Eis

(MOSKAU)

 

Schönheit lag überall um das uralte Moskva in der ungeheuren Flut von Weiß am Ende der Welt. Moskva durchlebte die letzten Zeitalter eingehüllt in Schnee, während Wälder vorrückten und sich wieder zurückzogen und die Schiffe von den Sternen nicht mehr kamen.

Die Stadt verlor die Verbindung zu anderen Städten und machte sich wenig daraus, denn sie hatte ihren eigenen Kampf zu führen, einen Kampf, der ihr eigentümlich war: ein Kampf der Seele, ein innerer und endloser Krieg, den jeder Bürger und jede Bürgerin auf seine oder ihre Weise kämpfte. In diesem Kampf wurde Moskva zu dem, was es war, eine Stadt, die zum größeren Teil nicht mehr aus Stein bestand, sondern aus Holz, wie schon zu ihren Anfingen. Ah, alte, uralte Monumente lagen darunter, erstarrt, verzogen und verändert, dienten nur noch als Fundamente. An manchen Stellen überall in der Stadt erhoben sich immer noch riesige Statuenköpfe und die Dächer altertümlicher Bauwerke in seltsamen Winkeln, aber ihre Kennzeichen und ihre Ecken waren verwischt, von den Winden weiß und rund und glatt gescheuert, der Stein eins geworden mit dem Schnee, wie die Schneemassen überhaupt die ganze Vergangenheit in reinstes Weiß gehüllt hatten und alles bedeckten, was war und was noch kommen sollte.

Aber die Häuser dieser Zeit, farbenprächtig, mit Schnitzereien geschmückt, die warmen Häuser, in denen die Menschen lebten, waren aus dem Holz des letzten schwindenden Waldes gefertigt, aus Holz, an dem die Menschen ihre letzte und höchste Kunstfertigkeit gezeigt hatten. Auf jedem Zoll der Oberflächen und Säulen wanden sich Blumen ineinander, starrten menschliche Gesichter hervor, und Reben und Muster aus hellen Farben zogen den Blick auf sich. Tierhäute schmückten die Böden, und Sträuße getrockneter Blumen, Erinnerungen an Sommer, standen auf Tischen, die ebenfalls geschnitzt waren und rot und grün und golden und blau angestrichen. In jedem Heim brannten Feuerstellen hell und schickten fröhlichen dunklen Rauch nach oben, den die Winde forttrugen, sobald er den Himmel berührte.

Die Menschen schritten auf den schneebedeckten Straßen, angetan mit Pelzen, deren Säume aus hellen Filzstickereien bestanden, rot und blau und grün, mit Bordürenmustern aus kompliziertesten Stickereien, die Lilien darstellten und andere Blumen und goldene Ähren; mit Schals, handbestickt mit verschlungenen Rebenmustern, alle edelsteinhell, jedes Kleidungsstück voller Glanz, eine Erinnerung an Farbe, eine Freude für das Auge. Die Seele all der Menschen, die in Moskva lebten, ergoß sich in die Anfertigung dieser vielfarbigen Schönheit, des reichen Erbes von all dem Land und den Feldern und der Herzensleidenschaft, sowohl der Holzbauten innerhalb der Holzmauern Moskvas als auch der frohen Farben, die die Menschen trugen. Sie kannten Tänze, die eine Zelebrierung des Lebens waren – ein Tanzen und Singen, nach dem die Teilnehmer erschöpft zu Boden fielen, voller Wärme und Freude, Feiern, in denen sie das Leben selbst tanzten, im hellen Wirbel der Kleider und Quasten und Schals und dem Stampfen verzierter Stiefel, alle unterscheidbar an Blumen und Rentieren und Pferden. Die Musik von Saiten und von Stimmen stieg aus Moskva empor zu den Winden.

Aber über der Stadt veränderten sich die Lieder und übertönte sie die Stimme des Windes, der die tapferen Worte zu Klagelauten verzerrte und das Klagen schließlich verwandelte in das Flüstern von Pulverschnee entlang des rauhen Eises auf dem Geflecht von Flüssen innerhalb Moskvas, die nur für wenige Wochen im Jahr auftauten und meistens tief und fest gefroren waren... Körner fauchten über eisige Grate außerhalb der Stadtmauern und erzählten flüsternd vom Norden, von Boden, endlos mit Schnee bedeckt und frei vom Abdruck jeglichen Fußes für alle Zeiten.

Weiß – aber nur selten wirklich weiß – war die Welt außerhalb der hölzernen Mauern. Darüber starb die Sonne ihren langsamen äonenlangen Tod mit phantastischem Aufflammen von Strahlungen, die nächtliche Vorhänge dahintreibenden Lichtes über den Himmel zogen; dieser Tod brachte auch Tage aus seltsamem Licht, aprikosen- und lavendel- und orangefarben und auch unheimliche Mischungen feinerer Schattierungen, die den Schnee und das Eis berührten und darüber hinwegflossen, dabei Glanz und Schimmer erzeugend, der seinerseits tausend feine Abstufungen von Licht und Schatten hervorrief. Die Schneemassen brachten zahllose Feinheiten hervor – Nächte, wenn der opale Mond erschreckend tief hing in einem Himmel, der manchmal violett war und manchmal fast blau und nur sehr selten schwarz und mit den altbekannten Sternen bestäubt. Zu solchen Zeiten wurde der Schnee hell und blaß und auch so reglos, ein Hintergrund für die schwarzen borstigen Schatten von Kiefern im Süden, während im Norden sich endlose stille Schneeflächen ausbreiteten. Oder die Blässe wurde noch stärker, im Sturm... wenn die Wolken grau wurden und seltsam und der Wind mit unheimlicher Stimme sang, wenn Schneefall einsetzte für endlose weiße Tage, als hätte die Welt aufgehört zu bestehen und als gäbe es nur noch die Weiße und den Wind.

Das war der Kampf, der Grund für die hellen Feuer, die hellen Farben, die lauten Feiern, die Abbilder von Blumen und Reben. Andere Städte in der Umgebung waren vielleicht schon untergegangen. Nie kamen Reisende. Aber die Seele Moskvas blieb standhaft, und die Geschäftigkeit, mit der sich die Menschen ihren eigenen Angelegenheiten widmeten, rettete sie, denn sie weigerten sich, aufzublicken oder nach draußen zu schauen, und ihre hellen Farben hielten den Schneemassen stand, und ihre grobe, menschengemachte Schönheit setzte sich durch gegen die schreckliche, wechselhafte Schönheit des Eises.

Die Tapfersten in ganz Moskva waren diejenigen, die sich zu den Mauern hinauswagen konnten, die sich in ihre hellen Felle und ihren Mut kleideten und sich hinauswagten in die gefrorene Ödnis – die Jäger, die Holzarbeiter, diejenigen, die sich aufmachten, die hinausblicken konnten in die kalte weiße Hölle und dabei die Farben in ihren Herzen bewahrten.

Aber selbst sie wurden manchmal von der Krankheit befallen, die zum Schwund führte und ihren Blick erstarren ließ, hinausgerichtet zum Horizont; denn wenn diese Kälte sie einmal befallen hatte, währte ihr Leben nicht mehr lange. Wölfe streiften außerhalb der Mauern umher, und ernste Gefahren waren dort verborgen, und stets wartete der Tod, aber der weiße Tod war ein innerer und stiller und die schlimmste Art des Todes.

Andreij Gorodin trug keine Furcht in sich. Der Winter raubte ihm nicht den Mut, und wenn der Schnee kam und die Felle der Füchse und Hermeline ganz weiß wurden, war er einer der wenigen, die auch weiterhin hinausgingen, er und sein Scheckenpony, ein zotteliges Tier mit einem Fell, so farbenfroh wie die Malereien der Stadt, das die eisige Welt durch eine Matte aus gelber Mähne und Stirnlocke betrachtete, die alle Welt mit der Frage konfrontierte, ob ein Pferd darin steckte oder nicht. Wie Andreij war auch das Pony furchtlos, immun gegen die Schrecken, die andere Tiere des Menschen ergriffen, Schrecken, die ihre Rippen ausmergelten und ihre Augen starr machten, so daß sie letztlich dem Siechtum verfielen und starben. Nicht jedoch Umnik, das mit sicherem Schritt über den Schnee trabte und die Welt mit einem nur selten gesehenen und mißtrauischen Blick betrachtete.

Sein Herr, Andreij Wasiljewitsch Gorodin, ritt auf der Heimkehr nach der guten Jagd eines Tages in Luchsfell gehüllt, mit Gürteln und Stiefeln aus hell besticktem Leder; und um sein Gesicht war ein geblümter Lederschal gewickelt, den Anna Iwanowna für ihn gemacht hatte (die auch andere schöne, glänzende Geschenke für ihn machte und sie in einer geschnitzten Truhe unter ihrem Bett verwahrte. Sie würde im nächsten Frühjahr seine Braut sein, wenn der Frühling kam und die Hochzeiten mit Glück bedacht waren). Eine Stange mit steifgefrorenen Hasen hing an seinem Sattel. Sein Bogen, an dem bunte Quasten flatterten, hing über seinem Rücken; und aus seinen Fallen hatte er einen Schneefuchs geholt, den er Anna geben wollte, damit sie einen Umhang mit ihm verbrämen konnte. Er pfiff, während er einherritt, und Umniks Atem puffte fröhlich in die stille Luft, und das Knirschen der Hufe auf verkrustetem Schnee und das Knarren des Geschirrs maßen die Zeit. Andreij hatte eine Feldflasche dabei und trank von Zeit zu Zeit einen Schluck daraus, wärmte damit seinen Bauch. Um ihn herum leuchtete der Schnee in reinem Weiß, denn Wolken verschleierten die Sonne, und er brauchte im Moment nicht die geschnitzten Augenschirme, die um seinen Hals hingen, und die, zusammen mit dem blumenbestickten Schal getragen, ihm das Aussehen eines seltsamen hell gemusterten Tieres verliehen, das auf dem Rücken eines anderen scheckigen Zotteltieres hockte. Es war einer der seltenen ruhigen Tage, so still, daß er und Umnik allein auf der Welt zu sein schienen; und als er das Pony anhielt, um auszuruhen, dabei die stille Luft zu genießen, konnte er das Knacken des Eises in der Kälte hören und den Fall einer Zweigladung Schnee bei der leichtesten Luftbewegung. Er lauschte solchen Geräuschen, und nur eine leise Berührung der Stille drang bis zu seinem Herz durch, was schon gefährlich war. Er raffte seinen Mut zusammen und pfiff seinem Pony zu, drängte es zum Weitergehen. Er sang, wurde dabei immer lauter im ungeheuren Schweigen der weißen Welt, und Umnik zockelte fröhlich voran und zuckte mit den Ohren unter dem Lied.

