderen, da es hier keine Fenster gab, auf die man achten mußte – ausgreifen und festmachen, die Füße angleichen, ausstrecken und festmachen, niemals ganz frei in der Luft. Sie erreichten den Sims vom hundertsten Stockwerk und legten dort eine Atempause ein, betrachteten die Wolken, die im Osten aufgezogen waren, jenseits der Ringellocke aus weiteren Türmen. »Wir werden es kurz machen müssen«, meinte Sam.

»Wir machen gerade noch den Durchgang«, sagte Jino. »Wir überqueren fünf Rinnen, arbeiten uns dann abwärts und kommen wieder zum Neunziger-Eingang.«

Sie nickten. Das war, was sie wollten, keine lange Arbeit mehr bei dem Wetter, das da heraufzog. Es versprach Eis.

Und als sie die Schlaufen von Rücken und Schultern und Beinen entfernt hatten, arbeiteten sie sich den Sims entlang, nahmen den leichten Weg und ließen sich dann in ihre neuen Bahnen fallen, ein fensterloser Bereich, wo sie rasch vorankamen. Johnny beugte sich herüber und sprang zurück, als er gegen die Wand schlug, arbeitete sich dann mit Begeisterung abwärts. Aber die Begeisterung schwand, als die Muskeln müde wurden. Er blickte auf und sah, wie Sam und Sarah anscheinend mit Kartenarbeit beschäftigt waren; also hatten sie vielleicht etwas gefunden, oder sie erledigten gerade etwas von den geringfügigen Reparaturen, die sie sofort ausführen konnten.

Es war eine gute Route nach oben; die Computer hatten recht, und es war die beste Stelle. Er blickte zwischen den Füßen nach unten zum dunstverschleierten Grund, wo die Bodenvorbereitungen bereits mit so viel Mühe durchgeführt worden waren, versuchte dabei, nicht lange an die Lüge zu denken. Es ging auf die Zeit zu, wo sie ohnehin wieder hineingehen mußten. Der Wind frischte auf, während die Schatten jetzt in die andere Richtung zeigten und den Turm ein wenig trügerisch erscheinen ließen, wenn man nach unten blickte, ein schwindelerregender Ausblick selbst für jemanden, der daran gewöhnt war.

Der Wind packte zu; Johnny spürte die Kälte, und der Aufwind riß ihn beinahe vom Haltepunkt seiner Füße.

Plötzlich sauste etwas Dunkles an ihm vorbei. Er zuckte zusammen und schmiegte sich an die Wand, eine Instinktreaktion. Etwas stürzte ab – aber etwas Großes; es war... Er blickte aus dem Schatten nach oben, kniff die Augen gegen den flammenden Himmel zusammen, sah, daß die Rinne neben ihm leer war; Sarahs Rinne, und ein gerissenes Seil schlug im Wind umher.

Er stieß sich mit den Beinen ab und blickte nach unten, aber sie war inzwischen den ganzen Weg gefallen, den langen langsamen Weg hinabgewirbelt.

Sarah!

Da erst traf es ihn, der Schmerz, der Verlust. Er hing wie gelähmt im Geschirr. Seine Teamgefährten hatten mittlerweile innegehalten, waren an ihren Plätzen erstarrt. Er regte sich nicht in der windigen Stille, und der Gürtel schnitt ihm in Rücken und Hüften – seine Beine waren taub, aber sicher abgestützt.

Seine Hände lagen auf seinen Seilen. Er liebkoste die Klammer, die zwischen ihm und einem solchen Sturz hing, bemerkte dann einen Schatten, jemanden, der zu ihm herüberkam.

Poll. Sie hing dort an der Verlängerung ihres Seils und faßte Johnny an die Schulter, schüttelte ihn und deutete nach oben und seitwärts. Schrie gegen den Wind und die dämpfende Maske an. Eingang, las er ihr von den Lippen. Zum Eingang!

Er machte sich an diese Aufgabe, vollzog die automatische Bewegungsfolge, die so leicht fiel, kein Denken erforderte, weil die Ausrüstung hielt, im Gegensatz zu der Sarahs. Sarah war da unten, sein eigenes Fleisch und Gebein verspritzt über all die geschützten Oberlichter auf der langen, langsamen Krümmung des Berges.

Er fing an zu zittern. Er hing am flachen Gestein, dem Wind ausgesetzt, und weil seine Beine zitterten, konnte er den nächsten Schritt nicht tun, und seine Hände erstarrten, so daß er seinen Griff nicht mehr lösen konnte, sich nicht hinüberschwingen konnte in die nächste Rinne, sondern über ihr hängen blieb.

Noch jemand kam. Sam, und Poll. Er spürte sie mehr, als er sie sah, Körper, die neben ihm an ihren Seilen entlangsausten, und er hing dort und klammerte sich mit den Fingern fest, zuckte zusammen, erschauerte, als ein dritter herabstürzte und wie eine Spinne auf seinem Rücken landete.

Sie hängten sich an ihn an. Er wußte, was sie taten und noch tun würden, aber er war erstarrt, nur seine Zähne schnatterten. Die Kälte war zu ihm durchgedrungen, und er klammerte sich verzweifelt an die Wand, versuchte, nichts anderes mehr zu sehen, spürte, wie sie ihn mit Haken festmachten und dann seine Seile lösten.

