»Oberleutnant Steinbach«, sagte der General mit erhobener Stimme, »in Anerkennung Ihrer Erfolge ...«
Klaus legte schlaff die Hand an das Uniformtuch. Der Riemen des Stahlhelms schnürte ihm die Kehle zu.
» ... hat der Führer und Oberste Befehlshaber Ihnen das Ritterkreuz verliehen«, schnarrte der General weiter. Ein Murmeln lief durch die Reihen der angetretenen Soldaten. Klaus sah dem hohen Offizier auf den Schnurrbart. Zielübung. Der Blick des Schützen ruht auf einem angenommenen Punkt im Gelände. Der General nahm das Kästchen aus der Hand des Adjutanten. Klaus beobachtete den Vorgang ohne jede Regung. Das Ritterkreuz glänzte auf Samt. Es schwebte auf ihn zu. Es pendelte am Band zwischen den Fingern des Generals.
Klaus zog den Kopf ein. Erst mein Kind, dachte er, dann das! Er versteifte sich im Kreuz. Er bewegte mechanisch den klammen Nacken. Der General war viel kleiner als Klaus. Er hob hilflos die Arme, als versuchte er, ohne Leiter den Stern auf einen Christbaum zu setzen.
Der Mühlstein, überlegte Klaus, als er das Band im Genick fühlte. Kein Band – ein Strick. Kein Orden – eine Last. 238
Er ging zurück. Er sah in die glänzenden Augen seiner Kameraden. Und er stellte dabei fest, wie viele sich inzwischen wieder die Kartoffeln von unten ansahen. Die Kartoffeln ... von unten ... die haben’s überstanden. Die haben ausgekämpft, ausgelitten. Die sind fein dran.
Und Klaus Steinbach, der eben die höchste Auszeichnung erhielt, die der Krieg für einen jungen Offizier zu vergeben hatte, verspürte auf einmal Neid auf seine toten Kameraden ...
»Bitte mich beim Herrn General zum Rapport melden zu dürfen.« Er gebrauchte automatisch die Anrede in der dritten Person, die ebenso verpönt wie erwünscht war.
»Was ist los mit Ihnen«, knurrte der General. Er gab ihm die Hand. »Ich freue mich, daß gerade Sie ...« Seine Augen waren schon beim nächsten, der ausgezeichnet wurde. Er rief Klaus zu: »Melden Sie sich in zehn Minuten!«
Solange ließ Klaus, der gleichzeitig zum Hauptmann befördert worden war, mit tauben Ohren die Glückwünsche seiner Kameraden über sich ergehen. So nahm ein PK-Mann vor ihm das offizielle Bild auf: Fahrige Augen, tief in den Höhlen, und ein Gesicht, das ganz woanders war, fern, unwirklich, verloren. Und in irgendeiner Redaktion würde man darunterschreiben: ›Das angespannte Gesicht eines deutschen Soldaten nach der siegreichen Schlacht‹.
Der General tippte seinem Hauptmann jovial auf die Schulter.
»Sie sind ein komischer Kerl, Steinbach ... freuen Sie sich gar nicht?«
»Jawohl, Herr General«, erwiderte Klaus gehorsam.
»Kommen Sie.«
Sie standen sich gegenüber.
»Also ... was gibt’s?«
»Herr General ... ich bitte ... das Ritterkreuz nicht annehmen 239
zu müssen.«
»Verrückt«, knurrte der hohe Offizier.
Höhenkrankheit, dachte er, Kabinenkoller.
»Setzen Sie sich ... also, was ist los?«
Klaus zog das Telegramm aus der Tasche. Der General las es kopfschüttelnd.
»Kindsentführung«, murmelte er, »tut mir aufrichtig leid ... aber das hat doch nichts ... mit Ihrer Auszeichnung zu tun.«
»Doch«, entgegnete Klaus hart. Er erklärte die Zusammenhänge.
Der General sah langsam an ihm hoch. Sein Blick blieb an dem Ritterkreuz hängen. Zerstreut faßte der hohe Offizier nach seinem eigenen.
»Gut, Steinbach«, antwortete er scharf. Die Pause machte sich breit. Der General ging im Zimmer auf und ab. Vielleicht dachte er in diesem Moment an Berendsen, den toten Geschwaderchef, der nicht mehr leben mochte, weil er nicht mehr kämpfen konnte. Er hatte nie recht begriffen, was vor sich gegangen war. Jetzt dämmerte es.
»Ein Übergriff«, sagte er heiser, »ich werde die Sache bereinigen, Steinbach, verlassen Sie sich darauf!«
»Jawohl, Herr General.«
»Setze mich heute noch mit den Brüdern von der SS in Verbindung.« Seine Worte kamen langsam, klebrig. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie Ihr Ritterkreuz tragen können, verdammt noch mal!
Doris wird es schwarz vor den Augen. Ihr Körper zuckt. Ihre Augen werden naß.
»Nehmen Sie sich doch zusammen! Es gibt einen Weg, Ihr Kind wiederzuerhalten ... seine Meilensteine sind: Gehorsam, 240
Treue und Opfer ...« Nebensächlich setzt er hinzu: »Ich entlasse Sie aus der Haft. Sie fahren in Ihre Heimatstadt zurück. Wir werden Sie nicht aus den Augen verlieren. Leisten Sie irgendeinen Kriegseinsatz ... freiwillig ... sonst ...«
Die junge Frau nickt. Sie begreift gar nichts. Klaus muß
helfen, denkt sie verschwommen, nur er kann noch ...
»Noch etwas, Frau Steinbach«, fährt der Beamte des Reichssicherheitshauptamts fort, »ich sagte Ihnen schon, Ihr Fall ist eine Geheime Reichssache ... Sie haben nicht darüber zu sprechen ... jede fahrlässige oder absichtliche Indiskretion hätte schwerwiegende Folgen.«
Doris ist frei.
Und allein. Grenzenlos allein ...
Der untersetzte General der Flieger hielt Wort. Er wandte sich über die Luftflotte an den persönlichen Stab des Reichsführers der SS, telefonisch, um Zeit zu sparen. Ein erschrockener Adjutant ließ sich die Anfrage gleich dreimal durchgeben. Er entschuldigte sich sofort:
»Ein Irrtum ... ganz bestimmt ein Irrtum ... was denken Sie denn ...«
»Trotzdem«, antwortete der Luftwaffen-Oberst, der mit dem SS-Adjutanten telefonierte, »bitten wir um eine Meldung, daß
das Kind Hauptmann Steinbach zurückgegeben wurde ... verstehen Sie ...«, setzte er mit einem genüßlichen Lächeln hinzu, »nur eine Formsache, weiter nichts.«
»Selbstverständlich, Herr Oberst.«
So wanderte die Anfrage weiter nach Berlin in das Gebäude des Reichssicherheitshauptamtes, wo gerade
Obersturmbannführer Westroff-Meyer seinem Gruppenführer Rapport erstattete. Die Tatsache, daß man ihn zu allem gebrauchen konnte, hatte ihn rasch vorwärtsgebracht. Er war mit seinem Stab zu einer Art Außenstelle z. b. V. des RSHA 241
avanciert.
Die Miene des SS-Gruppenführers war schläfrig und wohlwollend. Er spielte mit seinem Bleistift.
»Gut, gut, mein lieber Westroff-Meyer ... ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich mit Ihnen zufrieden bin ...«
»Danke, Gruppenführer«, entgegnete der Funktionär schneidig und schnell.
»Machen Sie alles, wie Sie es für richtig halten ... ich verlasse mich auf Sie!« Der SS-General wühlte in seiner Schublade.
»Sie haben wohl sehr viel Temperament, was?« fragte er dann.
»Wieso, Gruppenführer?«
»Na ... da sind Sie einmal ganz schön über das Ziel hinausgeschossen ...«
Westroff-Meyer begriff ihn nicht.
»Ich meine ... in der Sache da ... Steinbach ...«
»Das sind ...«
Der Gruppenführer schnitt ihm das Wort ab:
»Interessiert mich nicht ... der Vater hat auch noch das Ritterkreuz gekriegt.«
»Das ist eine Intrige der Luftwaffe!« tobte der Obersturmbannführer.
»Schon gut ... der Mann scheint an der Front
merkwürdigerweise ganz tüchtig zu sein«, versetzte der SSGeneral mißmutig.
»Aber darum geht es gar nicht ... Sie werden schon Ihre Gründe gehabt haben ...«
»Jawohl, Gruppenführer.«
»Wir wollen keinen Zopf mit der Luftwaffe, verstehen Sie ... ich weiß genau, was das für Burschen sind ... nach dem Krieg 242
...« setzte er hinzu und schnippte mit den Fingern. Er schob seine Schublade mit einem Ruck zurück.
»Aber zuerst müssen wir ihn gewinnen.«
»Sie haben also nichts gegen die Maßnahme als solche, Gruppenführer?« fragte Westroff-Meyer lauernd.
»Aber woher denn ...! Ich will bloß keinen Skandal ... um keinen Preis einen Skandal!«
»Ich verstehe ...«
Der SS-General stand auf.
»Also, mein Lieber, regeln Sie die Sache so unauffällig wie möglich ... geben Sie dem Kerl sein Kind zurück.«
»Jawohl, Gruppenführer ... aber das sind Feinde der Bewegung ... Verräter!« Westroff-Meyer spuckte seinen Wortschatz auf einmal aus.
Der Gruppenführer nickte einsichtig.
»Wir werden schon noch mit den Schweinen fertig! Aber alle können wir auch nicht an einem Tag umlegen ... erst die Juden und die Bolschewiken ... dann greifen wir uns die anderen, nach und nach ... Rom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden ... seien Sie doch nicht so voreilig!«
»Ich werde die Sache erledigen«, sagte Westroff-Meyer. Ein fauler Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Er grinste. Der Gruppenführer sah es und lächelte. Das war ein Mann nach seinem Geschmack: Erstens gehorsam, und zweitens schlau. Und so bedingungslos ...
Er gab dem Obersturmbannführer die Hand. Westroff-Meyer schlug die Hacken zusammen, während seine Gedanken bereits daran bastelten, ein klare Niederlage in einen heimtückischen Sieg zu verwandeln.
Für Doris wird aus Verzweiflung Gewohnheit. Aus der Gewohnheit stumpfes Dahindämmern. Tage genügen, um aus der jungen Frau einen Menschen zu machen, der mit dem 243
Gefühl lebt, daß ihm stets aufs neue ein Glied abgeschlagen würde. Jede Sekunde! Wenn sie das Zimmer betritt, in dem der Kleine atmen und leben müßte. Wenn sie die Schränke öffnet, in denen die Windeln und Höschen übereinanderliegen. Wenn sie bei dem leisesten Geräusch im Haus zusammenzuckt und begreift, daß es weder das Lachen noch das Weinen ihres Kindes war ...
Der RAD hat Doris nunmehr willig entlassen, das Elternhaus sie kühl aufgenommen. Die Fragen prallen von ihr ab. Sie darf ja nicht über ihr Leid sprechen. Schließlich geben es die Angehörigen auf. Die Augenlider der jungen Frau sind durchsichtig geworden, blaugeädert. In den Wimpern hängen keine Tränen mehr. Sie ist leergeweint. So lebt Doris, in sich selbst verschlossen, zurückgezogen, wie in einer Schale. Meist hat sie die Fensterrollos heruntergelassen. Selbst das Licht tut ihr weh.
Jede Bewegung verlangt Oberwindung. Doris ist vom Leben abgeschnitten. Es zieht an ihr vorüber, in Gestalten und Bildern aus flüchtigen Dämpfen. Selbst Klaus, ihr Mann, wurde unwirklich, unwirklich, daß er das Ritterkreuz erhielt, daß er vor dem Genesungsurlaub steht, daß er vielleicht schon heute nach Hause kommt ... heute, nach Hause, zu ihr. Doris ist so apathisch, daß sie nicht einmal mehr Angst vor dem Wiedersehen empfindet. Sie erschrickt nicht bei der Entdeckung, daß sie nicht auf Klaus wartet. Denn alle Kraft zu warten, zu hoffen, zu bangen, ist nur auf ein einziges Wesen gerichtet: auf ihr Kind.
Dann klingelt es. Armer Klaus, denkt Doris, fast mitleidig. Sie geht mit ärmlichen Schritten durch den Korridor der kleinen Wohnung, die er noch nie sah. So anders hätte es sein können, überlegt Doris, und dabei kommen doch wieder ein paar Tränen.
In der Tür stehen drei Menschen. Die Dämmerung des 244
Treppenhauses verzeichnet sie zu Schatten.
»Sie wünschen?« fragt Doris mit trockenen Lippen. Jetzt erst erkennt sie die Polizeiuniform. Der zweite Mann trägt Zivil. Im Hintergrund hält sich eine Frau, eine Schwester.
»Sie sind Frau Steinbach?« fragt der Zivilist. Doris nickt. Sie starrt auf die Schwester, die ein großes, vermummtes Bündel auf dem Arm trägt. Auf einmal schlägt der Puls von Doris rasend.
»Ich komme von der Ortsgruppenleitung«, erklärt der Zivilist. »Wir dürfen einen Moment hereinkommen?«
»Ja«, sagt Doris ohne Ton. Sie muß sich gegen die Tür stützen.
Die Schwester betritt als letzte die Wohnung.
»Wir haben eine Überraschung für Sie«, sagt der Zivilist lächelnd. Er blättert einen Brief auseinander. Da schreit Doris auf. Hell, schrill. In diesem Schrei geht alles unter. Die gedrechselten Worte des Parteifunktionärs. Der Holzkopf des Polizisten. Das Schafsgesicht der Schwester.
»Ich habe den Auftrag ... Ihnen das Kind Klaus zu übergeben
... im Auftrag der Partei ...«
Doris hört nichts mehr. Sie streckt die Arme aus. Ihr Körper zuckt. Sie preßt das Bündel an sich, vergräbt ihr Gesicht. Sie lacht. Sie schluchzt. Sie wird blaß. Die Schwester schiebt ihr rasch einen Stuhl hin.
»Sie müssen das unterschreiben«, sagt der Polizist verlegen. Doris nickt. Aber sie sieht und hört nur ihr Kind. Die Schwester will es ihr solange abnehmen.
»Nein!« sagt Doris sinnlos. Ihr schmaler Körper zittert.
»Aber ... Frau Steinbach ...«, meint der Mann von der Ortsgruppenleitung. Was hat sie bloß? denkt er. Warum nimmt sie denn ihr Kind nicht gleich aus dem Heim mit, wenn sie so 245
an ihm hängt? Verrückt ...
Doris fragt nichts, sagt nichts. Sie wundert sich nicht. Sie will nichts erfahren. Sie weiß nur eines: ihr Kind ist wieder da. Sie setzt zittrig ihren Namen unter ein Schriftstück, auf dem die Buchstaben verschwimmen. Sie unterschreibt, daß sie ordnungsgemäß ihr Kind in Empfang genommen hat. Sie bestätigt, daß es ihr eigenes ist. Nicht einmal Mutterliebe ohne Bürokratie! Aber neben der Freude, die so groß ist, daß sie schmerzt wie die tiefste Trauer, hat kein anderes Gefühl mehr Raum. Das Groteske kommt der jungen Frau nicht zum Bewußtsein: Daß ein infamer Raub auf einem vorgedruckten Formular seine bequeme Bereinigung finden soll. Es ist Doris gleichgültig.
Sie legt zärtlich und vorsichtig beide Hände um das kleine Gesicht in den Kissen. Das Kind greint. Ich muß es gleich wickeln, denkt die junge Mutter.
Die Männer haben ihre Mission erfüllt und werden unruhig. Die Schwester fragt:
»Soll ich Ihnen helfen?«
»Oh, nein«, antwortet Doris fast erschrocken. Dann ist sie endlich allein. Mit einem Wunder. Mit ihrem Kind. Mit dem kleinen Klaus. Verloren und wiedergefunden. Ein Tag genügt, um ein graues Leben in strahlendes Glück zu tauchen. Sie zieht den Kleinen aus, legt ihn in sein winziges Bett. Immer wieder muß sie sich setzen, weil das Gefühl ihre Hände überwältigt. In rasendem Wirbel fällt sie von dem Gipfel des Glücks in die Abgründe des Schreckens. Ist ihm auch nichts geschehen? Ist er ganz gesund? Ist er nicht zu mager? Warum schreit er so wenig?
Sie schleicht sich hundertmal an die Wiege, wenn das Kind schläft. Sie versucht, sich an die ersten Wochen zurückzuerinnern. War er denn so blond? Aber natürlich!
246
Seitdem sind die Haare gewachsen. Er ist doch älter geworden. Und die Lippen sind schon ein wenig breiter. Und die Nase hat sich auch etwas verformt. Aus hundert Zweifeln werden hundert Gewißheiten. Auf und ab, hin und her. Zwei Schalen eines Herzens reiben sich aneinander.
Am Abend kommt der große Klaus. Er findet Doris weinend und verstört am Bett des Kindes. Es ist zuviel für sie. Zuviel des Glücks. Zuerst das Kind. Dann der Mann. Zuerst die Haft, dann das Leben.
Auch Klaus steht ergriffen vor seinem Kind, für das er jede Schlacht schlagen und jeden Krieg gewinnen wollte. Dann weicht die Empfindung einem anderen Gefühl: dem Stolz. Meine Waffengattung denkt er, die Luftwaffe! Er wischt die Vergangenheit von sich, wie die Erinnerung an einen wüsten Traum. Natürlich, sagt er sich, es wäre ja anders gar nicht denkbar gewesen! Mögen diese Burschen von der SS ruhig mal einen Übergriff verüben ... wir sind noch da, die Soldaten der regulären Wehrmacht, der General, seine Offiziere und die Mannschaften. Wir werden mit allen Auswüchsen fertig! Und wir stehen doch zueinander, helfen uns, glauben an das Deutschland, für das wir kämpfen ... im dem es keinen Kindsraub gibt, und in dem die trinkenden, grunzenden Westroff-Meyer zu fahlen, faden Feiglingen werden, die wir nach dem Krieg bekämpfen werden wie tollwütige Hunde ... So stehen sie zusammen vor ihrem Kind: Doris an Klaus gelehnt.
»Er ist größer geworden«, sagt die junge Frau.
»Aber natürlich.« Klaus lächelt. »Kinder entwickeln sich in den ersten Wochen doch ganz rasch ...«
»Mein Gott«, flüstert Doris. Dann schließt sie die Augen. Ihr Kopf sinkt an seinen Waffenrock. So leicht ist ihr auf einmal, so licht, so wohl.
»Ich bin so dankbar«, sagt sie leise.
247
»Ich auch«, erwidert Klaus, »weil du so bist, wie du bist ... und weil er ...«, er deutet auf die Wiege, »weil er auch so ist wie du ...«
Vier Wochen zu dritt. Vier Wochen ohne Sorge, ohne Angst, ohne Trübung, so wie sie es immer erwartet, erträumt haben. Selbst der Luftkrieg macht in diesen Wochen einen Bogen um die süddeutsche Stadt.
So gehen sie nebeneinander her, durch den Park, der ihnen als Kinder soviel bedeutete, und in dem sie sich als Erwachsene fanden. Ein Paar, dem alle nachsehen. Der junge, hochgewachsene Offizier mit dem Ritterkreuz, das alle Blicke magisch auf sich zieht, die junge Frau, die so schwerelos lächeln kann.
Langsam weicht der Traum der Wirklichkeit. Klaus und Doris kommen zu sich, begreifen, daß ihr Zusammensein wirklich, nicht nebulos ist, und werden um so glücklicher. Vierzehn Tage. Drei Wochen. Vier ...
Die Wirklichkeit träumt so lange, bis eines Tages SSObersturmbannführer Westroff-Meyer beschließt, seiner neuen Sekretärin Erika näherzukommen ...
