Kapitel 29
Jack übernachtete wieder im Arbeitszimmer, weckte mich aber vor Einbruch der Dämmerung und fragte, ob ich mit auf Wohnungssuche gehen wolle. Ich hätte ihn begleiten sollen, aber das Tageslicht tat meinen Augen weh. Dazu kam, dass mich der Gedanke an einen Umzug immer noch nicht begeisterte, obwohl ich so tat, als sei ich einverstanden. Ich bat Jack, viele Bilder zu machen, und schlief wieder ein.
Ich träumte von dem Tankerunglück in Kanada. Ein unsichtbares Monster meuchelte die Besatzung dahin und riss sie in Fetzen. Alles war voller Blut und Eingeweide. Es war entsetzlich. Die Männer schrien und flehten um ihr Leben, konnten aber nichts zu ihrer Rettung tun. Als alle tot waren, hüllte Totenstille das Schiff ein. Und dann tauchte ein neues Bild vor meinem Auge auf: große braune Augen, genau wie die von Milo.
Ich schreckte auf und hätte fast geschrien. Obwohl das Letzte, was ich gesehen hatte, diese Augen gewesen waren, war ich völlig von der Rolle.
Während ich noch nach Atem rang, kam mir der Gedanke, wie anders die Albträume von Vampiren doch waren. Nicht einmal Horrorfilme reichten an diese Intensität des Grauens heran, und ich kam zu dem Schluss, dass die Macher solcher Filme in ihrem Leben noch keinem Vampir begegnet sein konnten.
Da ich den Traum nicht abschütteln konnte, überlegte ich, wie ich mich ablenken könnte. Jane brauchte noch Ruhe. Außerdem war Mae wahrscheinlich bei ihr, und mir war nicht danach, mit ihnen Konversation zu machen. Daher wollte ich es bei Milo versuchen. Nachdem ich gelauscht und festgestellt hatte, dass Bobby nicht da war, trat ich ein, ohne anzuklopfen.
»Hey, aufwachen«, sagte ich.
Im Zimmer sah es unordentlicher aus, als ich es von Milo gewohnt war. Das musste an Bobby liegen, denn es waren seine Kleider und Zeichenutensilien, die überall im ganzen Raum verstreut waren. Milo lag noch im Bett.
»Warum denn?«, murmelte Milo, das Gesicht im Kissen vergraben.
»Darum.« Ich sprang neben ihm aufs Bett, heftiger, als es nötig gewesen wäre, sodass er ein paar Zentimeter in die Luft geschleudert wurde.
»Warum bist du überhaupt schon auf? Du bist nie vor mir wach.« Er rollte sich auf den Rücken, um mich anzusehen. »Wie spät ist es denn?«
»Sechs. So früh ist es auch wieder nicht«, sagte ich. »Wo ist denn Bobby?«
»In der Schule. Abendschule«, erwiderte Milo gähnend. »Und wo ist deine bessere Hälfte?«
»Er ist ... weggegangen«, antwortete ich vage. Milo merkte nicht einmal, dass ich ihm etwas vorenthielt. Trotzdem beschloss ich, ihm die Wahrheit zu sagen. »Also gut. Wenn ich dir etwas erzähle, versprichst du mir dann, es den anderen nicht zu verraten?«
»Nein.« Milo konnte mit Geheimnissen nichts anfangen. Das hatte mich schon immer geärgert. In unserer Kindheit war das immer wieder passiert: Ich wollte ihm etwas anvertrauen und er wollte es gar nicht wissen. Seine mangelnde Neugier war ein echtes Problem.
»Aber es wird dich interessieren. Du darfst es nur niemandem erzählen. Noch nicht«, sagte ich.
»Bobby erzähle ich es«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen.