Aber der Gesang war nicht von Dauer, und die Stille kehrte zurück, schien sogar das Knirschen des Eises unter Umniks Hufen zu dämpfen. Und ganz plötzlich blieb Umnik stehen und drehte den Kopf nach Norden: seine Ohren richteten sich steil auf, und seine Nasenflügel weiteten sich, um die Luft einzusaugen. Und das Pony begann zu zittern, und Andreij nahm rasch den Bogen von der Schulter und spannte ihn, zog einen rot befiederten Pfeil aus dem bestickten Köcher und blickte sich um, nach Norden, betrachtete die weiße Unendlichkeit und ihre sanften Wellen, blickte auch nach Süden zum Saum des Kiefernwaldes, an dem sie entlangritten. Das Pony blickte unverwandt zu einer schmalen Spalte im offenen Land zwischen zwei Hügeln. Es stand starr, die Mähne aufgerichtet in einem leisen kalten Wind, während sich Kristalle des wehenden Schnees zwischen den rauhen gelben Haaren sammelten.

Da war nichts. Andreij stieß Umnik mit den Fersen an. Manchmal sahen Pferde Gespenster, sagten die alten Jäger, und dann setzte die Auszehrung ein, und sie starben; aber das würde Umnik nicht ähnlich sehen, der ein Tier mit schlichtem Geist war und nicht zu Phantasievorstellungen neigte. Umnik ging unruhig und mit zaghaften Schritten weiter. Andreij glaubte dem Pferd, das ihn noch nie getäuscht hatte, behielt den Bogen in der Hand und einen Pfeil auf der Sehne, die Augen nach Norden gerichtet, wohin auch das Pferd blickte, während es weiterstapfte, obwohl seine Richtung der Westen war, wo ihr Heim stand.

Für einen Moment teilten sich die grauen Wolken, und die Sonne schien hindurch, vergoldete die Schneeverwehungen mit leuchtenden Farben. Umnik scheute und wich seitlich aus, schüttelte den Kopf. Eine weiße Gestalt war in dem Glanz aufgetaucht, bewegte sich langsam und schleichend – ein Wolf, weiß wie der Winterwind. Andreijs Herz krampfte sich zusammen; und er hob den Bogen und spannte ihn, hin- und hergerissen zwischen Angst vor dem Wolf und Sehnsucht nach seiner Schönheit, denn ein solches Tier hatte er noch nie gesehen. Der Pfeil schwirrte los, während Pferd und Wolf in Bewegung waren, und der Wolf war hinter dem Kamm einer Verwehung verschwunden. Andreij gab Umnik die Fersen, wiederholte das mehrmals, und das tapfere Pony durchquerte die Verwehung und verließ seinen Weg, zögernd und wachsam. Die Wolkendecke hatte sich wieder geschlossen, und die Sonne war fort, und eine plötzliche Windbö riß den Schnee von dem Hügel zur Rechten und trug ihm stechende Schneekörner in die Augen.

Umnik scheute, und Andreij riß ihn an den Zügeln herum, tätschelte den zottigen Nacken des Ponys und ritt wieder zurück. Da war nichts, weder ein Wolf noch auch nur so viel wie ein Fußabdruck oder die winzige Wunde der Federn eines Pfeiles in den Schneehängen. Andreij sah sich nach dem Pfeil um, zertrampelte dabei den ganzen Bereich mit Umniks Hufen, denn der Pfeil hatte einen sorgfältig gefertigten Schaft, und es war ihm gar nicht recht, ihn zu verlieren oder überhaupt vor einem solchen Rätsel zu stehen. Er dachte, er sei vielleicht in einer tiefen Verwehung verschwunden, und das war gewiß so, denn so sehr er sich auch mühte, er konnte ihn nicht ausfindig machen. Schließlich gab er die Suche auf, zog das Pony herum und brachte es wieder auf den Weg, versuchte so zu tun, als sei nichts geschehen – die Sonne war immer täuschend, und er hatte mit ungeschützten Augen geschaut, was freilich niemals klug war; es war sehr gut möglich, daß er den Wolf nur geträumt hatte. Aber der Pfeil war verschwunden. Während er einherritt, schien die Welt kälter geworden zu sein, der Schnee von stärkerem Weiß, und es verlangte ihn jetzt genauso wie das Scheckenpony nach der Stadt und den hellen und geschäftigen Straßen, die den Maßstäben der Menschen gehorchten. Er ritt einher, während die tiefgefrorenen Kadaver seiner Jagdbeute von seinem Knie herabbaumelten, blickte hin und wieder über die Schulter zurück, um zu sehen, wie es im Osten dunkler wurde. Er wünschte sich, er hätte sich nicht so lange wegen des Pfeils aufgehalten und auch nicht mit Wölfen gespielt, denn es war immer noch ein langer Ritt.

Wieder versuchte er zu pfeifen, aber seine Lippen waren trocken, und die Geräusche, die Umnik beim Laufen machte, wirkten gedämpft und nicht so laut, wie sie sein sollten. Der Wind blies ihm heftig in den Rücken.

Schneefall setzte ein, wo es doch am Morgen überhaupt nicht danach ausgesehen hatte, so weiß waren die Wolken gewesen. Aber der Tag war seit der Verzögerung immer mieser geworden, und langsam machte sich Andreij Sorgen. Der Wind blies seufzend und pfeifend, riß den Schnee wieder hoch, den er gerade erst auf dem Boden ausgebreitet hatte, um ihn in feinen Strömen über die krustige Oberfläche zu treiben und von den Graten gefrorener Verwehungen zu reißen. Umnik kannte die Gefahren; das kleine Pferd ging gleichmäßig weiter, schüttelte aber irritiert den Kopf, als der Wind sich allmählich anhörte, als riefe er mit Stimmen, und diese Stimmen schienen zu beiden Seiten von ihnen zu heulen.

»Lauf!« bat Andreij das Pony. »Lauf, mein Kluger, schnell, schnell!« denn der Wind blies ihnen jetzt heftiger in den Rücken, ein Wind mit vielen Stimmen, Stimmen wie die von Wölfen. Aber das Pony verlor nicht den Kopf und schonte seine Kräfte. Umnik überquerte den letzten Hügel, und auf halbem Weg hangabwärts galoppierte er los, wie er nur konnte, die letzte Wegstrecke nach Hause, die sie um den Hügel herum und daran vorbei zur Stadtmauer führte. Das Heulen hinter ihnen klang jetzt unmißverständlich, und es kam von der Bergflanke zur Linken. Umnik ließ diese Flanke mit höchstem Tempo hinter sich, als Moskva jetzt in Sicht kam, und Andreij hob das Horn, das an seinem Gürtel hing, und blies nun mit aller Kraft hinein, ein Klang, der fast im Wind verlorenging; immer wieder blies er – und zu seiner Freude öffneten sich die großen hölzernen Tore Moskaus für ihn im weißen Schleier des Schnees.

Umniks fliegende Hufe donnerten über die vereiste Brücke, hinauf zu den Toren und hindurch, über neuen Schnee auf dem Torweg hinweg und den zertrampelten in den Straßen der Stadt; die Tore schwangen zu. Andreij zügelte Umnik, zog ihn herum und legte dabei ein mutiges Gesicht an den Tag, winkte dem alten Pjotr und seinem Sohn Fjedor, die die Tore hüteten, einen munteren Gruß zu. Dann leitete er Umnik im Trott in die engen Straßen, vorbei an Bürgern, die sich gegen den fallenden Schnee vermummt hatten, an Leuten, die ihn kannten, an Kindern mit rosigen Wangen, die begeistert aufblickten und winkten, als sie ihn, den Jäger, vorbeikommen sahen.

Er wandte sich stadteinwärts zum gemütlichen Haus von Iwan Nikolajew, in Wahrheit zwei Häuser, Nachbarn, die sich vor Jahren schon auf der Suche nach Wärme und Gesellschaft aneinandergelehnt hatten und schließlich zusammengewachsen waren in dem Jahr, in dem seine Eltern starben und ihn den Nikolajews und ihren Verwandten hinterließen. Die mit geschnitzten Zäunen umgebenen Höfe waren zu einem geworden, die Häuser verbanden sich miteinander und ebenso die bemalten Ställe, wo das rotbraune Pony der Nikolajews und die drei Ziegen der Orlows warteten, Umniks stubenhockerische Stallgefährten.

Der Haushalt wartete schon auf Andreij. Die Seitentür ging auf, und Katja, seine Ziehmutter, kam gegen die Kälte vermummt heraus, um Umniks Zügel zu nehmen. Andreij sprang auf den schneebedeckten Hof und zog den Schal herab, um sie auf die Stirn zu küssen und willkommenheißend an sich zu drückend, warf dann fröhlich die erstarrte Jagdbeute über die Schulter, während er dem Pony das Geschirr abnahm, um es ins Haus zu bringen. Umnik schüttelte sich gründlich und trottete dann selbständig zum Hafer im warmen Stall, und Andreij, der sich den Sattel mit einer Hand über die Schulter hängte und mit der anderen seine Mutter Katja an sich drückte, machte sich auf den Weg zur Veranda. Sicher hatte sie sich Sorgen um ihn gemacht angesichts der späten Stunde und des einsetzenden Schneefalls; aber jetzt lächelte sie nur. Und mit einem zweiten Schlagen der Tür kam auch Anna heraus, ihre Wangen vom Wind rotgebrannt, und ihre Augen leuchteten. Sie kam auf ihn zugerannt, und ihre blonden Zöpfe flogen, der bestickte Mantel und die Röcke bleich wirkend in dem wehenden Schnee. Andreij ließ seine Ausrüstung fallen und umarmte sie und schwang sie herum, wie er es schon getan hatte, als sie noch Kinder im selben Alter gewesen waren; er küßte sie (oberflächlich, denn ihre Mutter stand lachend daneben), hob dann das Geschirr wieder auf und ging weiter, den Arm um Anna gelegt und Katja an seiner Seite, hob die Hand von Annas Schulter, um ihrem Bruder Ilja zuzuwinken, der herausgekommen war und noch damit beschäftigt, sich einzumummen.