Der hohle Gang verzerrte den Schritt des
Obersturmbannführers Westroff-Meyer zum grotesken Getrampel eines gestiefelten Elefanten. Sein Selbstbewußtsein holperte durch das Gelände. Erika, die blonde Sekretärin, wußte, daß er heute wiederkommen würde. Sie beugte sich erschrocken und trotzig über ihre Schreibmaschine. Das resolute Mädchen hatte den ganzen Tag schon Angst empfunden, Angst vor dem Chef, dessen Sekretärin sie sein mußte. Jetzt kamen die Schritte näher. Sie hämmerten im Rhythmus des Kampfliedes: Wir werden weitermarschieren, bis alles in Scherben fällt ... bis alles in Scherben fällt ... bis alles in Scherben fällt. Erikas Gedanken blieben wie eine Grammophonnadel an der gleichen Stelle stehen. 248
Er riß die Tür auf wie ein Herr über Leben und Tod. Sein Lächeln klebte so schräg im Gesicht wie das Band zum Kriegsverdienstkreuz auf dem Waffenrock, das wie eine blutige Narbe leuchtete.
»Na«, sagte er, »so fleißig noch am Abend?«
»Ich muß meine Rückstände aufarbeiten«, erwiderte Erika, ohne aufzusehen.
»Freut mich, daß Sie Ihre Pflicht so ernst nehmen ...«
Westroff-Meyer bot ihr eine Zigarette an und reichte ihr Feuer. Erika zog den Rauch ein.
»Gefällt es Ihnen bei uns?«
»Gefallen?« antwortete sie, »ich denke, ich bin hier, um zu arbeiten.«
Der Obersturmbannführer lachte jovial. Die erwartete Freizeitgestaltung des heutigen Abends zuckte in seinem Gesicht. Erika sah es, und wieder spürte sie das unangenehme Gefühl. Westroff-Meyer wand sich wie ein hilfloser Galan des Augenblicks.
»Ich bin sehr zufrieden«, entgegnete er, »aber immer kann man auch nicht arbeiten ... ich glaube, es ist an der Zeit, daß
wir uns ... ich meine ... auch einmal menschlich etwas näherkommen ...«
Erika nickte kraftlos.
Er nahm das Wachstuch und stülpte es über die Maschine.
»Schluß für heute!« schmetterte er fröhlich.
Dann holte er den Schnaps. Der Kognak gluckerte wie sein Lachen. Im Zittern seiner Hand schoß die Flüssigkeit über das Ziel hinaus. Ein paar Tropfen kullerten über den Schreibtisch wie Tränen, die zu dieser Behörde gehörten, wie der Nebel zum Sumpf.
»Mögen Sie?« fragte er. Er deutete auf das Glas. 249
»Warum nicht?«
»Also dann: Prost!«
Er stieß ruckartig mit Erika an. Ein Spritzer Kognak schwabbte über ihre Finger.
»Sie gefallen mir«, beteuerte der SS-Offizier mit lauernden Hechtaugen.
»Danke.«
»Ich hoffe, daß auch Sie ... äh ... mit mir nicht ganz unzufrieden sind ...«
»Eitel?«
»Nein«, versetzte er schnell, »für so was habe ich gar keine Zeit ... Sie wissen doch, daß ich rastlos nur ...«
Erika griff nach dem wiedergefüllten Glas.
»Für das Reich, den Führer und das Vaterland ...«, leierte sie herunter. »Prost!«
Noch immer war sein Wohlwollen größer als sein Mißtrauen, und seine Erwartung stärker als alles zusammen. Er schnalzte mit der Zunge. Seine Gedanken verfielen in Dauerlauf. Er schenkte seiner Sekretärin flink und behend nach, wie ein provinzieller Kavalier, dem das Animieren nicht schnell genug geht. Der Obersturmbannführer spürte instinktiv, daß er fehlende Sympathie durch Alkohol ergänzen mußte.
»Prost, Erika!«
»Prost, Obersturmbannführer!«
»Laß doch den Titel ... heute sind wir mal Mensch, nicht?«
»Gerne«, versetzte Erika ungerne.
»Kannst du eigentlich tanzen?«
»Ich weiß nicht, ob meine Beine nicht schon eingerostet sind
...«
»Probieren wir’s aus ...«
»Aber ... wir haben doch Krieg«, erwiderte Erika zögernd. 250
»Quatsch«, sagte Westroff-Meyer brutal. »Ich habe da meine Spezialdiele«, grinste er dann wissend, »und da gibt es alles noch, was es nicht mehr gibt ...«
»Für die oberen Zehntausend wohl?«
Der Obersturmbannführer warf sich in die Brust, die die Uniform wie ein Korsett zusammenschnürte.
»Gehöre ich vielleicht nicht dazu?« prahlte er schnaubend. Westroff-Meyer griff selbst nach dem Telefon und rief den Pförtner an, um seinen Wagen vorfahren zu lassen, dessen Räder heute nicht für den Sieg, sondern für das Vergnügen rollten. Der Fahrer hielt vor dem Seiteneingang eines Luxusrestaurants für Günstlinge und Würdenträger des Regimes, die für den Heldentod zu schade waren, den sie täglich predigten.
Der Oberkellner kam dienernd näher und deutete auf ein Separee.
»Sekt!« sagte Westroff-Meyer noch unterwegs.
Erika schämte sich einen Augenblick, daß sie neben ihm herlief. Aber sie wußte, daß sie keinen Schritt weitergehen würde.
»Staunst du, was?« bemerkte der Obersturmbannführer, als der Kellner den Champagner gebracht hatte. Er sagte abwechselnd ›Du‹ oder ›Sie‹ zu Erika, wie es ihm die Zunge gerade eingab. Erika mußte ihn ansehen. Der Ekel prickelte wie Kohlensäure. In einem kleinen Nebenraum wurde getanzt. Der Obersturmbannführer besorgte das in der Manier eines Holzfällers. Aber er tanzte gern und ausdauernd. Nach der zweiten Flasche fragte er grinsend:
»Wollen wir nicht Bruderschaft trinken?«
»Aber ... das geht doch nicht«, antwortete die Sekretärin ausweichend.
»Hier schon«, gönnerte er, »und im Dienst sagen wir wieder 251
›Sie‹ zueinander, das ist doch klar ...«
Sein Arm streckte sich nach ihren Schultern aus. Erika zuckte zusammen. Die plumpe Annäherung traf sie wie ein Peitschenhieb.
Dann versprachen seine fleischigen Lippen, was er aus seinen Raubzügen zu bieten hatte.
»Du hast mir gleich so gefallen«, sabberte er, »schon damals
... da, im Warthegau ...«
»Hab’ ich aber nicht viel davon gemerkt«, erwiderte Erika, nur um etwas zu sagen.
Er lachte dumm.
»Na, weißt du ... meine Stellung zwingt mir schließlich Zurückhaltung auf ... ich kann doch nicht gleich ...«
»Ich denke, du kannst alles?« Sie war voll Ironie.
»Das schon ...«
»Was ist eigentlich aus den Mädchen von damals geworden?«
»Das siehst du doch jeden Tag ... unser Werk wächst ... die Größe unserer Zeit ...«
Sein Kopf kam ihrem Gesicht näher.
»Na ja«, brummte er, »macht ja nichts, wenn mal ein Blindgänger dabei ist ...«
Der Schnaps machte Erika nun doch vorwitzig und verwegen.
»Ich halte das alles für einen Unfug«, sagte sie.
»Was?« fragte er erstaunt.
»Na, diese Kuppelei ... diese ...«
»Aber hör mal!« versetzte er stupide.
»Und wie würdest du dich verhalten, wenn deine Tochter ... ein Führerkind wollte?«
252
»Hab’ ja gar keine«, antwortete er schlau.
»Und wenn du eine hättest?«
»Hör mal ... sind wir hier, um Politik zu machen, oder um
...«
»Oder um?«
»Prost!« entgegnete er. Seine gute Laune schlug nicht um.
»Warst du nicht aus dem gleichen Lager wie diese ... Doris
... na, wie hieß sie denn gleich?«
»Steinbach?« erwiderte Erika. Sie war sofort hellwach, brachte es fertig zu lächeln.
»Ja, die ...«, sagte er gehässig, »die habe ich fertiggemacht ... richtig fertig!« Er griff nach dem Glas und trank auf seinen Sieg.
»Aber sie hat ihr Kind wieder ...«, entgegnete Erika.
»So ...«, antwortete Westroff-Meyer. Er rieb sich die Hände. Er lachte prustend, »sie hat ihr Kind wieder!« Er schenkte nach. »Du kennst mich schlecht ... du kennst mich ja ganz schlecht, Erika! Du meinst, da kommt so ein Fatzke von der Luftwaffe und legt den alten Westroff-Meyer rein! Denkste!«
Er rückte wieder näher. Diesmal spürte Erika seinen massiven Arm auf ihrer Schulter gar nicht.
»Wieso?« fragte sie.
»Hat sich beschwert, der Affe ... über mich ... daß ich nicht lache!«
»Und hat recht bekommen ...«, stichelte das blonde Mädchen.
»Hat ein Kind zurückbekommen ... stimmt«, antwortete der Obersturmbannführer. Er beugte sich nahe an ihr Ohr, hielt die hohle Hand vor.
»Und weißt du, was für eins?«
Erika schloß die Augen. Nichts anmerken lassen, dachte sie, 253
während sie ihr Herz an den Schläfen spürte.
»Einen Polacken hab’ ich ihr gegeben ... verstehst du ... einen kleinen, stinkigen Polacken!« Er lachte. Zunächst begriff Erika die Ungeheuerlichkeit nicht. Dann wurde sie ihr klar wie einem Verunglückten, der, aus der Ohnmacht erwachend, feststellt, daß ihn ein Lastauto überfahren hat.
»Und das richtige Kind?« fragte sie, fast ohne Stimme.
»Das ist in einem Heim von uns, das ist doch klar ... und der Steinbach hat keine Ahnung ... keine Ahnung!« spuckte er nach. Er nahm das Glas. »Prost!« sagte er.
Zuerst rückte sein Oberkörper näher, dann der Stuhl. Und dann okkupierte sein Arm das erschrockene, zitternde Mädchen ganz. Erika starrte in das Glas. Sie hatte plötzlich Kopfschmerzen, dazu Schwindel, Angst, Ekel, Entsetzen, Panik.
»Bist du schon blau?« fragte er.
»Nein.«
»Herr Ober, noch ’ne Flasche! ... Und dann ...«, setzte Westroff-Meyer flüsternd hinzu, »lassen wir uns noch eine Pulle einpacken und fahren zu mir.«
Erika hörte es nicht. Ihr Bewußtsein war erst wieder da, als die Luftschutzsirenen heulten ...
Sie nahmen dem Obersturmbannführer die Lust auf eine Fortsetzung seines vermeintlichen Abenteuers. Er suchte hastig den Keller auf.
Noch nie war dem blonden, blassen Mädchen der entnervende Nachtgesang dieser Zeit so schön vorgekommen. 254
16. KAPITEL
Diesmal wird das Glück des Fliegerhauptmanns Steinbach und seiner jungen Frau Doris prolongiert. Vom Heimatlazarett. Kurz bevor Klaus an die Front zurück soll, stellt er sich zur Nachuntersuchung. Der Chef, ein alter Zivilarzt, dem der Krieg die Uniform anzog, die der Oberstabsarzt jetzt trägt wie einen schlechtsitzenden Anzug von der Stange, schüttelt den Kopf.
»Nicht viel los mit Ihrem Arm«, sagt Dr. Jäger. Klaus betrachtet ihn fragend. »Bringen wir schon weg ... gefällt mir noch nicht ... muß nachbehandelt werden ... Elektromassage ...«
Klaus nickt.
»So können Sie auf keinen Fall fliegen ... zieht es Sie denn so schnell wieder hinaus?«
»Nein«, erwidert der Fliegeroffizier ehrlich.
»Na also«, antwortet Dr. Jäger, »Sie müssen weiterhin ambulant behandelt werden ... und das können wir hier genauso wie in jedem anderen Lazarett ... ich werde Sie anfordern.«
»Vielen Dank, Herr Oberstabsarzt.«
Dr. Jäger ist schon beim nächsten Patienten. Dann dreht er sich noch einmal um und ruft Klaus halblaut nach:
»Grüßen Sie Ihren Vater!«
Erst auf der Straße erfaßt Klaus den Zusammenhang: der Vater, Dr. Jäger, der Arm, der Urlaub, Doris, das Kind ... Er holt beschwingt aus. Menschen gibt es also auch noch, denkt er, frei von Bitternis. Er hat das Kind, er hat Doris. Der Krieg gewährt ihm eine Schnaufpause in einem Paradies einer ZweiZimmer-Wohnung. Wenn das Kind schreit, löst sich Doris aus seinen Armen, und er sieht ihr lächelnd nach. Und der kleine Klaus wächst 255
und stemmt sich mit schmächtigen Armen in sein Leben. Er zappelt kräftig in den Kissen. Mit einigen Wochen ist er schon ein recht vitaler Bursche; und Klaus und Doris streiten sich, wo er es herhat. Doris, denkt Klaus, während er stürmisch auf die Klingel drückt ...
»Stell dir vor«, ruft er, »ich war beim Arzt ... ich darf hierbleiben!«
»Ja?«
»Ist doch schön auf der Welt!« Er betrachtet Doris, die ein wenig traurig wirkt.
»Hast du was?« fragt er betroffen.
»Nein ... nichts ...« Sie legt den Finger an den Mund. »Pst ... der Kleine ist gerade eingeschlafen ...«
Es dauert noch eine Weile, bis Doris zögernd beginnt.
»Klaus ... du weißt doch, daß ich eine sehr schwere Entbindung hatte.«
»Und?« fragt Klaus.
»Ich ... ich war heute auch beim Arzt.«
»Beim Arzt?«
»Ja ... ich muß dir etwas sagen ...« Ihr Gesicht wird einen Augenblick vom Ernst überzogen, daß Klaus erschrickt.
»Was ist denn?« fragt er mit klammer Zunge.
»Klaus ... wir werden kein Kind mehr haben ... verstehst du
... der Arzt meint ...«
Die junge Frau nickt.
»Ja ... wir haben eins ...«, wiederholt sie, »und wir müssen ganz fest auf den Jungen aufpassen ... Es wird unser einziger sein ... Bist du nun enttäuscht?«
»Aber Doris«, Klaus lächelt sich frei, »glaubst du, ich will einen ganzen Kindergarten aufmachen?«
»Dann ist ja alles gut«, entgegnet die junge Frau. 256
»Dummkopf«, sagt Klaus zärtlich.
Die ambulante Behandlung dauert noch acht Wochen. In der Zwischenzeit wird die Einheit des jungen Offiziers auf andere Geschwader verteilt. Je hoffnungsloser die Luftlage wird, desto mehr gruppiert die Luftwaffe um. Der Bomberkrieg erfindet eine neue Waffengattung: die Nachtjägerei. Zweimotorige Maschinen, deren Einsatzhäfen in Deutschland liegen. Sie starten nachts, von Scheinwerfern geleitet, von Alarmnachrichten gelenkt, in hoffnungsloser Minderzahl, die zur Regel wird.
Klaus zögert nicht, als man ihn fragt, ob er bereit sei, sich zur Verfügung zu stellen. Nach ein paar Wochen Ausbildung stationiert man ihn in der Nähe der Reichshauptstadt. Von nun an findet für den jungen Offizier der Krieg in der Heimat statt. Jeweils abends ab 22 Uhr.
»Klaus ...«, sagt Doris beim Abschied, »ich komme mit ... nach Berlin ...«
»Aber das ist doch zu gefährlich ... und das Kind ...«
»Aber die anderen Frauen deiner Staffel sind doch auch bei ihren Männern.«
Klaus schüttelt den Kopf. Aber dann bettelt er sich selbst ein paar Wochen ab.
So übersiedeln sie alle drei nach Berlin. Aber Klaus ist entschlossen, Doris und das Kind bald nach Oberbayern zu evakuieren.
Zum erstenmal in ihrem Leben war Erika in einer Situation, aus der sie keinen Ausweg wußte. Im ersten Impuls wollte sie zu Doris fahren und den ungeheuerlichen Betrug aufdecken. Dann dachte sie nach. Westroff-Meyer assistierte ihr dabei am nächsten Morgen, ohne es zu wollen.
Er schielte sie von unten an. Seine Miene war tückisch. An die Annäherungsversuche der vergangenen Nacht erinnerten 257
nur noch die zerknitterten Züge des eingefressenen Katzenjammers.
Aber der Obersturmbannführer hatte längst gelernt, peinliche Blößen zu ignorieren.
»Übrigens«, sagte er beiläufig, »unser gestriges Gespräch war natürlich vertraulich.«
»Weiß ich, Obersturmbannführer«, entgegnete das Mädchen sarkastisch.
Er betrachtete sie böse.
»Sie wissen ja, was darauf steht, wenn man
Dienstgeheimnisse fahrlässig verletzt? ... Na ja«, schränkte er, eine Nuance freundlicher, seine Drohung ein, »ich hätte es Ihnen ja gar nicht erzählen sollen.«
Erika nickte.
»Im übrigen war es sehr nett ...« Seine Handbewegung entließ die Sekretärin.
Ich kann es ihr ja gar nicht sagen, überlegte Erika, die Tür ist zugeschlagen. Selbst wenn Doris um die Vertauschung ihres Kindes wüßte, könnte sie nichts unternehmen. Mut und Verstand kämpften, ohne sich einander zu nähern. Wie die Entscheidung auch ausfiel, ob Erika Doris verständigte oder nicht: Entweder handelte sie mutig und unklug, oder vernünftig und feige.
Hundertmal wägte sie die Gründe ab. Aber es gab keine Lösung. Und sooft es Erika feststellte, warf sie sich vor: Hinter dir steht nur die eigene Angst. Sie wuchs und wucherte wie ein Schlinggewächs. So war auch Erika in die Umklammerung des Schicksals geraten und kam nicht mehr los. Es bürdete der Sekretärin eine Verantwortung auf, die sie nicht wollte. Sie hatte kein eigenes Kind. Aber sie hielt das Schicksal eines fremden in der Hand.
Der Brief, den sie in der Hand hielt, wies den Weg. Eine 258
unbekannte Mutter aus dem Osten, deren Kind nach Deutschland verschleppt worden war, hatte ihn geschrieben; er war anonym wie das Leid der Zeit.
»Solange ich noch glauben konnte«, schrieb die Verzweifelte, »daß mein Kind umgekommen ist, war mein Schmerz groß. Aber in allem, was endgültig ist, steckt ein Stück Trost. Jetzt hat man mir auch diesen Frieden genommen. Nun sind Qual und Trauer andauernd, täglich und endlos ...«
Erika wurde ganz still, als sie den Brief gelesen hatte. Sie begriff, daß sie sich keinem Zynismus hingab, wenn sie Doris in ihrem Irrtum glücklich ließ. Aber sie wollte nicht selbst darüber entscheiden. Es gab einen Menschen auf der Welt, an den sie den Entschluß abtreten mußte: Klaus Steinbach. Das Risiko, das Erika dabei selbst einging, schien ihr, gemessen an der einfachen, menschlichen Pflicht, gering.
Unter der Hand forschte sie nach dem Fliegerhauptmann. Sie erhielt seine Adresse. Sie war erschrocken und erleichtert zugleich, als sie erfuhr, daß der Offizier inzwischen zu einem Nachtjagdgeschwader versetzt worden und auf einem Fliegerhorst in der Nähe Berlins stationiert war. Erika hatte nicht geahnt, daß sie ihre Bürde mit dem Vorortszug abliefern konnte.
Sie verzögerte die Begegnung. Und dann suchte sie sie ruckartig, damit sie nicht mehr umkehren konnte. Von der Endstation aus brachte sie ein Omnibus zur Kommandantur. Als sie der Wache den Namen Steinbachs nannte, zuckte sie zusammen.
Sie mußte nur drei Minuten warten, dann kam ihr der lange Hauptmann unbekümmert pfeifend entgegen.
»Ach, Sie sind da«, rief er schon von weitem, »das ist aber eine Überraschung! Wo kommen Sie denn her? Wie geht’s denn? Doris wohnt auch in Berlin inzwischen. Aber nun erzählen Sie doch ...«
259
Das blonde Mädchen schluckte.