»Also gut! Erzähl es Bobby«, seufzte ich. »Jetzt komm schon. Du musst wenigstens so tun, als würde es dich interessieren.«
»Warum denn?«, fragte Milo mit hochgezogener Augenbraue. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du etwas Aufregendes zu erzählen hast. Mein Zimmer liegt genau neben deinem, und ich weiß, dass du letzte Nacht allein geschlafen hast. Also kann es nicht so spannend sein.«
»Uh!«, stöhnte ich. »Also gut. Ist vielleicht doch besser, dass wir ausziehen. Dann brauche ich mir so einen Quatsch wenigstens nicht mehr anzuhören.«
»Was wollt ihr?« Ich hatte ihn an der Angel. Er setzte sich auf, stützte sich auf die Ellbogen und sah mich an. »Was hast du gerade gesagt?«
»Jack will, dass wir ausziehen«, sagte ich leise, damit Mae nichts mitbekam. »Er ist gerade unterwegs und schaut sich Wohnungen an.«
»Mit ›wir‹ meinst du ...« Er wartete, dass ich den Satz vervollständigte.
»Er und ich und du und Bobby, wenn ihr wollt.« Ich legte den Kopf zur Seite. »Wohnt Bobby überhaupt hier? Oder hat er noch eine eigene Wohnung?«
»Eigentlich wohnt er im Studentenwohnheim, aber er hat nicht mehr dort übernachtet, seit wir uns kennen.«
»Glaubst du nicht, dass das ein bisschen schnell geht?«, fragte ich. »Du bist reichlich jung dafür, mit einem festen Partner zusammenzuwohnen.«
»Meinst du das wirklich ernst?«, fragte Milo spöttisch.
Ich überlegte mir, wie ich ihn davon überzeugen konnte, dass seine Situation anders war als meine, ließ es aber sein. Schließlich waren wir keine normalen Jugendlichen mehr, die zur Highschool gingen und bei ihrer Familie wohnten.
»Vergiss es. Darum geht es nicht.«
»Ihr zieht also wirklich aus?«, fragte Milo.
»Ich weiß nicht. Jack will es unbedingt und er hat ein paar gute Argumente. Das Haus hier wird zu klein für uns alle, so verrückt das klingen mag, und es wäre besser, wenn Jack und ich nicht mehr mit Peter unter einem Dach wohnen.«
»Ja, aber ... Und du willst, dass wir mit euch umziehen?«, fragte Milo vorsichtig.
»Ja. Jack sieht sich Wohnungen in der näheren Umgebung an, die groß genug für uns alle sind.«
»Aber ... was ist mit dir?« Er sah mich ernst an. »Du hast doch noch Probleme mit deiner Blutgier. Du traust es dir ja noch nicht einmal zu, mit ihm zu schlafen. Wie soll das funktionieren, wenn ihr zusammenzieht? Ohne Ezra, der sich um alles kümmern kann, falls etwas schiefgeht?«
»Ich weiß es nicht«, seufzte ich. »Ich habe auch schon daran gedacht, aber ich weiß nicht, was wir sonst tun sollen.«
»Nicht ausziehen«, schlug Milo vor.
»Ich weiß nicht, wie das funktionieren soll.« Ich gewöhnte mich so langsam an den Gedanken auszuziehen, weil ich keine andere Möglichkeit sah.
Milo legte sich wieder hin und sagte eine Weile gar nichts. Er war immer der Logischere von uns beiden gewesen. Ich handelte eher aus dem Bauch heraus. Deshalb kam er wahrscheinlich auch besser mit seinem Leben als Vampir zurecht als ich.
Ich fand es daher besonders beunruhigend, dass ausgerechnet Milo seinen Freund fast umgebracht hätte. Wahrscheinlich lag es sogar daran, dass er sich besser im Griff hatte als ich. Seine Umwelt setzte einfach zu viel Vertrauen in ihn. Bei mir war es genau umgekehrt. Da niemand mir zutraute, mit Jack allein zu sein, bekam ich auch keine Gelegenheit, ihn zu beißen.
»Nein, ich brauche deine Hilfe nicht«, drang da Peters Stimme vom Flur zu uns herein. »Jane, du gehst besser wieder in dein Zimmer und ruhst dich aus.« Ich sah Milos Gesicht an, dass er sie auch gehört hatte.