Er kreischte, vom Wind ins Freie gerissen, schwang nach unten und wurde erst aufgehalten, als die Seile an seinem Körpergeschirr ruckten. Dort hing er, frei in den Windböen schwingend, während die Dämmerungssonne sich vor seinen verschwimmenden Augen drehte, in Streifen aufflammte und Spiralen erzeugte. Er hörte einen Schrei, einen Chor von Schreien, und ein weiterer Körper stürzte an ihm vorbei, ein Aufprall an der Schulter, der ihn in Drehung versetzte. Er versuchte zuzupacken, aber der Körper war schon an ihm vorbei, während er sich noch drehte, und er blickte ihm hinterher, immer weiter abwärts, wie sich der Stürzende wie ein Stern auf den Winden ausbreitete und davon wirbelte in seinem langsamen, schrecklichen Sturz. In der Perspektive verschwand. Den Aufprall sah er nicht. Er versuchte, seinen Verstand davon zu überzeugen, wie der andere sicher und unverletzt hoch- und davonschnellte; aber er war aufgeprallt; und es war eine schreckliche Art zu sterben. Wie bei Sarah.

Sein Magen würgte. Der Wind riß ihn hin und her. Zwei von ihrem Team waren abgestürzt. Zwei. Er hing dort und dachte an das Seil, das niemals nachgab – niemals! Das stand völlig außer Zweifel. Aber zwei hatten doch, und er hing dort, sein Körper losgelöst vom Gebäude in den Böen schwebend.

Er drehte den Kopf, versuchte, sich selbst zu helfen, aber seine Arme waren zu stark ausgekühlt, um sich exakt bewegen zu lassen, und er fummelte mit den Händen herum, um sich zur Wand zu drehen. Er schaffte es, nach oben zu blicken, und sah, wie die beiden anderen Überlebenden des Teams an der Einstiegsluke drei Stockwerke über ihm arbeiteten. Sie würden ihn hereinziehen, sobald sie selbst in Sicherheit waren. Aber die Luke ging nicht auf.

Verklemmt. Verschlossen. Jemand hatte sie ausgesperrt.

Und zwei von ihren Seilen waren gerissen.

Er bewegte sich wieder, als eine Windbö ihn packte und gegen die Wand schleuderte. Der Aufprall betäubte den Arm auf dieser Seite. Er handhabte den Verlängerungshaken mit der rechten Hand, drückte ihn frei, und selbst als der Wind ihn am weitesten in die gewünschte Richtung schwang, konnte er den nächsten Haken nicht erreichen. Er zog die Verlängerung schließlich zurück, ließ sie frei am Seil schwingen, und sein schmerzender Arm fiel herab, als er sich in das Geschirr sinken ließ. Dann hob er mühsam wieder den Kopf und sah, daß seine Teamgefährten gleichfalls reglos waren. Ihre Seile hatten sich verwickelt. Sie waren in Schwierigkeiten, vom Wind umeinander verdreht, erschöpft. Hin und wieder, wenn Johnny aufblickte, sah er, wie einer von ihnen gegen die Luke hämmerte, aber hören konnte er nichts, denn der Wind verschluckte alles. Hier, wo sie sich befanden, gab es keine Fenster. Es war ein blinder Winkel. Niemand sah sie; niemand hörte sie.

Das Licht schwand, von der vordringenden Wolkendecke in letzte, fließende Farben gehüllt. Der Wind wehte auch weiterhin, und langsam spuckte auch Nebel nach ihnen, vereiste die Seile, vereiste die Anzüge, fror bis zu den Knochen durch. Johnny beobachtete, wie im fernen, fernen Queens-Turm die Lichter angingen, dachte, daß vielleicht jemand hinausblickte, daß jemand vielleicht die einsamen Gestalten sah, daß jemand vielleicht neugierig wurde und einen Anruf tätigte.

Nein. Unmöglich, daß sie so weit sehen konnten, nicht mit bloßem Auge. Er konnte sich loshaken und früh sterben. Mehr nicht.

Er tat es nicht. Er hing herum, während sein Körper immer tauber wurde und die Kälte sich zu seinen Knochen vorarbeitete. Wie viele Stunden würde es dauern, bis jemand sie vermißte? Bis die anderen Liner Fragen stellten?

Er blickte auf, eine gewaltige Anstrengung, sah etwas, das in der Dunkelheit wie das Anheben eines Armes zur Luke aussah. Sie versuchten es immer noch. »Wer ist abgestürzt?« wollte er fragen. Er konnte nicht, winkte nur schwach mit der Hand, um ihnen zu zeigen, daß er noch lebte. In den Masken und den dunklen Anzügen war es unmöglich zu erkennen, um wen es sich in diesem Gewirr aus Seilen und Körpern handelte.

Es dunkelte, wurde Nacht, und Johnny spürte, wie sich an seiner rechten Seite eine Eisschicht bildete, krümmte sich und brach sie von seinem Anzug. Das Geschirr um Brust und Hüfte und Leistengegend zerrte in einem schrägen Winkel an ihm, und die Schwerkraft und das Zerren des Windes schnitten das Blut von einer Körperhälfte ab. Er kämpfte, und als der Wind ihn weit hinauszog und dann wieder zurück an die Wand schleuderte, dachte er daran, daß das dünne Seil mit jeder Bewegung immer mehr ausfranste. Es sollte eigentlich nicht.

Es sollte eigentlich nicht. Sie waren ermordet worden.

Starben deshalb hier draußen.

Hinaus und zurück. Er ächzte unter der Qual, ein betäubtes Wimmern, denn er hatte genug, aber niemanden bei sich, dem er es erzählen konnte. Wieder hinaus – und zurück an die Wand.

So ging es unablässig weiter, und die Wolken versperrten sogar den Blick auf die Sterne, nur die Lichter der Stadt waren sichtbar, die wie Edelsteine strömten und wirbelten und tanzten. Er bekam einen Eissplitter zu fassen und schob ihn sich unter die Maske und in den Mund, um den quälenden Durst zu lindern. Der Arm fiel wie Blei herab. Er hörte auf, sich zu bewegen, war sich nur noch des heulenden Windes bewußt, eines Schmetterns, so als würde er von einem Riesen angehoben und wieder hinabgeschleudert.

Lös den Haken! flüsterte eine leise Stimme ihm zu. Gib auf! Laß los!

