Kapitel 28

Mir verschlug es den Atem. Jack wirkte angespannt, hielt die Lippen zusammengepresst. Je wacher ich wurde, desto stärker stürmten seine Gefühle auf mich ein, und die waren alles andere als angenehm. Ich konnte ihm nicht verdenken, dass er nervös und verletzt war. Jack stand nur da, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah mich an. Ich setzte mich weiter auf und überlegte fieberhaft, was ich sagen sollte, doch meine Stimme versagte mir den Dienst.

»Ich muss zugeben, ich war überrascht, dich nicht in Peters Zimmer zu finden«, sagte Jack schließlich.

Seine Worte trafen mich wie Dolche, zumal Jack nicht dazu neigte, andere zu verletzen. Doch mir wollte er offensichtlich richtig wehtun.

»Ich war nie mit ihm zusammen.« Mein Herz hämmerte in meiner Brust. »Was geschehen ist, war ein dummer Fehler. Es hatte nichts zu bedeuten.«

»Was genau ist denn passiert?« Jacks ansonsten weiche blaue Augen stachen wie Eis.

»Ich weiß es nicht.« Alle meine Reden, die ich einstudiert hatte, um ihm alles zu erklären, hatten sich in Luft aufgelöst. Ich konnte ihn nur hilflos anstarren.

»Du weißt nicht, was passiert ist?« Er knirschte mit den Zähnen und atmete scharf ein. »Wie soll denn das gehen, dass du nicht weißt, was passiert ist, als du Peter geküsst hast? Küssen ist ja gar nicht besonders schwer. Ich denke mal, es hat damit angefangen, dass du ihm die Lippen auf ...«

Ich hob abwehrend die Hand. »Nein, natürlich weiß ich, was passiert ist.« Ich rieb mir die Stirn und atmete zitternd aus. »Ich weiß nur nicht, warum.«

»Tja, vielleicht kannst du mal damit anfangen, was genau passiert ist. Dann kann ich bei der Frage nach dem Warum vielleicht helfen«, schlug er kühl vor.

»Wir haben uns geküsst!«, rief ich verzweifelt. Ich wollte endlich an die Stelle kommen, an der ich mich schluchzend entschuldigte und er mir vergab.

»Wer hat wen geküsst?«

»I... ich weiß nicht«, stammelte ich und starrte auf meine Bettdecke. Ich zog die Knie zur Brust und vergrub mein Gesicht in den Händen.

»Wirklich? Du hast keine Ahnung? In der einen Sekunde ist gar nichts und in der nächsten machst du mit ihm herum? Das klingt ziemlich spontan.«

»Wir haben nicht rumgemacht.« Ich konnte ihn nicht einmal ansehen. Es war alles viel schwerer, als ich gedacht hatte.

»Also ... wer hat wen geküsst?«, wiederholte Jack, und als ich nicht antwortete, fragte er: »Alice?«

»Ich glaube ... ich«, murmelte ich.

Ich hätte lügen können, aber das hätte er gemerkt, und dann wäre alles noch schlimmer geworden. Ich legte mir die Hand auf die Stirn und stützte mich auf die Knie. Er brauchte eine Weile, bis er meine Worte verarbeitet hatte. Sein Schmerz war jetzt noch tiefer.

»Liebst du ihn?« Seine Stimme war so leise, dass ich sie kaum hören konnte.

»Um Himmels willen, nein!«, rief ich und sah ihm in die Augen. »Nein! Ich liebe dich, Jack!« Eine Träne lief mir über die Wange. Ich wäre am liebsten zu ihm hingekrochen und hätte ihn geküsst, doch ich fürchtete, dass er mich wegstoßen würde.

»Warum hast ihn dann geküsst? Nach allem, was wir durchgemacht haben!« Sein flehender Tonfall brachte mich zum Weinen.

»Ich weiß es nicht! Ehrlich, Jack! Ich wünschte, ich wüsste es!« Ich wischte mir über die Wangen. »Ich war furchtbar durstig und wollte mich ablenken, um meine Selbstkontrolle zu verbessern. Ich bin zu ihm ins Zimmer gegangen, um mich mit ihm zu unterhalten, und ... Ich weiß auch nicht. Wir haben uns unterhalten und da ... da habe ich ihn geküsst. Es hat nur kurz gedauert, dann habe ich aufgehört und gesagt, dass ich das nicht kann. Es tut mir so leid, Jack! Es tut mir schrecklich leid! Ich würde es ungeschehen machen, wenn ich könnte. Ich wollte dich doch nie verletzen!«

»Ich habe immer wieder darüber nachgedacht.« Er rieb sich die Schläfen und sah zu Boden. Seine Augen waren feucht, doch er weinte nicht. »Ich habe mir überlegt, wenn du ihn wirklich geküsst hast, könnte ich dir vergeben? Und wenn du mit ihm geschlafen hättest, könnte ich dir vergeben?«

»Ich habe nie mit ihm geschlafen!«, rief ich und setzte mich auf die Knie.