»So ...«, wiederholte Erika schleppend, »Doris ist auch in Berlin ...«
»Ja ... wie haben Sie mich denn gefunden? ... Wo brennt’s?«
Er hängte sich bei ihr ein und zog sie von den neugierig gaffenden Posten weg. »Wo stecken Sie?«
»In Berlin.«
»Was treiben Sie da?«
»Ach ... viel Arbeit ...«, erwiderte Erika ausweichend.
»Wo denn?«
»Büro.«
»Trinken wir einen Kaffee miteinander?« fragte er schnell.
»Gerne«, versetzte Erika mechanisch.
In der ersten Viertelstunde kam sie über spröde Silben nicht hinaus.
»Sie müssen das Kind sehen ...«, Klaus lächelte. Mein Gott, dachte Erika, so schlimm ist das? Einen Moment lang nahm sie sich vor, den Weg der Vernunft zu gehen, deren Komplice die Feigheit war. Sie griff nach ihrer Puderdose und merkte, wie ihre Hand zitterte. Der flimmernde Spiegel warf angstvolle, unnatürlich große Augen zurück.
»Was haben Sie denn?« fragte Klaus, »Sorgen?«
Erika nickte. Sie sah sich um. Am Nebentisch saßen ein paar Soldaten und reckten die Hälse.
»Klaus ...«, begann sie und nannte den Hauptmann unwillkürlich beim Vornamen. »Es geht nicht um mich ... um Sie ... um Doris ...« Jetzt bettelten ihre Augen. Seine Hand schob die Tasse weg. Sein Gesicht spannte sich. Er nickte.
»Ich wurde dienstverpflichtet ... zuerst Lebensborn ... dann Reichssicherheitshauptamt ...« Erika sprang ins Wasser. »Ich 260
bin die Sekretärin von Westroff-Meyer«, sagte sie hart.
»Ach so ...«, entgegnete Klaus leise. Ein Schatten lief über sein Gesicht.
»Ja ... ich, ich kann nichts dafür ...«
»Aber nun sagen Sie schon, was Sie auf dem Herzen haben
...«, antwortete Klaus mit einem matten Versuch, burschikos zu sein.
»O Gott«, erwiderte Erika leise. Ihr Kopf sank nach unten. Aber sie nahm sich zusammen. Unheimlich. Sie sah in das bestürzte Gesicht von Klaus. Ihre Gedanken wollten ausbrechen, aber ihr Mund behielt Charakter. Der Damm brach. Der Strom floß. Und das junge Mädchen sprach in Wirbeln, Wellen, Wasserstürzen.
»Sie müssen es wissen ... aber Sie dürfen den Kopf nicht verlieren ... sonst gibt es ein entsetzliches Unglück ... Sie müssen auch an Doris denken ... und an sich selbst ... jetzt können Sie gar nichts machen ... nach dem Krieg vielleicht ... wenigstens, wenn er verloren wird ...«
Bei diesem Stichwort wurde sie ruhig. Und nun sprach sie, logisch, gelassen. Ein paarmal sah sie sich um. Verschwommen kam sie sich irgendwie vor wie ein Landesverräter, der dem feindlichen Agenten Nachrichten zusteckt. So weit hatte es die Bewegung gebracht: daß man Menschlichkeit als Verrat empfinden konnte!
»Das Kind ... das man Ihnen gab ...«, fuhr Erika fort, »ist nicht ... Ihr Kind ...«
Klaus saß kerzengerade, winkelte leicht die Arme ab. Er kaute auf Worten, auf Fragen, auf irren, sich jagenden Gedanken, die sich weder im Kopf noch auf der Zunge ordnen ließen.
Und Erika sprach weiter. Auch Ewigkeiten mußten ausgefüllt werden, und wenn nur damit, daß das Gesicht eines 261
Mannes langsam verfiel. Er sagte kein Wort. Er nickte, langsam, ergeben, in sich hinein, als wollte er nur feststellen, wie ausweglos dieses Leben ist.
»Doris darf nichts wissen«, sagte Erika, »sie soll nichts erfahren ... ich ... ich weiß, wo Ihr Kind ist ... ich laß es nicht aus den Augen ... ich werde es verfolgen ... ich ... verstehen Sie, Klaus ...« Sie sah auf. Sie starrte in eine Maske ohne Ausdruck.
»Und ... ich sage es Ihnen immer ... alles ... aber Sie dürfen nichts unternehmen ... es hätte keinen Sinn ... Sie dürfen es ja nicht einmal wissen ...«
»Ja«, sagte Klaus nach einer endlosen Pause.
Er kam langsam zu sich, wie ein Gestürzter, der im Abgrund wieder die ersten Schritte riskiert.
Er stand auf, begleitete das Mädchen bis zur
Omnibushaltestelle. Er wollte sich bedanken. Er konnte es nicht. Ihre Mundwinkel zuckten. Erika wollte tapfer bleiben. Sie umkrallte ihre Handtasche.
Als sie längst im Bus war, spürte sie noch seine Hand, die ihr leicht über den Kopf fuhr, und hörte sie seine Worte:
»Nicht weinen, Erika«, sagte er immer wieder, »nicht weinen ...«
Auf einmal empfindet Klaus Steinbach fürchterliche Angst. Vor dem Wiedersehen mit Doris. Er hat heute frei, könnte nach Hause. Aber er wagt es nicht. Er liegt auf seinem Feldbett und starrt an die Decke. Dann geht er ins Kasino und stiert auf den Boden. So wird es morgen sein und übermorgen. Klaus vergräbt sich auf dem Flugplatz.
Endlich telefoniert er mit Doris. Der Hörer wiegt wie Blei in der Hand.
»Nein«, sagt er heiser, »ich muß hierbleiben ... wir haben Sitzbereitschaft.«
262
Die Lüge ist besser als die Wahrheit. Alles ist besser. Daran muß sich Klaus erst gewöhnen. Im Großen wie im Kleinen. Er fürchtet, bei Doris nicht durchhalten zu können. Er hat Angst davor, sein Kind wiederzusehen. Sein Kind?
Er lacht bitter. Im nächsten Moment schämt er sich. Dieses Kind kann nichts dafür. Und Klaus schwört, es großzuziehen wie sein eigenes. Es soll nichts merken. Es wird nichts erfahren. Niemand braucht etwas zu wissen.
Dann verspinnt sich Angst zu Träumen. Klaus sieht den Tag vor sich, an dem er dem Entführer seinen eigenen Sohn entreißen wird. Die beiden Kinder sollen gemeinsam aufwachsen, wie Geschwister.
Wann?
Klaus kann sich nicht länger vor Doris verstecken. Der kurze Weg zu ihr ist ein paar Stunden weit. Sie ist zu Hause.
»Ich hatte so Angst«, sagt sie.
Er streichelt ihre Haare. Sie sieht ihm in die Augen.
»Es ist viel schlimmer, daß du hier bist«, klagt die junge Frau, »bei jedem Fliegeralarm werde ich verrückt vor Angst.«
»Aber Doris«, erwidert Klaus, »wir fliegen ja noch gar keine Einsätze ... ich schule doch erst noch auf der neuen Maschine.«
»Wie lange noch?«
»Doris«, sagt er dann, »du weißt, daß du wegmußt ... nach Oberbayern oder Tirol ... sonst müßte ich dich mit Gewalt wegschaffen lassen ...« Seine Drohung klingt gequält. Doris zieht ihn mit sich. Ins Kinderzimmer. Der Augenblick, den Klaus hundertmal in Gedanken erlebte, ist da. Er steht vor der Wiege wie ein Fremder. Er will es verbergen und wird nur noch linkischer.
»Sieh mal«, lächelt Doris glücklich, »jetzt greift er schon ganz richtig.«
Die kleinen Arme fuchteln in der Luft. Die winzigen Hände 263
krallen sich in eine Zelluloidrassel.
»Ja«, antwortet Klaus mechanisch. Er tritt an das Fenster, sieht mit leerem, hohlem Blick auf die Straße. Doris beugt sich über das Kind, hebt die Rassel. »Sieh doch mal«, bittet sie. Klaus dreht sich nicht um. »Wenn er lacht, hat er deinen Mund ...«
Endlich geht Klaus vom Fenster weg. Er starrt auf das Bettchen. Doris betrachtet ihn lächelnd. »Findest du nicht?«
»Was?«
»Daß er deinen Mund hat?« »Vielleicht«, versetzt er zerstreut.
Langsam richtet sich Doris aus ihrer Hockstellung auf. Sie schaut ihn prüfend an.
»Ist etwas los, Klaus?« fragt sie.
»Nein.« Das Wort schwebt kraftlos in der Luft. Lügen muß
Klaus noch lernen.
»Du bist ein unbegabter Vater«, sagt Doris schmollend. »Ich
... ich möchte etwas trinken«, erwiderte er mit gesenktem Kopf,
»haben wir einen Kognak ... oder so etwas?«
Er ist fertig mit den Nerven, denkt Doris, während sie in seinem Gesicht forscht. Aber es entgleitet ihr wie eine Erinnerung, die sich in plötzliches Vergessen senkt. So kann die junge Frau nichts entziffern. Klaus wendet sich hastig ab.
»Nicht böse sein«, entgegnet Doris, »ich weiß ja, daß du ganz andere Dinge im Kopf hast ... aber Mütter sind nun mal so
...« Sie geht auf ihn zu und legt ihren Arm auf seine Schulter.
»Ich möchte doch nur, daß du an deinem Jungen Freude hast
...«
»Die habe ich doch«, entgegnet er heftig. Er preßt seine Hände gegen die Schläfen. »Glaub mir doch ...«, setzt er gequält hinzu.
Er geht zur Vitrine und holt den Schnaps. Er schenkt sich ein 264
und kippt ihn hinunter. Doris bemerkt, wie seine Hand zittert. Ihr Blick streift sein Gesicht und findet es fremd und alt. Da erschrickt die junge Frau und weiß nicht warum ... Die Maschine donnert durch die Nacht. Die Augen des Hauptmanns Steinbach hängen an den Instrumenten. Die Ohren seines Funkers kleben an den Kopfhörern. Durch die Kanzel der Ju 288 geistert fahles, grünlich-blaues Licht. Die Männer jagen durch die Nacht wie durch einen Tunnel. Er hat nur einen Ausgang: den Feind. Das sind heute, um 22 Uhr 35, zwei alliierte Bombengeschwader mit Kurs Berlin. Für die deutschen Nachtjäger wird das Kommando am Himmel zum Himmelfahrtskommando.
Klaus hat schmale Lippen. Seine Gedanken sind in Bayern, wohin Doris und das fremde Kind, das das eigene zu sein hat, evakuiert wurden. Seitdem ist Klaus wie erlöst. Erstens weiß er seine junge Frau außerhalb der Gefahrenzone des Luftkrieges, und dann endete eine Zeit, in der zwangsläufig jede Begegnung befangen, jede Geste verkrampft und jedes Wort verlogen waren.
Der Funker dreht gleichmütig an den Skalen. Plötzlich zieht er die Schultern hoch, kriecht fast in seine Instrumente hinein. Das Bordsprechgerät rauscht.
»Jetzt sind’s schon drei!« ruft der Funker. »Was ... drei?«
fragt Klaus mechanisch.
»Noch ein dritter Verband ist eingeflogen ... im Süden ... geht uns nichts an«, brummt der Oberfeldwebel. Nein, denkt Klaus, der hundertfache Tod geht uns nichts an. Im Gedanken an Doris umkrampft er das Höhensteuer. Der Ruck überträgt sich auf die Maschine. Sie macht einen Satz. In der nächsten Sekunde jagt ein schwarzer Schatten unter ihnen durch die stockdunkle Nacht.
»Hast du das gesehen?« brüllt der Oberfeldwebel entsetzt. 265
Klaus nickt. Um ein Haar hätte es einen Zusammenstoß
gegeben. Und weiter zieht die Maschine. Die vier Soldaten der Besatzung sind Automaten in einem Automaten, mit zweckgebundenen Bewegungen, mit zweckbestimmtem Auftrag. Die Funktion: Druck auf die Knöpfe. Die Kanonen schießen automatisch. Das Töten vollzieht sich von selbst. Wie das Getötetwerden.
Die Funksprechgeräte quietschen und pfeifen. An diesem dünnen Stakkato tastet sich die Maschine Steinbachs an den Feind. Von Planquadrat zu Planquadrat. Von Minute zu Minute. Am Himmel, der zur Hölle wird.
Dabei ist Klaus weggetreten. Mit dem Kopf. Er sieht sich wieder in dem Büro mit der hohen Decke, dem Notar gegenüber, den ihm der Vater empfahl. Der Mann hörte ihm schweigend zu. Sein Gesicht war gequält. Seine Augen wurden müde und sein Mut mürbe, als er das Schriftstück aufsetzte:
»Nach meinem Tode zu öffnen«, stand darauf.
Dann erst soll Doris erfahren, daß ihr der
Obersturmbannführer Westroff-Meyer das eigene Kind genommen hat.
Nach der Unterzeichnung des Dokuments standen sich Klaus und der Notar ein paar Minuten schweigend, wie unschlüssig gegenüber.
»Und dafür müssen Sie noch kämpfen«, sagte der Beamte schließlich, »ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist.«
»Geht schon«, antwortete Klaus.
Der Notar atmete schwer.
»Diese Bande! ... diese gottverfluchte Bande!« stöhnte er. Sein Gesicht zuckte. »Ich war im Ersten Weltkrieg vier Jahre an der Front ... ich bin ein harter, alter Mann ... ich hab in meinem ganzen Leben noch nie geweint ...«, quetschte er hervor, während er den Kopf leicht abwandte, damit der 266
Offizier seine nassen Augen nicht sehen konnte. Klaus starrte ihm auf den Rockaufschlag. Unbewußt irritierte ihn etwas. Erst als er verloren und zerstreut über die Straße ging, wußte er, daß es das Parteiabzeichen war, das der Notar trug.
»Achtung!« dröhnt plötzlich die Stimme des Leitoffiziers von der Bodenstelle, »jetzt sind Sie dran!«
Klaus schreckt hoch. Die Mattglasscheibe des
Funkmeßgeräts leuchtet auf. Milchig. Grießig. Flimmernd. Jetzt heißt es, selbst in diesem trüben Brei fischen. Die Bodenstelle schaltet ab. Die Spannung zittert mit dem bläulichen Licht. Klaus beugt den Kopf nach vorne, starrt durch das Kanzelglas in die Nacht, aus der der Schatten eines Bomberverbands auftauchen muß. Die Abgasflammen. Die Mündungsblitze.
Die Luft ist stickig, Öldunst legt sich auf die Lungen. Der Oberfeldwebel hustet. Das Geräusch bellt hart und reißend. Nichts. Drei Minuten, fünf. Die Stille ist lauter als das Dröhnen der Maschine.
Da zuckt ein Blitz durch die Kanzel, frißt sich fest, bleibt gleißend stehen. Klaus schließt die Augen. Der stechende Schmerz auf der Iris macht ihm klar, daß er in einen Scheinwerferstrahl geriet. Explosionswellen jagen an der Maschine vorbei.
»Sauladen!« schimpfte der Oberfeldwebel. Die Angst hantelt sich an einem Fluch über den Abgrund.
Die eigene Flak knallt. Der Tod spuckt Splitter aus dem brennenden Maul. Klaus stellt die Maschine auf den Kopf, trudelt, fängt ab, Sturzflug. Steilkurve ... Der Scheinwerferstrahl tastet suchend hinterher. Vergeblich. Klaus sucht das Planquadrat ab, geht auf Ostkurs. Da müssen sie sein, überlegt er.
»Wir können doch hier warten«, sagt der Oberfeldwebel. 267
»Wieso?«
»Bis sie zurückkommen ...«
Klaus schüttelt den Kopf.
»Herr Hauptmann«, ruft der Portepeeträger, »wenn sie ihren Dreck abgeschmissen haben, sind sie gemolken – das ist doch ne Lebensversicherung ... sonst fliegen uns die Klamotten um die Ohren, wenn sie beim Abschuß explodieren ...«
Gemolken, denkt Klaus bitter. Man lernt nicht aus. Und wenn sie gemolken sind, mußten wieder ein paar hundert Menschen sterben, da unten, auf der gequälten Erde. Dann stößt die Ju auf den ersten Verband. Vor dem zuckenden, feurigen Hintergrund Berlins. Der Fahrtwind heult in den Flächen. Die Maschine vibriert. Klaus duckt sich nach unten, setzt hinter den Verband. Dann zieht er hoch, genau in den Pulk hinein, der jetzt über ihm orgelt.
»Leck mich am Arsch!« schreit der Oberfeldwebel, um sich Luft zu machen.
In der nächsten Sekunde rasseln die Kanonen. Klaus sieht den Umriß der riesigen Schwinge. Die ›Lancaster‹ hält Kurs, als ob sie von einem Draht gezogen würde. Die Ketten der Granaten fahren wie verlöschende Funken in ihren schwarzen Bauch.
Abdrehen, stöhnt der Oberfeldwebel in Gedanken. Ein Wahnsinniger sitzt am Knüppel. Herrgott, muß ich denn immer dabeisein, wenn ein Narr fliegt!
Ein riesiger Blitz fährt aus dem krepierenden Bomber. Die eigene Last zerfetzt ihn zu silbrigen Aluminiumfetzen. Der Blitz wird zur Kugel, die wächst und wächst.
Klaus fühlt das Reißen der Gurte. Dann eine große, taumelnde Leere. Es ist ganz still. Wie tief unter Wasser. Der Druck auf den Ohren. Du mußt abfangen ... abfangen, meldet sich der Roboter in ihm.
268
Es gelingt. Der Automat funktioniert. Irgendwo, ein paar hundert Meter vor dem krachenden Ende, richtet sich die Maschine wieder auf, die von der Bombenexplosion wie ein welkes Blatt verweht wurde.
Der Funker sammelt seine Apparate ein. Die Nacht zischt und rattert, sendet Notschreie und Befehle. Der Tod ist allgegenwärtig. Und nur die Führer haben einen sicheren Bunker.
Hauptmann Steinbach ist auf neuem Kurs. Berlin darf er nicht überfliegen. Sperrzone für die Flak. Der Todesreigen tanzt nach Norden.
»Neustrelitz«, meldet der Funker.
Der Name rollt Klaus wie ein Stein über den Magen. Neustrelitz, denkt er, das Heim, das Kind, das richtige, nur ein paar Kilometer ...
Über die Skala des Funkmeßgeräts schwimmt ein schwacher Schatten.
»Wir haben einen!« brüllt der Oberfeldwebel. Der Umriß
wird fest. Der Nachtjäger holt die Feindmaschine langsam ein. Klaus starrt auf das Radarbild. Seine nassen Hände tasten nach dem Kanonenknopf.
»Wir haben Glück!« lacht der Funker, »das ist ein Lahmer!
Der hinkt hinter dem Pulk her!«
Das Kind, denkt Klaus, da unten, irgendwo. Und er stellt sich vor, wie die viermotorige Maschine auf das Heim stürzt. Unsinn, weist er sich zurecht.
Der Schatten wird ein dunkler Knoten. Der Oberfeldwebel rutscht weit nach vorne, sichert in die Nacht hinaus. Die Hände von Klaus zucken fahrig über das Höhensteuer. Nein, denkt er, nein! Gegen die plötzliche, panische Angst gibt es kein Argument der Vernunft.
Klaus läßt die milchige Scheibe verschwimmen. Oder ist er 269
schon so nahe, daß der Punkt sich wieder auflöst? Der junge Offizier kann nichts mehr unterscheiden; nicht den Mut von der Feigheit, nicht die Angst von der Vernunft. »Da ist er!«
schreit der Oberfeldwebel.
Klaus sitzt wie gelähmt. Ein Bergsteiger, den der Schwindel kurz vor dem Gipfel überwältigt. Mein Kind, denkt er. Seine Hände werden klamm.