Jemand tat das. Ein Körper wirbelte vorbei, ein dünner, protestierender Schrei – vielleicht anders überlegt? Gram? Empörung?

Er konnte ihn nicht fallen sehen. Der Körper verschwand in Dunkelheit und Ferne, für einen Moment ein Schatten vor dem Licht unten, und dann verschwunden, vom Wind davongetragen.

Haben sie sie nicht entdeckt da unten? wunderte sich Johnny. Wissen sie es noch nicht? Aber die Oberseite des ganzen Grundes war abgedeckt wegen der Bauarbeiten. Niemand würde etwas erfahren, sofern nicht jemand im Moment des Sturzes hinausblickte, sofern es nicht zufällig jemand sah.

Einer vom Team war oben geblieben. Ein Gefährte in der Dunkelheit. »Wer bist du?« schrie er. »Wer?«

Seine Stimme wurde fortgetragen. Keine Antwort erreichte ihn.

Er sank ins Geschirr zurück, ließ die Hand fallen, erschöpft, im Begriff, bewußtlos zu werden.

Kam wieder zu sich auf dem Höhepunkt eines Schwungs, schrie auf, als er für einen Moment frei in der Luft hing. Aber er war immer noch am Seil. Der Ruck kam, und er prallte gegen die Wand, schluchzte auf unter dem Schlag. Die Nacht war schwarz, und auch der Winkel, in dem sie steckten, war schwarz. Er baumelte und drehte sich, seine Seile schon lange verheddert, sah die ganze Welt in Schwarz, lediglich am Grund ein paar Lichter, der Queens-Turm ein schwarzer, hochragender Obelisk aus Dunkelheit.

Früher Morgen? Wie viele Stunden noch, bis es hell wurde?

»Wer ist da oben noch?« rief er wahrend einer Pause der Böen in den Wind.

Keine Antwort. Der Kopf fiel ihm auf die Brust, und er spannte die Muskeln, als eine abgeirrte Bö zwischen ihn und das Gebäude geriet und ihn fast im rechten Winkel abhob, so daß die Stadt und der Himmel schwindelerregend umherwirbelten. Die Bö erstarb. Er schwang zurück, prallte auf und erschlaffte, wußte, daß bei einem nächsten Mal vielleicht sein Rückgrat brechen würde.

Laß es doch! drängte ihn die innere Stimme. Beende die Qual!

Das Seil riß vielleicht bald. Ersparte ihm vielleicht die Mühe. Sicherlich war sein Geschirr ebenso sabotiert worden wie das der anderen, während es im Eingangsraum gehangen hatte.

Jino, dachte er, Jino, der am dichtesten zum Eingang geblieben war. Aber die Tür war zugesperrt worden. Auch für ihn. Keine Zeugen.

Dieses Team loswerden, für die Zuweisung eines anderen sorgen, das jemandes Interessen eher genehm war.

Er dachte darüber nach. Dachte daran, während der Wind ihn an die Wand hämmerte und im Kreis drehte und die Kälte immer tiefer in ihn hineinsank.

Licht flammte weiter oben auf. Er versuchte hinaufzublicken, sah, daß die Luke offenstand und sich schwarze Gestalten darin vor dem Licht abzeichneten. Ein Strahl wurde suchend nach unten gerichtet und erwischte sein Gesicht. Das Seil rutschte ein Stück weiter. Ihm wurde im ganzen Körper heiß und kalt bei diesem übelkeiterregenden Rutsch. Er drehte sich und versuchte einen Arm zu heben, hatte geringfügig Erfolg. Das Licht wurde fest auf ihn gerichtet. Der Wind packte ihn, ein brutaler Ruck nach draußen und quer durch den Lichtstrahl. Und dann entfernte sich das Licht von ihm. Er schrie, heiser und hilflos. Dann spürte er, wie eines der Seile kürzer wurde, wie er hochgezogen wurde. Die Winde innerhalb des Eingangs. Sie hatten sie eingeschaltet, ein gleichmäßiger Zug, der das Seil über die Wand zog, ein Seil, immer weiter hinauf. Er hing reglos daran, wagte kaum zu atmen, hatte mehr Angst als je zuvor... – das überlebt zu haben, nur damit im letzten Moment das Seil riß... Der Wind packte ihn auch jetzt noch und schwang ihn weit hinaus, so daß er die Lichter unter sich sehen konnte.

Beinahe am Ziel. Er wandte den Kopf, um es zu sehen. Hände zupften am gespannten Seil, packten ihn am Kragen, den Schultern, dem Brustgeschirr, zerrten ihn rückwärts über den Sims des Eingangs. Ein letztes Sinken in menschliche Hände, eine Umarmung, die seinen kalten Körper auf den Boden bettete, Gesichter, die ihn umringten. Jemand zog ihm die Maske vom Gesicht, und er zuckte unter dem weißen Licht zusammen.

»Noch am Leben«, sagte jemand. Liner. Die Luke stand noch offen. Johnny versuchte, sich zu bewegen, rollte sich auf die Seite und sah seinen Teamgefährten, als erster an den verwickelten Seilen hereingezogen, der auf dem Boden neben ihm lag, die Augen offen und tot.

Jino. Es war Jino. Er lag da und starrte in das tote Gesicht. Jino hatte an dem Geschirr herumgepfuscht – vielleicht; oder jemand anderer – der die Tür verschloß und sie alle draußen ließ, damit sie starben.

»Da ist sonst niemand!« hörte er jemanden rufen; und krachend schlug die Luke zu und schloß gnädigerweise den Wind aus. Seine Retter hoben seinen Kopf an und öffneten den Reißverschluß des engen Anzuges. »Das Geschirr«, sagte er, »jemand hat sich an den Seilen zu schaffen gemacht.« Sie waren seine Brüder. Sie mußten es wissen.