»Ich muss mich nicht ausruhen. Mir ist langweilig.« Jane hatte ihre Babydoll-Stimme aufgelegt, die irgendwo zwischen nuttig und weinerlich lag. Peter war wahrscheinlich in sein Zimmer gegangen, um sich etwas zu holen, und sie war ihm gefolgt.
»Dann lies eins meiner Bücher«, sagte Peter. »Oder wenn du nicht lesen kannst, sieh dir einen von Jacks Filmen an. Oder du bittest einen der anderen sechs Hausbewohner, dich zu unterhalten.«
»Komm schon, ich wette, du wüsstest ganz genau, wie du mich unterhalten könntest.« Ich konnte Jane zwar nicht sehen, wusste aber aus Erfahrung, dass sie Peter in diesem Moment berührte. Vielleicht fuhr sie ihm mit den Fingern über den Arm oder sie legte ihm die Hand auf die Brust.
»Ich kann dir versichern, dass ich ganz schlecht darin bin, jemanden zu unterhalten.« Peter war anzuhören, dass er sich in seiner Haut nicht wohlfühlte. Milo lächelte spöttisch.
»Tja, vielleicht kann ich ja auch dich unterhalten.« Ihre Stimme wurde tiefer und sinnlicher.
»Nein danke, genau für diesen Zweck habe ich mir das Buch geholt. Ich kann mich allein unterhalten«, sagte Peter.
»Hast du das denn nicht satt, dich immer allein zu unterhalten?«
»Jane, geh einfach zurück in dein Zimmer«, seufzte Peter. Wenn sie ihn berührte, so hatte er ihre Hand soeben abgeschüttelt.
Jane ignorierte seine Abfuhr einfach. »Nur, wenn du mitkommst«, sagte sie.
»Nein, das werde ich ganz sicher nicht tun«, fuhr Peter sie an. »Manche Leute fallen vielleicht auf diese Kleinmädchen-Nummer herein, aber ich nicht. Du bist so schmutzig, dass ich dich nicht einmal beißen würde, wenn ich am Verhungern wäre. Ich lasse dich nur in meinem Zimmer wohnen, weil du Alice etwas bedeutest, auch wenn ich beim besten Willen nicht verstehe, warum. Du bist geistloser und eitler, als ich es für möglich gehalten hätte. Ich rate dir, mir in Zukunft aus dem Weg zu gehen.«
»Jesses«, flüsterte Milo.
Jane sagte nichts mehr, doch ich hörte eine Tür aufgehen und Jane schluchzen, bevor sie sich wieder schloss. Ehe Peter nach unten gehen konnte, lief ich in den Flur, um ihm ordentlich die Meinung zu sagen. Ich hätte schon vorher hinausgehen und Jane in Schutz nehmen sollen.
»Peter!«, sagte ich leise, damit Jane uns nicht hörte. Seufzend drehte er sich zu mir um. »Findest du nicht, das war ein bisschen hart?«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte Peter, ohne mir in die Augen zu sehen. In Janes Badezimmer ging die Dusche an. Wahrscheinlich wollte sie ihre Niederlage mit Wasser wegschwemmen. »Ich wollte nicht, dass du das mithörst.«
»Das ändert doch nichts.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn finster an. »Jane ist eine Nervensäge, aber sie ist harmlos. Und sie kommt wieder auf die Beine. Wir müssen ihr helfen und sie ermutigen, statt sie herunterzuziehen.«
»Ich wollte sie nicht herunterziehen.« Er rieb sich das Auge. »Aber du hast ja keine Ahnung, wie sie mich bedrängt, und zwar permanent und mehr als nervig.«
»Himmel behüte, dass jemand auf dich steht, Peter.« Ich verdrehte die Augen. »Genauso herablassend hast du mich behandelt, als ich eine Schwäche für dich hatte. Kommst du denn keine fünf Sekunden damit klar, dass jemand dich anhimmelt?«
»Das stimmt nicht. Natürlich komme ich damit klar«, wehrte er sich. »Da mir das dauernd passiert, komme ich schon damit zurecht.«