»Schießen, Herr Hauptmann!« schreit der Funker. »Sie müssen schießen!«
Der Schweiß rinnt Klaus in den Kragen. Wenn die Maschine bloß im Garten detoniert, überlegt er fahrig. »Schießen!«
Die Auspuffflammen des lahmen englischen Bombers tanzen in der Luft wie Irrlichter über dem Moor. Vorbei. Schwimmen zur Seite. Werden von der Nacht verschluckt.
Klaus dreht mit einer sanften Steilkurve ab. So leicht, als streichle er seinem Sohn über den Kopf.
»Warum denn das?« fragt der Oberfeldwebel mit offenem Mund.
Eine halbe Stunde später landet die Maschine auf dem EHafen. Klaus geht mit gesenktem Kopf an seiner Besatzung vorbei. Die Männer sehen ihm nach.
»Hasardeur«, murmelt der Funker, der an den ersten Luftkampf denkt.
»Feigling!« zischt der Portepeeträger, der den lahmen, britischen Vogel vor Augen hat.
»Scheiße!« sagt der Mechaniker, während er mit den Fingern die Löcher an der Bordwand abtastet, die Flak und Bombensplitter gerissen haben.
Auf der langgestreckten Balkonterrasse stehen die Betten. Durch ihre Stäbe sehen sie aus wie kleine Käfige. In jedem Käfig liegt ein Kind. Eigentum des Reiches, geplant von der Wiege bis zum Massengrab. Das Heim liegt im südlichen 270
Mecklenburg. Es ist tadellos geführt. Funktionäre á la Westroff-Meyer haben festgelegt, wie viele Vitamine die Kleinen erhalten und ab wann ihnen die Kernsprüche des Systems einzuhämmern sind. Der Grießbrei ist mit Ovomaltine gewürzt, und selbst die Zimmer der Kleinkinder sind schon mit Spruchbändern geschmückt.
›Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder !‹
Der Säugling nimmt diese Forderung nachdenklich am Daumen lutschend in sich auf.
›Flink wie Windhunde‹, heißt es auf der anderen Seite, als ob die Einjährigen unter dieser Parole laufen lernen sollten. Säuglingsschwestern stehen zur Verfügung. Die Ammen sind erste Wahl. Das Heim selbst wirkt großzügig und blitzsauber. Alles ist vorhanden.
Nur die Liebe fehlt ...
Der Staat ist der eiskalte Vater der Kinder und die Bewegung ihre Rabenmutter. An ihrem Laufstall sollen die Kinder entlanggehen von den Windeln bis zur SS-Uniform. Noch merken sie nicht, was ihnen fehlt. Auch nicht der unter anderem Nachnamen registrierte kleine Klaus Steinbach, von dem seine Mutter nichts weiß.
Für heute ist eine Besichtigung angesagt: Besucher, die vielleicht ein Kind adoptieren werden, begleitet von einer Sekretärin aus der Berliner Zentrale. Es ist Erika. Sie hat sich den Auftrag über SS-Obersturmbannführer Westroff-Meyer verschafft, weil sie einem Vater Gelegenheit geben will, sein Kind zu sehen, das er nicht kennen darf.
Klaus Steinbach sitzt wie benommen im Wagen. Seit die Erika resolut bei ihm war und fragte: »Wollen Sie Ihr Kind sehen?« konnte er keinen anderen Gedanken mehr fassen.
»Klaus ...«, sagt das Mädchen, »vielleicht ist es ganz falsch, was ich mache ... nehmen Sie sich zusammen ... Westroff271 Meyer darf es niemals erfahren, daß ich Sie mitgenommen habe.«
Der Hauptmann nickt. Der Wagen hat sein Ziel erreicht. Der Fahrer bremst auf dem Kiesplatz. Die Heimleiterin, die schon am Eingang lauerte, kommt eilig näher. Sie grüßt mit ausgestrecktem Arm. Ihre Haartracht ist so germanisch wie die silberne Runen-Brosche auf der flachen Brust. Sie betreten die Halle des Kinderheims, folgen der Vorsteherin durch die Kinderzimmer, über die Terrassen, durch die Küche, in den ersten Stock, in den zweiten. Sie weist das Spielzeug vor, die sauber geordneten Waschlappen in den Waschräumen, die Spinde, die leeren Betten, an denen Zettel hängen:
›Siegfried ... Kunigunde ... Freya ... Hadubrand ... Etzel ... Dietbert ... Sieglinde ...‹
Die Namen kommen aus dem braunen Taufbecken. Dann geht es in die Schlafzimmer der Jüngsten. Klaus muß sich mit Gewalt zusammennehmen. Die Erregung schnürt ihm den Atem ab. Erika sieht seine Verwirrung und drückt schnell seinen Arm. Er nickt ihr zu. Seine Miene lächelt, ohne daß er es merkt.
Eine Tür wird aufgestoßen. Im nächsten Moment steht Hauptmann Steinbach vor seinem Kind. Zwei kleine Fäuste klammern sich um ein weißes Laken. Er sieht die blonden Strähnen. Der Schöpf ist noch viel dichter geworden. Klaus fragt nicht, zögert nicht. Er blickt in das kleine Gesicht, und er weiß, daß das sein Junge ist. Vielleicht erkennt er ihn unter dem geheimnisvollen Signalement des Blutes.
Er bewegt wortlos die Lippen. Seine Augen gleiten ab. Erika fängt diesen furchtbaren Blick auf, den sie nie vergessen wird. Es sind die hilflosen, erbarmungswürdigen Augen eines Menschen, der seine Peiniger um Hilfe bittet. Das junge Mädchen begreift, was in diesen Sekunden 272
geschieht. Sie möchte die Hände des Offiziers nehmen, ihm zusprechen. Sie kann es nicht. Die Vorsteherin darf nicht argwöhnisch werden. Auf einmal quält sich Erika selbst mit Vorwürfen. Sie hätte voraussehen müssen, welche Tortur sie Klaus zumutet.
Die Heimleiterin tritt an das Bett.
»Na, Klaus ...«, sagt sie, deren Kinderliebe durch ein amtliches Diplom bescheinigt ist, »zeig doch mal, wie hübsch du bist.«
Sie zieht das Kind in die Höhe, nimmt es auf den Arm.
»Wir können schon sitzen«, beteuert die Vorsteherin, »und bald können wir auch stehen.«
»Klaus heißt er?« fragt der Hauptmann mit einer Stimme, die er noch niemals hörte. Dann geht er langsam auf sein Kind zu.
»Ein ganz besonders schöner Klaus«, albert die Heimleiterin. Das Gesicht des Offiziers wird kantig. Er muß die Hand, durch die ein Strom zuckt, ins Koppel hängen. Er muß die andere Faust ballen.
»Bitte ...«, sagt Erika ganz leise.
Klaus sieht in ihre klaren Augen, schüttelt langsam den Kopf, wie um einen Druck loszuwerden.
Und dann sieht er seinen Sohn lächeln. Die Arme des Kindes tasten mit seltsamen Griffen nach vorne. Der Hauptmann schwankt leicht. Er muß die Zehen in den Stiefeln zusammenkrampfen.
»Ja, sag doch dem Onkel guten Tag«, girrt die Vorsteherin. Erika tritt einen Schritt zurück. Sie kann das Schauspiel nicht mehr aushalten.
Das Kind tastet lächelnd nach seinem Vater.
»Das ist wohl der Orden, den er sieht«, erklärt die Heimleiterin, »das Ritterkreuz ...«
273
»So ...?« fragt Klaus gedehnt.
In diesem Moment steht er mit hängenden Armen vor seinem Kind, möchte es an sich reißen, pressen, drücken, möchte ...
Ganz langsam greift er sich an den Hals, stülpt den Kragen hoch, knöpft den Verschluß des Ordensbandes auf. Dann hält er das glitzernde Kreuz in der Hand, streckt es dem Kinde entgegen. Der Kleine strahlt über das pausbäckige Gesicht, patscht aufgeregt nach dem blitzenden Metall.
»Wenn es ihm gefällt ...«, sagt Klaus mit ruhiger Stimme,
»dann kann er es haben ...«
Das Kind hat das Band ergriffen. Klaus läßt es los. Die Vorsteherin betrachtet entgeistert die Szene.
»Aber, Herr Hauptmann«, stammelt sie, »Sie können doch nicht ... der Orden ... vom Führer ...« Auf ihren dünnen Backen stehen helle, rote Flecken.
»Warum nicht?« fragt Klaus hart. Auf einmal empfindet er eine unendliche Genugtuung, »ich kann mir ein neues kaufen
... gibt’s in jedem Laden ... elf Mark achtzig ...«
Die Heimleiterin fingert an ihren Haaren.
»Das geht doch nicht ...«, jammert sie.
»Es geht«, versetzt Klaus. Es klingt härter als ein Befehl. Die Heimleiterin legt das Kind in das Bett zurück. Sie wagt nicht, ihm den Orden wegzunehmen. Sie starrt auf den leeren Schlips des Fliegerhauptmanns wie auf einen geschändeten Altar.
Noch einmal geht Klaus an das Bett heran. Er betrachtet fast andächtig die hohe Stirn seines Kindes. Die Stirn von Doris, denkt er. Dann dreht er sich auf dem Absatz um. In diesem Moment kommen die anderen Besucher. Ein Schwall von Worten und von Gesten. Männer in braunen Uniformen. Alle bewundern das Kind, das sie nichts angeht. 274
Ein Hoheitsträger baut sich vor der Vorsteherin auf.
»Gefällt mir«, sagt er zackig, »ist er noch frei?«
»Ja ... ich glaube ...«, erwidert sie.
»Ihnen gefällt er auch, Herr Hauptmann, was?« schnarrt der Goldfasan gut gelaunt.
Klaus reagiert nicht. Halte deine Faust fest, denkt er, verkrampft, verzerrt, halt sie fest! Denk an Erika, an Doris, an den Kleinen! Schluck den Speichel! Los, schnell, reiß dich zusammen, Mann! Er steht wie ein Steinsockel, starr, kalt und entsetzlich alt.
In diesem Augenblick springt Erika ein. Sie weiß nicht, wie sie es fertigbringt, zu lächeln.
»Heimleiterin«, sagt sie, »dieses Kind hier darf nicht vergeben werden ... Befehl von Obersturmbannführer Westroff-Meyer ... Sie wissen doch?«
Die Vorsteherin nickt so heftig, daß die Brosche auf ihrer Brust flimmert.
»Schade«, sagt der Hoheitsträger.
»Suchen Sie sich ein anderes aus, Herr Kreisleiter«, tröstet Erika, »es sind ja noch so viele da ...«
Dann steht Klaus ein paar Sekunden allein am Bett seines Kindes. Seine Hand fährt unbeholfen über den Blondschopf. Er beugt sich über das Gesicht. Er nimmt die beiden kleinen Hände, die mit dem Orden des Vaters spielen.
»Nie ...«, murmelt er, »nie wirst du später ... allein sein ...«
Er richtet sich auf, dreht sich scheu um.
Der Hoheitsträger ist gegangen. Im Hintergrund sagt die Heimleiterin zu Erika: »Etwas eigenartig, der Hauptmann, wie?«
»Ja«, antwortet Erika trocken, »er hat auch viel Eigenartiges erlebt ...«
275
»Ach ja«, seufzt die Vorsteherin, »unsere armen Soldaten machen ja so viel mit.«
276
17. KAPITEL
Der kleine Klaus wurde immer größer, das Großdeutsche Reich immer kleiner. Zwei Jahre nach der erschütternden Begegnung zwischen dem Fliegerhauptmann Steinbach und seinem Kind war der Anfang vom Ende gekommen. Die Amerikaner hatten längst den Rhein überschritten, und die Russen die Oder erreicht. Der Krieg fraß seinen Nachtisch, und bis zum letzten Tag hatten Hunderttausende deutscher Soldaten und ebenso viele Zivilisten, Frauen, Kinder und Greise zu sterben. Das System krepierte so barbarisch, wie es gelebt hatte. Es erstickte im Blut, das es selbst vergossen, es verkohlte im Brand, den es selbst gelegt, und es verendete unter Trümmern, die es selbst geschaffen hatte. Ein Pendel schlug zurück. Von Ost nach West. Von West nach Ost. Doris fühlte den Hauch des letzten Sterbens, aber sie wurde von ihm nicht angerührt. Seit zwei Jahren lebte sie als Evakuierte mit dem Kind auf einem bayerischen Bauernhof. Seit zehn Wochen hatte sie keine Post mehr von Klaus. Statt dessen schickte der Frühling 1945 seine ersten Botschaften. Gelbe Falter taumelten mit klammen Leibern über die zarten Schlüsselblumen auf den Wiesen. Aber auf einen Falter kamen zehn Todesvögel. Flinke Käfer krabbelten über wachsgelbe Gesichter. Mit heulenden Maschinen jagten amerikanische Tiefflieger über das vergessene Dorf. Immer öfter. Immer länger. Aber ihre offenen Kanonenschlünde starrten gleichgültig auf die geduckten Höfe, die bis in die Fensterscheiben zitterten.
Dann löste sich die Spannung auf in dünnen Explosionen, die sich irgendwo vorne oder hinten oder seitlich wie Blasen in einem Topf aufwarfen, den der Tod umrührte, und den er, in Tagen oder in Stunden, über das Dorf ausgießen konnte. 277
Die Nächte von Doris waren ausgefüllt mit Unruhe und Wirrnis. Hier auf dem Lande brachte sich Deutschlands gehetztes Leben in Sicherheit. Schreie, Flüche, Rufe, das endlose Getrampel von Kolonnen, Klirren von Metall, Heulen von Motoren.
Am nächsten Morgen lagen die Gräben und Höfe voll Waffen und Gerät ... rostende Meilensteine der strömenden Flucht.
Jede Nacht lauschte Doris am Bett ihres Kindes, beugte sich über die kleinen, ahnungslos geballten Fäuste. Sie dachte an den großen Klaus. Und sie sagte in Gedanken: »Daß ich dich wenigstens habe ...«
In jeder schlaflosen Minute mündete die gleiche Frage: Wie soll das enden?
Dann zog sich die Reichsverteidigung bis an den Dorfrand zurück. Noch in der Nacht durchflutete die letzte Infanterieeinheit stumpf und verzweifelt die Straßen. Nur zwölf Hitlerjungen blieben noch. Ihr ältester war 15. Und er glaubte, es sei Zeit, zu sterben ...
Die Jungen waren weniger mit Waffen als mit Parolen ausgerüstet. Sie hatten Mut statt Vernunft, und Glauben statt Erfahrung. Sie vertrauten in des Führers Wunderwaffen, denn sie selbst konnten nur zwölf Gewehre und 50 Schuß gegen eine amerikanische Division einsetzen.
Am Dorfrand richteten sie sich zur Verteidigung ein, schichteten dünne Birkenstämme gegen alliierte Panzer und gruben sandige Mauselöcher gegen die feindliche Artillerie. Vor dem Gemeindeamt sammelten sich die Frauen. Doris hielt den kleinen, falschen Klaus auf dem Arm.
»Schickt doch die Rotzjungen nach Hause!« riefen die Dorfbewohner.
In der Amtsstube stand der Bürgermeister vor einem Pionierleutnant, der seine Stiefel besah.
278
»Was soll ich machen?« fragte der Bauer dumpf den Offizier.
»Machen Sie, was Sie wollen«, brummte der Leutnant. »Die Amis kommen so oder so ... Morgen früh sind sie spätestens da
... fragt sich bloß, ob sie Ihr Dorf vorher noch kaputtschießen
...«
Der Bürgermeister sah auf seine breiten Hände und fühlte den Boden, den er ein Leben lang beackert hatte. Er ging schweigend hinaus, nahm zwei Nachbarn mit. Die Frauen bildeten eine Gasse, sie atmeten auf.
Als Doris ihr Kind zu Bett brachte, nahmen die beherzten Männer den Hitlerjungen die Waffen weg, räumten die Birkenstämme beiseite und vertrieben die murrenden
›Verteidiger‹.
Alles wartete. Aber die Amis kamen nicht. Nicht am Abend. Nicht in der Nacht. Nicht am Morgen. Es blieb unheimlich still. Anstelle der feindlichen Panzer fuhr am nächsten Vormittag ein deutscher Militärwagen durch das Dorf. Ein Ledermantel stieg aus. Ihm folgten drei Soldaten mit schwarzen Spiegeln an den Kragenaufschlägen. Doris schob den dünnen Vorhang auseinander. Ihre Hände zitterten. Der Ledermantel sprach mit den Hitlerjungen. Zögernd kamen die Menschen aus den Häusern. Auch Doris.
Sie blieb auf halbem Wege stehen, als habe sie einen elektrisch geladenen Zaun berührt. Dieses Gesicht kannte sie, hatte sie nie vergessen, würde sie nie vergessen: es war breit und bullig, und es hatte die ureigenen Züge des Obersturmbannführers Westroff-Meyer.
Er brüllte. Doris ging sofort ins Haus zurück. Sie wollte und konnte den Mann nicht sehen. Sie redete sich ein, eine Vision gehabt zu haben, und mochte sich nicht vergewissern. Er war es. Im Gegensatz zu seinem Führer hatte er rechtzeitig begriffen, daß es keinen Ausweg aus der Mausefalle 279
Berlin gab. Und der Mann, der den biologischen Wahnsinn gepredigt, den Kinderraub in Polen exerziert und den Mord kommandiert hatte, wollte nicht für den Führer sterben, sondern für ihn weiterleben. Als man zuverlässige Mörder suchte, die als Vorsitzende fliegender Standgerichte bereit waren, den verlorenen Krieg zu verlängern, meldete er sich freiwillig. An dem Strick, den er von nun an täglich deutschen Soldaten um den Hals legte, wollte er sich aus der Falle ziehen. Während seine Männer die Gurte herrichteten, inszenierte er eine Farce von Standgericht. Der Bürgermeister und die Männer, die den Hitlerjungen die Waffen weggenommen hatten, wurden verhaftet und gefesselt. Die Fünfzehnjährigen machten trotzige Gesichter. Ihre Opfer sahen durch WestroffMeyer hindurch auf die Straße, auf der die Amerikaner nicht kamen.
»Ihr Lumpen!« brüllte der Obersturmbannführer. Die Bewohner ballten die Fäuste. Aber sie hatten keine Waffen.
»Haben Sie die HJ am Kampf gehindert?« dröhnte WestroffMeyer.
»Es hat doch keinen Sinn mehr«, antwortete der Bürgermeister müde.
»Sinn?« Die Stimme überschlug sich, heulte hinauf und hinunter. »Verräter! ... Deserteure! ... Geben das auch noch zu!
... An die Bäume mit euch Schweinen!«
Westroff-Meyer streckte den Arm aus. Feldherrngeste eines Verbrechers. Endlich schwamm er auf der höchsten Woge seines Wunschtraums. So wollte er schon immer herrschen. So wollte er mit Hauptmann Steinbach verfahren. Manchmal sprang ein Funke der Erinnerung über. Und dann verzerrte sich jetzt noch sein Gesicht.
Die Linde war alt und mächtig. Bald würde sie blühen und duften. Ihre Äste luden aus. Die SS-Männer wickelten die 280
Stricke um sie.
»Im Namen des Volkes ...«, tobte der Obersturmbannführer. Einer der Männer verlor die Nerven. Er hatte seine Frau gesehen.
»Das können Sie doch nicht tun!« stöhnte er heiser. In das Gesicht von Westroff-Meyer malte sich die Lust. Alles konnte er tun im Namen des Volkes, das er nicht zu fragen brauchte.
Dieses Volk stand an den Fenstern der Bauernhöfe. Alte Frauen bekreuzigten sich, Kinder weinten, harte Männer beteten, ein paar von ihnen haßten; sie sehnten sich heiß und inbrünstig nach einer Zeit, die diese Verbrecher rächen würde. Konnten sie wissen, daß Jahre später ein deutscher Generalfeldmarschall, Sachverständiger des Gerichts, Morde wie die an der Linde als ›militärisch notwendig‹ bezeichnen würde? Konnten sie wissen, daß es dereinst zu den Eigenarten eines Rechtsstaates gehören sollte, solche Mörder freizusprechen?
Einer wollte sich losreißen. Die Henker droschen ihn mit Pistolenknäufen zusammen.