»Verschließt diese Tür!« sagte einer von ihnen. Johnny atmete daraufhin aus und duldete es, daß sie ihm den Anzug auszogen, zuckte zusammen, als einer nasse Handtücher brachte, die wahrscheinlich nur in kaltes Wasser getaucht waren; sie fühlten sich siedend heiß an. Er lebte. Er lag da und zitterte, den Boden unter sich und nicht die leere Luft und die Dunkelheit. Jemand umfaßte sein Gesicht mit brennenden Händen, während sein Körper weiterhin benetzt wurde. Dan Hardesty: er kannte das Team, vier Männer und eine Frau; die fünfzigste Ost. »Was meinst du damit, zu schaffen gemacht? Was ist passiert?«

»Haben versucht, die Berichte zu fälschen«, sagte er. »Jemand wollte, daß die Berichte frisiert werden, und sie haben uns nicht getraut. Sie haben uns umgebracht. Sie... oder die andere Seite. Haben am Geschirr herumgepfuscht. Seile sind gerissen. Zwei Seile sind da draußen gerissen!«

Sie umstanden ihn und lauschten mit grimmigen Gesichtern. Sein Verstand arbeitete jetzt mit fürchterlicher Klarheit, zählte zwei und zwei zusammen. Es reichte nicht aus, nur ein Team zu kaufen. Man mußte schon alle kaufen, die in dieser Sektion arbeiteten. Auch sie. Die fünfzigste. Er lag da und zitterte, während das Wasser langsam kälter wurde, und machte sich häßliche Gedanken, wie leicht es war, einen Körper wieder hinauszuwerfen.

»Jemand«, sagte er, »hat die Luke geschlossen. Hat uns ausgesperrt.«

Dan Hardesty starrte ihn an. Machte schließlich ein finsteres Gesicht, sah sich zu einem seiner Leute um und blickte dann wieder herab. »Macht das Wasser warm!« befahl er. »Los! Wir müssen ihn von hier wegbringen!«

Johnny zitterte konvulsivisch, sein Magen verknotete sich, die Glieder zuckten. Sie setzten ihn auf. Sie zogen ihm die wärmeren Kleider an, und er zuckte zusammen, versuchte seine Glieder zu beherrschen. Seine beiden Beine wurden seitlich schwarz, sein linker Arm war es bereits. »Schaut euch seinen Rücken an«, sagte die Frau, Maggie. Er überlegte sich, wie gut es war, es nicht zu sehen. Sie wuschen ihn ab, versuchten, ihn wieder auf Körpertemperatur zu bringen.

»Tommy Pratt hat sich Sorgen gemacht«, sagte Dan. »Fing an, Fragen zu stellen – wo du warst, was los war –, und auch andere Fragen wurden gestellt. Also sind wir auf die Idee gekommen, in euren Bereich zu gehen und nachzuschauen. Ich wünschte, wir wären früher gekommen, Johnny. Ich wünschte es wirklich.«

Er nickte, preßte die Augen fest zu, als er sich an seine Freunde erinnerte. Sarah. Ein Teil von ihm. Es war kein Schmerz um Sarah. Es war, als ob man ihn halbiert hätte.

Jemand hämmerte an die Tür. »Die Sicherheit!« rief jemand von draußen.

»Hängt Tommy«, meinte Dan.

Sie waren schon dabei, die Tür aufzuschließen.

»Helft mir auf!« bat Johnny die anderen; sie taten es, hielten ihn auf den Beinen, wickelten eines der Handtücher um ihn. Die Tür ging auf, und dort standen die Sicherheitsleute mit gezogenen Pistolen.

»Hatten einen Unfall«, erzählte Dan. »Ein Team ging mit beschädigten Seilen hinaus, und im Wind sind sie gerissen. Wir haben zwei hereingeholt, einen lebend, einen tot; die anderen sind abgestürzt.«

»Rufen Sie die Meds!« forderte der leitende Beamte. Johnny schüttelte in Panik den Kopf; das Hospital – wurde von den Gesellschaften finanziert. Er wollte sich nicht in ihre Hände begeben.

»Ich werde nicht hingehen«, sagte er, während der Anruf hinausging. »Ich gehe zum Grund. Besorgt mir was zum Trinken! Das ist, was ich will. Das ist alles, was ich will.«

Der Beamte zog einen Recorder hervor. »Sie wollen eine Aussage machen, Mr. ...«

»Tallfeather, Johnny.« Die Stimme versagte ihm, mißhandelt von der Kälte, der Angst. Er lehnte sich an die Männer, die ihn aufrechthielten. »Ich mache meine Aussage. Wir waren draußen auf den Neunzigern und sind nach unten gestiegen. Meine Schwester Sarah... ihr Seil riß. Die anderen versuchten, mich zu bergen, zurückzukommen, und ihre Seile versagten. Waren stundenlang draußen. Die Seile sind gerissen, oder vielleicht hat einer Selbstmord begangen. Ich weiß nicht. Der Wind...«

»Menschen tun sowas«, sagte Dan. »Waren Sie je draußen, Officer?«

»Namen. IDs.«

Dan händigte seine aus. Ein anderer holte die Johnnys aus dessen Overall, reichte auch die aller anderen hinüber, des Toten und der Lebenden. Der Beamte gab sie in den Recorder ein, und gab den Lebenden ihre Karten zurück. »Wer ist der Tote hier?«

»Der Teamchef«, sagte Johnny und befeuchtete seine Lippen. »Jino Brown. Die anderen sind abgestürzt.«

Der Beamte betrachtete Dan Hardesty und sein Team. »Ihre Rolle dabei?«

»Freunde. Sie kamen nicht zurück, und da haben wir nachgesehen. Ein Junge in der Säule, Tommy Pratt, hat uns auf die Spur gebracht. Lassen Sie den Mann gehen, Mister! Er hat genug.«

Der Beamte beugte sich herab und prüfte Jinos Leiche, berührte die Haut, beugte die Finger.