»Oh, was für ein hartes Leben!«, sagte ich spöttisch. »Weißt du, Jane ist nicht die einzige eitle und egozentrische Person auf dieser Welt.« Diesmal war es Peter, der die Augen verdrehte. »Du behauptest also, du bist dazu verdammt, dass die ganze Welt dich unwiderstehlich findet?«
»Wenn ich ›ja‹ sage, klinge ich wie ein Idiot, aber es stimmt.« Er rieb sich die Stirn und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, dass ich nicht mit Jane zurechtkomme. Sie lässt mich einfach nie aus den Augen und ... du siehst mich nicht einmal an.«
»Bestrafst du Jane etwa, weil du sauer auf mich bist?« Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Das ist aber ganz schön unfair.«
»Das Leben ist nicht fair, Alice!« Peter sah mich eindringlich an. Seine grünen Augen blitzten. »Wenn das Leben fair wäre, wärst du nicht mit Jack zusammen!«
»Deswegen brauchst du aber noch lange nicht eingeschnappt zu sein!« Ich schüttelte den Kopf. »Du hast deine Chance gehabt! Ich war dir total verfallen, aber du wolltest ja nichts mit mir zu tun haben!«
»Ich hatte nie eine Chance!«, rief Peter. »Du hast immer nur ihn gewollt! Das war doch schon klar, als ihr zusammen im Whirlpool wart.«
»Was redest du da?«
»In der Nacht, in der wir uns kennengelernt haben, bist du in mein Zimmer gekommen, aber ich wollte dich nicht sehen. Ich wollte nicht, dass ich mich in dich verliebe, aber in dem Augenblick, als ich dich gesehen habe ...« Er blickte weg. »Es war schon, bevor ich dich gesehen habe. Ich habe dich gespürt, sobald du ins Haus gekommen bist, und es war ein überwältigendes Gefühl. Als wir uns dann begegnet sind, habe ich nicht gut reagiert. Deshalb hat Mae dich aus der Schusslinie gebracht, in den Whirlpool im Garten. Ich habe dich beobachtet ... Du hast mit ihm gelacht, und wie du ihn angesehen hast. Mich hast du nie so angesehen.«
»Wie habe ich dich denn angesehen?«, fragte ich, innerlich aufgewühlt.
»So als müsstest du es, als sei ich ein Magnet, der dich anzieht. Du hattest keine Wahl«, sagte er. »Wenn du Jack ansiehst, dann tust du es, weil du nichts anderes ansehen willst. Du liebst ihn auf eine Art, auf die du mich nie lieben könntest.«
Ich musste schlucken, denn ich wusste, dass er recht hatte. Es hätte mich trösten sollen, doch so war es nicht. Ich spürte, wie sehr ich Peter verletzt hatte, indem ich ihm nie eine Chance gegeben hatte.
»Aber ich liebe dich so, wie er es niemals kann.«
»Nein, Peter, du liebst mich nicht«, sagte ich kopfschüttelnd.
»Alice, ich bin alles Mögliche, aber naiv bin ich nicht«, sagte Peter atemlos. Seine Stimme hatte sich verändert, klang verzweifelt und ernst. Ich sah zu ihm auf. »Ich liebe dich mehr, als ich jemals jemanden geliebt habe, Elise eingeschlossen. Und obwohl es mich fast umbringt, kann ich es nicht abstellen.«
»Ich kann nicht mit dir zusammen sein.« Meine Stimme bebte.
Seine Augen, die mich flehend ansahen, waren wunderschön. Etwas in mir wollte ihm nachgeben, doch ich hätte Jack nicht wieder verletzen können. Ich wollte es nicht. Und Peter hatte recht. Trotz all meiner Gefühle für ihn liebte ich Jack mehr.
»Ich werde dich nie darum bitten«, flüsterte er.
»Aber du willst, dass ich es dir anbiete«, sagte ich und lächelte ihn traurig an.