»Los!« polterte Westroff-Meyer, »den baumelt ihr als ersten auf!«
Die SS-Männer zerrten den Mann unter den Ast. Er war zu hoch. Da holten sie Milchkannen. Die Hitlerjungen wollten sich scheu davonschleichen.
»Ihr bleibt!« befahl der Obersturmbannführer, »seht ruhig zu, wie Verräter sterben.«
Auf einmal traten die Füße des Bauern ins Leere. Die Stricke knirschten über dem Holz. Es war aus ...
»Die anderen!« schrie Westroff-Meyer.
Einer der Jungen fiel ohnmächtig zu Boden und bohrte das Gesicht in den Schlamm. Ein anderer weinte.
281
Da zerrte man den zweiten Bauern zu der Linde. Die Hitlerjungen drängten sich aneinander wie verängstigte Hühner. Der Obersturmbannführer blies den Rauch in kleinen Portionen aus. Er sah gleichgültig zu, wie man den anderen beiden den Tod um den Hals legte. Für ihn war das Sterben nichts Heiliges, sondern etwas Alltägliches. Seine Augen glitten ausdruckslos über die Angehörigen der Verurteilten, die um Gnade bettelten.
Er gab einem seiner Begleiter ein Zeichen, sie wegzudrängen. Dann wies er mit der Hand nach oben ... wo einmal Gott war.
Der zweite und der dritte. Ihre Gesichter starben, als ihre Herzen noch schlugen. Westroff-Meyer nickte seinem Stab zu. Auf einmal hatte er es eilig. Bevor er in seinen Wagen stieg, um sich vor den zu spät anrollenden amerikanischen Panzern in Sicherheit zu bringen, ordnete er an, daß die Leichen der Gehängten zur Abschreckung an den Ästen der Linde zu belassen seien.
Noch einmal sah Doris sein Gesicht. Sie zog sich in die letzte Kammer des Hauses zurück, beugte sich weinend über ihr Kind, das sich in eine friedliche Zukunft schlief ... Die neue Zeit rasselte auf Panzerketten näher. Und in ihrem Rhythmus vibrierten für Doris die Fragen: Wo ist Klaus? Lebte er noch? Sehe ich ihn wieder?
Der erste Sherman hielt an der Linde. Ein junger Leutnant hob den Deckel und spuckte aus.
Endlich durften die Frauen und Kinder kommen, um die toten Männer und Väter zu bergen.
Der Rückzug war auf dem Vormarsch in den Untergang. Das letzte Bataillon auf dem Schlachtfeld hatte zu krepieren. Der zu einer infanteristischen Alarmeinheit versetzte Fliegerhauptmann Klaus Steinbach kommandierte es. Er führte Leute, die er nicht kannte, zu einer Kampfart, von der er nichts 282
verstand, in einem Krieg, von dem er nichts mehr hielt. Es machte nichts aus. Die Männer hatten in sechs Jahren das Sterben gelernt und in zwei Tagen die letzte Munition verschossen. Jetzt, im April 1945, setzten die Sowjets zum letzten Sturm auf Berlin an. Es gab keine Stellung, keinen Graben, keinen Unterstand, keinen Schutz mehr gegen sie. In der Oder schwammen die Leichen der deutschen Nachhut. Sie trieben nach Norden. Die Russen stürmten nach Westen. Das Großdeutsche Reich war auf die Peripherie der Stadt Berlin zusammengeschmolzen. Die Lautsprecher dröhnten vom Endsieg.
Am Morgen hatten 400 Mann der Einheit Steinbach Kaffee gefaßt. Am Abend lebten noch 72. Sie taumelten, torkelten, stolperten über zerfetzte Menschen, die das Ebenbild Gottes sein sollten. Sie fielen über Pferdekadaver, von denen Fliegenschwärme aufstiegen. Sie fluteten an zertrampelten Kindern vorbei. Liefen sie zu langsam, wurden sie von den Russen niedergewalzt, waren sie zu schnell, von der Feldgendarmerie aufgehängt. Es gab keine Waffen, keine Verpflegung, kein Ziel. Die Flucht hatte nichts Menschliches und der Mensch nichts Würdiges an sich.
Seit dem letzten Trommelfeuer lebten noch vier Angehörige des Bataillons. Unter ihnen Klaus. Hinter ihnen die Russen. Vor ihnen ein flacher Hügel. Bis zu seiner Spitze ein Kilometer deckungslose Fläche. Einer fiel um und blieb liegen. Klaus riß
ihn hoch. Da schlug der Mann nach ihm. Links pfiffen die Kugeln einer MG-Garbe an ihm vorbei. Sie zischten über den Sand, wie flache Steine über das ebene Wasser. Zwecklos, sagte sich Klaus, Schießbudenfigur. Los, trefft doch! Hier. Nein. Höher halten! Los. Hinauf. 500 Meter noch
... 500 Meter Stafettenlauf ... Warum verliert denn der Kerl den Stab? ... Weiter! Sieht aus wie ein Obststand, da oben ... Eßt mehr Obst, und ihr bleibt gesund! ... Scheißobst! ... Nur Durst
... Wasser ... Einen See voll Wasser ... Da sind doch welche? ... 283
Deutsche. Schießt doch zurück ... Verdammt ... helft doch, ihr Schweine! ... Keine Munition ... Kein Obst ... Kein Wasser ... Der Führer ist unter seinen geliebten Soldaten ... Das Führerkind ... Nehmt eure dreckigen Pfoten weg! ... Peng ... Jetzt ist der auch hin ... der Meier ... Der Iwan kann gar nichts ... Macht doch endlich Schluß! ... Mensch, ein Obst, ein Durst, ein Wasser ... Verflucht ... Getroffen. Quatsch! ... Hoch! ... Weiter! ... Bloß einen Tropfen ... Nichts mehr weiter
... nur Wasser ... dann sterben ... Nie mehr etwas anderes ... nie eine Frau ... Unfug! ... Scheißlunge, brennt wie Höllenstein ... jetzt haben sie die Haare auf dem Kopf abgesengt ... und die Läuse? . . , Wirf dich hin! ... Bleib stehen ... Heb die Hand ... Wo sind die anderen? ... Kaputt ... Alle? ... Nein, der zappelt noch ... Bananen ... ausgerechnet Bananen! ... Fünf Meter ... Quatsch ... Kein Wasser ... Blut ... brr ... schmeckt lauwarm ...
»Durst ...«, röchelte Klaus. Dann fiel er um wie ein Sack. Es war eine deutsche Stellung gewesen. Ihre Soldaten, Angehörige einer improvisierten, versprengten Kompanie, hatten, ohne eingreifen zu können, beobachtet, wie vier Menschen um ihr sinnloses Leben liefen. Der letzte von ihnen schien es zu schaffen. Er war so nah herangekommen, daß man seine glasigen Augen sehen konnte.
In diesem Moment hielt es ein langer Kerl nicht mehr aus. Er sprang aus der Stellung, schnappte den Hauptmann, zerrte ihn nach oben. Die Russen versäumten es, beide zu erledigen. Vielleicht, weil sie gerade zu faul zum Schießen waren, oder weil sie dachten, daß ihnen ohnedies keiner auskommen konnte.
Klaus war bewußtlos. Aus einem Ballon mit heißem TeeRum-Gemisch schoben sie ihm den Gummischlauch in den Mund. Er zog und zog. Die Flüssigkeit klebte wie Blut auf der Zunge.
»Den kenn’ ich ...«, sagte der lange Kerl, der Klaus in die 284
Stellung geholt hatte.
Es war Horst Kempe, vormals Hauptsturmführer, jetzt Sturmbannführer einer SS-Pioniereinheit. Er zog Klaus den Schlauch aus dem Mund.
»Gebt dem nicht so ville«, brüllte er seine Leute an, »der wird sonst blau.«
Kempe wartete, leergeschossen wie fast alle Verteidiger von Berlin, in Ausführung eines Befehls, bis er geschlachtet wurde. Auch er glaubte längst nicht mehr an die Befehle, aber er befolgte sie.
Die Russen kamen in wilden Horden, hochaufgerichtet, in beinahe gemächlichem Tempo den Hügel herauf.
»Wenn ich wenigstens Handgranaten hätte«, knirschte Sturmbannführer Kempe.
Er rüttelte Klaus wach.
»Laß mich«, stöhnte der Hauptmann.
»200 Meter noch, Sturmbannführer!« meldete einer der Leute Kempes.
»Fertigmachen zum Heldentod ...«
Kempe nahm die Pistole aus der Tasche. Er besaß noch vier Schuß. Er suchte sich drei Iwans aus. Die letzte Kugel reservierte er für sich. Er drehte sich nach seinen Leuten um und sagte lakonisch:
»Probiert’s mit dem Gewehrkolben ... oder haut ab!«
In diesem Augenblick kam atemlos von hinten ein Melder.
»Sturmbannführer!« brüllte er von weitem, »zurück nach Erkner! ... Munition ... Proviant ...«
»Wa?« fragte Kempe.
Gleichzeitig sprang er hoch.
»Höchste Eisenbahn zum Umsteigen!«
Ein Wink Kempes genügte. Sie hatten längst auf das 285
Kommando gewartet. Bis sie aus der Stellung waren, ließ der baumlange Pioniermajor die letzte Panzerfaust unter die Russen knallen. Es war reine Effekthascherei. Aber die Iwans warfen sich ein paar Sekunden folgsam in den Sand.
»Der kann nicht«, sagte ein Rottenführer und deutete auf Klaus.
»Quatsch!« versetzte der Sturmbannführer.
Er riß den Fliegerhauptmann hoch, stellte den von der Anstrengung und dem Alkohol fast Bewußtlosen auf die klammen Füße und trieb ihn breitbeinig vor sich her wie ein Stück Vieh. Klaus wollte nicht. Da schlug Kempe zu. Mit der Faust. Einmal links. Einmal rechts. Half mit dem abgewinkelten Knie nach und drosch solange menschlichbarbarisch auf ihn ein, bis er wieder mit eigener Kraft gehen konnte.
Jetzt erst erkannte Klaus Steinbach in der SS-Uniform Horst Kempe.
Die Dämme brechen. Die tosenden Wogen des Untergangs schlagen auch über dem Lebensborn-Heim in SüdMecklenburg zusammen, in dem der jetzt dreijährige Klaus Steinbach aufwächst, ohne etwas von seinen Eltern zu wissen. Der Wald, der das Heim umgibt, schweigt nicht mehr, und der See ist nicht mehr still. In seinem Wasser treiben die Requisiten der rasenden Flucht. Im Schilf schaukeln rostende Stahlhelme. Durch den Wald ächzen die hochbeladenen Wagen der endlosen Trecks. Verlorene Rufe. Versickerndes Weinen. Manchmal rütteln dürre Soldatenfäuste am Gatter des Hauses. Dann verlangen blutjunge oder steinalte Soldaten ein Glas Wasser.
Der lange First des Hauses duckt sich, als zöge das Gemäuer den Kopf ein. Wenn das dumpfe Rollen der wandernden Front sich über die Felder wälzt, dann läßt die Heimleiterin die Jalousien schließen. Im übrigen will sie nicht sehen, nicht 286
hören, nicht wissen, was alle längst wissen.
»Wir tun unsere Pflicht für den Führer, wo wir stehen«, erklärte sie ihren Schwestern.
Noch immer erzieht sie Kinder im Namen eines Mannes, der bald sein Programm im Hof der Reichskanzlei durch Selbstmord quittieren wird.
Dann bröckelt das Heim auseinander. Die Panik geht um. Soldaten und Flüchtlinge bringen Greuelnachrichten mit. Schwester Adelheid ist die erste, die verschwindet. Die braune Tracht bleibt zerknüllt zurück. Mit ihr zehn kleine Kinder. Das Beispiel macht Schule. Dreimal. Viermal. Die zurückbleibenden Pflegerinnen werden mit ihrer Aufgabe nicht mehr fertig. Die Kinder hungern und verwahrlosen. Das hilflose Weinen und das klägliche Schreien reißen nicht mehr ab.
Die Kleinen, die ein verblendeter Staat züchten wollte, werden Inflationsgut des Elends. Aus den Kronprinzen des Dritten Reiches werden Kinder, die keinem gehören und keinem gehört haben sollen. Als ihre letzte Tat vernichtet die Heimleiterin die Akten ihrer Zöglinge. Dann leitet sie angeblich die Rückführung der Kinder ein. Unter diesem Vorwand flüchtet sie.
Die gräßliche Wanderschaft des lebenden Strandgutes beginnt. Auf zwei Pferdefuhrwerken. Sie werden hochbeladen mit winselnder, lebender Fracht. Die älteren Kinder, wie Klaus Steinbach, sehen mit großen, schreckhaften Augen in ihre zurückbleibende Welt, aus der sie derb herausgerissen werden. Es geht zum Bahnhof. Ein letzter Transport soll nach Nordwesten abgehen.
Der kleine Klaus preßt seinen Teddybären eng an sich, als er auf den Wagen gehoben wird. Die kindlichen Lippen sind fest aufeinandergedrückt.
»Tante«, fragt er Schwester Barbara, der es zu verdanken ist, 287
daß die Kinder sich bis zum Eintreffen der Russen nicht einfach selbst überlassen bleiben, »warum sehen denn die Männer alle so böse aus?«
Als der Wagen anruckt, bekommt das Kind einen Stoß. Sein Bär gleitet ihm aus den Armen, fällt über den Wagenrand. Klaus streckt verzweifelt die kleinen Arme. Die großen Räder mahlen vorwärts. Auf der zertrampelten Kiesauffahrt bleibt ein lappig gewordenes Stofftier liegen. Sägemehl quillt in die Radspuren.
»Mein Bär«, schreit der kleine Klaus entsetzt. Aber es gibt niemanden, der auf ihn hört, keinen, der Zeit hätte, auf ein Kinderherz zu achten, das zusammen mit einem Teddybären überfahren wird.
Das ist viel schlimmer für das Kind als das Unglück eine Stunde später. Am überfüllten Bahnhof, den die Erwachsenen nicht für die Kinder freimachen wollen. Deshalb warten sie dicht aneinandergedrängt auf der gegenüberliegenden Seite der Straße.
Endlich läuft ein Zug ein. Seine Lokomotive qualmt den Ruß
der schlechten Kriegskohle aus. Die Wagen werden gestürmt. 40 schwache Kinderleiber haben keine Chance. Als der Zug anrollt, ruft ein Fünfjähriger:
»Lokomotive!«
Er macht sich von Schwester Barbara los, läuft auf die Straße. In einen Heereslastwagen hinein. Der Fahrer will in letzter Sekunde ausweichen. Er streift den Jungen nur mit dem Hinterrad. Aber dabei kommt er ins Schleudern. In dem Tumult an den Waggons geht der dünne,
vielstimmige Kinderschrei unter. Das Pfeifen des radierenden Gummis. Der Knall der Wagenwand gegen den Gartenzaun. Schwester Barbara hält die Hände vor die Augen, Als sie wieder aufsieht, stemmen die Soldaten den LKW vom 288
Gartenzaun weg. Einige der Kinder wurden erfaßt. Tot. Es ging so schnell, und es ist so unfaßbar, daß es Klaus, der zu den Überlebenden gehört, nicht begreift. Er weint nur, weil sie alle weinen.
Die kleinen Toten waren notwendig, um das Gewissen eines Mannes aufzuwühlen. Der Obergefreite, der den blutverschmierten Wagen fährt, nimmt die Überlebenden und Schwestern auf. Als auch hier der Selbsterhaltungstrieb die erwachsenen Flüchtlinge antreibt, die Bordwände zu erklettern, treiben die Soldaten sie mit Fußtritten weg.
Das Endstadium der NS-Volksgemeinschaft ist erreicht. Aber ein Wagen mit Kindern und drei Schwestern rollt nach Nordwesten, den Engländern entgegen ...
Das Sammelbecken, in dem die Katastrophe zum Inferno gerinnt, heißt Berlin. Die Schleusen, die Deutschlands Soldaten auf ihrem Marterpfad passieren müssen, um endlich Zutritt zur Hölle zu bekommen, heißen Brandenburger Tor oder Leipziger Straße, Stettiner Bahnhof oder Alexanderplatz ... Der Unterschied ist nicht sehr groß. Weder der Sturmbannführer Kempe noch der Hauptmann Klaus Steinbach, die die Organisation des Desasters bei einer Einheit ließ, wissen genau, wo sie sich befinden. Die Trümmer am vornehmen Tiergarten sehen genauso aus wie die am roten Wedding. Rot ist ganz Berlin inzwischen. Rot von den Flammen, die durch die Straßen wüten, rot vom Mündungsfeuer russischer Kanonen, rot vom Blut, das den schmelzenden Asphalt färbt.
Irgendwo schimmert Wasser zwischen den Trümmermassen, hinter denen die beiden Offiziere und eine Handvoll Leute sich ein Maschinengewehr teilen. Was sie verteidigen, wissen sie längst nicht mehr. Sie sitzen am äußersten Rand der Schaufel, mit dem der Tod um sie gräbt. Am Vormittag hatten sie noch 30 Soldaten. Jetzt sind es noch sieben. Das Massensterben setzt 289
zum Endspurt an. Für Führer, Volk und Reichskanzlei, unter der der Führer noch lebt, während seine Soldaten verbluten. Ein Trupp Uniformierter springt über die rutschenden Schutthaufen. Kempe reißt das MG hoch.
»Welche von uns«, brüllt Klaus heiser.
Der Sturmbannführer setzt ab. Ein junger Offizier mit einem Milchgesicht rutscht auf sie zu.
»Gut, daß wir Sie finden«, sagt der Leutnant, »wir brauchen Hilfe.«
»Wir auch«, versetzt Kempe.
»Wir sollen die Schleusen zerstören«, fährt der Leutnant hastig fort, »dazu brauchen wir noch ein paar Mann.«
»Nicht von mir.«
»Was sollt ihr?« fragt Klaus Steinbach.
»Die U-Bahnschächte sollen absaufen, damit der Iwan nicht unterirdisch vorwärtskommt, Herr Hauptmann.«
Kempe fährt aus der Deckung hoch.
»Die Schächte sind doch vollgepfropft mit Menschen!«
In den Augen des Milchgesichts spiegelt sich der nächste Einschlag.
»Pech«, sagt es.
Kempes Backenmuskeln werden kantig.
»Das werden Sie gefälligst lassen!« faucht er den Leutnant an.
»Befehl vom Führer«, erwidert der junge Offizier zackig. Kempe rutscht auf den Ellenbogen vorwärts.
»Kein Mensch kann so etwas befehlen! Keiner! Auch nicht dieser Wahnsinnige!« sagt er leise.
Der Leutnant gibt seinen Männern ein Zeichen über die Schulter.
290
»Also, Sie wollen uns nicht helfen, Sturmbannführer?« stellt das Milchgesicht fest.
Da dreht Kempe durch. Er reißt das MG hoch, richtet den Lauf, auf den Leutnant, der in die zuckende Dunkelheit wie ein Schatten gleitet. Das MG klickt, aber schießt nicht. Eine Hülse klemmt. Da schlägt Kempe mit den Fäusten auf die Waffe ein, bis sie bluten.
»Diese Schweine!« heult er.
Klaus will ihn beruhigen. Aber der Sturmbannführer faßt ihn derb am Kragen. In seinen Augen schimmert der Irrsinn.
»Wir müssen etwas tun ... hörst du! ... was tun ... Frauen ... Kinder ... saufen ab wie die Ratten ... wie die Ratten ...«
»Bleib«, sagt Klaus.
Sein Gesicht ist kalt. Seine Augen wirken glanzlos. Seine Schultern hängen leicht vornüber. Seine Hände zittern. Aber sein Verstand funktioniert. Er braucht nicht erst die Tragödie im U-Schacht zu erleben, um zu wissen, daß ein wahnsinniger Verbrecher Berlin in den Tod hetzt. Er weiß, daß er nichts machen kann, daß es für ihn nur noch eine Pflicht gibt, auch wenn sie keine Chance hat: durchzukommen, zu leben, mit Doris, in einer anderen Zeit. Und hier, zwischen den Trümmern geborstenen Größenwahns, weiß er, daß die letzte Sinnlosigkeit noch sinnvoll würde, um diese Sinnlosigkeit zu beweisen. Er beugt sich zu dem tobenden Kempe.