»Nein, ich sage ja nur, was mir durch den Kopf gegangen ist.« Er schüttelte den Kopf. »Und weißt du, was mir klar geworden ist? Ich würde dir alles vergeben!« Seine Worte beruhigten mich zunächst, aber es ging ihm nicht gut dabei. Er war zutiefst verletzt und ich war schuld daran.

»Das soll kein Freibrief sein, aber egal was du tun würdest, ich würde dir vergeben. Ich könnte gar nicht anders.« Jack starrte ins Leere und überlegte. »Ich weiß ja nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie das ist. Sogar wenn das, was du tust, mich umbrächte, würde ich ...« Ich musterte ihn mit angehaltenem Atem. Er sah mir ins Gesicht. »Du könntest mich umbringen, Alice. So viel bedeutest du mir. Das ist blödsinnig und masochistisch, aber du bedeutest mir so viel, dass ich sogar mit dir zusammen sein wollte, wenn ich daran zugrunde gehen würde! Es ist mir egal, warum du ihn geküsst hast oder was du genau getan hast. Ich will es gar nicht wissen. Aber ich bitte dich inständig: Tu so etwas nie wieder! Ich liebe dich so sehr, und ich vertraue dir blind, weil ich einfach nicht anders kann! Du ... darfst mir das nicht noch mal antun, okay? Bitte.«

»Ich verspreche es! Nie wieder!« Ich sprang aus dem Bett und stürzte zu ihm, unfähig, mich noch zusammenzureißen. Ich legte ihm meine Hände auf die Wangen und sah ihm in die blauen Augen. »Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht und ich werde es nie wieder tun. Ich verspreche es dir. Ich liebe dich so sehr, Jack.«

»Das will ich doch hoffen«, flüsterte er.

Endlich küsste er mich. Ich schlang meine Arme um seinen Nacken und schmiegte mich an ihn. Sein Mund war warm und wunderbar. Nichts auf der Welt schmeckte besser als er.

Ich ignorierte, dass in mir schon wieder der Durst brannte und mein Herz hungrig in meinem Brustkorb hämmerte. Ich wollte nur bei ihm sein, den Moment festhalten.

»Geh mit mir weg.« Er legte seine Stirn auf meine und vergrub seine Finger in meinem dichten Haar.

»Wie bitte?« Ich dachte, ich hätte ihn falsch verstanden.

»Geh mit mir weg«, wiederholte er und trat einen Schritt zurück, um mir in die Augen zu sehen. »Ich will hier nicht mehr bleiben. Jeder hat mich angelogen. Peter ist immer noch hinter dir her und Mae hat mich fast umgebracht. Es gibt nichts, was mich hier hält. Lass uns zusammen Weggehen.«

»Was ist mit Milo?« Meine Gedanken überschlugen sich. Die Vorstellung, mit Jack allein zu sein, war aufregend, doch ich wollte nicht einfach alles stehen und liegen lassen. »Und mit Jane?«

»Jane?« Er legte die Stirn in Falten. »Was ist mit Jane?«

»Sie ist hier, in Peters Zimmer.« Ich hatte ganz vergessen, dass Jack das nicht wissen konnte. »Milo hat sie an Halloween im V gesehen. Es ging ihr richtig dreckig, deshalb haben wir sie mitgenommen.«

»In Peters Zimmer?« Jack war entsetzt.

»Ja, Peter schläft im Arbeitszimmer. Es ist ein bisschen wie bei Reise nach Jerusalem«, wischte ich seine Bedenken beiseite.

»Das Haus ist einfach zu klein für so viele Leute«, erklärte Jack. »Noch ein Grund mehr, auszuziehen.«

Mir erschien es übertrieben, einfach davonzulaufen. Ich hatte keinen Job und wollte Milo nicht verlassen. Außerdem bezweifelte ich, dass Jack uns alle vier versorgen konnte, denn Bobby war ja auch noch da. Wenn wir uns aus dem Staub machten, musste er seine Arbeit mit Peter und Ezra womöglich aufgeben.