Der älteste Nikolajew war Holzfäller und sein Sohn Iwan war Holzfäller, aber der junge Ilja, Annas Zwillingsbruder und nicht von kräftigem Bau, war ein Künstler, ein Schnitzer, dessen Werke sie umgaben, die leuchtenden Pfosten der Veranda, die geblümten Fensterläden... »Ah«, sagte Ilja fröhlich zu Andreij, »sicher zurück – wie könnte es bei ihm auch anders sein? Ich habe es ihr gesagt.« Andreij drückte auch Ilja im Schnee begrüßend an sich, stampfte den Schnee von den Stiefeln und hängte das Wild an der Veranda auf, huschte dann mit den anderen ins Haus, in eine Wärme, die so massiv war wie eine Mauer. Bogen und Geschirr hängte er in die Diele, zog die schneebedeckten Felle aus und die Hausstiefel an. Katja eilte geschäftig davon und brachte ihm lauwarmes Wasser zu trinken, und Frau Orlow erwartete sie alle an der inneren Tür mit heißem Tee. Das Aroma der wunderbaren Kochkunst der Frauen lag in der Luft, und Andreij erwarteten die Jubelrufe der vermischten Familien, die strahlten und ihn begrüßten, als er das Wohnzimmer betrat, und überall plapperten die Kinder, unvermeidlich und unausweichlich im ganzen Haus. Der junge Iwan kam herbeigerannt, um hochgehoben und umhergeschwungen zu werden, und Andreij hob ihn erfreut hoch, so müde er auch war. Feuer prasselte im Kamin, und alle waren sie jetzt versammelt und nahmen endlich zum Essen Platz: Andreij selbst, ein Gorodin; und junge und alte Nikolajews und Orlows; und die warme Luft roch, wie es das Haus immer tat, nach Holzspänen und Harz und Leder und Fellen und nach guter Küche.

Da schien die Furcht wirklich sehr weit entfernt zu sein.

Andreij ruhte sich mit vollem Bauch aus, und sie tranken dampfenden Tee und ein wenig Wodka. Der alte Nikolajew und sein Sohn Iwan unterhielten sich über ihr Handwerk, besprachen, wo sie im kommenden Frühling Holz schlagen würden; und Großvater Orlow und sein Sohn, beides Zimmerleute, unterhielten sich über die Veranda der Stadthalle weiter unten an der Straße, die sie reparieren würden. Großmutter Orlow saß in ihrem Sessel, der stets dicht am Feuer stand, zugedeckt, mit geblümten Kissen und Steppdecken. Die Kinder – sieben waren es von den fruchtbaren Orlows – spielten am warmen Kamin; und die Frauen unterhielten sich und nähten und entwarfen Muster. »Erzähl uns eine Geschichte!« baten die Kinder jeden, der dazu bereit war. Getränke machten erneut die Runde; eine solch angenehme Stunde war es. Die jungen Leute pflegten das Geschichtenerzählen zu beginnen und die älteren es zu beenden, denn sie hatten immer schon die tieferen Schneemassen gesehen und die seltsameren Dinge und die kälteren Winter erlebt.

»Erzähle uns«, bat der kleine Iwan, während er gegen Andreijs Knie stieß, »ah, erzähle uns von der Jagd heute.« Andreij seufzte, nahm seinen Arm von Annas Taille, lächelte die runden kleinen Gesichter um sich an und ließ Iwan auf seinem Fuß hüpfen, hielt ihn dabei an seinen zwei kleinen Händen, machte Späße mit ihm und entlockte ihm Quietscher. Er erzählte die Geschichte mit Talent und Schwung, erwärmte sich für diese Aufgabe, während die Kinder einen Halbkreis zu seinen Füßen bildeten; sein Freund Ilja nahm sich einen frischen Block Kiefernholz und sein Lieblingsmesser, eine sehr feine und scharfe Klinge... Am intensivsten von allen lauschte Anna Andreijs Geschichte, blickte zu ihm auf, wenn er sie anschaute, und ihre Augen leuchteten und waren weich. Draußen heulte noch immer der Sturm, aber die Menschen innen wärmten sich alle aneinander, während die Balken unter der Kälte hin und wieder laut knackten. Andreij erzählte von dem wilden Ritt nach Hause, von den Wölfen... Wölfen, denn etwas in ihm scheute davor zurück, von dem Wolf zu erzählen und dem verlorenen Pfeil. Die Augen des kleinen Iwan wurden so rund wie Knöpfe, und als Andreij zu der Stelle mit dem geschlossenen Tor kam und wie es sich geöffnet hatte, klatschten alle Kinder vor Vergnügen in die Hände, ausgenommen Iwan, der weiterhin mit runden Augen und weit offenem Mund dasaß.

»Schäm dich!« sagte seine Großmutter und rieb das Kind an ihren mit Decken umwickelten Knien. »Du hast ihn erschreckt, Andreij.«

»Ich habe keine Angst!« rief das Kind und machte sich frei, um einen Bogenschuß nachzuahmen. »Wenn ich groß bin, werde ich ein Jäger außerhalb der Mauern, wie Andreij.«

»Was, kein Zimmermann?« fragte sein Großvater. »Nein, ich werde tapfer sein«, sagte der kleine Junge, und plötzlich war Schweigen im Raum, ein Schmerz, eine Einsamkeit, die Andreij bis ins Herz spürte – der letzte der Gorodins, der einzige Jäger dieses Hauses, und ein Gast, der hier durch die alte Freundschaft von Elterngenerationen lebte. Nie hatte er vorgehabt, eines Sohnes Herz zu stehlen. Da knackte ein Balken sehr laut, und vom Dach fielen ein paar Eiszapfen herab, und alle lachten über die Stille, um sie zu verscheuchen.

»Das wirst du werden«, sagte Ilja, streckte die Hand aus und zerzauste dem kleinen Jungen das Haar. »Tapferer als ich. Ich werde dir einen Wolf schnitzen, wie würde dir das gefallen?«

Die Augen des Kindes tanzten, und rasch lief er davon und hängte sich an Iljas Knie und schaute zu, wie Iljas flinke Klinge duftende Holzkringel von dem Kiefernstück schälte... Ilja, der Annas Gegenstück war, schön wie eine Frau, dessen zierliche Hände ebenfalls keine Begabung für die Arbeit des Vaters hatten, aber die aus Holz Schönheit machten, unnachahmlich in ganz Moskva. Andreij sah zu wie das Kind, und mit erstaunlicher Schnelligkeit nahm das Holz die schreckliche Gestalt eines Wolfes an. »Ich erinnere mich an Wölfe«, hob Großvater Orlow an zu erzählen, und die kindlichen Augen wurden wieder abgelenkt, wanderten zwischen Iljas Fingern und dem Gesicht des alten Mannes hin und her und zeigten einen Ausdruck reizenden Erschreckens.

Andreij hielt Annas Hand fest und zog sie an sich, ein Bündel aus Pelzen und Röcken neben dem prasselnden Feuer. Er lauschte dieser Erzählung, die er schon früher gehört hatte, und Großvater Orlows Stimme wirkte wie aus der Ferne. Er beobachtete, wie Iljas rasiermesserscharfe Klinge im Licht des Feuers blitzte, und wie der Wolf immer deutlicher aus dem Holz hervor in Erscheinung trat. Er hörte den Schnee fallen; nie zuvor hatte er das wirklich gehört; Stille war dazu erforderlich und das Gefühl von der Nacht draußen, wie die Flocken in einer immer dichteren Schicht sich auf dem Dach niederließen, ähnlich einem Schwarm von Gänsen, und ihre Stimmen stiegen auf gegen den Wind und entflohen hinaus in die Kälte.

Sie alle redeten an diesem Abend von Wölfen, und Andreij hörte nicht mit ganzem Herzen zu und zitterte jetzt auch nicht. Er blickte schließlich wieder auf, als die Geschichten zu Ende waren, und sah, wie Ilja dem jungen Iwan den Wolf überreichte, während sich die anderen Kinder eifersüchtig um ihn drängten, ein lärmender Auflauf, worauf sie rasch ins Bett geschickt wurden, mit Decken überhäufte Lager im hintersten Zimmer des oberen Stockwerks, in die Behaglichkeit tiefer Matratzen und geschützt vor dem Rütteln und Seufzen des Windes an den Fensterläden.

»Gute Nacht«, wünschte Andreij Mutter Katja und Vater Iwan, und »Gute Nacht« wünschte er auch Anna mit einem Kuß; dann suchten er und Ilja ebenfalls ihr Zimmer im oberen Stockwerk auf, legten sich zusammen nieder, wie sie es schon immer getan hatten, seit sie kleine Jungen wie Iwan gewesen waren, tief eingekuschelt zwischen Haufen von Steppdecken und weichen Matratzen.

»Ich hatte Angst«, gestand er Ilja, als sie schon einige Zeit Seite an Seite dalagen in der Dunkelheit. »Ich hätte es dem Jungen sagen sollen.«

»Jungen werden erwachsen«, meinte Ilja. »Und sie werden dabei klüger. Trifft das nicht auf uns alle zu?«

Andreij dachte darüber nach und blieb wach, starrte an die Balken und lauschte, hörte den Wind unmittelbar über ihnen. Es schien ihm, als seien die Daunen unter ihm wie die Schneewehen, endlos tief und weich; und wenn er die Augen schloß, konnte er die blaue Dunkelheit der Nacht sehen und eine gespenstisch weiße Gestalt, die mit geschmeidigen Bewegungen über den Schnee sprang. Tiefe weiche Wehen und wölfische Augen voller Nacht... ein dreieckiges Gesicht und wehender Schnee, und Wolfsaugen voller Geheimnisse... eine Gestalt, die den Winden hinterherjagte, Strömungen des Windes, die sich in weitere Wölfe verwandelten, schneekalt und sich auf seine glücklosen Träume stürzend wie Jäger auf ihre Beute.

Da empfand er eine tiefe Furcht, erinnerte sich an den Pfeil, denn der vorderste Wolf hatte eine Wunde, aus der sein Herzblut tropfte, und die Tropfen erstarrten zu rubinrotem Eis, das geräuschlos herabfiel.

Er erwachte am nächsten Morgen in einer inneren Stille, tiefer noch als am Tag zuvor, obwohl die Balken ächzten, und Schnee war vom Dach gerutscht und taumelte zu den Vorsprüngen herab, und das war es, was ihn und Ilja geweckt hatte. »Keine Jagd heute«, meinte Ilja, als er den Wind hörte. Andreij sagte nichts, sondern lauschte dem Sturm.

