TUNDRA

Im Griff des Dauerfrosts

Große Kälte, Trockenheit und ein Winter, der mehr als sechs Monate dauert und noch dazu dunkel ist, machen die Tundra zu einem unwirtlichen und extremen Lebensraum. Aber im kurzen Sommer sprießen Gräser und krautige Binsengewächse, treiben Zwergsträucher aus und Zwergbäume, die sich nur kriechend an der windgeschützten Bodenschicht halten können. Für kurze Zeit hüllt sich die karge Landschaft in einen bunten Blütenteppich. Karibu- und Rentierherden, die in südlicheren Regionen überwintert haben, finden jetzt reichlich Futter. Durch die Erderwärmung könnte sich allerdings die bewaldete Taiga weiter nach Norden in die baumlose Tundra ausbreiten.

Tundrenformen: von der Waldtundra zur polaren Wüste

Obwohl sie sehr monoton wirkt, ist die Tundra nicht völlig einheitlich. Da die Sonne an der Grenze zur Taiga höher am Himmel steht als am Rand der polaren Kältewüste, nehmen auch die Sommertemperaturen und die Länge der Vegetationsperiode von Süd nach Nord ab. Diesem klimatischen Gefälle entsprechend lassen sich in der Pflanzendecke verschiedene Unterzonen erkennen, die sich – parallel zu den Breitengraden – gürtelartig zwischen der Taiga im Süden und dem ewigen Eis im Norden staffeln. Als allgemeiner Trend lässt sich beobachten, dass die Vegetation immer niedriger wird, je weiter man in der arktischen Tundra nach Norden kommt. Die entscheidende Ursache hierfür ist die artspezifische Kältetoleranz der einzelnen Arten. Das »Existenzminimum« der höherwüchsigen Sträucher oder Bäume liegt weiter südlich als das von Zwergsträuchern oder Polsterpflanzen. Bildhaft kann man sich diese Abfolge so vorstellen, als würde ein aus mehreren Stockwerken bestehender Wald von oben nach unten sukzessive abgebaut.

Ein Steckbrief der Tundra

Um die geringen Unterschiede in der Tundrenvegetation verstehen zu können, ist es sinnvoll, zunächst das Verbindende zu nennen: Die Tundra ist durch sehr nährstoffarme Böden und recht kühle sommerliche Lufttemperaturen von unter 10 °C gekennzeichnet. Schnee liegt von Oktober bis Mai, manchmal sogar noch länger. Die pflanzliche Produktivität ist deshalb sehr gering. Auch der Abbau abgestorbener Pflanzenteile verläuft gehemmt. Die Streu wird nicht vollständig remineralisiert, sondern häuft sich an. Es kommt zur Bildung von Rohhumus bzw. Torf. Trotz geringer Jahresniederschläge – weniger als 500 mm, oft sogar nur um 250 mm – begrenzt Trockenheit nur an wenigen Standorten das Wachstum, da Wasser nur in geringem Umfang, etwa zu 30 %, verdunstet. Zu allen Jahreszeiten können starke Winde auftreten.

Die Zusammenhänge zwischen Klima, Boden, biotischen Einflüssen und der Vegetation lassen sich im Detail nur analysieren, wenn die einzelnen Arten und ihre Ansprüche gut bekannt sind. Aber man muss kein Spezialist für Vegetationsökologie sein, um die dominierenden Wuchsformen zu erkennen und die Regeln ihrer Verteilung in der Landschaft nachvollziehen zu können.

Der Wald löst sich auf

Wo in der Taiga die Wurzelschicht der Gehölze in den Einflussbereich eines Frosthorizonts im Boden gerät, beispielsweise in Senken mit Kaltluftstau, wird der Wald lückenhaft. Je ausgedehnter das Bodeneis wird, desto größer werden die »Löcher« in der Taiga, bis Wald und offene Flächen etwa gleich große Anteile besitzen. Weiter nördlich »verinselt« der Wald und zieht sich auf die örtlich begrenzten klimatisch geschützten Lagen zurück, aus denen der Schnee nicht fortgeweht wird. Die Höhe und Vitalität der noch vorhandenen Bäume nimmt dennoch immer mehr ab. Schließlich sieht man nur noch krüppelige oder zwergwüchsige Einzelexemplare.

