Kapitel 5

Das Hotel war ein Zwischending zwischen einem Holiday Inn und einer Jagdhütte. Es gab offene Kamine, und an der Wand hingen Geweihe, doch der Standard war überraschend hoch. Nach einem weiteren Flug, einer kurzen Fahrt im Mietauto sowie einem raschen Besuch auf der örtlichen Bank, wo Ezra Geld abhob, checkten wir im Hotel ein.

Das Zimmer mit Massivholzboden war gemütlich, hatte Internetzugang und einen Fernseher. An der Anzahl der Autos auf dem Parkplatz war abzulesen, dass es relativ voll war. Ezra packte seine Sachen aus, während ich meine Tasche auf eins der Betten stellte. Ich hatte mir das Doppelbett ausgesucht, das näher am Fenster stand.

»Ich gehe unter die Dusche«, sagte Ezra und schnappte sich frische Kleider und seine Waschsachen. »Dann ruhen wir uns ein bisschen aus und morgen machen wir uns auf die Suche nach Peter.«

»Sollten wir nicht besser gleich los?«, fragte ich. Immerhin waren wir ziemlich überstürzt abgereist.

Er zuckte die Schultern. »Wir müssen uns ein bisschen ausruhen, sonst sind wir Peter keine Hilfe.«

Als ich im Badezimmer die Dusche hörte, zog ich mir meinen Schlafanzug an. Er fühlte sich fantastisch an, nachdem ich die letzten zwanzig Stunden nicht aus Jeans und Pulli herausgekommen war.

Über dem Atlantik hatte ich geschlafen und um diese Zeit wäre ich in Minneapolis gerade aufgestanden. Ezra hatte mich mit der Information, dass wir in Wahrheit Werwolfsvampire jagten, in solche Aufregung versetzt, dass mir nicht nach Schlafen war.

Ich nahm mein Handy zur Hand und war überrascht, dass es Empfang hatte.

Ich setzte mich aufs Bett und hoffte, dass Jack noch wach war. Seit meiner Verwandlung waren wir noch nie so lange getrennt gewesen. Es kam mir vor, als wäre mein Körper ohne ihn völlig aus dem Gleichgewicht.

»Hallo?« Jack klang hektisch, als er den Anruf annahm. »Alice? Geht es dir gut? Ist alles in Ordnung?«

»Ja, klar geht es mir gut.« Völlig ohne Grund kamen mir die Tränen. Es war verrückt, wie sehr ich ihn vermisste. »Wir haben gerade im Hotel eingecheckt. Ich wollte dir nur sagen, dass wir gut hergekommen sind.«

»Gut. Gut.« Er klang erleichtert, aber noch lange nicht beruhigt. »Wie war der Flug?«

»Den Großteil habe ich verschlafen«, sagte ich. »Da komme ich zum ersten Mal aus dem Mittleren Westen heraus und sehe so gut wie nichts. Ich war in New York City und habe rein gar nichts davon mitbekommen. Und in Helsinki war es nicht viel besser.«

»Ihr seid in Finnland?«, brüllte Jack. Schlagartig wurde mir klar, dass ich zu viel preisgegeben hatte. »Peter hat Ärger mit Vampiren in Finnland?«

»Äh ...« Ich rutschte unruhig auf dem Bett hin und her und überlegte mir, wie ich ihn beruhigen könnte.

»Das sind gar keine Vampire, stimmt’s? Es sind Lykane.« Er seufzte, als ich nichts sagte, und rief: »Mae! Mae!«

»Warum rufst du denn Mae?«

»Darum. Wenn sie wüsste, was ihr beiden vorhabt ...«

»Was denn?«, unterbrach ich ihn. »Was würde sie dann tun?«

Er brummte etwas Unverständliches, antwortete aber nicht auf meine Frage. Wenn Mae vor unserer Abreise davon gewusst hätte, hätte sie versucht, es Ezra auszureden. Genau aus diesem Grund hatte er niemandem davon erzählt. Er hatte keine Zeit mit Diskussionen verschwenden wollen.