Und als die Kinder aufwachten und schaudernd die Treppe hinabliefen, die Frauen im Haus zu werken begannen und es kein Bleiben im Bett mehr gab, raffte sich Ilja auf und zog rasch die Stiefel an. Andreij folgte seinem Beispiel, als er die große Stadtglocke läuten hörte, gedämpft und weich in dem Sturm, der den Morgen zudeckte.

Er und Ilja und Anna und die anderen Nikolajews und Orlows, die die Kraft hatten zu helfen, zogen ihre wärmste Kleidung an und wagten sich hinaus in eine Stadt, die ganz weiß geworden war. Schneewehen lagen mannshoch auf den Straßen; sie schirrten die Ponies an und machten sich an die Arbeit – wie Gespenster, die sich durch den bleichen, wehenden Schnee bewegten; und sie arbeiteten, bis ihnen allen der Rücken schmerzte, schufen Wege, stützten Dächer ab und die Mauer selbst. Der Marktplatz wurde freigeschaufelt und war rasch offen, und die Winde hielten ihren Zorn aufrecht, der in der Luft brüllte, und trugen den Schnee zurück, so schnell sie ihn wegschaufelten. Letztlich gaben sie auf und kehrten alle in ihre Häuser zurück, zu warmen Mahlzeiten und warmen Feuern und geduldiger Aufmunterung.

Aber innerhalb des Hauses erlangte die Stille noch tieferen Halt, während sich rings um die Außenmauern der Schnee häufte und der Gesang des Windes in immer größere Ferne rückte. Es war ein Sturm jener Art, der einsetzen und tagelang andauern konnte; während die weiße Einsamkeit sich fest um die ganze Stadt hüllte. Gegen Ende des Tages band Andreij ein Seil um sich und ging hinaus, denn er fürchtete um die Sicherheit Umniks und der anderen Tiere; aber er fand sie wohlbehalten und behaglich in ihrem Stall, wo es warm war mit all dem Schnee ringsherum. Er machte sich auf den Rückweg, ging hinaus in das weiße Treiben, folgte dem Seil, das er um sich gewickelt hatte und das in der Weiße verschwand. Nicht einmal der Schatten des Hauses war in dem Sturm zu sehen; und als er sich umdrehte, konnte er auch den Stall nicht erkennen.

Weiß. Alles war weiß. Er blickte sich in allen Richtungen um, verspürte auf einmal schreckliche Angst vor der schleichenden Gestalt, die vielleicht in dieser Weiße auf ihn zukam, makellos und schnell wie der Nordwind. Er stellte sich vor, plötzlich zwei seltsame Dunkelheiten sehen zu können, die ihn anstarrten und wölfisch schräggestellt waren; eine heraushängende rosa Zunge und sehr, sehr weiße Zähne.

Er blickte hinter sich und drehte sich dann aufschreckend um, packte hastig das Seil und folgte ihm, schob sich durch eine Wand aus treibendem Schnee, stolperte gegen die vergrabene Veranda und stieg hinauf zur Tür, fand sie zugefroren. In seinem Nacken kribbelte es, aber er wollte sich nicht umblicken. Etwas atmete dort in der Stille des heulenden Windes, aber er wollte sich nicht umdrehen, um es zu sehen. Er klopfte an die Tür und rief nach denen im Haus, unterdrückte seine aufsteigende Panik. Aber die Stille wurde dichter, und er konnte sich kaum noch bewegen vor lauter Kälte in seinen Knochen, als die Tür aufging und Anna und Ilja ihn hineinzogen.

»Oh, er ist kalt«, sagte Anna, und sie drängten ihn zur Feuerstelle im innersten Raum und setzten ihn dorthin, damit sie ihm die Pelze ausziehen konnten; sie wärmten Decken am Feuer und hüllten ihn dann hinein, brachten ihm anschließend Tee. Das ganze Haus versammelte sich um ihn, und sie murmelten wie in großer Ferne, und die Kinder kamen und berührten Andreijs kalte Hände, wie es auch Anna und Iljas Mutter taten, wobei letztere ihn an sich drückte und seine Finger wundrieb und ihn auf die Stirn küßte, damit ihre große Besorgnis zeigte; und von dem Sims oberhalb des Feuers starrte Iljas Wolf auf sie herab.

Sie tanzten an diesem Abend und tranken und sangen; Andreij trank viel und lachte, und doch... – die Stille war da.

Er lag in dieser Nacht im Bett und träumte von blauen Nächten und stillem Schnee und von dieser weißen Gestalt, die mit dem Wind schnürte, zwischen im Mondlicht funkelnden Schneeflocken einher und über Verwehungen hinweg, ohne jemals darauf eine Spur zu hinterlassen.

Der nächste Tag dämmerte hell und klar herauf. Ganz Moskva schien an diesem Tag zu lächeln, als bunte Dachvorsprünge aus den tiefen Schneewehen hervorblickten, die zwischen den Häusern lagen, als Kinder und Erwachsene, eingemummt wie Puppen mit dicken Gliedern und dicken Fäusten, aus den Schneemassen hervorbrachen, um über die Straßen zu gehen und Verwandte und Freunde zu besuchen. Die Orlowkinder quietschten vor Begeisterung, brachen durch die Schneewehen auf dem Weg zu den Ställen und brachen Eiszapfen von den Vorsprüngen der Veranda. Manche Kinder hatten Schlitten auf die Straßen gezogen, und überhaupt machten die Kinder ihren eigenen Lärm.

Nur Andreij sah diesem Morgen mit weniger Freude entgegen, zog still seine Stiefel für draußen an und seine warmen Felle, holte das Geschirr hervor und sattelte Umnik, der unruhig war und streitlustig. Andreij sagte kein Wort zu Anna oder ihren Eltern, auch keines zu Ilja, lächelte nur die Kinder freudlos an, die ruhiger wurden, wenn sie ihn anschauten, und die, als sie mit dem Schlittenfahren aufhörten, wie eine Reihe zusammengekauerter Vögel entlang des Zaunes standen, als er durch das Tor ritt und dann die Straße hinab.

»Guten Morgen«, sagten die Nachbarn fröhlich und hielten in ihrem Schneeschaufeln inne. »Einen guten Morgen, Andreij Wasiljewitsch.« Er nickte abwesend und ritt weiter. »Guten Morgen«, sagte der weißbärtige Pjotr am Torwärterhäuschen, und Andreij vergaß, den Gruß zu erwidern, stieg aber von Umnik, um den Torhütern dabei zu helfen, die Torflügel nach innen zu stemmen, stieg dann wieder auf den Rücken seines Ponys. Das Pony schüttelte den zotteligen Kopf und ging gegen die Schneeverwehung vor, die ihnen den Weg versperrte, sprang hindurch und lief dann gleichmäßiger weiter, auf die Brücke und das offene Land zu, schnaufte in der kalten Luft mit rot geäderten Nüstern und stellte die Ohren auf, als es über die Brücke trappelte und dann zu den Hügeln trabte.

Die Sonne stieg höher und überschritt den Mittag. Andreij wickelte sich den Schal ums Gesicht, um seinen Atem zu wärmen, und versäumte es, die Augenschirme aufzusetzen, denn der Himmel war immer noch dunstig, und der Schnee lag überall weiß und dick. Er sah nur wenige Spuren, keine Verheißung einer guten Jagd; der Schnee lag noch nicht lange genug, um die wilden Tiere verzweifelt und leichtsinnig zu machen – und der Tag war auch nicht warm genug, sie in die Versuchung zu führen, ihre warmen Unterschlüpfe zu verlassen. Er hätte noch einen Tag warten sollen, aber der Gedanke an den dunklen Dachboden und das Sitzen am Feuer, ohne etwas zu tun zu haben, bedrückte ihn. In Untätigkeit hatte er nur üble Erinnerungen an Gesellschaft. Er war hinausgeritten, um ihnen zu trotzen, über sie zu lachen, zu jagen und diesmal zu gewinnen.

Er hatte Angst. Er hatte noch nie zuvor etwas Derartiges empfunden. Sogar im hellen, klaren Tageslicht spürte er das, was er auch bei jenem Ritt zu den Toren gespürt hatte mit dem Gebell der Wölfe im Rücken. Er fürchtete die Angst, denn die Jagd sicherte seinen Lebensunterhalt, und wenn er zuviel Angst bekam, konnte er die Stadtmauern nicht mehr verlassen.

Er richtete sich in den Steigbügeln auf und blickte zurück, setzte sich dann wieder und ritt weiter. Die hölzernen Stadtmauern waren schon lange außer Sicht; schneebedeckte Hügel und verschneite Felder erstreckten sich in allen Richtungen außer dem Süden, wo der Wald unter einer dicken Schneeschicht lag, weiß und eisig. Kein Geräusch war zu hören, außer Umniks regelmäßigen Bewegungen, dem Knarren des Geschirrs, dem Schnauben des Atems.

Umnik ging jetzt langsamer, nachdem er seinen ersten Atem erschöpft hatte, watete fast knietief über den Pfad. Und der weiße Schnee brachte eine solche Schönheit zum Ausdruck, daß Andreijs Furcht nachließ. Er hielt das Pferd an und sah sich in allen Richtungen um, hörte ein rasches, hundeartiges Keuchen im Rücken.

Er fuhr herum, riß heftig an den Zügeln, und Umnik scheute auf der tiefen Verwehung, stieg auf die Hinterhand und stürzte beinahe.

Da war nichts. Andreij beruhigte das Pferd und tätschelte es. Nichts war da. Das Licht wurde heller; die Wolken teilten sich. Er griff nach den Augenschirmen, als der Schnee das Sonnengleißen sammelte, trübes Gold und Rosa und Bernstein. Umnik stand reglos und Andreij hielt inne, die Augenschirme in der Hand... empfand die Faszination dieses Lichtes – denn Licht hatte den Wolf verborgen. Er blickte zu den fernen Hügeln – und zum Himmel hinauf, in die Sonne. Er hatte nie in seinem Leben aufgeblickt, abgesehen von einem verstohlenen Blick, um den Zustand des Himmels auszumachen, aber nicht, um ihn zu sehen. Der Anblick drang ihm schlagartig bis ins Herz. Und er blickte nach Norden. Der Wolf stand dort wachsam oben auf einer frischen Verwehung, und seine Augen waren wie die Sonne, sein Fell überzogen von ineinander übergehenden Farben.

Andreij peitschte Umnik und ritt los; er erinnerte sich nicht mehr an den Beginn der Flucht, aber er und Umnik stürmten in Panik über den Schnee, und der weiße Wolf war nie weit hinter ihnen.