In den meisten Regionen der Arktis wird die nördliche Baumgrenze von Nadelgehölzen gebildet: In Sibirien westlich des Ural und in Nordamerika sind es Fichten, im mittleren und östlichen Sibirien dagegen Lärchen. Der geschilderte Übergang, die »Kampfzone« des Waldes, ein Gürtel zwischen 5 km und 300 km Breite, ist die sog. Waldtundra. Streng genommen handelt es sich nicht um einen eigenen Vegetationstyp, sondern um die mosaikartige Verzahnung von borealem Wald und Strauchtundra. Wenn der Wald in einigen Regionen abrupt endet und übergangslos an die offene Tundra grenzt, hat dies meist keine klimatischen Ursachen. Oft ist dafür ein Wechsel des Bodentyps oder eine kaum erkennbare Nutzungsgrenze verantwortlich.

Die dominierenden Sträucher der Waldtundra sind Beerensträucher aus der Familie der Heidekrautgewächse, besonders Blau-, Preiselund Rauschbeere. Bärentraube (Arctostaphylos), Rosmarinheide (Andromeda) und Krähenbeere (Empetrum) sind ebenfalls häufig. Unter diesen Zwergsträuchern ist ein dichter Filz von Laubmoosen entwickelt. Auf feuchteren Standorten können auch Torfmoose, Seggen und Wollgräser vorkommen.

Strauchtundra: Wald ohne Bäume

Dort, wo die Vegetationsperiode für die Bäume zu kurz wird und Gehölze wegen des hoch liegenden Frosthorizonts »kalte Füße« bekommen, herrschen die Sträucher allein. Der Begriff Strauch sagt aber nur etwas über die vom Grund an verzweigte Wuchsform, dagegen wenig über die Größe. In der Tundra kann man »Strauch« getrost mit »Zwergstrauch« übersetzen, denn alles, was über die winterliche Schneedecke hinausragt, wird durch Kälte und Sturm abrasiert. Zudem handelt es sich in der Mehrzahl um Arten, die auch unter günstigen Klimabedingungen kleiner als 1 m bleiben.

In der Artenzusammensetzung entspricht die Strauchtundra einem nordischen Wald ohne Bäume, denn die meisten Pflanzen haben einen deutlichen Verbreitungsschwerpunkt in der borealen Zone. In der typischen Strauchtundra dominieren 20–30 cm hohe Heidekrautgewächse, überragt von halbmeterhohen Birken, z. B. Betula nana und Weiden. Bei länger andauernder Schneebedeckung kann das moosähnliche Heidegewächs Cassiope tetragona vorherrschen. Oft sind Stauden wie Lupinen, Anemonen, Goldrute oder Läusekraut (Pedicularis) eingestreut. Da sie in der offenen Tundra dem Wind stärker ausgesetzt sind als im Schutz von Gehölzen, sind sie hier seltener als im Wald. Der rohhumusreiche Boden ist von einer geschlossenen Moosschicht überzogen. In versumpften Niederungen besitzen Sumpfporst (Ledum palustre), Rauschbeere (Vaccinium uliginosum), Preiselbeere (Vaccinium vitis-idaea) oder kniehohe Weiden (Salix) höhere Anteile. Nässetolerante Seggen und Wollgrasarten bilden dort den Unterwuchs. In windgeschützten Senken bilden die Polarbirken und Zwergweiden ein niedriges Dickicht. Auch ihre Höhe von maximal 40 bis 60 cm entspricht der durchschnittlichen Schneehöhe.

Die typische Tundra oder Grastundra

Das gleiche Schicksal, das in der Waldtundra die Bäume trifft, nämlich ihre Schrumpfung und Beschränkung auf geschützte Lagen, ereilt weiter nördlich auch die Beerensträucher: Sie werden zunehmend auf feuchte Mulden, kleine Täler und geschützte Hänge zurückgedrängt, während die Birken und Weidenarten, die hier noch existieren können, zu Bodendeckern degradiert sind. In der typischen Grastundra, wie sie in Nordalaska, Nordostkanada und Nordsibirien riesige Flächen einnimmt, haben Süß- und Sauergräser die Vorherrschaft und bilden eine etwa 15–35 cm hohe Decke. In der Zwergstrauchtundra sind sie nur Lückenbüßer. Darin verteilt sind niedrige Stauden, Rosetten- und Polsterpflanzen. Sie gehören meist zu den Familien der Steinbrech- und Hahnenfußgewächse, zu Kreuzblütlern, krautigen Rosengewächsen und Rachenblütlern. Besonders auf stark sauren Böden ist die Tundra aber auch in dieser Zone sehr einförmig und artenarm.