»Ja.« Er sah mich noch einen Moment an und atmete dann zitternd aus. »Aber du kannst es nicht.« Schließlich senkte er den Blick und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Ich halte das nicht mehr aus. Ich glaube, ich packe besser meine Koffer.«
»Nein, du musst nicht gehen.« Ich wollte ihn am Arm berühren und trösten, ließ aber die Hand wieder sinken, weil es zu gefährlich gewesen wäre. »Das ist dein Zuhause. Wir haben kein Recht, dich hier zu vertreiben.«
»Wie meinst du das?«
»Jack und ich ziehen aus. Du kannst hierbleiben«, sagte ich und bemühte mich um ein hoffnungsvolles Lächeln. Seinem Gesicht war abzulesen, dass er es nicht gerade als frohe Botschaft auffasste.
»Natürlich.« Peter sah zu Jacks Zimmer hinüber, Eifersucht und Abscheu in den Augen. »Das ist also schon geplant. Ihr lauft davon und lebt glücklich bis ans Ende eurer Tage. Und ich bleibe hier. Mit Mae und Ezra. Bis in alle Ewigkeit.«
»Das soll aber doch keine Bestrafung sein!«, erwiderte ich überrascht. Irgendwie schaffte ich es, ihn sogar zu verletzen, wenn ich ihm helfen wollte.
»Mein Leben soll auch keine Strafe sein und trotzdem ist es so.« Er schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zur Treppe hin. »Ich muss gehen. Wir sollten uns besser gar nicht mehr unterhalten. Wenn Jack uns erwischen würde, wäre das eine Katastrophe. Ich will euch doch die Flitterwochen nicht verderben.«
»Peter!«, rief ich, doch er ging einfach weiter, ohne sich zu mir umzudrehen. Ich stand einen Augenblick im Flur und rang nach Atem.
»Also ...« Milo steckte den Kopf durch die Tür. Ich errötete, denn ich hatte vergessen, dass er in seinem Zimmer war und alles hören konnte. »Ich glaube, ihr zieht doch besser aus.«
»Ach, wirklich?« Ich lachte dumpf.
Nach unserem Gespräch war Peter verschwunden und dafür war ich dankbar. Weitere Begegnungen hätte ich wohl kaum ertragen, zumal Jack wieder im Haus war. Milo, Jane und ich sahen uns im Wohnzimmer schlechte Frauenfilme an, bis Jack und Bobby den Fernseher ausschalteten.
Als ich mit Jack allein war, fragte ich ihn, wie die Wohnungssuche lief. Er hatte noch nichts Aufregendes gefunden, wollte sich am folgenden Tag aber noch ein paar vielversprechende Wohnungen ansehen. Er bat mich, ihm die Daumen zu drücken, doch ich war mir da nicht so sicher.
Jane erwähnte ihren Streit mit Peter mit keinem Ton, verhielt sich aber merkwürdig zappelig und unruhig. Dauernd beschwerte sie sich, dass es zu warm oder zu kalt sei, und beklagte sich über sinnlose Kleinigkeiten wie den Bezugsstoff auf dem Sofa, der für ihre Haut zu grob sei, oder die Luft im Haus, die ein Kribbeln bei ihr auslöse. Auch ihre Stimmungsschwankungen waren extrem. In der einen Minute lachte sie aus vollem Hals, in der nächsten drohte sie, Bobby mit einem Kissen zu ersticken.
Bobby hatte Sid und Nancy angemacht, weil er meinte, mit dieser Liebesgeschichte könnten wir alle etwas anfangen. Da ich Gary Oldman ziemlich sexy fand, widersprach ich nicht und kuschelte mich neben Jack aufs Sofa.
Jane hatte es sich auf der Chaiselongue bequem gemacht, nicht ohne sich darüber zu beklagen, dass sie für sie zu schmal sei. Mae konnte mit dem Film nichts anfangen und entschied sich stattdessen für ein Schaumbad.