Schließlich lag die Stadt vor ihnen, und er nahm das Horn vom Gürtel und blies hinein, aber der Klang wirkte matt. Umnik schwankte, und er peitschte das Pony, trieb es weiter, den Weg zur Stadt hinauf, über die hölzerne Brücke zum südlichen Tor, während weiße Gestalten rings um ihn herum hochsprangen und hechteten und Stimmen heulten, fern und leise, als habe sein Gehör nachgelassen, und die ganze Welt war von Kälte umstellt. Umnik wurde langsamer, als es auf die sich öffnenden Tore zuging, aber er peitschte das Pony heftiger und ritt auf die Straßen, wo Umniks Hufe ausrutschten, und überraschte Bürger und Kinder, die hastig einen Schlitten aus dem Weg des Pferdes zogen. Er hielt an und sah sich um, und die Tore schlossen sich langsam. »Die Wölfe!« schrie er, aber Pjotr und der andere Torwächter starrten ihn seltsam an, während sie sich gegen die Torflügel stemmten.

Nichts war dort gewesen. Die Wölfe befanden sich in seinen Augen, in seinem Kopf. Er wußte es plötzlich, und die Kälte in seinem Herzen wurde tiefer.

»Alles in Ordnung mit dir, Andreij?« fragte Pjotr.

Er nickte, kalt und beschämt durch den Tod, den er für sich sah. Er griff unbestimmt nach den Zügeln Umniks, erinnerte sich daran, wie er das Pony geschlagen hatte, und tätschelte ihm den Nacken, während er es die Straße hinablenkte. Umnik schüttelte sich, ging langsam und mit hängendem Kopf, als sei vielleicht ein Teil der Kälte auch in sein Herz gelangt, als sei er mit Schlägen dort hineingetrieben worden.

Andreij ritt nicht nach Hause. Er wandte sich zum Haus Mischas, des alten Jägers, das sich klein und mit Geweihstangen geziert, nicht so farbenfroh wie die anderen, zwischen die Marktställe und die öffentlichen Bäder kauerte. Viel Schnee lag dort und vergrub es auf einer Seite fast bis zu den Dachvorsprüngen. Der Steinkopf eines vergessenen Helden ragte dort auf, starrte mit nur der leichtesten Andeutung von Gesichtszügen aus dem Schnee hervor. Andreij stieg zur Veranda hinauf und band Umnik an deren Geländer, stampfte seine Stiefel ab und öffnete die erste Tür, ging durch die Diele und klopfte an die zweite Tür.

Keine Antwort erfolgte, auch kein Verbot. »Mischa!« rief er. »Hier ist Andreij Gorodin!« Er trat ein, verging bereits beinahe in der Wärme, die innen herrschte, wo es nach kochenden Ölen duftete, nach verbranntem Fett und getrockneten Kräutern. So war Mischas Haus, und überall hingen auch Geweihe und Federn und ein Durcheinander von allen möglichen Einzelheiten. Und ein Haufen Decken vor dem Feuer, das war Mischa selbst, ein runzeliges Gesicht und dunkle schmale Augen und ein Strang ergrauter Haare, der unter der Kapuze hervorhing. In einer Hand hielt er ein Bündel Kräuter, die er schon teilweise in eine Untertasse gekrümelt hatte; eine linke Hand war nicht vorhanden: die hatte sich ein Wolf geholt, als Mischa noch selbst auf die Jagd gegangen war – aber das war zu Zeiten vor Andreijs Geburt gewesen. Andreij kauerte sich nieder und blickte in Mischas blicklose Augen.

»Und?« fragte Mischa.

Die Frage stockte ihm hinter den Lippen. Und langsam hob Mischa die Hand und berührte mit gespreizten Fingern Andreijs Gesicht, wanderte dann zu seiner Brust hinab, als suchte sie auch dort nach etwas.

»Ein Besuch ohne Fragen, Andreij Wasiljewitsch?«

»Ich habe mein Glück verloren, Mischa.«
»So.« Mischa schöpfte Wasser aus dem Kessel, goß es in die Schale und reichte sie ihm. Andreij nahm die Schale zwischen die behandschuhten Hände, atmete den Dampf ein und nippte kurz an der Oberfläche, denn eine so starke Hitze bot nach der Kälte draußen Gefahren. Nach einem Moment trank er mehr, aber die Kälte verließ ihn nicht, und auch der Schleier über der Welt wurde nicht klarer.
»Ich sehe Wölfe«, sagte Andreij.

Die stumpf gewordenen Augen ruhten in den seinen, von Runzeln umgeben, als steckten sie in gebrochenem Gestein.

»Einen weißen Wolf«, sagte Andreij. »Weiß wie Schnee. Weiß wie Eis.«

Der alte Mischa krümelte weitere Kräuter in eine weitere Schale und schöpfte wieder Wasser hinein, trank daraus, die schwarzen Augen verdeckt.

»Ich habe auf ihn geschossen«, erzählte Andreij. »Aber er war heute doch wieder da. Ich habe in die Sonne geblickt, Mischa.«

Mischa starrte ihn an, als könnten seine Augen sehen.

»Was soll ich nur machen, alter Jäger?«

Mischa bewegte den linken Arm, zeigte ihm den Stumpf. »Beschwichtige ihn«, sagte er. »Das ist alles, was du zu tun hoffen kannst.«

Andreij setzte die Schale ab, schlang die pelzbedeckten Arme um so fester um sich und starrte den alten Jäger an. Zauberer. Visionär... der die weiße Krankheit gehabt – und überlebt hatte.

»Du hast es gesehen«, meinte der Seher. »Du hast mit dem Wind gesprochen und seine Antwort gehört. Du bist vor dem Wolf hergelaufen. Und das Licht ist in deine Augen gedrungen, wie schon in die deines Vaters, meines alten Freundes. Es hat ihm alles genommen. Ich gab ihm auch einen Teil von mir. Und ich bin immer noch am Leben, Andreij Wasiljewitsch. Deine Mutter gebar dich und siechte dahin; und so starben sie beide. Aber ich bin noch am Leben, Sohn meines Freundes.«

Andreij erhob sich taumelnd und eilte zur Tür, blickte zurück in das verhutzelte Gesicht, verschleiert von einer grauen Kapuze, mit einer Hand die Schale haltend. Er empfand die Kälte sogar noch stärker als vorher, auf dem Gesicht und im Herzen, überall, wo ihn die Finger des blinden Jägers berührt hatten. »Ich bringe deine Gebühr«, sagte er, »von meiner nächsten Jagd mit, ein paar fette Kaninchen, Mischa.«

»Ich nehme nichts«, sagte der alte Mann. »Nicht von dir, bis du siehst, Andreij Wasiljewitsch.«

Andreij floh aus dem Haus, stampfte draußen auf und schloß die äußere Tür. Umnik wartete. Er stieg die Stufe zu dem Pony hinab und bemerkte jetzt zum ersten Mal, wie sich die Bemalung von dem gegenüberliegenden Haus abschälte, wie alle Farben Moskvas knallig wirkten, wie schmutzig der Schnee war und wie unordentlich die Menschen, eingemummt in nicht zueinander passende Felle.

Langsam, das Auge zusammendrückend und die Schulter drehend, blickte er nach oben. Farben trieben über den Himmel, tanzten die Dachfirste entlang, liefen über die Kanten, ein fließender Glanz von Rosa und Gold. Das war Schönheit. Rings um ihn war flüchtig bemalte Häßlichkeit.

Mit ganzem Herzen verlangte es ihn danach, weiter Ausschau zu halten, hinaus auf das Eis zu gehen und in den Norden zu reiten, in die reine strahlende Schönheit.

Aber der Wolf war dort. Und die Schönheit tötete. Er erschauerte, nahm Umniks Zügel und ging langsam auf die Straße, ging sie hinunter, vorbei an Menschen, die ihn neugierig anstarrten und hinter vorgehaltener Hand flüsterten. Es war der Schwund. Er wußte es jetzt... das, was die Seelen derjenigen austrank, die dieser Krankheit zum Opfer fielen. Es war die Vision. Es war der Blick auf alles, was Hände fertigten, und das Wissen dabei, daß man nur nach oben schauen mußte – und nachdem man es getan hatte, sich dieser Leere zu ergeben, die bestehen würde, nachdem die ganze Welt verbraucht war. Sich selbst zu messen und die eigenen Taten angesichts dieser weißen Decke, und zu entdecken, daß sie letztlich klein waren und unschön.

Die Schönheit wartete außerhalb der Stadtmauern, war so nahe wie ein Blick in den offenen Himmel; die Schönheit wartete – und mit ihr der Wolf.

Beschwichtige ihn, hatte der alte Jäger gesagt, der keiner mehr war, Mischa, der keine Sonnenaufgänge mehr sah, der einen Teil seiner selbst den Wölfen gegeben hatte – dem Wolf.

Er ging nach Hause. Ilja und Iwan Nikolajew liefen hinaus, um ihn zu begrüßen, und auch die Frauen und Kinder kamen, hatten sich Sorgen um ihn gemacht. Anna kam und Katja, und beide drückten ihn an sich. Ruhig nahm er Umnik das Geschirr ab und erwartete, daß das Tier zum Stall trottete – aber es blieb stehen. »Bring ihn hinein!« befahl er dem kleinen Iwan, und der Junge führte das Pony weg. Andreij blickte dem zockelnden Tier hinterher und zitterte. Er spürte innerhalb seines Handschuhs eine andere Hand, eine Berührung auf seinem Arm... Er blickte in Annas liebende Augen, in ihr Gesicht, sah Mängel, die er zuvor nie gesehen hatte, die Nasenlänge, die Wangenbreite, die Unvollkommenheit ihrer Stirn. Darauf erkannte er den kleinen Fleck einer Narbe, jedoch nicht in der Mitte, und ihr Haar, das er immer für so hell wie den Sonnenuntergang auf Schnee gehalten hatte, war stumpf, die Zöpfe glanzlos angesichts der Schneeflocken, die sie umwehten, winzige Sterne, die in dem lockeren Haar steckten... Das war Schönheit, und sie rief die Kälte zurück und die Furcht.

»Komm herein!« drängte ihn Anna, und er übergab Ilja das Geschirr und folgte Anna, hielt sie dabei an der Hand, und vor ihnen gingen alle anderen zum Haus und betraten die Diele. Er legte seine Stiefel und Felle für draußen ab und begrüßte die Kinder mit einer Handberührung und die Alten am Kamin mit einem Kuß, erblickte überall die Sterblichkeit, die kurze Lebensspanne des Menschen und seine Kleinheit.