»Horst«, sagt er, »ich nehme unsere letzten Leute mit. Wir hauen ab.«
Kempe reagiert nicht.
»Zu dieser Feigheit«, sagt der Fliegerhauptmann, »gehört mehr Mut als ...«
Kempe springt hoch. Seine Leute wollen ihn zurückhalten. Sie können es nicht. Er hetzt hinter dem Leutnant mit dem Milchgesicht her. Er springt über Stock und Stein. Er tanzt 291
durch die Artillerieaufschläge. Er windet sich durch russisches MG-Feuer.
Er erreicht unverletzt den U-Bahnschacht. Hier in Höhlen, Gängen und Kanälen vegetiert die Bevölkerung, die den Modergeruch der U-Bahnschächte dem versengenden Brandodem der einstürzenden Oberwelt vorzieht. Hier, zwischen Bahnsteigen und Schwellen, zwischen Signalen und Weichen, haben Tausende von Frauen, Kindern und alten Männern ihre Matratzen aufgeschüttet, ihre letzte, erbärmliche Habe in Sicherheit gebracht. An Signalmasten hängen säuberlich auf Kleiderbügel gelegte Anzüge, auf den Schienen liegen Kopfkissen. Die Menschen leben wie Heringe in einer Büchse.
Diese Höhle betritt Sturmbannführer Kempe, der aussieht wie ein Gespenst. So fahl ist sein Gesicht. So starr sein Blick. Als er das jammervolle Bild bis weit in den verdämmernden Tunnel hinein übersieht, weiß er ein paar Sekunden lang nicht, ob er ein Recht hat, diese Menschen auf eine neue Reise in ein unbestimmtes Grauen zu schicken. Ob es nicht für sie besser wäre, wenn ...
»Alle herhören!« brüllt Kempe. »Die Schächte werden geflutet. Ihr müßt sofort raus! Ehe es zu spät ist! Los, raus!«
Er ruft es drei-, viermal. Schlaftrunkene Menschen taumeln hoch. Kinder weinen. Frauen schreien auf. Kempes Ruf wird aufgenommen, pflanzt sich fort. Die Panik verebbt hohl und dünn in der Unendlichkeit der Unterwelt, reist schneller, als je eine U-Bahn fuhr. Aber nicht schnell genug.
Das Wasser kommt. Das Entsetzen treibt Frauen und Greise an die Ausgänge. Einer steht dem anderen im Weg. Das Wasser steigt. In Sekunden spült es hoch.
Horst Kempe gibt es auf, nach einem Notausgang zu suchen. Er drückt sich in eine Tunnelnische. Er starrt auf die rasende Brühe, in der Menschenleiber treiben, als hätte ein Sadist mit 292
Handgranaten gefischt. In den gurgelnden und in den toten Gesichtern schwimmt der letzte, winzige Rest von Glaube an ihm vorüber, den er noch für seinen Führer hatte. Ein hilfloses Kind patscht brüllend an ihm vorbei, droht unterzugehen. Der Sturmbannführer faßt es. Das kleine Mädchen hängt zitternd und keuchend an seiner Schulter.
»Arme kleine Katze«, sagt der Offizier behutsam. Plötzlich preßt er das kleine Mädchen an sich. Plötzlich erinnert er sich, daß er selbst vier Kinder zu Hause, hat Kinder, die der Staat wünschte und zu denen er drängte. Kinder, die Kempe liebt. Kinder, die die Zukunft Deutschlands garantieren sollten. Und Kinder, wie sie vielleicht jetzt auch noch für Hitler sterben müssen, bevor sie noch richtig gehen können. Das kleine Mädchen weint still an seinem Hals. Das Wasser steigt.
»Onkel«, sagt es auf einmal ganz ruhig, »meine Füße werden naß.«
»Ja, mein Mädchen«, antwortet Kempe. Er stemmt es höher. Mit einer Hand. Die andere fährt nach dem Koppel mit der Pistole.
Das Wasser steigt in Brusthöhe. Die Luft wird stickig. Das Mädchen weint wieder.
»Onkel«, wimmert es, »meine Füße ...«
Vor den Augen des Sturmbannführers kreist das Wasser. Wie wenig Mensch muß man sein, denkt er, um das Grauen eines solchen Sterbens nicht zu fühlen. Was für ein Ungeheuer muß man sein, um einen solchen Tod zu kommandieren. Auf einmal wünscht er sich, daß Adolf Hitler neben ihm stünde, mit ihm die Schreie der Ertrinkenden hörte, die letzten, wilden Kämpfe sähe, und die Worte des kleinen Mädchens hörte:
»Onkel, meine Füße sind jetzt patschnaß.«
Nichts weiter wünscht er dem Führer ...
293
Als Horst Kempe die Flut bis zum Mund steht, läßt er sich einfach nach unten fallen.
294
18. KAPITEL
Auf einmal war das Standgericht Westroff-Meyer führerlos. Der Obersturmbannführer war verschwunden. Zwischen Nürnberg und Ingolstadt hatte er noch ein paar Soldaten aufhängen lassen. Von da ab war er entschlossen, nur noch an sich zu denken.
Er nahm den Koffer aus dem Wagen. Der Posten grüßte zackig. Westroff-Meyer dankte jovial. In der Ferne rasselten amerikanische Panzer. In Stunden mußten sie hier sein. Der hohe SS-Funktionär grinste schlau. Überrollen lassen, dachte er, Zivil anziehen, abwarten. Er war entschlossen, das zu tun, wofür er Dutzende von Menschen hatte hinrichten lassen. Zunächst wartete er noch. Dann zog er sich um. An einem Bach. Sein Ledermantel klatschte ins Wasser. Dann folgten Uniformbluse, die Breeches, die Stiefel, Westroff-Meyer entnazifizierte sich. Er schlüpfte in Zivilkleider, die er vorsorglich mitgenommen hatte. Er kam sich komisch, aber sicher vor. Er zog den verwitterten Hut in die Stirne. Er sah jetzt aus wie ein älterer, harmloser Herr, der in seiner Studentenzeit ein paar böse Streiche verübt hatte. Jetzt kam das Schlimmste für ihn: einen Keller suchen. Irgendwo. Das Vertrauen der Hausbewohner erwerben. Kopf einziehen. Abwarten. Sicher fahndete man nicht nach ihm. Zuerst würde man nicht glauben, daß er desertiert sei, und dann mußten ihn die Amis jeglicher Sorge entledigen. Wie sie wohl waren? Nicht so schlimm, überlegte Westroff-Meyer, westliche Völker sind vor lauter Dekadenz knieweich.
Er hörte Stimmen in einem Keller. Das Fenster war schlecht verdunkelt. Aus einigen Ritzen drang Licht. Der desertierte Obersturmbannführer lauschte einen Moment. Er konnte das Stimmengewirr nicht unterscheiden. In dieser Gegend kennt 295
mich kein Mensch, dachte er befriedigt. Was soll passieren? Die Haustür war offen. Er ging über den Gang. Die Kellertür knarrte rostig in den Angeln. Westroff-Meyer stieß in der Finsternis mit dem Kopf an, fluchte, stand vor der Luftschutztür, lauschte. Auch Frauenstimmen. Prima ... Sein Klopfen hörte kein Mensch. Er trat ein.
»Tür zu!« brüllte ein Mann.
Die 15 bis 20 Menschen im Keller beachteten WestroffMeyer nicht übertrieben.
»Heil Hitler!« sagte er gewohnheitsmäßig.
Ein alter Soldat, der mit zwei anderen auf einem rohen Holztisch einen Skat klopfte, drehte sich gereizt um.
»Dein Führer kann uns jetzt!« erwiderte er.
»Mich auch«, antwortete der Standrichter. »Habt ihr noch Platz für mich?«
»Frag nicht so dämlich ...«
Er setzte sich zu den drei Soldaten, die der Schnaps unvorsichtig gemacht hatte.
»Na, euch geht’s gut ...«
»Halts Maul!« entgegnete der Wortführer.
Westroff-Meyer streckte den drei Landsern Zigaretten hin. Sie nahmen sie.
»Wo kommt ihr denn her?« fragte Westroff-Meyer, der vor Angst sprechen mußte.
»Direkt aus dem Massengrab«, erwiderte einer der drei lachend. »Schon mal was von der Front gehört?«
»Na, das ist ja jetzt wohl vorbei ...«
»Du merkst auch alles.«
In diesem Moment kam ein Mädchen, das einem der Soldaten gehörte, zurück, setzte sich zu ihm auf den Schoß, griff nach der Flasche, lachte. Dann sah es den desertierten 296
Obersturmbannführer.
»Wer ist denn das?« fragte die Blondine.
»Was weiß ich ...« knurrte der Landser.
»Der Kerl gefällt mir nicht«, fuhr das Mädchen fort.
»Mir auch nicht«, antwortete der Soldat. Er warf die Zigarette weg, trat sie mit dem Fuß aus, und fuhr WestroffMeyer an: »Los, hau ab, Alter, dein Typ ist hier unerwünscht!«
»Aber Kameraden ...«
»Kameraden«, erwiderte der Landser verächtlich. Er stand auf, öffnete die Luftschutztür und warf den SSFunktionär mit einem mittleren Fußtritt aus dem Keller. Alles Lumpen und Verräter, dachte Westroff-Meyer verbittert. Er kroch die Treppe hoch. Auf einmal zitterte das Haus. Der Mörtel bröckelte von der Decke. Das Geräusch auf der Straße wurde immer lauter, immer drohender. Ein Lichtstrahl blitzte auf. Westroff-Meyer erkannte die olivgrünen Uniformen, die Silhouetten der Shermans, sah die GIs, die mit dem Karabiner im Anschlag von Haus zu Haus gingen. Westroff-Meyer sah es deutlich, und er war erleichtert. Er vergaß in diesem Moment die letzten zwölf Jahre, und er setzte darauf, daß sie auch die anderen vergessen würden. Er dachte nicht an den Raub in Polen und an den Wahnsinn in Deutschland. Er vergaß das Reichssicherheitshauptamt und den Lebensborn. Er dachte nicht an die Tausende von Führerkindern, die keine Eltern hatten, die herrenlos waren, brutalem Zufall oder öffentlichem Mitleid ausgesetzt. Ob nordisch, ob fälisch, ob dinarisch ... alles gleichgültig jetzt. Es gab nur ein Gebot: zu überleben, durchzukommen, weiterzumarschieren.
Ein amerikanischer Soldat kam auf Westroff-Meyer zu, näherte sich ihm, rief etwas Unverständliches. Der Standrichter nahm den Hut vom Kopf und winkte ihm 297
zu.
Doris lebt noch immer mit dem Kind, das nicht ihr Kind ist, in dem kleinen Dorf. Seit hier Westroff-Meyer sein letztes Gastspiel gab, sind drei Monate vergangen. Die drei Holzkreuze auf dem Friedhof zeigen die erste Patina. Der Krieg ist zu Ende. Und der Friede wirkt noch zaghaft und untauglich.
Die kleine Welt des großen Dorfes merkt nichts von den Erschütterungen der großen Politiker. Nur dann, wenn einer heimkehrt, oder wenn eine Mutter endgültig erfährt, daß ihr Sohn gefallen ist, zieht der Zusammenbruch seine Wellenringe. Doris wartet. Ohne Hoffnung. Sie könnte in ihre Heimatstadt übersiedeln. Aber sie verbeißt sich in den Gedanken, daß Klaus zuerst hierherkommt ... wenn er kommt. Sie hat sein Bild vervielfältigen lassen. Es hängt an den Anschlagtafeln der Warteräume neben Hunderttausenden von Fotos. Ein ganzes Volk sucht seine Söhne ...
Wenn entlassene Soldaten durch das Dorf kommen, gehen die Bewohner auf sie zu und stellen sinnlose Fragen. Die Soldaten schütteln traurig den Kopf. Sie sehen weg, irgendwohin, an den Dorfrand, als ob hier gleich wieder Schüsse peitschen würden.
Das Kind von Doris spricht schon. Es ist groß für sein Alter, hübsch und zärtlich.
»Wann kommt Papi?« plappert es hundertmal am Tag.
»Bald«, antwortet Doris jeweils und wendet den Kopf. Mein Gott, denkt sie, laß ihn nach Hause kommen. Nicht für mich, für das Kind ...
Sie gibt es auf, am Fenster zu stehen. Sie fragt nicht mehr. Sie wartet still und ergeben. Die Zeit wird zu einer Hülle, die sie nicht mehr wahrnimmt. Die Gespräche der anderen, die Geräusche, der Alltag des Dorfes, das alles erlebt sie wie durch ein Sieb, gefiltert, unwirklich und fern.
298
Die Milch, denkt sie, als es klopft. Sie dreht sich langsam um. Ihre Augen glauben es kaum. Vor ihr steht Klaus ... Der Mann im Türrahmen hat mit dem früheren
Fliegerhauptmann Klaus Steinbach nur eine flüchtige Ähnlichkeit. Seine Arme hängen hilflos nach unten. Seine Augen sind ohne Glanz. Seine Haut ist so fahl, wie die Uniform verblichen. Er umarmt seine junge Frau mechanisch und matt. Dabei wirkt er wie ein Symbol aus dem Millionenheer der Heimkehrer, die in dem Moment verlegen werden, da sich erfüllt, was sie in Schlammgräben träumten, an Massengräbern hofften und im Trommelfeuer beteten. Im Grunde ist die schlichte, scheue Umarmung nichts anderes als die Verlegenheit vor dem neuen Leben. Schließlich hatten sie sich in den letzten Jahren nur mit dem Sterben abgegeben ...
»Hunger«, sagt Klaus.
Er fällt auf die schäbige Couch in der Küche. Seine Hand kann den Löffel nicht halten. Doris muß ihn füttern wie ein Kind. Sie setzt sich neben ihn, selbst unsicher plötzlich.
»War es schlimm?« fragt sie leise.
»Schlimm?« Seine Augen fliehen vor ihr. »Ich bin zu Hause
...«, antwortet er schließlich. Aber es klingt, als ob er es selbst nicht glauben würde.
Dann zuckt Klaus zusammen. Draußen trappeln Kinderfüße.
»Mami ...« ruft eine helle, kleine Stimme.
»Er?« fragt Klaus stockend.
»Dein Sohn«, erwidert Doris lächelnd.
Sie steht auf und geht dem Kind entgegen, nimmt es am Arm. Es lacht und tobt. Dann sieht es den fremden Mann.
»Mami«, fragt der kleine Klaus erschrocken.
»Er ist da ...«, erwidert Doris.
Der Heimkehrer sitzt wie angewachsen. Um Gottes willen, denkt er, ich bin fertig ... ich halt’ das nicht mehr aus. Und an 299
seinen zermarterten, blankgelegten Nerven zerrt das Gewicht einer jahrelangen Lüge. Er, der nichts weiter will, als traumlos schlafen, als in die Unendlichkeit des Vergessens hinüberdämmern, wird schon in der ersten Stunde nach der Rückkehr von der brutalen Wahrheit angefallen.
»Papi«, sagt der Kleine schluckend und tapfer. Seine Augen sind rund und groß. Ein zaghaftes Lächeln blüht auf Kinderlippen, trotzig noch, aber voller Zutrauen. Klaus blickt zerstreut in helle Kinderaugen. Sie sind nicht von mir, sie sind von ihr, das ist alles, was er empfindet. Dabei fährt er mit zäher Hand dem Kind leicht über die Haare. Dann schlägt er nach hinten, quer über die Couch, wühlt den Kopf in das einzige Kissen.
»Geh’ schon, Kind«, sagt die Mutter, »er ist so müde ...«
Während der Heimkehrer schläft und dabei den Weg von Berlin bis in das bayerische Dorf geht, immer und wieder, an den Gehängten vorbei und von den russischen Verfolgern gehetzt, kommen die Dorfbewohner und gratulieren Doris. Sie muß den Kopf abwenden. Sie schämt sich, daß sie weint. Nicht vor Glück, aus Enttäuschung.
Vor Erschöpfung lebt er noch in einer Schleuse, redet sie sich ein, in der es weder Freude, noch Leid gibt. Zuerst sitzt sie am Bett ihres Kindes. Dann an der Couch neben dem schlafenden Mann. Sie betrachtet forschend sein Gesicht. Die Entspannung macht die scharfen Falten weicher. Der Schlaf verjüngt seine Züge, wischt die Schicht ab, die der Krieg darüberschmierte. Er ist da, denkt sie, und es ist gut, daß er da ist. Und wir werden wieder zueinander finden, ganz gewiß. Zu dumm, jetzt, wo alles gut ist, endlich ...
In den nächsten Wochen ändert sich nicht viel. Der Friede ist barbarisch. Statt Glück gibt es Kalorien, statt Brot Hungerödeme, statt Kohlen Kälte, statt Geld amerikanische Zigaretten. Diese Währung begräbt alles andere unter sich. Das 300
Motto der Zeit ist so freudlos wie die Kopftücher der Frauen, und es hämmert: Jeder ist sich selbst der Nächste. Es ist die Zeit, in der Millionen suchen und Hunderttausende nicht finden. Es ist die Zeit, in der Ehen zerbrechen, Freundschaften schmelzen, wo der ordinäre, dreckige Alltag die letzte Würde des Menschen frißt.
Ich bin glücklich, redet sich Doris ein, bis sie es glaubt. Nur das Gesicht, das aus dem Spiegel zurückkommt, glaubt es nicht. Zum ersten Male in ihrem Leben führt Doris die Ehe, die seit Jahren auf dem Papier steht, wirklich.
Zunächst ist sie froh, daß in diesen Wochen das tägliche Brot und die tägliche Milch die Gemeinschaft bis zum Rande ausfüllt. Klaus arbeitet bei Bauern. Wenn er sich abends müde in sein Bett wirft, bemerkt Doris, daß sein Gesicht wieder Farbe bekommt, und seine Arme Muskeln. Wenn die Universität aufmacht, will er studieren.
Aber etwas stimmt nicht. Durch ein unsichtbares Loch versickert die gegenseitige Zuneigung wie Blut. Jedesmal wenn Klaus mit seinem Jungen spielt, fühlt Doris den verkrampften, kalten Griff am Herzen. Nicht, daß der Heimkehrer kein vorbildlicher Vater wäre. Aber Doris hat jedesmal die Empfindung, es sei etwas nicht echt und nicht wahr, wenn sich ihr Mann mit dem Kind beschäftigt. Manchmal fängt sie einen raschen, ängstlichen Seitenblick von ihm auf, als wolle er sich vergewissern, daß sie nicht merkt, wie sehr er nur um ihretwegen mit dem Kind spielt.
Eines Abends spricht Doris mit ihm darüber. In der Ecke der Stube ist der Tag schneller gestorben als draußen.
»Klaus«, fragt sie leise, »was ist eigentlich los?«
Er legt die dünne Zeitung weg.
»Was soll los sein, Doris?« Er lacht unsicher.
»Bitte«, fährt sie fort, »sag es ... du bist so verändert ... und das Kind ... manchmal glaube ich, daß du es gar nicht magst 301
...«
Er schiebt sie sanft weg. Sein Gesicht ist mit einem Male grau. Feldgrau.
»Unsinn«, würgt er heiser, »ich verstehe dich nicht.«
Doris gibt es auf.
Am nächsten Morgen findet sie auf dem Küchenherd einen Zettel:
»Ich komme wieder. Ich muß etwas suchen. Du wirst alles verstehen. Hab’ Vertrauen, Doris ...«
Die Buchstaben winden sich vor ihren Augen wie Gewürm
...