»Erfroren«, sagte Dan. »Hat seine Maske heruntergenommen, verstehen Sie? Ohne Maske stirbt man schnell da draußen. Schmerzlos für die, die den Absturz fürchten.«

»Ich dachte, Liner hätten keine Angst vor dem Abstürzen.«

»Viele von uns haben Angst«, sagte Dan ruhig. »Kommen Sie, Officer, die Schwester dieses Mannes ist draußen gestorben.«

»Ich finde, er sollte stärker erschüttert sein, meinen Sie nicht?«

Johnny holte aus, aber die anderen hielten ihn fest, und der Beamte wich einen Schritt zurück.

»In Ordnung«, sagte er. »In Ordnung. In Ordnung, ruhig!«

Johnny holte tief Luft, lehnte sich an und funkelte den Beamten an, kühlte sich langsam ab, dachte dabei an das, was er wollte – hinauskommen, nach unten, weg von ihnen – lebendig.

Der Beamte schaltete mit dem Daumen sein Mikro ein. »Hatten hier einen Unfall«, sagte er. »Liner sind verunglückt, ein Überlebender. Tallfeather, John Ames, Angestellter der Stadt.«

Geräusche kamen als Antwort. Der Beamte hielt sich den Hörer ans Ohr, und seine Augenlider zuckten, während er die anderen betrachtete. Die Tür ging auf, und die übrigen Sicherheitsbeamten führten zwei Meds herein. »Bringen Sie ihn weg!« sagte der Beamte und deutete dabei auf Jinos Leiche. »Der andere meint, er könne selber gehen.«

Die Meds ignorierten die Leiche und wandten sich Johnny zu. Aber dieser wehrte sie ab, schüttelte den Kopf, als einer von ihnen ihm etwas von schweren Quetschungen und Blutgerinnseln im Gehirn erzählte. »Gebt mir meine Kleider!« sagte er den Linern. Einer brachte sie ihm.

»Jemand«, sagte Dan gerade, »muß hinausgehen und die Leichen vom Grund holen.«

Er hörte es. Vielleicht sollte er protestieren, dem Schmerz nachgeben, darauf bestehen, daß er selbst an der Suche teilnahm, selbst wenn keine Möglichkeit bestand, daß er so weit klettern konnte. Er hatte kein Interesse daran, Sarahs Leiche zu finden oder die von Poll oder Sam. Er hatte nur ein Interesse, und das bestand darin, seine Kleider anzuziehen und von hier wegzukommen. Er schaffte es, verzog dabei das Gesicht, während die Meds sich mit der Polizei besprachen und wissen wollten, ob es nicht irgendeine Möglichkeit gäbe, ihn zu verhaften, damit er ins Krankenhaus gebracht werden konnte.

»Verschwinden Sie von hier!« warnte Dan sie. Ein mürrisches Schweigen trat ein.

»Mr. Tallfeather«, bat einer der Medics Johnny.

Er schüttelte den Kopf. Es tat weh. Er starrte sie haßerfüllt an, und sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf Jino, der sich nicht mehr beschweren konnte.

»Können wir gehen?« fragte Dan die Polizisten. »Wir haben Ihre Nummern«, sagte der Beamte. Dan erwiderte nichts. Johnny ging zwischen zwei Linern zur Tür, versuchte dabei zu verhindern, daß die Knie unter ihm nachgaben.

Sie brachten ihn zum Dienstaufzug, packten ihn fester, als sie erst einmal im Aufzug waren, denn er sackte zusammen, als er nach unten fuhr, und verlor sogar fast das Bewußtsein. Sie fuhren so weit nach unten, wie es überhaupt möglich war, traten hinaus in die Korridore und begaben sich zum Wurm.

Er wurde ohnmächtig. Er erwachte in einem Bett, ohne sich daran zu erinnern, wie er hierhergekommen war; und dann fiel es ihm wieder ein, und er starrte auf dem Rücken liegend zur Decke hinauf. Eine alte Frau pflegte ihn, brachte ihm zu essen; gab sich Mühe mit ihm. Weitere Leute kamen herein, um ihn zu betrachten, sowohl Liner als auch Bauarbeiter.

Als er wieder ganz bei sich war und aufstehen konnte, wankte er hinaus in den eigentlichen Wurm, setzte sich und genehmigte sich den Drink, den er sich selbst versprochen hatte, erinnerte sich dabei an Sarah, die hier mit ihm gesessen hatte – dort drüben. Und überall im Wurm flüsterte man, daß ein Streik im Gange sei, daß kein Liner hinausginge; daß die Bauarbeiter einen Bummelstreik machten, und die Namen Manley und ATELCORP wurden erwähnt.

Hier herrschte Ruhe, an diesem Tag und dem nächsten. Polizisten kamen und machten Aufnahmen im Wurm, verlasen in tödlichem Schweigen einen Gerichtsbefehl, befahlen die Bauarbeiter zurück an die Arbeit. Aber das Schweigen dauerte an, und die Polizisten waren sehr ruhig und gingen wieder, denn niemand außer den Linern wollte hinausgehen, und die ganze Stadt würde sterben, wenn die Bauarbeiter alles stillegten. Oben in den Türmen kannte man seine Computer. Viel war automatisiert; vieles auch nicht. Die Computer waren ihr ganzes Wissen.

Man redete von einer Untersuchung. Der Bürgermeister trat im Fernsehen auf und bat, die Ruhe zu bewahren; sagte, daß eine Untersuchung durchgeführt würde wegen Bandenaktivitäten und Bestechungen, wegen Korruption auf bestimmten Rängen weit unten auf den Listen der Gesellschaften. Es wurde viel geredet. Alles ging sehr schnell.