»Andreij?« Anna setzte sich neben ihn, dicht am Kamin, und ergriff wieder seine Hand. Er küßte und hielt die ihre, weil es freundlich war, aber Liebe und Hoffnung waren in ihm vertrocknet... – ein Jäger, der die Stadtmauern nicht mehr verlassen konnte, der dasaß, während die Seele in ihm verwelkte.

Nichts Schönes war an den Menschen. Nur die Schönheit existierte, die über Moskva lag und die die Stadt umgab. Sie würde ihm den Geist rauben oder ihn das Augenlicht kosten. Er starrte in das Feuer, und es war nichts im Vergleich zum grellen Glanz der Sonne auf Eis.

Eine Stille legte sich um ihn, ob es nun die Stille des Hauses war, weil die anderen wußten, daß etwas mit ihm nicht stimmte, oder die Stille in seiner Seele. Er dachte daran, wie einfach es sein sollte, wie furchtbar einfach, am nächsten Mittag hinauszugehen und in die Sonne zu starren, bis er nicht mehr sehen konnte, aber selbst dann würde es noch die Erinnerung geben.

Er dachte immer wieder an den alten Mischa, der seine Augen und seine Hand verloren hatte... – beschwichtige ihn: aber was war zuerst gegangen, was half gegen den Wolf? Er hätte danach fragen sollen.

»Andreij?« Ilja packte ihn am Arm. Er hörte jemanden neben sich weinen, vielleicht Anna, oder auch jemand anderes, der ihn liebte. Vielleicht war er es selbst. Er sah Iljas Gesicht vor sich, die große Besorgnis darin, sah eine Hand vor seinen Augen vorbeihuschen, hörte die anderen alle über seine Not diskutieren, aber es war ihm nicht mehr möglich, von diesem fernen Ort zurückzukehren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Er hatte auch nicht den Wunsch.

Sie fütterten ihn, steckten ihm das Essen in die Hände. Und er aß, schmeckte dabei kaum etwas. Schließlich nahm Anna sein Gesicht zwischen ihre weichen Hände und küßte ihn auf die Stirn, und Mutter Katja folgte ihrem Beispiel. »Was hat Andreij denn?« fragte eine Kinderstimme. Er hätte es dem Kind erklärt, aber jemand anderes tat es: »Er ist krank. Er ist verwundet. Geh ins Bett, Kind!«

»Seine Hände sind kalt«, sagte wieder ein anderer. Und Annas Stimme: »Verschließt die Türen! Oh, verschließt die Türen, laßt ihn nicht weglaufen!« Manche gingen nämlich fort, um zu sterben, wenn der Schwund von ihnen Besitz ergriffen hatte, suchten die Nacht und den eisigen Tod.

»Ich werde nicht gehen«, sagte er, und es kostete ihn große Mühe zu sprechen. Es war auch nicht einfacher, als er es gesagt hatte. Es heiterte alle auf. Sie drückten ihn nacheinander an sich und rieben seine Hände.

»Vielleicht«, sagte Annas ruhige, ferne Stimme, »vielleicht hat er nur für einen kurzen Moment aufgeblickt. Vielleicht wird er wieder gesund.«

»Das wird er«, versicherte jemand, aber Andreij wußte nicht genau, wer. Es wäre leichter gewesen, sich an diesen fernen Ort zurückzuziehen, aber sie ließen ihn nicht in Frieden.

»Ich bringe ihn ins Bett«, sagte Ilja. »Geht schlafen. Ich kümmere mich um ihn. Nein, Anna – Anna, bitte geh!«

Jemand küßte ihn, zärtlich und traurig. Langsam kehrte Schweigen im Haus ein. Andreij ruhte sich aus, starrte ins Feuer, wurde erst gestört, als Ilja sich daran machte, die Glut anzufachen. »Willst du hinaufgehen?« fragte Ilja schließlich. »Wagst du es, schlafenzugehen?«

Er stand auf aus Freundlichkeit denen gegenüber, die ihn liebten, hielt sich dabei am Kaminsims fest, starrte unverwandt in das Gesicht von Iljas geschnitztem Wolf, der härter und echter wirkte als alles andere im Zimmer. Er betrachtete Iljas anderes Werk, den geschnitzten Sims selbst, fuhr mit den Fingern über die gewundenen hölzernen Reben und Blätter, berührte die geschnitzten Blumen, zeichnete die knalligen, schreienden Farben nach.

»Ich habe Schönheit gesehen«, sagte er. »Ilja, du hast keine Ahnung. Sie wartet da draußen...«

»Andreij«, sagte Ilja.
»Ich habe Farben gesehen... – die du nie erblickt hast.«

Ilja streckte die Hand aus und drehte Andreijs Gesicht in seine Richtung, schlug ihm leicht auf die Wange. Ein furchtbarer Schmerz war in Iljas Gesicht zu erkennen, genau wie bei Anna.

»Erzähl mir davon!« sagte Ilja.

Er dachte darüber nach und wollte nicht. »Andreij, wenn du gehst, wird Anna dir folgen.

Verstehst du? Anna liebt dich; und du wirst nie allein gehen.«

Er dachte auch darüber nach, und tief in seinem Inneren, gefärbt durch sein Selbst und klein, war eine Freundlichkeit, dort, wo zuvor Liebe gewesen war, und das bildete den anderen Pol, der ihn anzog. Der Tod draußen zog an ihm, aber innerhalb der Mauern bestand ein Band zu lebenden Seelen, so daß er endlich wußte, wofür er sich entscheiden sollte, nämlich für den Weg Mischas. Er wollte diese Qual nicht denen zufügen, die ihn liebten. Nicht Anna.

»Scheint die Sonne noch?« fragte er.
»Nein«, sagte Ilja sanft. »Die Sonne ist untergegangen.«

»Dann morgen.«
»Was, morgen?« fragte Ilja. »Was wird morgen sein?«

Es war schwer, Ilja zu widerstehen, der ihm nahestand und schon so lange sein Freund war. Ein Bruder. Sein zweites Ich. »Da war ein Wolf«, sagte er langsam, dort am Kaminsims lehnend, und befingerte dabei die von Iljas Hand gefertigten Schnitzereien »Ich habe ihn gejagt – und er jagt mich. Ich habe mit dem alten Mischa gesprochen, weißt du, Ilja? Und Mischa kennt dieses Tier. Er sagte, ich müsse es beschwichtigen und würde dann frei sein; und ich werde es tun. Du liebst die Schönheit, Ilja, und ich habe sie gejagt und habe sie gesehen... da draußen habe ich die Sonne gesehen und das Licht und das Eis, und mir ist kalt, Ilja. Ich werde jetzt in kurzen, gestohlenen Augenblicken hinschauen, und früher oder später werde ich zu den Mauern hinausgehen müssen. Er wird dort warten.«

»Anna... würde dir folgen. Begreifst du das, Andreij? Wie sehr sie dich liebt?«

Er nickte. »Also«, sagte er, weiterhin den Wolf anstarrend, »also werde ich nicht den Wunsch haben zu gehen. Ich werde versuchen, es nicht zu tun, Ilja.«

»Was... hast du gesehen?«

Er blickte Ilja in die Augen und sah dort einen Hauch derselben Kälte. Eines heimlichen Verlangens. »Nein«, sagte er. »Laß es. Bleibe nicht in meiner Nähe. Laß mich in Ruhe!«

»Damit du gehen und sterben kannst?«

Er zuckte die Achseln. Ilja betrachtete ihn verzweifelt. Andreij tätschelte seine Schulter und ging zur Leiter, die zum Dachgeschoß hinaufführte. Blieb dann stehen, denn er konnte den Wind draußen heulen und nach ihm rufen hören, hinaus zum Wolf. »Er ist da«, sagte er. »Unmittelbar vor der Tür.«

»Ich werde auf dich achtgeben«, sagte Ilja. »Das werde ich; auch Anna, einer nach dem anderen, wir alle. Wir lassen dich nicht gehen.«

Andreij blickte zur Tür und konnte durch sie hindurchsehen in die blaue Nacht. Ilja packte ihn am Arm, trug eine brennende Kerze, um den Weg zum Dachgeschoß zu beleuchten. »Komm!« befahl er ihm, und er kletterte die Holzleiter mit ihren Blumenschnitzereien hinauf zwischen die bemalten Säulen und Pfosten des Dachgeschosses, ging leise zwischen den im ganzen Raum schlafenden Kindern hindurch. Da lag ihre eigene Nische; Ilja schloß die Tür, führte die Kerze an die Nachtlampe und blies den Docht aus, kleine alltägliche Handlungen, die sie an jedem Abend ihres Lebens ausführten und die jetzt tröstlich waren. Andreij bewegte sich lebenslangen Gewohnheiten folgend, schnallte den Gürtel ab und hängte ihn an den Bettpfosten auf seiner Seite, zog die Stiefel aus und krabbelte unter die kalten, schweren Bettdecken. Ilja deckte ihn fest zu, nachdem er sich hingelegt hatte, wie es früher Katja jede Nacht getan hatte, wozu sie jedesmal die Leiter heraufgestiegen war; und er täuschte vor, rasch einzuschlafen. Ilja blieb für einen Moment stehen, ging dann über die knarrenden Bretter herum um das Bett und legte sich auf der anderen Seite hinein.

Das Bett war wie Eis. Das blieb es auch, aber Andreij zitterte nicht. Er lag reglos da und lauschte dem Wind und den Schritten draußen vor der Tür unten, leise tapsende Schritte, die keine Spuren auf dem Schnee hinterlassen würden. Lauschte auch dem Wehen der Schneeflocken vom Firstbalken herunter und wie diese Flocken auf die Verwehungen fielen. Balken knackten wie Donnerschläge, und er fuhr jeweils auf und lag dann wieder still.