»Ich setze mich gleich ins Flugzeug«, sagte Jack.

»Sei nicht albern. Ezra würde es nie zulassen, dass mir etwas zustößt. Ich bin nur hier, um Peter zur Rückkehr zu bewegen, nicht um mit irgendwelchen bescheuerten Vampiren zu kämpfen«, sagte ich.

»Peter braucht aber nicht zurückkommen«, murmelte er.

»Bist du schon mal in Finnland gewesen?« Rasch wechselte ich das Thema. Vielleicht konnte ich ihn von seinen Sorgen ablenken.

»Ja, einmal, vor ein paar Jahren«, sagte er abschätzig. »Zum Skifahren. Es war schrecklich. Mein Snowboard ist kaputtgegangen und ich bin den ganzen Abhang hinuntergestürzt. Das war alles andere als komisch. Finnland ist doof. Am besten kommst du gleich wieder nach Hause.«

»Jack.« Trotz allem musste ich lächeln bei der Vorstellung, wie Jack über die Piste talwärts gekullert war. »Du verschwendest unsere Zeit. Mein Akku ist gleich leer und ich habe kein Ladegerät. Willst du wirklich mit mir herumstreiten, wo du doch weißt, dass ich es mir nicht ausreden lasse?«

»Ja, genau das will ich«, erwiderte er. »Außerdem bin ich mir sicher, dass Ezra ein Ladegerät dabeihat; das kannst du benutzen.«

Ein paar Wochen zuvor hatte mir Jack ein iPhone gekauft, das gleiche Modell, das auch Ezra und Jack hatten.

»Ezra spricht Finnisch«, sagte ich. »Das ist echt cool. Ich verstehe kein Wort.«

»Ezra beherrscht so ziemlich alle Sprachen der Welt, sogar die toten. Er war ganz stolz, dass er Die Passion Christi ohne Untertitel anschauen konnte, weil er Aramäisch kann. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es das einzige Mal war, dass er es anwenden konnte.« Jack klang ein bisschen heiterer und ich musste lächeln.

»Sprichst du auch Fremdsprachen?«, fragte ich.

»Spanisch und Deutsch«, erklärte er stolz. »Spanisch habe ich damals an der Highschool gelernt und Deutsch im College. Ich spreche beide Sprachen nicht fließend, aber ich kann meinen Gesprächspartner fragen, ob er Englisch spricht. Mehr brauche ich wahrscheinlich nicht.«

»Ja, das klingt gut.« Ich musste lachen und dennoch traten mir wieder Tränen in die Augen. »Ich vermisse dich.«

»Ich vermisse dich auch. Du kannst nach Hause kommen, Alice, wann immer du willst. Kein Druck.«

»Ich weiß. Aber ich muss erst Ezra helfen. Das dürfte nicht so lange dauern, glaube ich. Wir spüren Peter auf und kommen dann direkt nach Hause.«

Jack erklärte mir gerade, dass es in Finnland weitläufige menschenleere Wälder gab, als Ezra aus dem Bad kam und mich fragend ansah. Er hatte die Hose seines Flanellschlafanzugs und ein T-Shirt an und fuhr sich mit der Hand durch die nassen Haare.

Ich hielt die Hand vor den Hörer. »Es ist Jack«, sagte ich.

»Ist Ezra da? Ich will mit ihm reden!«, erklärte Jack.

»Du brauchst nicht mit ihm reden«, seufzte ich.

»Dann weiß er also, dass wir in Finnland sind?«, fragte Ezra. Als ich verlegen nickte, fuhr er fort: »Was soll’s. Früher oder später hätte er es sowieso erfahren.«

Ezra schlug die blaugrüne Tagesdecke zurück, um sich hinzulegen.

»Jack, ich schlafe jetzt besser ein bisschen. Ich rufe dich bald wieder an und erzähle dir, wie es so läuft«, sagte ich.