»Wir werden etwas finden«, unterrichtete Dan Hardesty Johnny. »Wir haben den gefunden, der sich Manley genannt hat. Ein Bursche namens George Bettin. Ein Mann von ATELCORP. Ein Lakai nur, aber wir haben ihn erwischt.«

»Sie werden ihn hinaushängen«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Soviel zu Manley. Ja. Wir haben ihn erwischt.«

Und an dem Tag, als das Bettin-Verfahren begann, fuhr Johnny mit dem Aufzug hinauf zur hundertsten Ebene und ging zu einem der Beobachtungsfenster, aber als er dicht davor stand, als die weite blaue Ferne und die Newark-Turmspitze in sein Blickfeld traten, blieb er stehen.

Und es dauerte lange, bis eine Passantin ihn zufällig dort an der Wand lehnen sah; bevor eine Frau ihn am Arm packte und dazu überredete, von der Wand weg und den Korridor hinabzugehen. Sie riefen die Meds; und sie verabreichten ihm Beruhigungsmittel.

Er schluckte sie. Fuhr mit dem Aufzug hinunter. Das war an sich schon der reine Horror. Er hatte nachts Träume; erwachte, die Welt unter ihm hängend und der Himmel darüber, und schrie, bis der ganze Wurm davon widerhallte.

Die Drogen machten damit ein Ende. Aber er blieb unten, weigerte sich, in die Nähe von Fenstern zu gehen. Drei, vier Tage lang, während sich das Manley/Bettin-Verfahren hinschleppte. Zu keinem Zeitpunkt riefen sie ihn als Zeugen, überhaupt keinen Liner.

Aber eine Nachricht traf im Wurm ein, unterzeichnet von großen Namen von ATELCORP; es konnte ihn nicht überraschen. Er fuhr die weite Strecke zu den Neunzigern hinauf.

Er trat ein und sah sich um, zuckte vor den Fenstern zurück, drehte dazu aber nur den Kopf. Sie wollten, daß er in ein Büro mit Fenstern ging. Paul Mason, stand auf der Tür. Präsident.

»Mr. Tallfeather«, sagte jemand, versuchte ihn zu überreden. Er wandte den Fenstern den Rücken zu.

»Er soll herauskommen«, sagte er und starrte dabei auf die leere Wand vor sich, die bunte Tapete, die Zitate aus der Stadtverfassung. »Er soll zu mir herauskommen!«

Er blieb dort stehen. Endlich kam jemand, und eine Hand wurde ihm auf die Schulter gelegt. »Die Fenster. Ich verstehe, Mr. Tallfeather. Es tut mir furchtbar leid. Paul Mason. Ich habe Sie rufen lassen. Wollen Sie bitte dorthin mitkommen?«

Er ging, zitterte dabei, bis sie im Gang waren, dem sicheren Gang aus poliertem Stein, und von dort zog ihn Mason in ein kleines fensterloses Büro mit einem Schreibtisch, ein paar Bücherregalen, ein paar Sesseln, makellos und teuer. »Setzen Sie sich«, drängte ihn Mason. »Setzen Sie sich, Mr. Tallfeather.«

Er tat es, sank in einen Sessel. Eine Sekretärin eilte herein und bot heißen Tee an.

»Nein«, lehnte Johnny ruhig ab.
»Bitte«, sagte Mason. »Irgend etwas anderes.«

»Tee«, sagte er. Die Sekretärin eilte hinaus. Mason setzte sich in einen weiteren Sessel und starrte ihn an... ein dünner Mann mit weißem Haar und harten Gesichtszügen.

»Mr. Tallfeather«, sagte Mason. »Ich bin über Ihren Fall unterrichtet worden. Mein Personal ist darauf gestoßen. Ich habe gehört, was passiert ist.«

»Gehört«, wiederholte Johnny. Vielleicht war in seinen Augen immer noch Verrücktheit zu erkennen. Mason sah unbehaglich aus.

»Es war einer unserer Männer, George Bettin. So weit ist es gegangen; sicher sind Sie dem Verfahren gefolgt.«

Er nickte, starrte Mason die ganze Zeit an. »ATELCORP ist rechtlich dafür nicht haftbar zu machen – hat sich gewiß nicht an einer kriminellen Handlung beteiligt –, aber wir wollen trotzdem Entschädigung dafür leisten. Ihnen Recht widerfahren lassen.«

»Die Liner wieder an die Arbeit bekommen«, sagte er bitter.

»Auch das, Mr. Tallfeather. Auch das. Ich denke, daß Ihr Fall, eher noch als der Ausgang des Verfahrens – ich denke, daß Gerechtigkeit auf dieser Ebene mehr dazu tun kann, den Riß zu heilen. Wir möchten Ihnen eine Stellung anbieten. In diesem Büro. Einen Job.«

»Ich muß nur aufhören zu reden. Ich sage nicht mehr, was geschehen ist.«

»Mr. Tallfeather, das öffentliche Wohlergehen steht auf dem Spiel. Das begreifen Sie; es geht um mehr als nur das Projekt. Der Streik... ist illegal. Wir können so etwas nicht gebrauchen.«

Johnny saß für einen Moment reglos da. »Ja, Sir«, sagte er ganz leise. Wischte sich über das Gesicht. Er blickte sich um. »Wie achtsam von Ihnen. Keine Fenster.«

»Es tut uns schrecklich leid, Mr. Tallfeather. Unser äußerstes Beileid. Aufrichtig.«

»Ja, Sir.«
»Sie können ins Büro kommen, wann es Ihnen gefällt. Die Tür... führt nicht zu den Fenstern draußen. Kommen Sie, wann Sie möchten.«

»Um was zu tun, Mr. Mason?«
»Wir werden uns etwas ausdenken.«
»Und ich spreche nicht mehr über meine Schwester, mein Team.«

»Ja, das würden wir vorziehen.«
»Sie haben Angst«, sagte er.