Schließlich konnte er keinen Widerstand mehr leisten und regte sich, streckte einen Fuß in die kalte Luft und zum Boden aus. »Andreij«, sagte Ilja sofort, drehte sich um und erhob sich auf einen Ellbogen, streckte die Hand aus und packte seine Schulter. »Alles in Ordnung mit dir, Andreij?«

Er legte sich zurück. »Laß mich gehen!« sagte er bittend. »Ilja, der Wolf ist da draußen. Er wird immer dort sein.«

»Ruhig. Sei still!« Und als Andreij sich bewegte, sich kaum dessen bewußt, daß er sich aufzurichten versuchte, hielt Ilja ihn fest. »Er wartet«, protestierte er. »Er wartet auf mich, Ilja, und die Kälte wird sich ausbreiten, auch andere befallen. Das weißt du.«

»Still!« Ilja rollte sich schweigend aus dem Bett, kam herum und setzte sich auf seiner Seite auf die Kante. »Ich werde keinen Schlaf finden«, meinte er. »Ich werde nie wissen, ob du in deinem nicht herumwanderst. Wie soll ich Schlaf finden, Andreij? Ich habe Anna versprochen, auf dich achtzugeben.«

Andreij wollte nichts davon hören, aber es drang doch durch die Taubheit, die von ihm Besitz ergriffen hatte. »Du solltest mich gehen lassen«, sagte er. »Ich werde auch gehen – morgen oder übermorgen. Er wird nie weit sein, sondern direkt vor der Tür. Umnik und mich – er wird uns kriegen.«

»Still!« Ilja band den Gürtel um sein Handgelenk und befestigte ihn am Bettpfosten. Er duldete es, denn es war schließlich Ilja, und er wußte, wie sehr Ilja sich grämte. Und es war nicht in Ordnung, daß Ilja sich solche Sorgen machte. Ilja gab sich große Mühe, auch mit der anderen Hand, saß da und fuhr ihm durchs Haar, eine freundliche Bewegung. »Schlaf jetzt«, sagte Ilja. »Schlaf jetzt! Du wirst in deinen Träumen nicht umherwandern. Du bist in Sicherheit.«

Andreij schloß die Augen und dachte, daß der Tag kommen würde und auch noch weitere Nächte, und sobald er die Augen geschlossen hatte, war der Wolf da, nicht weniger deutlich als vorher auch schon, mit Augen wie die Sonne, ein weißer Wolf in blauer Nacht, unsichtbar auf der dichten Schneedecke des Hofes. Die Pferde wieherten leise und beunruhigt. Die Ziegen meckerten – aber sie hatten keinen Grund zur Angst. Sie waren sicher in ihrem warmen Stall, wo die Kälte nie eindringen würde... – und es war die Kälte, die wartete.

Er spürte, wie sich Ilja zurückzog, hörte das Knarren der Bretter, wie die Tür aufging und Ilja die Leiter hinabstieg. Er empfand etwas Kummer und zerrte an den Fesseln, um sich zu befreien, aber Iljas Knoten saßen gut, und die Vision saugte ihn wieder auf, die blaue Nacht, der bleiche Schnee. Irgendwo hörte er sehr leise Geräusche, und er träumte davon, wie sich der Wolf entfernte und dann wachsam draußen am Zaun stand. Und weitere waren dort, weiß und abgezehrt vor Hunger. Eine Vision befiel ihn, wie sich die Haustür leise in der Dunkelheit öffnete und eine Gestalt in seinen Fellen zu sehen war, die seinen Bogen trug und seine Pfeile. Umnik wieherte leise und kam von selbst aus dem Stall, und seine Ohren waren steil aufgerichtet und seine Augen erfüllt mit den treibenden Vorhängen aus Licht, die über den blauen Himmel hinwegsprangen und -tanzten und -strömten... Die Morgenröte, ungewöhnlich hell und seltsam. Das Pferd kam herbei und beschnupperte seine ausgestreckte Hand, und sie beide standen beisammen, Mann und Pony, unter dem strahlenden Glanz des Himmels. Zögernd blickte der Mann auf, wandte sein Gesicht dem Licht zu, und es war Ilja, dessen zornige Augen eine leichte, schon verhängnisvolle Auffassungsgabe zeigten, als sie in den Himmel starrten... Neugier und Offenheit.

»Dort«, sagte Ilja und zupfte an Umniks langer Mähne, sprach nur mit Flüsterstimme, streckte den Bogen wie einen Stab zum nördlichen Himmel aus. »Wir werden ihn jagen, wir beide; wir werden es wenigstens versuchen, nicht wahr?« Und er öffnete das Tor, schwang sich auf Umniks bloßen Rücken, und das ungezäumte Pferd setzte sich in Bewegung, die Augen so starr blickend wie die Iljas, durch den zertrampelten Schnee die Straßen hinab und vorbei an Häusern ohne Augen, mit geschlossenen Fensterläden.

Und die Wölfe flohen wie der Wind, der über die Dächer und ihre Vorsprünge fegte und seines Weges zog, dabei ein Tor streifte, das dumpf hin und her schlug.

»Nein!« schrie Andreij, aber er war in seinem Traum befangen. Er zerrte an den Knoten, aber sie waren fest und alle Kraft hatte ihn verlassen, seine Seele war mit den Winden entflohen, dorthin, wo er die ganze Stadt unter sich ausgebreitet sehen konnte, ganz Moskva, wie es sein Bündel Flüsse umfaßte, gefroren und aufgebrochen und wieder zu gefroren bis fast auf den Grund. Durch einen Staubschleier treibenden Schnees hindurch sah er die Tore, sah das Haus des alten Pjotr und des jungen Fjedor fest zugeschlossen und mit gelöschten Lichtern. Dort blieb Umnik stehen, und Ilja sprang herab, entriegelte die Tore und zog einen Flügel auf in dem hinderlichen Schnee, bis genug Platz war, damit Pony und Reiter hindurchkonnten. Er kletterte wieder auf Umniks bloßen Rücken, und Umnik schüttelte den zottigen Kopf und trabte davon in dem Pfeifen des treibenden Schnees und der Herrlichkeit der Lichter im Norden. »Komm zurück!« jammerte Andreij, aber er sprach mit der Stimme des Windes, und der Wind trug ihn machtlos mit sich... Er glitt über die Schneefläche, als sei seine Seele ein flitzender Vogel, der vor Pferd und Reiter dahinjagte und dann wieder klein wurde, als der Wind ihn nach oben fegte. Die Wölfe liefen daneben einher, eine bleiche Bewegung auf bleichem Schnee... »Da sind sie!« wollte er rufen. »Ilja, da sind sie!«

Aber Ilja war kein Jäger, der etwas vom Bogen verstand, hatte ihn nie auch nur gespannt. Andreij schwebte näher heran, empfand Schrecken im Herzen, und sah Iljas Gesicht, das Ebenbild Annas, sah blondes Haar im Wind wehen, von Schnee bestäubt, sah seine Hände... Iljas zierliche Hände, die sein Leben und seinen Lebensunterhalt bedeuteten, trotz der Kälte ohne Handschuhe. Und Iljas Blick schweifte ungeachtet der Wölfe über den Horizont und den Himmel, über den die Lichtvorhänge strömten und den Schnee berührten.

Ilja ritt nach Norden, immer weiter, während die Lichter sich stets von neuem zum Horizont zurückzogen und die Wölfe neben ihm über die Verwehungen schnürten und auf ihren Zeitpunkt warteten. Und der Bogen entglitt schließlich seiner erstarrten Hand und blieb im Schnee liegen, und er schien es überhaupt nicht zu bemerken. Der Köcher rutschte hinterher. »Es hat ihn gepackt«, dachte Andreij, und das Zerren wurde in ihm selbst immer schwächer, wie Eis, das dahinschmilzt. Der Schmerz kehrte zurück. Er träumte, hilflos jetzt und verwundet, sah Ilja von Umniks Rücken gleiten, sah seine nackte Hand das zottige Scheckenfell liebkosen wie zum Abschied, aber als Ilja dann allein weiterging, folgte Umnik ihm. »Oh, geh mit ihm!« wünschte sich Andreij von dem Tier, das ein Teil von ihm war, wie Ilja fast schon nicht mehr. »Erlaube ihm nicht, allein dort hinauszugehen!« Und Umnik warf den Kopf hin und her, als habe er es noch tatsächlich gehört, und folgte Ilja geduldig und geräuschlos durch den Pulverschnee und die Herrlichkeit der Lichter, die am Himmel ihre Spiele trieben. Der Schrecken begleitete sie seitlich, vierfüßig und mit hängenden Zungen, mit sonnenerfüllten Augen, die schräg in der Nacht glitzerten, heraus aus weißen dreieckigen Gesichtern mit Zähnen wie Scherben klaren Eises. Umnik schüttelte den Kopf und blies einen frostigen Atem hervor, und auch seine Augen nahmen langsam diese Fremdheit an, das leuchtende Schimmern einer Sonne, als sei er nicht länger dem Menschen zugehörig; und ein unvermuteter Feind trottete jetzt hinter Ilja her.

»Ah«, dachte Andreij, »ich möchte gern sein Gesicht sehen.« Und versuchte in seinem Traum, ihn zu überholen, vor ihn hinzutreten und ihn zu warnen, es ihm zu sagen, herauszufinden, ob dieselbe Verwandlung auch von ihm Besitz ergriffe. Ilja, dachte er mit aller Kraft, die ihm verblieben war. Ilja, ich bin hier. Oh, sieh mich an!

Ilja blieb stehen und drehte sich um, sein Gesicht nur vage beunruhigt, als habe er irgendeine seltsame ferne Stimme gehört.

Ilja, o mein Freund.
»Andreij?« fragte er, wobei er kaum die Lippen bewegte, und streckte die Hand aus, als könnte er ihn dort stehen sehen. »Ist es das, was du gesehen hast? Ich war nie außerhalb der Mauern; ich war immer zu kränklich. Aber es ist schön, Andreij.«

Er hatte keine Antwort für ihn. Die Schönheit, die er am Himmel gesehen hatte, war verschwunden; sie war blaß geworden in seinen Augen, abgesehen von dem, was er in Iljas Augen gespiegelt sah.