Auf Böden mit schlechtem Wasserabfluss kann sich ein – durch Hügel aus Wurzeln und Moos, sog. Bulten – sehr unebener Tundrentyp entwickeln. Er ist gekennzeichnet von Seggen und Wollgräsern, die keine Ausläufer bilden, sondern als kompakte Büschel nach und nach über das Bodenniveau hinauswachsen.

Eine eher rasenartige Sauergras-Moos-Tundra herrscht dagegen in den küstennahen Ebenen Nordamerikas und Sibiriens auf feuchten Böden vor. Dort dominieren Seggenarten wie Carex aquatilis, Carex rotundata, Carex membranacea und Wollgräser (Eriophorum angustifolium, Eriophorum scheuchzeri). Auch Süßgräser wie Arctagrostis, Dupontia und Arctophila können beigemischt sein. Das Wasser steht dicht unter der Bodenoberfläche. In wassergefüllten Vertiefungen kommen Schachtelhalme (Equisetum), Fieberklee (Menyanthes trifoliata) und Sumpfblutauge (Comarum palustre) vor. Eine geschlossene Schicht von Moosen (Sphagnum, Drepanocladus, Aulacomnium, Calliergon) profitiert vom ständigen Wasserüberschuss.

Hocharktische Moosund Flechtentundra

In der Hocharktis ist die Polsterpflanzen-Flechten-Tundra eine verbreitete Pflanzengemeinschaft. Sie ist deutlich lückenhafter und artenärmer als die Grastundra. Häufige Pflanzen sind Silberwurz (Dryas), zwergwüchsige Weiden (Salix) und Hainsimsen (Luzula) sowie weitere Gräser und Seggen. Deckungsgrad und Produktivität sind gering. Da die Blütenpflanzen nicht dicht stehen und sie viel mehr Platz für die sonst konkurrenzschwachen Moose und Flechten lassen, treten diese stärker hervor.

Von Flechten dominierte Tundren gibt es nicht nur an der nördlichen und an der Höhengrenze der Vegetation, sondern auch dort, wo Trockenheit die meisten Blütenpflanzen scheitern lässt. Das ist vor allem auf Kuppen mit sandigem Boden der Fall. Außerdem sind Flechten an windigen Stellen überlegen, weil Blütenpflanzen dort wegen des fehlenden Schneeschutzes einen schweren Stand haben. Besonders artenreich ist in der Flechtentundra die Gattung der Rentierflechten (Cladonia) entwickelt. Ihre Vertreter sehen oft wie kahle, bleiche Sträucher in winzigem Maßstab aus und können große Flächen bedecken.

Die »arktische Wüste« besteht aus Rohböden mit wenig Feinanteilen. Die letzten Vorposten unter den Blütenpflanzen, die der Kälte trotzen und sich den durch Frostsprengung verwitterten Fels mit Moosen und Flechten teilen, sind Polsterpflanzen wie Stängelloses Leimkraut (Silene acaulis), Felsenblümchen (Draba), Arktischer Mohn (Papaver radicatum), Steinbrech (Saxifraga), Arktische Weide (Salix arctica) und Sauergräser. Die Pflanzen bedecken oft weniger als 3 % des Bodens.

Die Kontaktlinien zwischen den geschilderten Zonen sind selten scharf ausgeprägt. Vielerorts gibt es allmähliche Übergänge. Auch in zeitlicher Hinsicht sind die Grenzen nicht starr, denn die Vegetation reagiert auf Klimaschwankungen und biotische Einflüsse, z. B. wechselnde Beweidungsintensität. Schließlich sind unterschiedliche Vegetationszonen in der Realität durch das Relief, durch unterschiedliche Boden- und Wasserverhältnisse, vor allem auch durch die Dauer und Höhe der winterlichen Schneebedeckung in vielerlei Weise abgewandelt.