Masons Gesicht wurde starr.
»Ich nehme den Job«, sagte Johnny. Der Tee war gerade angekommen. Mason zeigte ein Lächeln und stand auf, reichte ihm die Hand und tatschte ihm auf die noch immer von Quetschungen lädierte Schulter. »Suchen Sie sich aus dem Personal Ihre eigene Sekretärin aus. Wenn Sie irgend etwas zur Ausstattung des Büros wollen...«

»Ja, Sir.«

Mason zeigte ein Lächeln, das keines war. Die Sekretärin stand mit dem Tee daneben und trat zur Seite, als er ging. Johnny ging hinüber und nahm das Tablett, setzte es selbst ab. »Das war alles«, sagte er. »Gehen Sie.«

Und an diesem Nachmittag kam die Presse, begleitet von Mason.

»Was halten Sie von der Untersuchung, Mr. Tallfeather?«

»Wie war es, Mr. Tallfeather?«

Er gab ihnen alles, die ganze Erregung, nach der die Fernsehsüchtigen nur verlangen konnten, wie er sich gefühlt hatte, als er in der Luft gebaumelt und zugesehen hatte, wie die anderen nacheinander starben. Er war ruhig; er war heroisch, gelassen, tragisch; bat die Liner, wieder an die Arbeit zu gehen, um der Agonie der Stadt ein Ende zu machen.

Sie gingen zufrieden. Mason war ebenfalls zufrieden und lächelte ihn an. Hieb ihm auf die Schulter und bot ihm einen Drink an. Er nahm an, saß da, während Mason versuchte, umgänglich zu sein. Er war seinerseits sehr freundlich. »Ja, Mr. Mason. Ja, Sir.«

Er ging zurück in sein Büro, wo keine Arbeit auf ihn wartete, keine Pflichten.

Am Morgen war er wieder da. Saß in seinem Büro und starrte die Wände an.

Sah Fernsehen. Die Liner gingen wieder an die Arbeit. Der Streik war vorbei. Der Atem des ganzen Stadtkomplexes ging wieder leichter.

Er blieb den ganzen Tag da und ging durch seine eigene Tür, als auch Mason ging. Benutzte den Linerschlüssel, um den Dienstaufzug vorzubereiten. Wartete dann draußen im Korridor.

»Mr. Mason.«
»Hallo, Johnny.«

Er lächelte, trat zu Mason, und dieser machte ein schiefes Gesicht, blickte sich unbehaglich um in dem einsamen Gang vor den großen geräuschdichten Türen von ATELCORP.

»Ich möchte, daß Sie mit mir kommen«, sagte Johnny zu ihm.

»Tut mir leid, aber...«, begann Mason und wollte zu den Türen eilen.

Johnny riß blitzschnell die Hand mit dem Rasiermesser aus der Tasche, umfaßte Masons Hals und drückte das Messer ganz leicht an. »Ich möchte nur, daß Sie mit mir kommen«, sagte er. »Schreien Sie nicht!«

Mason setzte schon an, das zu tun, und das Messer biß zu. Mason hörte auf und gab nach, während Johnny ihn den Gang entlangzog, der zu dieser Zeit, kurz vor Büroschluß, bevor alle Menschen auf die Flure strömten – sehr ruhig war.

»Sie sind verrückt«, keuchte Mason.
»Los!« Er riß Mason rückwärts zum Dienstaufzug.

Jemand war herausgekommen. Sah, was passierte. Eilte ins Büro zurück. Mason machte Anstalten, sich zu widersetzen, hörte nach einem weiteren Schnitt aber wieder damit auf.

»Schauen Sie«, keuchte Mason. »Sie sind krank. Es wird nicht schlecht für Sie ausgehen; ein Krankenhausaufenthalt, ein wenig Ruhe... die Firma wird Ihnen das nicht übelnehmen; ich auch nicht. Ich verstehe voll und ganz, daß Sie...«

Er zerrte Mason in den Aufzug, schob den Schlüssel in den Schlitz, drückte auf SPITZE und PRIORI-TÄT. Die Tür ging zu. Die Kabine schoß mit kräftigem Schub nach oben, diese lange, unmögliche Strecke hinauf. Er ließ Mason los und blieb selbst an der Kontrolltafel des Aufzuges stehen.

Mason lehnte sich an die Wand und starrte ihn an. »Ich möchte einfach nur«, sagte Johnny unheimlich leise, »daß Sie mit mir kommen.«

Masons Lippen bebten. Dann schrie er laut um Hilfe. Die Kabine hallte wider. Das war alles.

»Wir haben einen Vorsprung«, sagte Johnny. »Natürlich werden sie kommen. Aber man braucht die Computer, um einen Dienstschlüssel außer Funktion zu setzen. Es wird eine Zeitlang dauern, bis sie das durch haben.«

Mason stand da und zitterte. Der Aufzug fuhr immer weiter hinauf und kam schließlich mit einem magenverrenkenden Ruck zum Stehen. Die Tür öffnete sich zu einem Raum aus Beton; Johnny packte Mason am Arm und ging mit ihm aus dem Wagen. Dieser fuhr wieder ab. »Ich glaube, sie haben ihn zurückgerufen«, sagte er ruhig. Zog mit der linken Hand am Lukenhebel.

Krachend und widerhallend öffnete sich die Tür. Der Wind traf sie wie ein Hammerschlag, und Mason fuhr zusammen. Ein breiter Balkon lag draußen, wuchtige Rohre, an denen Seile hingen. Mason hielt sich an der Tür fest, und Johnny zerrte ihn am Arm vorwärts. Die ganze Welt lag unter ihnen, in der Dämmerung ausgebreitet, und sie hatten Eis unter den Füßen, Eis von einem feinen, wehenden Nebel, der bitterkalt war und die Muskeln zum Zittern brachte. Mason rutschte aus, und Johnny packte ihn am Ellbogen, ging einen Schritt weiter.