Dazu kam, dass ich meine Blutgier noch nicht im Griff hatte, ein Problem, das jederzeit tödlich enden konnte.

»Was meinst du?«, fragte er und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Ich habe kein Problem damit, Abstand zu Peter zu gewinnen. Aber ich glaube, ich schaffe es noch nicht, die anderen einfach zurückzulassen«, sagte ich schließlich.

»Ich kann mit Peter nicht mehr unter einem Dach leben, und ich glaube, du solltest es auch nicht«, sagte Jack. »Und ich will weg von Mae.«

Ich biss mir auf die Lippen und sah ratlos zu ihm auf. Er war gerade erst zurückgekommen und ich wollte ihn nicht gleich wieder vor den Kopf stoßen. Aber ich konnte auch nicht einfach alles für ihn opfern.

»Na gut«, sagte er. »Wie wäre es damit? Ich arbeite weiter mit Ezra zusammen, und wir sehen uns nach einer eigenen Wohnung in Minneapolis um, in der auch genug Platz für Milo und Bobby ist. Dann können sie bei uns sein, so viel sie wollen. Wir wären noch in der Nähe und Milo könnte mal hier und mal dort wohnen. Aber du und ich, wir hätten endlich so etwas wie eine Privatsphäre.«

»Okay.« Ich nickte, obwohl ich mich noch nicht an die Vorstellung gewöhnt hatte.

Ich hatte mitansehen müssen, was Milo mit Bobby und was Jonathan mit Jane angestellt hatten, und war nicht besonders erpicht auf Privatsphäre. Natürlich wollte ich nichts mehr, als mit Jack endlich intim zu werden, aber ich liebte ihn zu sehr, als dass ich es riskieren wollte, ihn umzubringen.

»Ich habe in den letzten drei Tagen kaum ein Auge zugemacht«, sagte Jack gähnend. »Und es ist noch nicht einmal Mittag. Was sagst du? Sollen wir noch ein bisschen schlafen?«

»Klingt gut«, sagte ich lächelnd und gab ihm einen Kuss auf die Lippen.

Er zog sein T-Shirt und die Shorts aus und ging in Boxershorts schlafen, was mir nichts ausmachte. Nur wenige Menschen auf der Welt sehen in Unterwäsche so fantastisch aus wie Jack. Ich schlüpfte unter die Decke und er legte sich neben mich. Ich kuschelte mich in seine Arme und legte meinen Kopf auf seine Brust.

»Ich habe dich so vermisst«, sagte er und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar.

»Ich dich auch. Wo hast du eigentlich die letzten drei Tage gesteckt?«

»Im Hotel.« Jack kicherte. »Ich habe mir ein Zimmer in der Innenstadt genommen und bin erst vor einer Stunde wieder raus. Ich habe es einfach ohne dich nicht mehr ausgehalten. Da bin ich nach Hause gekommen.«

»Du hättest schon am ersten Tag wiederkommen sollen.«

»Ich weiß, aber ich musste nachdenken«, seufzte er. »Und das hat ja auch funktioniert. Ich meine, jetzt bin ich hier bei dir, oder etwa nicht?«

»Oh ja.« Ich küsste ihn auf die Brust und legte mich dann schlafen.

Jack hatte offenbar tatsächlich kein Auge zugetan, denn schon wenige Sekunden später schlief er tief und fest. Ich blieb noch eine Weile wach, dachte über alles nach, was er gesagt hatte, und überlegte mir, was zu tun war.

Ich hatte ihm versprochen, dass ich ihm nie wieder wehtun würde, und das Zusammenleben mit Peter war tatsächlich eine zu große Versuchung für mich. Dass ich dafür keine Erklärung hatte, machte es nur noch gefährlicher. Wenn Jack es für das Beste hielt, wegzugehen, dann hatte er damit recht. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, war ich es ihm, nach allem, was ich ihm zugemutet hatte, schuldig.

Als wir aufstanden, war niemand sonderlich überrascht, Jack zu sehen. Außer mir waren alle sicher gewesen, dass er zurückkommen würde. Jack begrüßte Jane mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit, die er auch Mae angedeihen ließ. Obwohl sich Mae in Entschuldigungen erging, ließ er sie links liegen. Sie war am Boden zerstört. Ich konnte ihn nicht dazu bringen, ihr zu vergeben - er musste seinem eigenen Gefühl folgen.