»Sind die Türen alle abgeschlossen?« Ezra tauchte im Wohnzimmer auf. Trotz seiner ruhigen Art hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
»Äh, ich weiß nicht«, sagte Jack. »Schließen wir denn die Türen sonst ab?«
»Natürlich müsst ihr die Türen abschließen!«, rief Jane aufgeregt. »Ihr werdet doch sonst bestohlen!«
»Ja vielleicht, aber es ist ja immer jemand da, und außerdem sind wir Vampire, also ...« Jack ließ den Satz unvollendet.
»Ich habe die Terrassentür abgeschlossen, nachdem ich mit Matilda draußen war«, sagte Milo.
»Warum denn? Die ist doch aus Glas. Wenn jemand reinwill, dann schafft er es auch«, sagte Bobby.
»Egal, ich bitte euch, ab jetzt alles abzuschließen«, sagte Ezra.
»In Ordnung. Haben wir eigentlich keine Alarmanlage?«, fragte Jack. »Du hast doch eine einbauen lassen, oder?«
»Stimmt.« Ezra nickte und kratzte sich am Kopf. »Aber ich habe sie direkt nach unserem Einzug ausgeschaltet und kann mich nicht mehr an den Code erinnern. Ich werde sie wohl mit einer neuen Nummer einrichten müssen.«
»Das kommt mir aber sehr aufwendig vor.« Jack, der den Arm um mich gelegt hatte, wirkte angespannt. »Ist denn etwas passiert? Was ist eigentlich los?«
»Es ist wahrscheinlich gar nichts.« Ezra schüttelte den Kopf. »In der Nachbarschaft hat es nur ein paar Einbrüche gegeben.« Mir war klar, dass er log.
»Oh Gott«, keuchte Jane und schlug sich die Hand vor den Mund.
»Leute, wir sind immer noch Vampire«, sagte Jack und deutete in die Runde. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir es mit ein paar Einbrechern aufnehmen können.«
Während Jane völlig aus dem Häuschen war, schien Bobby nicht weiter beunruhigt zu sein. Als Mensch hatte er wahrscheinlich das Gefühl, dass Vampire unbesiegbar waren, wohingegen ich mir als Vampir durchaus nicht so stark oder fantastisch vorkam.
»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste«, sagte Ezra, als wäre damit die Sache erledigt. »Ich lese mir die Betriebsanleitung zu der Alarmanlage noch mal durch. Wenn ich den Code habe, schauen wir uns das zusammen an.«
»In Ordnung.« Jack warf mir einen vielsagenden Blick zu. Auch er hatte wohl Zweifel, was Ezras wahre Beweggründe anging.
Kaum hatte Ezra den Raum verlassen, sprang Jane auf. »Ich weiß echt nicht, wie ihr hier herumsitzen könnt!«
»Jane, immer mit der Ruhe. Dir passiert schon nichts«, bemühte sich Milo, sie zu beruhigen.
»Nein, das meine ich nicht! Es ist ja so was von langweilig hier!« Sie zupfte an einem der Armreifen, die sie sich von mir ausgeliehen hatte, und ihr Blick huschte unruhig durchs Zimmer. »Dauernd hockt ihr nur hier herum!«
»Jane, es ist vier Uhr morgens. Was schlägst du denn vor?«, fragte Jack.
»Außerdem sitzen wir nicht die ganze Zeit nur herum«, sagte Bobby. »Ich war in der Schule, Jack war unterwegs, und Milo geht auch wieder weg. Du sitzt hier herum, weil es dir noch nicht so gut geht.«
»Fantastisch!« Jane stampfte mit dem Fuß auf und versuchte, die Armreifen abzustreifen. »Diese verdammten Dinger! Die sitzen fest wie Handschellen!«
»Jane! Jetzt beruhige dich mal, und schau dir den Film mit uns an«, sagte ich. »Wir gehen morgen Abend weg, okay? Jetzt ist es zu spät dafür.«
»Was soll’s.« Sie hatte sich von den Armbändern befreit und schleuderte sie in die andere Ecke des Zimmers. Matilda brach vor Schreck in Gebell aus.