»Alice ...« Es klang fast wie ein Wimmern. Er schien es auch zu merken, denn er fuhr beherrschter fort: »Ruf bald an, ja? Und pass auf dich auf!«

»Versprochen.«

Als ich das Gespräch beendet hatte, musste ich ein Schluchzen unterdrücken. Seine Stimme zu hören, hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Mir tat das Herz in der Brust weh. Alles schien aus dem Gleichgewicht zu sein. Ich war entsetzt, wie schwach ich ohne Jack war.

»Du hättest wegen mir das Gespräch nicht beenden müssen«, sagte Ezra.

Ich schluckte die Tränen herunter, starrte das Handy an und lauschte dem Rascheln der Laken, als Ezra es sich bequem machte. Am liebsten hätte ich Jack gleich noch einmal angerufen, doch da es mir nicht geholfen hätte, widerstand ich dem Drang.

»Ich weiß«, sagte ich. Ich legte das Handy auf den Nachttisch und kroch unter die Decke. »Rufst du Mae auch an?«

»Erst wenn ich mehr weiß. Jack kann sie ja auf den neuesten Stand bringen.« Er rollte sich auf den Bauch und drückte den Kopf ins Kissen. »Ist mit dir alles in Ordnung?«

»Ja, es geht schon«, erwiderte ich, ohne es zu meinen.

Ich drehte mich auf die Seite, mit dem Rücken zu ihm, und ließ ein paar stille Tränen die Wangen hinunterlaufen. Ezra sagte nichts mehr und bald hatte er den regelmäßigen Atem des Schlafenden. Mir fiel das Einschlafen leider nicht so leicht.

Als Ezra das Rollo öffnete, stand die Sonne noch am Himmel. Ich blinzelte und zog mir die Decke über den Kopf. Da ich als Vampir noch kaum Erfahrung mit der Sonne hatte sammeln können, ermüdete sie mich und verdarb mir gründlich die Laune.

Ezra war bereits angezogen und pfiff einen alten Neil-Young-Song. Es war Zeit, aufzustehen.

»Wie spät ist es?«, murmelte ich, noch unter der Daunendecke vergraben.

»Es ist kurz nach eins, aber wir müssen los. Das Abenteuer lockt.« Er gluckste, doch mir war nicht nach Lachen.

»Du erwartest wirklich, dass ich jetzt aufstehe?« Ich streckte den Kopf unter der Decke hervor und trotzte dem gleißenden Licht, das den Raum erfüllte.

»Ja, wir müssen los.« Er tippte etwas in sein Handy. »Ich kann das Rollo wieder runtermachen, wenn dir das hilft.«

»Das weißt du doch«, erwiderte ich.

Ezra tat mir den Gefallen. Da er immer noch mit dem Handy beschäftigt war, hoffte ich, dass er eine Spur hatte. Seine Hälfte des Zimmers war aufgeräumt, das Bett gemacht, und ich fragte mich, wann er wohl aufgestanden war.

»Ich wünschte, ich könnte noch Kaffee trinken oder Red Bull oder so was«, sagte ich, als ich aus dem Bett stieg und zum Badezimmer taumelte. (Kaum zu glauben, aber Vampire müssen echt pinkeln. Blut ist schließlich immer noch eine Flüssigkeit.)

»Geh am besten unter die Dusche. Das bringt dich in Schwung«, sagte Ezra.

Ich folgte seinem Rat und nahm eine kurze kalte Dusche. Erfrischt zog ich mich an und föhnte mir rasch die Haare, damit ich draußen nicht fror. Da das Hotel voller Menschen war, zog ich mir den Schal über Mund und Nase, um den Geruch zu dämpfen. Auf dem Weg nach draußen fiel mir auf, dass das Haus innen überwiegend in Grüntönen gestaltet war. Überall standen Topfpflanzen, wahrscheinlich als Kontrast zu den langen Wintern und dem vielen Weiß draußen. Ich mochte den Winter, konnte mir aber nicht vorstellen, in einem Land zu wohnen, in dem es acht Monate im Jahr dunkel war.