»Ich glaubte zu wissen«, sagte Ilja, »was Schönheit ist... Ich mache Schönheit, Andreij, zumindest glaubte ich, das zu tun, aber ich habe doch bis heute keine gesehen. Ich sollte Angst davor haben, finde ich, aber das tue ich nicht. Nur, sie töten... Andreij, wie kann ich das tun? Wie könntest du?«

»Tu es nicht!« flüsterte er. »Komm zurück! Laß mich frei, Ilja! Komm nach Hause! Laß mich frei!«

»Ich bin zu weit gegangen«, sagte Ilja. »Schau nicht hin, Andreij, geh zurück ins Bett. Du träumst nur. Geh zurück!«

So mochte ein Traum zu ihm sprechen, sein eigener Verstand durch den Mund eines Phantoms mit ihm reden. Es erweckte für einen Moment Unglauben in ihm, und in diesem Moment drehte sich Ilja um und ging weiter nach Norden. »Warte!« schrie er und folgte ihm, fand das Gehen immer schwieriger, denn der Wind trug ihn nicht mehr. »Ilja, warte!«

Ein zweites Mal wurde ihm das Gesicht zugewandt, immer noch mit Iljas Augen, wenn sie auch unnatürlich ruhig waren. Und jetzt stellten sich die Wölfe auf einem niedrigen Kamm auf, und ihre geschlitzten Augen leuchteten. »Komm weg von ihnen!« bat Andreij. »Siehst du sie denn nicht?«

Ilja betrachtete ihn mit diesem Blick, den er selbst vorher auf die gerichtet haben mußte, die ihn liebten – ein Blick, der ihn aus großer Ferne abschätzte und ihn abwies, weil er all seine Fehler entdeckte.

»Die Wölfe«, weinte er. »Ilja, siehst du sie denn nicht?«

»Nein«, sagte Ilja langsam und rücksichtsvoll, wandte sich den Wölfen und dann wieder ihm zu.

»Dort ist nichts. Geh zurück! Ich habe es getan, also könntest du zurückgehen, begreifst du nicht?«

»Ich werde sie jagen«, schwor er. »Ich werde sie einzeln jagen.«

»Nein«, sagte Ilja sanft, und hinter ihm stand das Pony mit Augen, erfüllt von der Sonne; tatsächlich ging die Sonne jetzt auf, eine dünne Linie und eine Perle, mit schimmernden Streifen auf dem Eis, Bändern und Schäften aus Licht, die die schneebedeckte Ebene mit Düften von Rosa und Lavendel und Opal überzogen. Ilja blickte in diesen plötzlichen Glanz und wandte ihm den Rücken zu. Eine Gestalt stand dort, eins mit dem Licht und in Licht gekleidet, weiß wie der Schnee.

»Ilja«, keuchte Andreij, aber Ilja ging weiter. Andreij packte Umniks Mähne, aber er konnte das Pony nicht mehr halten... auch Umnik ging. Die Wölfe glitten, strömten auf diese Gestalt zu und wurden eins mit ihr, die ebensogut eine Frau wie ein Mann hätte sein können und unerträglich hell war. »Ilja«, flüsterte sie und breitete die Arme aus.

Andreij packte Iljas Ärmel, und wieder traf ihn der Blick wie aus großer Ferne; er drehte Ilja um, drückte ihn an sich, um sein Gesicht von dieser Gestalt abzuhalten, die zu einer Frau wurde, kalt und unaussprechlich schön. »Das ist dein Wolf«, sagte er und hielt Iljas Gesicht zwischen seinen Händen fest. »Nicht wirklicher als meiner.«

»Genauso wirklich«, sagte Ilja. »Keinesfalls weniger wirklich als deiner.« Ilja drückte ihn leicht an sich, ohne jede Liebe, nur aus der Erinnerung daran. »Du gabst ihm, was du der Schönheit gibst, Andreij; und das tue ich auch. Und das tue ich auch.«

Und er ging fort und Andreij blieb stehen, als hielte ihn ein Band fest, das schon so weit gedehnt war, wie es nur ging; so konnte er sich nicht weiterbewegen. Er beobachtete Ilja und das Pony, wie sie einer nach dem anderen das Licht erreichten, sah den Anschein von Armen sich dort ausstrecken und Ilja umfassen, so daß beide für einen Moment wie zwei einander umschlingende Liebende wirkten; sah dann auch Umnik mit dieser fließenden Schönheit verschwimmen und diese sich dann mit dem heraufziehenden Morgen ausbreiten.

Ganz plötzlich, als das Licht kam, kehrte Umnik zurück, trug einen Reiter, kam aus der Sonne hervor, deren Licht ihn umfloß, und erzeugte Lichtstrahlen, wo seine Hufe die Schneewehen berührten. Sein Reiter glich einer Vision, wie sich sein Haar bewegte und wie er die Hand hob, als das Pony stehenblieb – ein schönes kaltes Gesicht, das einmal Iljas gewesen war, das Haar im Wind flatternd, und die Augen – die Augen im Licht opalen Goldes strahlend, wie Lampen, die sein leuchtendes Gesicht dunkel erscheinen ließen.

»Komm«, flüsterte Ilja, »o mein Freund!«

Andreij drehte sich um und floh, machte ein Wettrennen mit der weichenden Nacht, floh mit weiteren Schatten, stieg auf die Winde hinauf, nackt und allein. Er überquerte die Flüsse und erspähte die Brücke, sah Moskva das Eis mit seinen hölzernen Wällen umfassen und die Reinheit der Welt mit seinen dunklen Gebäuden beschmutzen. Er fand das offene Tor und huschte hinein, glitt über die vielbegangene Straße, entdeckte die winzigste Ritze in der Wand des Hauses und fand durch sie Zutritt in die Wärme und die Stille, im Dachgeschoß, wo er ruhte, gefangen wie zuvor.

Er erwachte und drehte den Kopf zur Seite, sah, daß der Platz neben ihm leer war.

»Ilja!« schrie er und weckte damit das ganze Haus.

Sie fanden ihn am Tor, in der Ecke des Zaunes um den vorderen Hof, teilweise bedeckt durch den treibenden Schnee, erstarrt, mit winzigen Eiskristallen, die an Kleidern und Gesicht hingen... kein schrecklicher Anblick wie bei manchen Toten, die der Kälte erlegen waren, sondern eher wie einer, der in einen schönen Traum blickte und lächelte. Andreij berührte sein Gesicht, während Anna ihn festhielt, vergoß dabei Tränen, die das Eis auf seinen Wangen zum Schmelzen brachten. Und plötzlich sprang er auf in seinem Schmerz und lief zum Stall, während die anderen hinter ihm herriefen.

Dort lag Umnik, völlig steif und tot. Das andere Pony blickte ihn vorwurfsvoll an, und die Ziegen meckerten, und er wandte sich ab und kehrte zu den anderen zurück, nahm Anna in die Arme.

Es dauerte nun nicht mehr lange, bis der Frühling kam; die Winde wechselten und der Schnee wich zurück und die Flüsse ächzten unter brechendem Eis.

Andreij ritt auf dem anderen Pony über den zertrampelten, schmutzigen Schneematsch, dem Braunen, jüngeren, ein Tier, das nie sein würde, was Umnik gewesen war. Die Schneewehen in der Stadt gaben ihren Griff um die weißen windgeschüttelten Säulen auf, die einst Statuen gewesen waren, legten kleine mitleiderregende Entdeckungen frei, kleine Tiere, die im Verlauf des Winters erfroren waren; und nahe dem Ufer der Moskva fand man eine alte Frau, aber solche Tragödien kamen mit jedem Winter, während es jetzt Frühling wurde und sich das Weiß zurückzog.

Andreij durchritt das Tor, ritt über die Brücke und verzichtete auf das Anlegen der Augenschirme, während er dahinritt. Er trug einen neuen Bogen und einen neuen Köcher bei sich – die alten, die Iljas tote Hände gehalten hatten, schienen ihm mit Unglück behaftet –, und er ritt hinaus, den Saum des sich zurückziehenden Waldes entlang, wo die Bäume ihre Schneelasten abwarfen und die Spuren von Rotwild zu sehen waren.

Er und Anna hatten schon vor dem Eintreffen des Frühlings ihr gemeinsames Leben begonnen; er trug das, was sie gestickt hatte, und sie schwoll an mit ihrem Kind, und die dumpfe Narbe des vergangenen Winters schien jetzt erträglich. Er hatte dem alten Zauberer ein Geschenk gemacht, Mischa, der jetzt einen weiteren Winter überlebt hatte – zwei fette Hasen als Bezahlung für die Wahrheit, die ihm vermittelt worden war und über die er keinen Groll empfand.

Die Hufe des braunen Ponys zerdrückten schmelzenden Schnee und zerbrachen das Eis, und die Sonne glitzerte darauf, jedoch war der Tag immer noch bedeckt. Er beschirmte die Augen mit der behandschuhten Hand und blickte hinauf zu den dahintreibenden grauen Wolken, erschauerte wenig später, als die Wolke quer über die Sonne trieb, und die Luft vermittelte einen Eindruck von Kälte.

Es gab nur noch gewöhnliche Tage, für alle Zeiten. Er sah die Stellen in Moskva, wo die Malereien abblätterten, sah Sprünge in den Bildern Moskvas. Die Muster, die Anna für seine Kleidung entwarf, wirkten knallig und weit weniger lieblich als früher einmal. Er hatte ein einziges Mal Schönheit erblickt, hatte auf sie angelegt und sie verwundet.

Jetzt sah er die Wahrheit.
»War es dein Augenlicht, was du dem Wolf gegeben hast?« hatte er Mischa schließlich gefragt. »Oder war es die Hand?«

»Ich habe mein Augenlicht zerstört«, hatte Mischa geantwortet. »... danach.«

Mischa hatte niemanden gehabt, während er drei Familien besaß, Anna und ein werdendes Kind.

Und er hatte einen Freund gehabt.

Iljas Schnitzereien verwitterten und würden eines Tages zerbrechen, würden mit dem Alter Moskvas dahingehen. Ilja hatte nichts Bleibendes geschaffen. Noch tat das irgendein Mensch.

Die Farben würden verblassen, und das Eis kommen; Andreij wußte das, aber er betrachtete die Farben und die Muster, die von Menschen gefertigt waren, weil er jenes andere aus seinem Herzen und seinen Augen gebrannt hatte; und er betrachtete sie weiter, weil andere ihn brauchten.

Kälte berührte seine Wange und griff an seinen Körper, ein Gefühl tiefer Kälte, der Atem von Schneeregen und Schneeflocken. Die braune Ponystute schüttelte den Kopf und schnaubte unbehaglich.

Was hatte Ilja gesehen? fragte er sich immer wieder. Was, wenn nicht den Wolf?

Was hatte ihn fortgezogen?

Schneeflocken bestäubten die schwarze Mähne des Ponys, eher kleine Sterne, von denen jeder anders war, jeder zierlich und weiß und sicherlich während des langen Alters der Erde immer wieder von neuem entstanden. Wie auch der Kummer des Menschen.

Andreij blickte nach Norden in den Schimmer von Eis und Sonnenlicht, durchsichtig und orangefarben und rosa und golden, eine schmelzende Helligkeit.

Nichts war dort.

Für immer.