Bremsen kreischten, Pfiffe schrillten, Kommandos schallten, Polizisten sprangen von Lastautos. Das Netz, das sie auswarfen, war zufällig und sinnlos. Die Razzia vor dem Münchner Hauptbahnhof stellte eine Fuhre des Schicksals zusammen. Baumlange MP’s standen im Hintergrund, kauten auf ihren ewigen Chewing Gums, wickelten sich ihre ›stiks‹
um den Finger und sahen zu, wie die uniformierten Krauts die normalen Krauts zusammentrieben. Sie wurden alle über ein Lastauto geschoren. Ob es nun die alte Frau war, die mit schwarzgekauftem Insulin ihrem zuckerkranken Mann das Leben verlängerte, oder die Sekretärin, die es leid war, mit nackten Beinen herumzulaufen, oder der Amputierte, dessen geschundener Körper nach Morphium gierte, oder der Familienvater, der die Fettration seiner Kinder umsetzte, um seine Lungen mit Nikotin zu füttern. Sie alle schrien durcheinander und resignierten, als man sie ins Polizeipräsidium karrte.
Der Mann im grünen Lodenhut sagte kein Wort. Er holte seinen Ausweis aus der Tasche und prüfte ihn mit starren Hechtaugen. Gar nichts merken die, dachte der desertierte Obersturmbannführer Westroff-Meyer.
302
Sie wurden allein vernommen. Zuerst die Frauen. Dann die Halbwüchsigen. Schließlich die Männer. Wer kein Hamstergut bei sich hatte und sich ausweisen konnte, durfte gehen. Niemand entschuldigte sich für den Zwischenfall. Die deutschen Polizisten, die in ihren Uniformen verzweifelt Gasablesern ähnelten, waren viel zu müde dazu. Oder zu gleichgültig. Erst nach Dienstschluß organisierten sie für sich das, wofür sie ihre Mitbürger befehlsgemäß zu jagen hatten.
»So«, sagte ein Inspektor, »Sie heißen Bauer ... stammen aus Berlin ... Beruf?«
»Kaufmann.«
»Und was hatten Sie im Bahnhof zu suchen?«
»Gar nichts.«
»Sehen Sie ...«
»Was heißt das?« braust Westroff-Meyer auf.
»Sie wissen genau, daß das eine Schwarzmarktzone ist.«
»Ich weiß gar nichts.«
Gerade als der Inspektor den Mann mit den falschen Papieren entließ, betrat ein Sergeant der MP das Vernehmungszimmer. Entweder wollte sich der junge GI die Zeit vertreiben, oder er war schlecht gelaunt, oder er spürte instinktiv Abneigung gegen den entlaufenen
Obersturmbannführer.
»Stop«, sagte er.
Dann rollte der Jeep in das Headquarters der Militärpolizei, Westroff-Meyer mußte sich ausziehen. Der Sergeant sah am Oberarm das Blutgruppenabzeichen der SS und rief den CIC an. Bis er eintraf, mußte Westroff-Meyer in die Zelle. Der Leutnant des CIC hatte ein Gesicht mit einer fahlen, grünlichen Haut. Er kannte Dachau und Buchenwald. Er hielt beim Sprechen den Kopf schief und bewegte kaum die Lippen. Er wirkte träge und gleichgültig. Sein Gesicht hatte etwas 303
seltsam Totes. Er sprach fließend deutsch.
»Also, Sie waren bei der SS?« begann er.
»Ja«, erwiderte Westroff-Meyer kleinlaut, »aber nur Reserve.«
»Dienstgrad?«
»Untersturmführer.«
»Dienststelle?«
Westroff-Meyer zögerte.
»Denken Sie sich Ihre Lügen rascher aus ...«, fuhr der Leutnant fort, während er seine Fingernägel betrachtete. Sie waren in Ordnung.
»Lebensborn«, erwiderte der Verhaftete. Er biß sich gleich darauf auf die Lippe.
Er wollte zu einer längeren, verlogenen Erklärung über Ziele und Methoden dieser staatlichen Aufzucht ansetzen, aber der Leutnant schnitt ihm das Wort ab. Er wußte Bescheid.
»Sie waren nicht in Deutschland ...«, zeterte WestroffMeyer, »Sie können sich das nicht vorstellen ... natürlich war das alles ein Wahnsinn ... Aber wer etwas dagegen sagte, der riskierte ja seinen Kopf.«
Der Leutnant nickte.
»Sie werden verstehen, daß ich als früherer Corpsstudent mit diesen Leuten gar nichts zu tun haben konnte ...«
»Sie waren Ihnen nicht fein genug?«
»Das auch ... Sehen Sie, meine Verbindung war immer national ... aber niemals nationalistisch ...«
»Hm«, erwiderte der Leutnant, so gut wie interesselos, »und Ihre SS war immer nationalistisch, aber niemals national ...«
Der spinnt, dachte der ehemalige Obersturmbannführer. Aber er ist nicht so übel. Vielleicht ein Jude. Vorsichtig sein. Der Führer war ein Arschloch, warum hat er sie bloß nicht alle 304
umgelegt?
»Sie hatten also«, begann der CIC-Mann mit brutal unterdrücktem Spott, »außer der Tatsache, daß Sie SS-Offizier waren, nichts mit der SS zu tun?«
»Genau.«
»Wenn ich Sie recht verstehe«, fuhr der Amerikaner mit einem abschließenden Blick auf seine Fingernägel fort, »dann haßten Sie sogar diese Leute?«
»Auch das.«
»Dann verstehen Sie auch, warum wir sie einsperren?«
»Sicher.«
»Dann müßte Ihnen sogar daran liegen, daß wir sie einsperren?«
Westroff-Meyer nickte. Sein feister Stiernacken tat ihm den Gefallen.
»Dann könnten Sie uns auch dabei helfen?«
»Wie meinen Sie das?« fragte der Verhaftete lauernd.
»Es würde Ihre Lage nur verbessern ...« Um die Lippen des CIC-Offiziers sprühte der Ekel.
»Verbessern?«
»Sie wissen genau, daß fast der ganze Stab des Reichssicherheitshauptamts zum Beispiel untergetaucht ist ... mit falschen Papieren ... irgendwo ... in Oberbayern oder im Ausland ... diese Leute interessieren mich«, fuhr der Leutnant träge fort. »Nun fragt es sich erstens, ob Sie wissen, wo sie sind ... und dann zweitens ...«, der CIC-Mann sah zum Fenster hinaus, »ob Sie uns den Weg zu ihnen zeigen ...«
»Und dann?« fragte der ehemalige SS-Obersturmbannführer mit trockenen Stimmbändern.
»Das wird sich finden«, entgegnete der Offizier unverbindlich.
305
Und so wurde nach einem Zehnminutengespräch aus einem Mörder ein Verräter. Diesmal ging es gegen die eigenen Leute. Warum nicht? Keiner streckt seinen dicken Kopf gerne durch die Schlinge. Galgen sind unschön. Was fällt, soll man noch stoßen! Peinlich, sicher ... aber nichts ist peinlicher, als die eigene Hinrichtung.
Westroff-Meyer streckte fahrig dem Leutnant die Hand hin. Der Offizier übersah sie. Er ging in den Nebenraum und spülte sich mit einem Wasserglas voll Whisky die Verachtung in den Magen.
Dann ging er mit dem ehemaligen SS-Obersturmbannführer auf Reisen ...
Klaus Steinbach sitzt mit leeren Augen in überfüllten Zügen. Er fährt auf Trittbrettern und in Güterwagen. In seinem abgeschabten Offiziersmantel wird er wieder zum grauen Punkt in der fahlen Masse der deutschen Völkerwanderung des Jahres 1945.
Er hat keine Richtung, aber ein Ziel. Er sucht viel mehr als den eigenen Sohn. Er sucht das Glück, das einmal zwischen ihm und Doris war. Und er weiß, daß er es nur finden wird, wenn er den Jungen zurückbringt.
Zunächst läßt er sich vom Instinkt leiten. Alles Leben, das aus der tödlichen Presse der zusammengedrückten Fronten gerettet wurde, floh nach Nordwesten. Klaus schafft Hamburg in acht Tagen. Da erst beginnt die Odyssee nach dem verlorenen Sohn, der keine Eltern hat und keine Heimat und nicht einmal über einen richtigen Namen verfügt. Klaus fragt bei Jugendämtern und auf Pfarrgemeinden, in
Diakonissenheimen und in Waisenhäusern. Er stößt auf Achselzucken mit und ohne Mitleid. Einmal bekommt er statt einer Auskunft einen Teller Suppe, und ein andermal wäre er fast verhaftet worden. Nach einem Kind zu fragen, das aus dem Lebensborn kommt, verrät Wissen über eine wahnwitzige 306
Organisation.
Die Schuhe zerfallen an den Füßen, die Hoffnung zerbröckelt im Gesicht. Klaus besitzt kein Geld mehr, um zu essen, und noch weniger verfügt er über Mut, aufzugeben. Er weiß, daß Erika bis zuletzt in Berlin war. Und solange sie konnte, auf den Jungen achtete. Er hat die Anschriften einiger Verwandter des jungen resoluten Mädchens. Aber bis jetzt taugten die Auskünfte nach Erikas Adresse nichts. So zieht er weiter, durch Schleswig-Holstein, durch Dörfer, Siedlungen und Städte. Von der Hoffnung hoffnungslos vorwärtsgepeitscht. Die Magd eines Landpfarrers wirft ihm die Tür vor der Nase zu. Im gleichen Moment kommt der Geistliche den Gartenweg herauf. Er hat einen struppigen, alten Kopf mit einer Haut wie ein Lederüberzug. Nur seine Augen leben noch.
»Ja«, sagt der Pfarrer schlicht, als er die Frage von Klaus vernommen hat, »davon weiß ich was.«
Er stopft sich bedächtig die Pfeife, während Klaus über das Seil der Erwartung taumelt.
»Es war einmal eine Frau hier«, beginnt der Priester, »und hat gefragt, ob wir Pfarrstellen hier Waisenkinder aufnehmen könnten ... es waren so Drei-, Vierjährige aus diesen Naziheimen ...«
»Und?« fragt Klaus benommen.
»Ja«, brummt der Pfarrer, »bei mir ging es nicht ... auch für die Nächstenliebe braucht man Platz, und ich habe keinen ... Ich hab’ mir die Adresse der Frau notiert.«
Klaus steckt den Zettel in die Tasche. So war es hundertmal. Namen, nichts wie Meilensteine einer namenlosen Verzweiflung.
Der Pfarrer sieht an Klaus vorbei.
»Suchet, und ihr werdet finden ...«, sagt er. Seine Worte 307
schweben so verloren im Raum, als ob sie den Glauben an die Heilige Schrift verloren hätten.
So bettelt sich Klaus weiter. Von Tür zu Tür. Nicht um Brot. Sondern um sein Kind. In Kiel. In Lübeck. In Hamburg.
»Wir sind zwar nicht zuständig«, sagen die Beamten, »aber versuchen Sie doch mal ...«
Und wieder hockt der entlassene Offizier auf der Bahn. Mit angezogenen Füßen. Mit tauben Ohren. Mit einem Loch im Magen. Der Regen tropft vom Wagendach. Draußen flitzen die Trümmer vorbei. Unter ihnen Tote. Auf ihnen Unkraut. Neben ihnen Frauen, die mit bloßen Händen die Steine abtragen. Die Größe der Zeit ... Räder müssen rollen für den Sieg. Führer befiel, wir folgen dir. Die Rattenplage ist unerträglich. Lysol gegen Leichen und Ungeziefer ...
Nach Hause, denkt Klaus müde. Es ist sinnlos. Er wird Doris alles sagen und es wird nicht einmal mehr Überwindung kosten.
»Ich hab’ dich angelogen«, wird er sagen, »dein Glück ist eine Lüge ... macht nichts, wenn du damit nicht fertig wirst ... ich bin schon lange daran kaputtgegangen.«
Der Zettel des Pfarrers steckt noch in seiner Tasche. Die Frau wohnt in Hannover? Hannover? Ach ja, Erika hat dort Verwandte. Er hatte sie vergeblich gesucht. Er liest die Schrift:
›Erika Vogel‹ Erika? Seltsam ...
Die Engländer stoppen den Zug in Uelzen. Sie kämmen das Untere nach oben. Es dauert vier Stunden, ehe der Zug weiterfahren kann. Gleichgültig. Die Zeit hat keinen Begriff für die Zeit.
Hannover. Trümmerwohnung am Stadtrand. 15 Menschen in drei geborstenen Stockwerken. In der zweiten Etage hängt ein Schild:
›Vogel ... dreimal läuten.‹
308
Klaus hört Schritte. Der Zettel flattert aus seiner Hand.
»Erika ...«, sagt er starr.
Sie ist kein Mädchen mehr. Das satte Blond ihrer Haare ist vergilbt. Die fülligen Lippen werden von scharfen Falten eingeengt. Die junge Frau lächelt nicht mehr. Ihr lockerer Witz ist in Berlin zurückgeblieben.
»Ja ...«, erwidert sie mit seltsam regloser Stimme, »ich heiße Vogel ... mein Mann ... Berlin ...« Sie ordnet die Worte und setzt hinzu: »Ich bin Witwe ... und Sie suchen Ihr Kind ...«
»Ja«, entgegnet Klaus fahl.
Erikas Gesicht bleibt starr, als sie zu dem kraftlos in den Türrahmen gelehnten Vater sagt:
»Ich weiß, wo es ist ...«
Der Jeep rollte kreuz und quer. Der CIC-Leutnant saß vorne rechts neben dem Fahrer. Hinten kauerte Westroff-Meyer und steuerte die Denunziation. Ab und zu wies der amerikanische Offizier mit einer Geste den Fahrer an, ihm eine Zigarette zu geben. Auch die Lebensmittel erhielt der ehemalige SSObersturmbannführer aus zweiter Hand. Der Leutnant demonstrierte, daß er seinen Helfer nicht einmal mit der Beißzange anfassen wollte.
Er sagte nichts. Kein Wort auf der ganzen Fahrt. Seit er das Grauen von Dachau gesehen hatte, graute ihm vor dem Sprecher.
Immer das gleiche: der Wagen stoppte, Westroff-Meyer nickte. Der Leutnant nestelte an seiner Pistolentasche. Sie gingen zu dritt auf das Haus zu. Sie klingelten. Sie stürmten an der Frau oder dem Mann vorbei, der die Tür öffnete. In den Keller marsch, marsch, oder auf den Boden. Immer dasselbe betroffene Gesicht. Und immer die nämlichen, unsteten Augen und das bestätigende Kopfnicken der Resignation. Wieder einer gefaßt. Meistens mit Recht.
309
Der ehemalige Obersturmbannführer kannte die
Schlupfwinkel seiner alten Kameraden gut. Seine Informationen saßen auf Taille. Von Station zu Station wirkte er zufriedener. Er lebte sich in seine Aufgabe ein, und seine Aufgabe lebte vom Verrat. Seine Gemeinheit bekam Beine, und die Beine liefen schneller als der Jeep. Der Wagen holperte durch die amerikanische Zone. Seine Achsen hämmerten im Rhythmus des Marsches: Alte Kameraden ...
Wieder stoppte der Wagen. Vor einer Villa. Hier hatte sich der Sturmbannführer Schultes verkrochen, früher einmal einer der besten Freunde Westroff-Meyers. Er wurde gefunden. Er sah in das ausdruckslose Gesicht des CIC-Leutnants. Dann pendelte sein Blick zu Westroff-Meyer. Er begriff:
»Du Sau!« sagte er, »du beschissene, erbärmliche Drecksau!«
Westroff-Meyer schlug ihm ins Gesicht.
Der Leutnant nickte und spuckte aus.
Nach drei Wochen hatte der ehemalige Obersturmbannführer seinen letzten Kumpan den Amerikanern ans Messer geliefert.
»Ich bin fertig«, sagte er zu dem Leutnant.
»Denken Sie scharf nach, Herr Bauer.«
»Ich habe Ihnen 14 SS-Funktionäre übergeben ...«
»Sie haben ganz gut gearbeitet«, versetzte der CIC-Offizier fast schläfrig, »aber einer fehlt noch.«
»Einer?«
»Ja ... der ehemalige Obersturmbannführer Westroff-Meyer
... kennen Sie ihn, Herr Bauer?«
»Nein«, antwortete der Denunziant tonlos.
»Aber ich ... ich verhafte Sie hiermit wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen in Polen, in Hunderten von Fällen ...«
Der Leutnant spuckte zum letzten Male aus.
»Das ist Betrug«, brüllte der ehemalige
Obersturmbannführer. »Laßt mich gehen! ... Ich sage euch alles
... was ihr wollt ... aber mich doch nicht! Ich hab’ doch nichts getan! Das war doch nur die Vomi!«
»Die sogenannte Volksdeutsche Mittelstelle, ja – mit der haben Sie immer zusammengearbeitet!«
Der Leutnant winkelte träge das Bein ab und trat ihn gleichgültig in den Unterleib.
Der ehemalige Obersturmbannführer sackte zusammen. Von da ab lebte er unter dem Strick, der leider viel zu kurz war, um alle Leute seines Schlages zu hängen ...
19. KAPITEL
Das Waisenhaus ist bei Flensburg. 77 Kinder des Lebensborns. Und nur eines wird gesucht. Die Kinder bleiben beamtetem Mitleid oder zeitgebundener Gleichgültigkeit überlassen. Konkursmasse des Dritten Reiches. Kinder ohne Mütter, ohne Liebe, ohne Zuhause, grau uniformiert, elendes, armseliges Strandgut einer Zeit, die nach Milchkarten rechnet, das Brot rationiert und die Fürsorge behördlich regelt. Endstation Lebensborn ...
Erika begleitet Klaus.
»Es ist besser so«, sagt sie, »mich kennen die Leute schon. Ich habe einen Teil der Kartei gerettet, und mache eine Art Abwicklung für den Lebensborn ...«
»Sie sind ein feiner Kerl, Erika.«
»Ich bin fertig«, erwidert die junge Frau wie versteinert,
»fertig mit allem.«
Am Nachmittag betreten sie das Heim. Erika spricht mit der Verwaltung. Es dauert lange. Klaus kämpft gegen Gespenster. Dann kommt der Heimleiter. Sein Blick ist streng. Erikas Gesicht bleibt ausdruckslos. Klaus zuckt zusammen.
»Schon gut, daß Sie kommen«, sagt eine rostige Stimme, »je mehr wir loswerden, um so besser.«
»Ich wollte ... ich möchte ... ich bin«, beginnt Klaus. Die Fetzen vorbereiteter Sätze rennen gegen offene Türen.
»Wann wollen Sie fahren?« fragt der Heimleiter. Klaus schluckt.
»Am liebsten sofort.«
»Sehr gut ... es ist schnell gepackt. Das Kind hat ja nichts ... Unterschreiben müssen Sie noch.«
Erika sieht zum Fenster hinaus.
Als Klaus ein paar Minuten später den Kopf vom Formblatt hebt, steht eine Pflegerin in der Tür. Sie hält an der Hand einen blassen, vielleicht dreijährigen Jungen. Er trägt einen grauen Anstaltskittel, der ihm zu weit und zu lang ist.
»Mein Gott«, sagt Klaus. Er schwankt auf die Tür zu. Er sieht in das blasse Gesicht seines Jungen.
»Klaus ...«, sagt er leise.
Das Kind weint.
»Er fürchtet sich vor allen Fremden«, erklärt die Pflegerin.
»Natürlich«, antwortet Klaus. Seine Stimme vibriert. Behutsam nimmt er den Jungen auf den Arm.
»Ich ... ich bin ... vor mir brauchst du keine Angst zu haben
... ich bin dein Vater ...«, sagt er bittend. Aber der kleine Junge weiß nicht, was ein Vater ist. Er weint leise vor sich hin, während Klaus mit ihm aus dem Zimmer geht. Er denkt an sein Schicksal, das ein fremdes Kind voller Vertrauen zu ihm aufsehen läßt, während der eigene Junge vor dem Vater den Kopf verbirgt. Und mit dem Gewicht seines Kindes auf dem Arm spürt er die ganze Last eines ungeheuerlichen Unrechts, das er drei Jahre lang für Doris ertrug.
»Das gibt sich«, sagt Erika neben ihm. Sie fährt mit klammen Fingern dem Jungen leicht über den Kopf.