Obwohl es gar nicht so kalt war, etwa um den Gefrierpunkt, hatte ich mich warm eingepackt in Wintermantel und Stiefeln, wie es jeder normale Mensch auch getan hätte. Es lag gerade so viel Schnee, dass er unter den Schuhen ein wenig knirschte.

»Wie lautet der Plan?«, fragte ich Ezra, als wir über den Parkplatz zu dem silberfarbenen Rover gingen, den er am Vortag gemietet hatte.

»Wir fahren mit dem Auto«, antwortete Ezra vage. Ich fragte mich, ob er mich absichtlich auf die Palme bringen wollte oder ob das einfach nur seiner Art entsprach. Wortlos setzte ich mich neben ihn auf den Beifahrersitz.

Ohne sich umzusehen, stieß er mit dem Auto zurück und raste aus der Ausfahrt des Hotels. Ich kannte Ezra nur als gelassenen Fahrer, doch langsam wurde mir klar, wo Jack seinen Fahrstil herhatte. Während wir über die Landstraße jagten, zog ich mir zum Schutz vor der Sonne die Kapuze über den Kopf und ließ mich tief in den Sitz sinken.

»Wie geht es denn jetzt weiter?«, fragte ich gähnend, als wir etwa zehn Minuten unterwegs waren. Ich war schläfrig und wusste, dass meine Müdigkeit nicht nachlassen würde, solange es Tag war.

»Wir werden die meiste Zeit im Schutz der Bäume unterwegs sein.« Er deutete auf die dichten Kiefernwälder, die die Landschaft beherrschten. »Du hast deine Kapuze und die Sonnenbrille, und wenn wir morgen früh zurückkommen, nehmen wir beide etwas zu uns. Alles kein Problem.«

Nach etwa einer halben Stunde bog er von der Straße ab und hielt auf einer kleinen Lichtung. Ich hatte ein wenig gedöst, war jedoch aufgewacht, als das Auto auf einen Schotterweg abgebogen war. Ich betrachtete das Navi am Armaturenbrett, in der Hoffnung, dass es mir einen Hinweis auf unseren Aufenthaltsort geben würde. Doch aus dem finnischen Kauderwelsch wurde ich nicht schlau.

»Gut. Was machen wir hier?«, fragte ich, doch Ezra stellte nur den Motor ab und stieg eilig aus. »Danke.«

Beim Aussteigen rutschte ich auf dem vereisten Schnee aus. Bei dem Versuch, mich am Auto abzustützen, hinterließ ich eine Delle in der Tür. Es war unheimlich, so wenig Macht über den eigenen Körper zu haben. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich meine Kraft endlich im Griff hatte.

»Kommst du?« Ezra wartete, bis ich mich gefangen hatte und ihm hinterherhastete.

»Ja, wo gehen wir denn hin?«, fragte ich, als ich ihn eingeholt hatte.

»In den Wald.« Da wir schon von einem Haufen Bäume umgeben waren, war mir das eigentlich nicht neu.

»Du bist echt auf dem besten Weg, dich unbeliebt zu machen«, murmelte ich, als ich fast über einen umgefallenen Baum stolperte.

»Ich weiß nicht genau, wo wir hingehen«, gab er widerstrebend zu. »Ich weiß nur, dass wir hier in der richtigen Gegend sind, aber das war’s dann auch schon.«

Dass wir uns im Schutz der Bäume halten konnten, war doch zumindest schon mal etwas. Der Waldboden war mit Efeu und Farnen bedeckt und vor mir hörte ich einen Fluss rauschen.

Davon abgesehen hatte ich keine Ahnung, wie Ezra sich orientierte, und woher er wusste, wo wir waren. Er kannte sich in der Gegend besser aus als ich, doch mir war schleierhaft, wie er sich in dem Einerlei aus Bäumen zurechtfand.

»Wo sind wir?« Ich blieb stehen und starrte durch die Bäume hinauf in den Himmel.