Peter war an diesem Abend nicht da. Niemand wusste, wo er abgeblieben war. Ich vermutete, dass er von Jacks Rückkehr wusste und sich aus dem Staub gemacht hatte, um eine Szene zu vermeiden.

Jack zog sich mit Ezra ins Arbeitszimmer zurück, um mit ihm Verschiedenes zu »diskutieren«. Es ging wahrscheinlich ums Geschäft und um unseren Auszug. Jack tat sehr geheimnisvoll, weil er noch nicht wollte, dass die anderen von seinem Vorhaben erfuhren.

Mae lenkte sich mit Jane ab. Im Esszimmer hatte sie ein riesiges Handtuch auf dem Boden ausgebreitet und einen improvisierten Friseursalon aufgemacht. Mae schnitt gerne anderen die Haare. Jane saß in einem Sessel, Folie und Färbemittel im Haar, und blätterte lustlos in der Cosmopolitan. Während die Farbe einwirkte, schnitt Mae Milo die Haare. Zum ersten Mal seit Wochen schien sie guter Laune zu sein. Eine Diskussion über Lipgloss hatte geschafft, was keinem von uns anderen gelungen war.

»Soll ich dir auch die Haare schneiden, Liebes?« Mae lächelte mich über Milos Kopf hinweg an. Ihr eigenes Haar war sauber zurückgesteckt.

Jane machte eine Bemerkung über Schuhe und Mae lachte mit blitzenden Augen.

»Was hast du gesagt, Alice?«

»Äh ... nein, danke«, sagte ich.

»Mädchenschuhe sind viel interessanter als Jungsschuhe«, beschwerte sich Milo. Er reckte den Hals, um einen Blick in Janes Zeitschrift zu werfen, doch Mae drückte ihn sanft wieder nach hinten und schnippelte weiter.

»Zumindest müsst ihr keine hohen Absätze tragen«, sagte Jane. »Ich meine, die sehen toll aus, aber sie bringen einen echt um. Man könnte sagen, das sind kleine Folterkammern für die Füße.« Mae lachte wieder, das zweite Mal innerhalb von zwei Minuten.

Als ich die drei nachdenklich betrachtete, dämmerte es mir so langsam: Mae hatte eine leibliche Tochter und eine Enkelin sowie eine kranke Urenkelin, doch seit Jahren hatte sie sich immer nur um Jungs gekümmert - erst Jack, dann Milo. Als ich dazukam, war sie zunächst begeistert gewesen, endlich ein Mädchen verwöhnen zu können. Doch ich war nicht sonderlich modebewusst, sondern hing die meiste Zeit in Jeans herum. Auch nach Jacks Rückkehr trug ich zu dem netten grünen Top wieder nur eine Jeans.

Vielleicht hatte Mae deshalb eine engere Beziehung zu Milo als zu mir. Er war einfach der weiblichere Typ und verließ sich gern auf Maes Ratschlag, obwohl er in anderer Hinsicht selbstständiger war als ich.

Aber dann war Jane aufgetaucht, die wandelnde Barbiepuppe. Für sie gab es nur Jungs, Mode und den ständigen Wunsch nach Aufmerksamkeit - genau das, was Mae interessierte. Natürlich löste das nicht Maes Problem mit ihrer Urenkelin, aber zumindest hob es für eine Weile ihre Stimmung.

Mae wiederum konnte erheblich zu Janes Wohlbefinden beitragen. Dank ihrer Pflege hatte Jane sogar bereits ein wenig an Gewicht zugelegt, nicht viel, aber doch genug, dass sie nicht mehr magersüchtig aussah. Die Wunde an ihrem Hals war geheilt und hatte eine dicke Narbe hinterlassen. Nach einem Vampirbiss bleibt normalerweise nichts zurück, doch in diesem Fall war das Gewebe zu oft verletzt worden. Noch beschwerte sich Jane nicht darüber, doch eines Tages würde ihr Vater ihr wahrscheinlich eine Schönheitsoperation bezahlen müssen.

Ich kam mir vor wie auf einem anderen Stern, als sich die drei über Jungs und Kleider austauschten. Dass Mae und Jane gut miteinander auskamen, konnte ich nachvollziehen, doch nie hätte ich gedacht, dass Milo und Jane sich dermaßen amüsieren würden.