»Ich weiß«, entgegnet Klaus Steinbach automatisch. Als er sich von Erika trennt, in der verschmutzten Halle eines stickigen, überfüllten Wartesaals, ist das Kind auf seinen Knien eingeschlafen. Die Lippen sind halb geöffnet, und eine der kleinen Fäuste klammert sich fest an die Jacke von Klaus, als griffe der kleine Junge nach einem Halt, nach Liebe, nach Vater und Mutter.
Mit der freien Hand greift Klaus über den Tisch nach Erikas 313
Arm.
»Vielen ... vielen Dank«, murmelt er.
»Nichts zu danken.«
»Erika«, setzt er an. Er kommt nicht weit.
Die junge Frau nickt. Ihre Augen sind naß. Sie beugt sich noch einmal über das schlafende Kind.
»Ist ja ... alles gut geworden«, sagt sie mit gefrorener Stimme.
»Wir müssen alle wieder lernen, zu leben«, erwidert Klaus brüchig.
»Ja«, entgegnet Erika. Dann dreht sie sich brüsk um und geht mit leerem, hohlem Schritt, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Schultern leicht gegen den Boden gebeugt, mit den Gedanken in Berlin, das die Russen stürmen, und fünf oder acht kommen auf sie zu, in braunen Uniformen, mit breiten, aufgedunsenen, gierigen Gesichtern ...
Drei Tage braucht Klaus zum Rückweg. Die Freude wechselt mit Angst. Und die Angst wird von der Mutlosigkeit abgelöst. Die letzten Schritte durch das kleine Dorf geht der frühere Hauptmann so schleppend, als hätte er Bleiklumpen an den Füßen. Er wagt nicht, sich umzusehen. Die Bauern kennen ihn alle. Sie sagen:
»Grüß Gott, Herrn Steinbach ... wieder im Lande?«
Dann sehen sie verwundert dem fremden Kind nach. Der kleine Junge trippelt an der Hand seines Vaters. Er ist schon ganz zutraulich geworden, auch wenn er das Wunder noch nicht begreift.
»Wohin gehen wir?« fragt er.
»Nach Hause«, antwortet Klaus Steinbach.
»Nicht nach Hause ...« bettelt das Kind ... Für den Jungen ist das Zuhause das Heim, und dorthin will er nicht zurück. 314
»Zur Mutti«, erwidert Klaus heiser.
»Mutti?« Der Dreijährige schüttelt fragend den Kopf. So gehen sie auf das Haus zu. Klaus sieht Doris schon von weitem. Sie wendet ihm den gebeugten Rücken zu, während sie Unkraut im Garten jätet. Klaus möchte einfach auf sie zugehen und sie zärtlich in die Arme nehmen. Auf einmal spürt er nichts mehr von seiner Sorge. Er hebt das Kind in Höhe des Gartenzauns.
»Ruf mal: Mutti!« raunt er seinem Kind ins Ohr ... Langsam dreht sich Doris um. Sie erkennt Klaus, richtet sich auf. Die Hacke gleitet zu Boden. Ihr Gesicht belebt sich. Sie wischt sich mechanisch die Hände an der Schürze ab und kommt näher, sieht Klaus, ihren Mann, ernst an. Er nickt ihr zu. Er hält sein Kind an der Hand fest, das neugierig und etwas erschrocken die fremde Frau ... die eigene Mutter betrachtet.
»Bist du wieder da?« fragt Doris leise.
»Ja«, antwortet Klaus, »und diesmal für immer ... und nicht allein ...«
Die Augen von Doris streicheln das Kind. Automatisch entspannt sich ihr Gesicht. Sie will etwas fragen. Die Lippen zucken hilflos. So steht sie einen Moment hölzern da, während Klaus ohne weitere Einleitung sagt:
»Sieh’ ihn dir einmal ganz genau an ...«
Der Blick von Doris gleitet ab, saugt sich an dem Jungen fest. Ihr Mund öffnet sich halb. Nie wird Klaus diese erste Sekunde des Erkennens vergessen. Und immer wird er wissen, wie schön es war, dafür gelebt und gekämpft zu haben.
»Nein«, sagt Doris wie benommen. Der Schock ist so groß
wie die Freude, der Zweifel so stark wie die Ahnung. Sie stützt sich schwer am Zaun fest.
»Klaus«, sagt sie leise, »bitte ... das gibt es nicht ... das ...«
»Doch«, antwortet er ruhig, »das ist wirklich dein Kind ... unser Kind ... nicht wahr, Klaus?«
»Ja«, erwidert der Dreijährige ernst und folgsam. Da geht Doris auf ihn zu, zieht ihn an sich. Der Kleine will zurückweichen. Dann lacht er, schlingt die dünnen Arme um die erste, einzige Mutter seines bescheidenen Lebens. So zieht ihn Doris ins Haus. Als Klaus Steinbach langsam und nachdenklich die Diele betritt, stehen dort seine beiden kleinen Buben nebeneinander. Doris kniet zwischen ihnen.
»Siehst du, Klaus«, sagt sie lachend wie weinend, »das ist dein Brüderchen ...«
Sie sagt es zum einen wie zum anderen. Sie heißen ja beide Klaus.
Der Schock löst sich in Tränen auf. Sie laufen der jungen Frau über das Gesicht. Sie steht auf, lehnt sich gegen ihren Mann.
»Wie kam ... Was ist ...«, fragt sie betroffen.
»Später ...«, entgegnet er.
Doris sieht ihn ängstlich an.
»Es bleiben beide unsere Kinder?«
»Beide«, erwidert Klaus fest, fast feierlich.
»Und du willst das wirklich?«
»Ich wollte nie etwas anderes«, antwortet Klaus, nun echter Heimkehrer aus dem Krieg, friedlich und befriedet, glücklich und beglückt, weich und gelöst, hart geworden und weich geblieben. »Aber ich konnte es dir nicht sagen, ohne dich unglücklich zu machen ... und deshalb hast du mich nicht verstanden ...«
»Mein Gott«, erwidert Doris.
Und in dieser Sekunde begreift sie alles, die Last, die er trug, das Opfer, das er brachte, die Verzweiflung der letzten Jahre, die Lüge der Menschlichkeit, die ihn so unmenschlich quälen 316
mußte. Und so steht sie beinahe ergriffen vor ihm, liebt ihn wie nie zuvor, legt ihre Arme um ihn, drückt sich gegen ihn. Es ist die erste, echte Umarmung seit dem Ende des Krieges
... •
Westroff-Meyer trug nicht das Antlitz eines Menschen, sondern die Fratze des Teufels. Er trommelte mit den Fäusten gegen die graugetünchten Wände. Aber die Mauern hielten so dicht, wie die Beweise vor Gericht. Er riß sich die Kleider in Fetzen. Sein Atem rasselte stechend durch die Lungen. Er brüllte, schrie, tobte. Er weinte. Er lachte. Er bereute und er tötete in der nächsten Minute wieder. Er bat die Menschen, die er haßte, um Gnade. Er bot ihnen alles, außer dem Leben. Das Mitleid mit sich selbst raste durch seinen Körper. In diesen Stunden wollte er Tote lebendig machen. Aber sie waren vermodert. In Polen. Frauen, Kinder, Männer ... vergast, erstochen, zertrampelt, erschossen, verscharrt, vernichtet, liquidiert. Ihr letzter Blick, ihr letzter Fluch, ihr letztes Gebet hatten sich zu erfüllen.
An dem früheren SS-Obersturmbannführer Westroff-Meyer, dessen Uhr abgelaufen war.
In sieben Stunden. Die äußerste Strafe war mild genug: ein einziger Tod für das Leiden in Polen, für die Gehängten an den Bäumen, für den Verrat an den Kameraden, für jede Art von Gemeinheit, Verbrechen und Perversion.
Das Urteil war gesprochen. Das Gnadengesuch verworfen. Der Henker bestellt. Der Sarg geöffnet. Aus dem aufgeworfenen Grab griff die Schuld mit Knochenarmen nach ihm, nach seinem Hals, nach seinen Haaren, nach seinem Atem, nach seinem Herzen.
Er stand und horchte. Er stöhnte und röchelte. Der Priester kam.
»Wollen Sie Ihr Gewissen erleichtern?«
»Nein!« brüllte Westroff-Meyer.
Dann holte er den Mann im schwarzen Rock zurück.
»Ja«, sagte er, »ich habe ...«, begann er, »ich bin ein ... ich bitte um ... ich wollte doch nicht ...« Dann fuhr er hoch.
»Nein!« brüllte er, »ihr bringt mich nicht um! Ich bin unschuldig! Ich habe nichts getan! Laßt mich leben!«
Der Henker hatte Zeit. Fünf Stunden noch.
Die Zelle drehte sich wie ein Kreisel. Der Strick zerrte am Hals. Er würgte und drückte. Westroff-Meyer hörte den Ruck. Er sah den leeren Sarg, das Grab, die Erde. Er heulte. Er warf den Schemel gegen die Wand.
Am Guckloch erschienen die Augen des Postens. Augen ohne Mitleid. Mitleid wäre in die Gosse geschüttet, Erbarmen tödlich. Wer Blut vergießt, des Blut soll vergossen werden ... Wer Gott aufs Herz tritt, hat ohne Gott zu sterben. Westroff-Meyer kauerte wieder stumpf auf seinem Hocker. Er saß in diesen Minuten, die die letzten seines Lebens waren und sich dehnten wie Gummiseile, wieder auf der Anklagebank von Nürnberg. Er kämpfte, leugnete, denunzierte. Er versuchte, die anderen in den Strudel hineinzuziehen, um aus dem fauligbraunen Tümpel herauszukommen. Er wollte die in Blut gebadete Hand zum Meineid heben. Er bat und wimmerte. Nur die Schuld ist so würdelos und feige. Und rings um den Angeklagten wob sich die Verachtung zu einem Leichentuch. Die Gerechtigkeit war nicht so uniformiert wie die Richter. Sie wußten zu unterscheiden. Der biedere Standartenführer aus der Verwaltungszentrale des Lebensborns in München wurde freigesprochen. Westroff-Meyer, der blutige Herodes von Polen, hatte zum Galgen zu marschieren. Mit eigener Kraft oder mit fremder, einsichtig oder verstockt, versöhnt oder mit Haß auf den Lippen, dessen Gefolgsmann er war. Der Strick stellt keine Fragen ...
Schritte. Die rostige Tür. Der bullige MP-Mann. Ein Kopfnicken. So endgültig wie der Tod. Ein Zögern. Ein Griff. 200 Meter noch. Westroff-Meyer blieb stehen. Er schlug mit den gefesselten Fäusten um sich. Es half ihm nicht mehr als die flehend erhobenen Hände den Müttern in Polen. Sein Herz knatterte in den Ohren wie ein Maschinengewehr. Seine Lippen wurden dick. Sein Gesicht verfiel Sein Leben zerrann. Nur die Angst wuchs ins Unendliche.
Seine Schreie hallten von den Wänden wider. Sein Sterben war so abscheulich wie sein Leben. Und so erbarmungslos. So brutal. Selbst noch so egoistisch.
Fünf Holzstufen noch bis zum Grab. Drei Schritte noch bis zum Henker. Fünf Sekunden noch bis zum Strick. Die Schlinge. Die Kapuze. Nein, das tun sie nicht! Keiner hat das Recht, mich zu töten! Man darf nicht sterben lassen! Niemand darf das! Jedem gehört sein Leben. Ihm allein. Und es hat natürlich zu enden, nicht an einem Stück Seil Sie stützten ihn nicht mehr, sie zerrten ihn. Nicht einer der Soldaten und Zivilisten, die Westroff-Meyer in den letzten Tagen des Krieges an den Baum knüpfen ließ, starb so lange, und so leer, und so würdelos ... und so gründlich. Solang er noch sprechen konnte, schrie er nein. Die Kapuze dämpfte seine Stimme. Sie war noch laut genug. Das schwarze Tuch machte ihn blind, bevor sein Blick brach. Der unmenschliche Ruck, der ihm den Halswirbel zerbrach, war ein Akt der Humanität.
Die Zeit normalisierte sich. Die ersten Trümmerberge wurden gerodet. Die Wunden des Krieges heilten langsam und schmerzvoll. Das Leben ging weiter. Für Klaus, Doris und die beiden Kinder in ihrer süddeutschen Heimatstadt. Der frühere Fliegerhauptmann studierte an der Universität Jura. Er hatte sich rascher vom Krieg gelöst als die Zeit. Und das Gespenst des hingerichteten Westroff-Meyer lag so weit hinter ihm wie sein Ritterkreuz.
Die Familie hatte eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung gefunden. Der Vater von Klaus half nach. Die Kinder wuchsen wie Zwillinge auf, tobten im Garten, verprügelten und liebten sich. Doris war vollauf mit ihnen beschäftigt. Und sie nahm ihr Versprechen ernst: keinen von beiden zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Sie liebte sie gleich, den richtigen wie den falschen, der von der Familie Steinbach adoptiert worden ist und jetzt den Vornamen Martin führte. Längst hatte der richtige Klaus das Wort ›Mutter‹ sagen gelernt ohne zu stocken oder rot zu werden. Das Glück war bescheiden und die Bescheidenheit glücklich. Gegenwart und Zukunft verwuchsen zu einem geraden Pfad in den Frieden.
Auch für das Strandgut des braunen Jahrzwölfts, für Tausende von herrenlosen Kindern. Viele von ihnen fanden deutsche Pflegeeltern. Andere wurden von amerikanischen und englischen Familien adoptiert. Die in Polen geraubten Jungen und Mädchen konnten, soweit identifiziert, ihren Eltern zurückgegeben werden.
Der Lebensborn-Kinder nahmen sich die Kirchen an, erzogen sie zu Menschen im Glauben an Gott.
Der Lebensborn, diese wahnwitzige, perverse Organisation, von der Millionen nichts gewußt hatten, war tot. Himmlers im kleinsten Kreis geäußerter Plan, nach dem Krieg jede unverheiratete 30jährige Frau zwangsweise zur Mutter mindestens eines ›Führerkindes‹ zu machen, vermoderte zwischen den Gerichtsakten. Der Reichsführer SS war gestorben. Die Zähne, die die Giftampulle zerbissen hatten, waren dem Galgen zuvorgekommen. Die Familie, die Natur, die Moral, der Anstand, die Vernunft waren über die braune Diktatur hinweggeschritten.
Noch einmal schlug die Zeit zu, die Klaus und Doris vergessen wollten. Es war Spätnachmittag. Die Kinder spielten 320
im Nebenzimmer. Klaus brütete über einem dicken, juristischen Kommentar. Da klingelte es zaghaft. Die dünne Frau in der Türe war müde; sie hatte einen weiten Weg hinter sich. Sie stand da, hilflos, bittend und fremd. Ihr Gesicht log. Sie war noch keine 40 Jahre alt. Das Leid hatte Tränenbäche in ihre Haut gefressen. Sie kam aus Polen.
»Ich bin«, sagte sie mit hartem gutturalen Deutsch, »Frau ...«
Sie mußte ein paarmal ansetzen, um ihren Namen nennen zu können, und selbst da blieb er noch unverständlich. Klaus legte im plötzlichen Begreifen den Arm um die Schultern von Doris.
»Darf ich ... darf ich mich setzen?« fragte die Frau aus Polen.
Klaus nickte.
»Sie ... Sie haben mein Kind ... Ich habe es überall gesucht ... seit Monaten ... Ich bitte Sie, geben Sie mir mein Kind zurück
...«
Sie hob die Hand. Ihr Gesicht zuckte. Sie verlangte nur ihr Recht. Sie wußte, daß dieses Recht wehtun mußte. So hatte Klaus ausgesehen, als er auf der Suche nach seinem Sohn war, als er nichts wie Absagen mit und ohne Mitleid erhalten hatte, als er aufgeben wollte, müde wurde, am Ende war.
»Es ist ... unser Kind«, antwortete Klaus mit fremder Stimme.
»Niemand darf mir mein Kind nehmen ... damals ... geraubt
... Mein Mann ... tot ... Ich hab’ doch nichts mehr auf der Welt
... sonst ...«
»Mein Gott«, murmelte Doris mit blassen Lippen.
»Darf ich es ... wenigstens sehen?«
Klaus nickte knapp. Er ging auf die Türe zu. Die Frau aus Polen folgte ihm. Klaus öffnete sie mit einem Ruck. Zwei Kinder betrachteten die fremde Frau. Zwei Kinder, die sich 321
zum Verwechseln ähnlich sahen. Und so, wie Klaus einmal in einem Lebensborn-Heim über die Antenne des Blutes sofort sein Kind erkannt hatte, ging die Polin jetzt auf das ihre zu. Der falsche Klaus, der jetzt Martin hieß, wich ängstlich zurück, lief weinend zu Doris klammerte sich am Rock seiner Mutter fest die nicht seine Mutter war.
»Sehen Sie«, sagte Klaus hart.
Die Liebe zu Doris ließ ihn lieblos zu der anderen Frau sein. Er überlegte: Martin war von ihnen adoptiert worden. Die Adoption mußte angefochten werden. Der Prozeß kann Jahre dauern. Langes Tauziehen zweier Frauen, die das Beste wollten und sich hassen müßten. Und in der Mitte das Kind. Und Doris zog links, und die polnische Mutter rechts.
»Ich ... ich komme wieder ...«, sagte die Polin. »Ich weiß, daß ...«
Klaus winkte ab.
Doris war wie versteinert, blaß, sprach kein Wort. Klaus redete auf sie ein. Die beiden Kinder hatten sich beruhigt, spielten, lachten, tollten herum.
Mitten in der Nacht erwachte Klaus. Doris fehlte. Der frühere Fliegerhauptmann stand auf, ging in das Nebenzimmer. So fand er Doris, als Schatten zusammengekauert, neben den beiden Betten. Die Kinder schliefen. Der eine Junge links, der andere rechts. Die Augen der jungen Frau ruhten auf Martins Gesicht. Sie streichelte es. Sie weinte lautlos. Sie wußte, daß es ein Abschied war. Für immer.
»Wir geben ihn nicht her«, sagte Klaus heftig. »Wir werden
...«
»Nein«, erwiderte Doris weich. »Wir müssen auf Martin verzichten.«
Sie drehte sich um. Ihr nasser Blick suchte seine Augen.
»Klaus«, sagte sie geduldig und tapfer, »wir beide, nicht, wir 322
wissen, was es heißt ... wenn einer Mutter das Kind genommen wird ...«
»Doris –«, antwortete Klaus leise.
»Ja«, entgegnete die junge Frau. »Wir müssen ... Ich sehe das ein. Wenn es nur nicht so ... so fürchterlich weh täte ...«
Der Tag kam. Die Polin fand Worte des Dankes und der Freude in einer Sprache, die keiner verstand. Ihr Kind drängte sich weit weg, flüchtete wieder zu Doris.
»Du machst Besuch bei der Tante«, sagte die junge Frau tapfer. »Du kommst wieder!«
Sie log im Namen der Menschlichkeit. Klaus stand mit leerem Gesicht daneben.
»Ganz bestimmt, Mutti?« fragte Martin.
»Ja, mein Kind ...«, versetzte Doris, und zum letztenmal durfte sie einen Jungen, auf den sie verzichten mußte, ihr Kind nennen.
Die richtige Mutter nahm Martin mit sanfter Gewalt am Arm, zog ihn weg.
Doris und Klaus standen am Fenster, sahen den beiden nach. 50 Schritte noch, dann kam die Ecke, der letzte Blick, der Abschied. Klaus preßte Doris heftig an sich. Sie merkte es nicht. Die Tränen zogen einen Schleier über ihre Augen. Auch die polnische Mutter weinte. Auch der kleine Martin, und sein verwaister Zwillingsbruder Klaus.
So vollzog sich an ihnen allen das Symbol dieser Zeit, die Brücke, die den Menschen über alle Sprachen, über alle Grenzen, über alle Verbrechen hinweg verband: Tränen, nichts wie Tränen – ein Ende, und ein Beginn.
Der Zweite Weltkrieg in Romanen und Tatsachenberichten als Heyne-Taschenbücher