»In dieser Gegend leben die Lykane.«

Ich hätte gern mehr von ihm erfahren, doch er ließ nichts heraus. Da er auch nicht auf mich wartete, mied ich es künftig, grundlos stehen zu bleiben. Wir wanderten den ganzen Nachmittag durch den Wald. Obwohl die Sonne die ganze Zeit nicht zu sehen gewesen war, spürte ich bei Sonnenuntergang einen Energieschub.

Ezra war schon am Mittag aufgebrochen, weil es bei Tage unwahrscheinlich gewesen war, dass sich andere Vampire zeigten. Doch als die Nacht uns vollständig umschloss, bestand er darauf, dass ich mich dicht in seiner Nähe hielt.

Das aufregendste Erlebnis jener Nacht waren ein paar Rentiere, die wir vor uns entdeckten.

Als die Sonne wieder aufging, war ich völlig entkräftet. Angeblich werden Vampire ja niemals müde und Ezra schien dieser Vorstellung zu entsprechen. Ich dagegen fühlte mich wie gerädert. Nachdem wir den weiten Weg zum Auto zurückgegangen waren, war ich unendlich erleichtert, als ich mich in den Sitz des Range Rovers sinken lassen konnte.

Der Hunger hatte sich schon ein paar Stunden vorher eingestellt. Ich hatte Ezras Puls wahrgenommen und meine Hände zitterten schon. Das erste Morgenlicht, das durch das Autofenster fiel, machte es nur noch schlimmer. Als wir zum Hotel kamen, sah mir Ezra meinen Durst wohl schon an, denn er legte vorsorglich den Arm um mich, als wir hineingingen. Da es kurz nach sieben Uhr morgens war, war der Frühstücksraum bereits gut besucht. Beim Geruch von Eiern und Hirschwürstchen wurde mir übel. Darüber hinaus umwehte mich der herrliche Duft von Blut, und ich war dankbar für Ezras starken Arm, der mich zu unserem Zimmer manövrierte.

Dort angekommen, schälte ich mich aus Jacke und Stiefeln.

»Das war ein verschwendeter Tag«, jammerte ich. Meine Kleider waren schwer und klamm. Ich musste mich beherrschen, sie nicht einfach auszuziehen.

Da Ezra vor unserem Aufbruch am Tag zuvor die Klimaanlage heruntergestellt und die Badewanne mit Eis und Blutkonserven gefüllt hatte, war das Blut angenehm kühl.

»Das stimmt nicht.« Ezra kam mit mehreren Konserven aus dem Badezimmer. »Wir haben einiges herausgefunden. Morgen wissen wir besser, wo wir hinmüssen.«

Die Mahlzeit vor Augen, vergaß ich mein Elend. Ich riss ihm den Beutel geradezu aus den Händen und stürzte das Blut herunter. Ezra sah mir mit einem merkwürdig faszinierten Gesichtsausdruck zu. Eine wunderbare Wärme durchströmte mich und ich hielt die Hand nach einem zweiten Beutel auf.

Er schüttelte den Kopf. »Mach dich erst bettfertig. Ich habe keine Lust, dich umziehen zu müssen, weil du eingeschlafen bist.«

»Gut. Guck weg.«

Er tat wie geheißen und ich zog mich um. Da ich schon furchtbar müde war, dauerte es eine Weile, und als ich mir das Hemd auszog, fiel ich fast nach vorne um. Nachdem ich mir die Schlafanzughose hochgezogen hatte, kippte ich rückwärts aufs Bett. Ich schaffte es nicht, mich noch einmal aufzurichten.

»Erledigt«, verkündete ich und hielt wieder die Hand auf.

»Du musst lernen, es ein bisschen ruhiger angehen zu lassen. So viel habe ich nicht dabei«, warnte er mich, reichte mir aber einen weiteren Beutel.

»Ich dachte, du nimmst immer ein bisschen mehr mit«, sagte ich, bevor ich das Blut herunterkippte.

»Tu ich auch.« Er sah mich streng an und setzte sich mir gegenüber auf sein Bett.