Dass Jane so viel Zeit mit Vampiren verbracht hatte, hatte den positiven Nebeneffekt, dass sie gegen die Verlockungen unserer Pheromone nahezu immun war. Sie drängte sich Milo, Jack oder Ezra nicht auf, was allerdings nicht für Peter galt, in den sie total verknallt war.

Ich ging ins Wohnzimmer, um dort zu warten, bis Jack sein Gespräch mit Ezra beendet hatte. Bobby saß mit gekreuzten Beinen mitten im Zimmer, ein Skizzenbuch auf dem Schoß, und starrte konzentriert auf den Fernseher. Abgesehen von Matilda war er der Erste, der den neuen Flachbildfernseher nutzte. Doch statt eines spannenden Actionfilms, der das Beste aus dem HD-Fernseher herausgeholt hätte, hatte Bobby den Nachrichtensender CNN eingeschaltet.

Ich nahm an, dass er einen auf intellektuell machen wollte. Er hatte eine schwarze Sonnenbrille aufgesetzt, mit der ich ihn noch nie gesehen hatte. Bei näherem Hinsehen merkte ich, dass er beim Kampf in der Disko ein hässliches blaues Auge davongetragen hatte, das er jetzt unter der modischen Sonnenbrille und den langen Ponyfransen zu verstecken versuchte. Am Kinn hatte er eine kleinere Schramme, doch die schlimmsten Wunden verbargen sich, wie ich wusste, unter seinem Hemd an Brust und Bauch.

Ich warf mich aufs Sofa. »Was guckst du da?« Ich war zwar nicht gerade scharf auf Nachrichten, aber das war immer noch besser als das alberne Geplapper im Esszimmer.

»Die Nachrichten«, erwiderte Bobby gedankenverloren. »Für die Schule.«

»Wie meinst du das, für die Schule?«, fragte ich. »Ich dachte, du gehst nicht mehr zur Schule.«

»Doch, am Tag, wenn ihr schlaft. Am Tag passiert alles Mögliche, von dem ihr nichts wisst«, sagte Bobby. Während er weiter auf den Fernseher starrte, zeichnete er etwas auf seinen Block. Neben ihm auf dem Boden lag eine Schachtel Kohlestifte. Da er die Ärmel hochgekrempelt hatte, waren seine tätowierten Arme schwarz verschmiert. »Ich soll eine Stunde Nachrichten schauen und währenddessen zeichnen und mir überlegen, was ich dabei empfinde.«

»Und? Was empfindest du?«, fragte ich.

»Ich habe das Gefühl, die Welt geht unter.«

Er wirkte nicht besonders niedergeschlagen. Ich beugte mich vor, um zu sehen, was er gezeichnet hatte, doch da ich hinter seiner Hand nichts erkennen konnte, ließ ich mich wieder ins Sofa sinken. Stattdessen sah ich mir im Fernsehen an, was Bobby so beunruhigte.

Der Bildschirm war in zwei Fenster geteilt. In dem kleineren erklärte der Auslandskorrespondent, was sich in dem großen Fenster abspielte. Dort war ein riesiges Schiff zu sehen, ein Tanker, der offenbar gegen eine Klippe gekracht war. Er hatte Schlagseite, und Hubschrauber und kleinere Schiffe schwärmten um den havarierten Koloss herum. Am unteren Rand des Bildschirms hieß es: »Cape Spear, Neufundland«.

»Was ist da passiert?«, fragte ich.

»Ein Tankerunglück in Kanada«, sagte Bobby. »Im Rumpf ist ein Loch, aber bisher ist kaum Öl ausgetreten. Die sagen, das ist ein Wunder, denn wenn das passiert wäre, dann wäre es eine schlimmere Katastrophe als damals bei der Exxon Valdez, weil der Tanker viel größer ist.«

»Da klingelt etwas, aber ich komm nicht drauf.«

»Das war ein Tankerunglück in Alaska im Jahr 1989.« Bobby sah mich von der Seite an. »Ich hätte es auch nicht auswendig gewusst. Sie haben es gerade erst erwähnt.«

»Aber das ist jetzt keine Ölkatastrophe, oder?« Ich sah genauer hin, ob auf dem Wasser rund um den Tanker ein Ölteppich war. »Was ist dann so Besonderes daran? Warum denkst du dabei an das Ende der Welt?«

»Wegen der Unglücksursache.« Er hörte auf zu zeichnen und starrte fasziniert in den Fernseher. »Die ganze Mannschaft ist gestorben.«