»Ich kann nicht mehr hinaus in die Seile gehen«, sagte Johnny. »Kann nicht mehr zu den Fenstern hinausschauen. Aber die Firma hilft, nicht wahr?« Er führte Mason weit hinaus über den Balkon, die Augen auf den dunstigen Horizont gerichtet, und Mason kam mit, zitterte krampfartig unter der Umklammerung von Johnnys linkem Arm. Der Wind schüttelte sie heftig durch und brachte beide zum Stolpern, und sie rutschten unter seiner Wucht auch etwas auf dem Eis. Johnnys rechte Seite war taub. Er hielt den Arm um Mason geklammert und ging mit ihm bis ans eigentliche Geländer. »Ein unvergleichlicher Ausblick, Mr. Mason. Ich träume davon. Es ist kalt. Und es ist weit. Blicken Sie nach unten, Mr. Mason!«

Mason hielt sich krampfhaft am Geländer fest, die Knöchel weiß. Johnny ließ ihn los und wich von ihm zurück, drehte sich um und ging zurück zu den Aufzugtüren.

Die Luke ging auf. Polizisten standen dort mit gezogenen Pistolen. Aber sie blieben innen, lehnten sich an die Wand, Übelkeit in den Augen, die Hände um die angelegten Pistolen gekrampft.

Johnny lachte, geräuschlos im Wind, deutete zum Rand, zu Mason. Keiner der Polizisten machte eine Bewegung. Die Welt lag nackt unter ihnen. Die gewaltige Höhe der anderen Türme war nichts im Vergleich zu dem hier, der eigentlichen Stadt, des großen Manhattan-Turms. Johnny grinste die Polizisten an, während der Wind die Wärme aus ihm saugte.

»Holen Sie ihn!« schrie er die Polizisten an. »Gehen Sie hin und holen Sie ihn!«

Einer versuchte es, trat einen Schritt hinaus, erstarrte und sank zu Boden.

Und langsam und vorsichtig, die Hände hochhaltend, damit sie sehen konnten, daß sie leer waren, ging Johnny zurück zu Mason, ergriff dessen rechte Hand und zerrte sie vom eisigen Geländer weg; löste auch die andere, blickte fast mitfühlend in ein Gesicht, das sich in eine starre Maske des Schreckens verwandelt hatte, der Mund weit geöffnet und trocken, die Augen stierten irr. Er legte den Arm um Mason wie um einen Bruder und ging langsam mit ihm zurück zu den Polizisten. »Mr. Mason«, sagte er zu ihnen, »scheint sich in eine Lage gebracht zu haben, aus der er nicht allein zurück konnte. Aber er wird jetzt wieder in Ordnung kommen.« Mason klammerte sich mit beiden Händen an ihn und wollte nicht loslassen. Johnny ging hinein und stieg mit den Polizisten in den Aufzug, den Arm immer noch um Mason gelegt, und Mason klammerte sich an ihn, während der Lift nach unten raste. Er streichelte Masons Haar, wie er einst das von Sarah gestreichelt hatte. »Ich hatte eine Schwester«, flüsterte er Mason ins Ohr. »Aber jemand hatte eine Tür verschlossen. Vor uns allen. Man wird Bettin verurteilen, natürlich. Und alles wird vergessen werden, nicht wahr?«

Der Aufzug hielt auf einem der unteren Stockwerke an. Die Polizisten schoben ihn hinaus, waren vorsichtig wegen Mason; und Fenster waren dort, großflächige Fenster, und die Dämmerung schimmerte auf den anderen Gebäuden am Horizont. Mason schluchzte und wandte das Gesicht ab, hielt sich an ihm fest, aber die Polizisten zogen sie auseinander; und Mason drückte sich fest an die Wand, klebte daran, das Gesicht von den Fenstern abgewandt.

»Ich glaube nicht, daß ich Ihren Job möchte«, sagte Johnny. »Ich gehe wieder hinaus in die Seile. Ich glaube nicht, daß ich in Ihr Büro gehöre.«

Er machte Anstalten zu gehen. Die Polizisten hielten ihn fest, verdrehten seinen Arm.

»Wollen Sie tatsächlich mich vor Gericht bringen?« fragte er Mason. »Will es der Bürgermeister, oder der Rat?«

»Lassen Sie ihn gehen!« sagte Mason heiser. Die Polizisten zögerten. »Lassen Sie ihn gehen!« Sie taten es. Johnny lächelte.

»Meine Seile werden nicht reißen«, sagte er. »Es wird keine Mißverständnisse geben. Keine versperrten Türen mehr. Ich fahre jetzt zurück zum Grund. Ich werde reden, wo es mir gefällt. Ich werde reden, mit wem es mir gefällt. Oder Sie müssen mich töten. Und seien Sie dann bereit, mit dem Töten weiterzumachen. Dan Hardesty und die fünfzigste Ost wissen, wo ich bin; und warum ich hier bin; und wenn Sie sie umbringen, werden Sie immer mehr Leute töten müssen. Und alles wird zerfallen, Mr. Mason, der ganze Turm wird zerfallen, wenn die Liner streiken... und die Bauarbeiter auch... keine Kühlung mehr, kein Wasser, keine Energie. Nur Dunkelheit. Und keinen Frieden.«

Er drehte sich um, ging zurück in den Aufzug. Niemand hielt ihn auf. Er fuhr hinab durch alle Stockwerke der Stadt, zum eigentlichen Grund, und trat hinaus in dessen gekrümmte Korridore. Männer und Frauen blieben stehen und blickten ihn neugierig an.

»Das ist Johnny Tallfeather«, flüsterten sie. »Er ist es.«

Er ging hin, wo es ihm gefiel.

Frieden herrschte – dünn, gestreckt wie ein Draht.

Die Liner gingen, wohin sie wollten, und die Bauarbeiter auch; und die Einwohner blieben weg von den unteren Stockwerken. Auf all den oberen Stockwerken herrschte ein furchterfülltes Schweigen.

So wuchs die Stadt.