»Ist bei euch alles in Ordnung?«, rief Ezra aus dem Arbeitszimmer vom anderen Ende des Flures.
»Mal ernsthaft. Was ist eigentlich los?« Ich sah Jack an. »Strömt hier irgendwo Giftgas aus? Heute hat wohl jeder einen Hau.«
»Ich nicht!«, widersprach Jane und ließ sich auf die Chaiselongue plumpsen. »Mit mir ist alles in Ordnung. Schauen wir uns doch den Film weiter an. Ich will sehen, was mit diesem Sid passiert.«
Noch vor dem Abspann schlief Jane tief und fest, zuckte aber im Schlaf unruhig mit den Händen. Wir anderen sahen noch eine Weile fern, bis Ezra uns dazu bringen wollte, nach der Betriebsanleitung der Alarmanlage zu suchen, die wir noch nie gesehen hatten. Wir steuerten unsere jeweiligen Zimmer an, um der unliebsamen Aufgabe aus dem Weg zu gehen.
»Du weißt ja, dass Ezra im Arbeitszimmer ist«, sagte ich zu Jack, als wir sein Zimmer betraten. Er hatte bereits sein T-Shirt ausgezogen. Als er sich zu mir umdrehte, zog ich, so verführerisch es mir möglich war, meine Jeans aus. »Also könntest du auch hier schlafen.«
»Ist ja komisch.« Jack grinste und kam zu mir. »Ich bin gar nicht mehr müde.«
»Wirklich?« Ich machte einen Schritt zurück und stand nun direkt neben dem Bett. »Da hast du wohl auch gar keine Lust, ins Bett zu gehen?«
»Oh doch, ich kann mir nichts Besseres vorstellen.« Jack lächelte verschmitzt. Er legte die Hände auf meine nackten Oberschenkel, fuhr langsam nach oben unter mein T-Shirt und ließ die Hände auf meiner Taille liegen. »Mein Gott, du bist so schön.«
Ich schlang ihm die Arme um den Hals, ging auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Es war ein inniger Kuss. Er legte mir die Hände auf den Po, presste mich an sich und schubste mich dann sanft aufs Bett. Ich schlang die Beine um ihn und zog ihn näher an mich heran. Als er den Druck verstärkte, stöhnte ich unwillkürlich auf. Sein Mund wanderte zu meinem Hals und plötzlich wollte ich es.
»Beiß mich«, keuchte ich und vergrub meine Finger in seinem Haar.
»Wie bitte?« Jack löste sich von mir und sah mich an. Er gab sich gelassen, doch seine Erregung war ihm anzumerken. »Ernsthaft?«
»Ja«, sagte ich und sah ihm in die Augen. Es war ein fantastisches Gefühl, gebissen zu werden, und Jack hatte sich ausreichend unter Kontrolle, sodass es nicht gefährlich werden würde. Ich war diejenige, die schwach war, doch da ich gerade etwas zu mir genommen hatte, war auch meine Gier beherrschbar.
»Wann hast du das letzte Mal etwas getrunken?«
»Jack!«, sagte ich. »Verdirb nicht den Zauber des Augenblicks mit logischen Überlegungen. Mit mir ist alles in Ordnung, okay?«
Er biss sich auf die Lippe und musterte mich. Ich spürte seinen Hunger, heiß und gierig. Sein Herz hämmerte genau über meinem. Seine Augen schimmerten, wie immer wenn er mich begehrte. Mit wachsender Leidenschaft wurde seine Iris immer heller.
Als er die Lippen auf meine Halsschlagader legte, stöhnte ich. Ich bog den Hals nach hinten und presste mich gegen ihn.
Die Tür flog auf. »Alice!«, schrie Mae.
»Du bist ja wohl total durchgeknallt!«, brüllte Jack und setzte sich auf. Er starrte Mae böse an. »Wir tun hier nichts Verbotenes!«
»Was ihr macht, ist mir egal«, rief Mae. Ich setzte mich auf. Mae wirkte verzweifelt. »Jane ist weg! Ich glaube, ihr ist etwas zugestoßen!«