»Wie meinst du das?«, fragte ich und richtete mich wieder auf. »Als das Schiff gegen die Klippen geknallt ist?«

»Nein, da waren sie schon tot. Das Unglück ist passiert, weil niemand das Schiff gesteuert hat. Nachdem vor zwei Tagen die Funkverbindung abgerissen war, hatte man Schiffe hingeschickt, um nachzusehen. Aber niemand weiß, was genau passiert ist. Als die Küstenwache hinkam, hatte es schon geknallt. Das Schiff ist geradewegs auf die Insel aufgelaufen«, sagte Bobby und nickte zum Bildschirm hin. »Das ist das Unheimlichste, was ich je gehört habe. Das ist wie in Aliens, wo das verlassene Raumschiff gerettet wird, nur dass das hier wirklich passiert ist.«

»Aber wie ist die Mannschaft denn gestorben? Haben sie vielleicht keine Nahrung mehr gehabt oder keinen Sauerstoff?«

Bobby verdrehte die Augen. »Mit Sauerstoff hat das wohl kaum etwas zu tun. Wir sind hier auf der Erde, da geht einem nicht der Sauerstoff aus«, sagte er. »Niemand weiß, woran sie gestorben sind. Einige der Besatzungsmitglieder werden noch vermisst. Aber da beide Rettungsboote noch an Ort und Stelle sind, weiß niemand, wie sie vom Schiff gekommen sind. Die Behörden halten das noch unter der Decke, aber Gerüchten zufolge wurden die Männer verstümmelt, so richtig blutrünstig und horrormäßig. Aufgeschlitzte Kehlen und so weiter. Der Moderator hat sich gerade mit einem unterhalten, der an Bord gewesen ist, und der musste in dem Gespräch fast kotzen.«

»Um Himmels willen.« Ich beugte mich vor und starrte in den Fernseher. »Keine Chance. So was gibt’s doch gar nicht im wirklichen Leben. Könnte denn die Besatzung selbst etwas damit zu tun haben?«

»Vielleicht, aber man rechnet im Moment nicht mit Überlebenden«, sagte Bobby. »Es waren etwa dreißig Besatzungsmitglieder, aber man hat nur vierundzwanzig Leichen gefunden.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das ist ja wirklich krass.« Mir lief es kalt den Rücken herunter. »Gruselig.«

»Ja, finde ich auch«, stimmte mir Bobby finster zu.

»Wo kam der Tanker denn her?«

»Weiß nicht«, sagte Bobby achselzuckend. »Ich glaube, aus Europa, Russland oder so.«

»Also, seid ehrlich«, sagte Milo, der gerade ins Wohnzimmer kam und unsere düstere Stimmung durchbrach. »Wie sieht mein Haar aus?« Er fuhr sich mit der Hand durch den dunkelbraunen Schopf und drehte sich einmal im Kreis. Mir fiel kein großer Unterschied auf. Mae hatte es nur ein wenig gekürzt.

»Sexy wie immer.« Bobby grinste ihn an. Er legte seinen Skizzenblock beiseite und vergaß für den Augenblick seine Hausaufgabe. Milo setzte sich neben ihn auf den Boden. Nachdem sie sich ausgiebig geküsst und miteinander geflirtet hatten, unterhielten sie sich über das Tankerunglück. Mir war das Ganze unheimlich. Um mich abzulenken, wollte ich mit Matilda zum Spielen in den Garten gehen. Ich musste sie erst mit drei Hundeleckerlis bestechen, um sie von Jack loszureißen. Ich kam nicht umhin, mir einzugestehen, dass sie Jack mehr liebte als ich.

Die Terrasse war glitschig vom Schnee, der immer noch vom Himmel fiel. Es war November und der erste Schnee des Winters würde sicher nicht lange liegen bleiben. Matilda rutschte über den Steinboden, doch das schien ihr nichts auszumachen. Abgesehen von Jacks Abwesenheit konnte sie kaum etwas aus der Ruhe bringen.

Mir ging die Geschichte mit dem Tanker nicht aus dem Kopf. Durch die zweiflüglige Terrassentür sah ich Mae und Jane miteinander plaudern und lachen. Ihnen zuzuhören, wäre wahrscheinlich fast so unheimlich gewesen wie die Geschichte von der toten Schiffsbesatzung. Ich ließ mir von den Schneeflocken den Kopf weiß tupfen und versuchte, die Sache zu vergessen.