Polares Klima

Das Klima der Tundra ist generell geprägt von der polaren Lage, in der Tageslicht und Sonnenergie auf einen kurzen Sommer begrenzt sind. Nördlich des Polarkreises steigt die Sonne im Winter selbst am Tag nicht über den Horizont, und je weiter nördlich man sich befindet, desto länger ist die Zeit dieser Polarnacht: In den meisten Tundragebieten sind es einige Wochen bis Monate, in der die Temperatur weit unter den Gefrierpunkt sinkt. Der Hochsommer ist von einer ebenso langen Periode der Mitternachtssonne geprägt, in der die Sonne rund um die Uhr am Himmel steht. Sie steigt zwar nicht sehr hoch, doch insgesamt besteht im Hochsommer kein Mangel an Sonnenenergie – der flache Einfall der Strahlen wird durch die Tageslänge so kompensiert, dass die Polargebiete über drei Monate hinweg sogar etwas mehr Energie als der Äquator erhalten. Daher kann es zwar stellenweise für einige Tage bis zu 30 °C warm werden, doch bisland ist die Sommerphase viel zu kurz, als dass sie das gefrorene Land weiträumig und dauerhaft erwärmen könnte.

Marines und kontinentales Klima

Differenzierter als Tundrenklima und Eisklima beschreiben kontinentale sowie maritime oder ozeanische Klimate eine Region. Die polaren maritimen Klimate sind deutlich von der Nähe zum Meer geprägt mit vergleichsweise hohen Niederschlagsmengen und milden Wintertemperaturen. Die Alëuten, die Küste Grönlands, Island und die europäische Arktis sind Beispiele hierfür. Polares kontinentales Klima ist hingegen durch extrem kalte Winter und geringe Niederschläge unter 500 mm im Jahr geprägt. In manchen Gebieten, etwa in Nordgrönland und Nordkanada, ist der Niederschlag mit unter 100 mm Regen so gering, dass man von einer Arktischen Wüste spricht. Zum kontinentalen Klima gehören Alaska, Kanada und Sibirien und viele Inseln des Kanadisch-Arktischen Archipels, denn der Einfluss des Meeres ist dort wegen der ganzjährigen Eisschicht geringer.

Kalte Winter, kurze Sommer

Der Winter setzt schon im September oder August ein. In den kontinentalen Gebieten sinken die Temperaturen weit unter den Gefrierpunkt, in Kanada und der sibirischen Arktis werden –40 °C erreicht, stellenweise sogar unter –60 °C. Im Innern der Kontinente bildet sich eine stabile Hochdrucklage mit kalten, trockenen Luftmassen, die wenig Niederschläge führen. Gelegentlich kommt es zu heftigen Schneestürmen.

In den maritimen Klimaten sind die Wintertemperaturen selten extrem und fallen im Monatsdurchschnitt kaum unter –5 °C. Vom Meer kommende Stürme bringen reichlich Niederschläge.

Erst im März oder April ist die Sonne stark genug, die Temperaturen ansteigen zu lassen. Doch noch lange in den Sommer hinein liegt an vielen Stellen Schnee. Die weiße Fläche wirft einen so großen Teil der Sonnenenergie zurück, dass der Schnee sich selbst und seine Umgebung kühlt. So ist die Vegetationsperiode kurz: oft nur sechs bis zehn Wochen.

In den kontinentalen Regionen kann der Sommer Perioden mit klarem Wetter und Temperaturen bis 30 °C bringen. Die maritimen Polarklimate hingegen sind meist wolkenverhangen und das Thermometer steigt selten über 10 °C. Frostfreie Perioden gibt es selbst im Sommer nicht. Unter diesen Bedingungen kann der Boden nur oberflächlich auftauen, während er in der Tiefe als Dauerfrostboden (Permafrost) ganzjährig gefroren bleibt. Doch seit einigen Jahren wird ein Rückzug der Permafrostlinie nach Norden beobachtet. Im getauten Boden zersetzen Mikroorganismen den Kohlenstoff und setzen CO2 und Methan frei – Treibhausgase, die ihrerseits die Erderwärmung forcieren.