»Das ist die Sonne«, sagte ich mit schwerer Zunge. »Das Sonnenlicht laugt mich aus. Ich glaube nicht, dass ich so ein Pensum wie heute noch einmal schaffe. Siebzehn Stunden marschieren - das ist einfach zu viel für mich.«

»Das ist nicht zu viel für dich.« Er schüttelte den Kopf. »Du hast fast unerschöpfliche Kräfte, Alice. Du musst endlich aufhören, dich wie ein Mensch zu fühlen.«

»Und du erst!«, brach es völlig sinnlos aus mir heraus.

Er verdrehte die Augen. »Ja, natürlich.«

Ich wollte ihn noch etwas fragen, doch das satte Gefühl lullte mich langsam ein. Ezra wollte, dass ich mich besser in den Griff bekam, aber wenn sich jemand nicht im Griff hatte, waren es doch wohl die Lykane. Gegen die war ich wahrlich harmlos.

»Die Lykane sind schlimmer, oder?«, stammelte ich meine wirren Gedanken heraus.

»Ich verstehe die Frage nicht.« Ezra stand auf und kam zu mir ans Bett. »Schlaf ein bisschen, Alice. Es war ein langer Tag. Ich decke dich zu.«

Hatte sich Ezra am ersten Tag von seinem unbedingten Willen, Peter zu finden, antreiben lassen, so ließ er auch am zweiten nicht locker. Da ich mich weigerte, im Sonnenlicht loszumarschieren, ließ er mich bis vier Uhr nachmittags schlafen. Ich war mir nicht sicher, wie viel Schlaf er gehabt hatte, denn während ich schlief, hatte er über Handy und Laptop versucht, Peters Aufenthaltsort zu bestimmen.

Als ich aufstand, beantwortete ich mehrere SMS von Jack, machte mich fertig, und dann ging es los.

Mehr als zehn Stunden später stand ich mitten in Lappland und bestaunte mit offenem Mund das bunte Schauspiel über mir: Glitzernde grüne Lichter zuckten über den klaren Nachthimmel. Wir überquerten gerade einen Fluss, als ich zufällig nach oben blickte und das Polarlicht über uns tanzen sah. Ich blieb am gefrorenen Flussufer stehen und sah ehrfurchtsvoll in den Himmel. Die Lichterscheinung war so atemberaubend schön, dass sich sogar Ezra die Zeit nahm, sie zu bewundern.

Ein Rascheln aus dem Wald lenkte mich von dem Naturschauspiel ab. Ich sah etwas Dunkles zwischen den Bäumen und nahm den vertrauten Rentiergeruch wahr. Ein paar Meter flussabwärts jagten sechs große Tiere durch den Wald und setzten über eine Furt im Fluss.

»Alice!«, flüsterte Ezra und hielt mich mit ausgestrecktem Arm fest.

»Was denn? Das sind doch nur Rentiere. Du weißt schon, wie die von Santa Claus«, meinte ich, doch er zischte mich an.

»Die würden mitten in der Nacht nicht so rennen, wenn sie nicht gejagt würden.« Seine Worte gingen, als die Tiere durch den Fluss stürmten, im Platschen des Wassers fast unter.

Ich hielt mich näher bei Ezra und spähte in den Wald, weil ich sehen wollte, wovor die Rentiere flohen. Ich hoffte, dass es Wölfe waren, hatte jedoch das ungute Gefühl, dass es sich um etwas handelte, das menschenähnlicher war. Als die Rentiere im Wald verschwunden waren, herrschte, abgesehen vom leiser werdenden Hufgetrappel, eine merkwürdige Stille.

Ich spitzte die Ohren und merkte, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Es war still und doch wieder nicht. Ich sah etwas und sah doch nichts. Jedes Mal wenn ich etwas wahrzunehmen meinte, war es schon wieder weg. Es war, als hätte ein Geist die Rentiere erschreckt. Ich hoffte schon, dass es ein gewöhnliches Feld-Wald-und-Wiesen-Gespenst war, da rief Ezra plötzlich »Alice!« und packte mich am Arm.