»Doris«, quetschte Klaus heraus, »ich war so ... so kindisch

...«

Sie schwieg. Dann nickte sie. Ganz schnell. Ehe es zu spät war.

»Ja«, flüsterte sie.

»Ich bin’s nicht mehr«, fuhr er fort. Ungelenk streichelte er ihren Kopf.

»Nein«, erwiderte Doris. Ihre Stimme tanzte auf einem dünnen Seil. Dann lachte sie leise durch einen Schleier, hinter dem das Gesicht von Klaus verschwamm.

Sie standen voreinander und berührten sich nicht. Sie waren glücklich und gaben es nicht zu. Sie wirkten hilflos und wollten es bleiben.

Und Doris wünschte, diese Minute im Garten würde nie zu Ende gehen ...

Hauptsturmführer Horst Kempe kam aus dem Haus. Ihn begleiteten Stimmengewirr, Radiogeplärr und Erika. Und er schrie mit röhrender, rostiger Stimme über den Park:

»Alle mal herhören! Nu kommt schon endlich ins Haus!

Heute geht’s los! Rabatz in allen Stuben! Eintritt frei! In der ersten Abteilung sehen Sie die Galavorstellung des Lebensborns ... danach: allgemeiner Budenzauber und Ringelpiez mit Anfassen!«

Sein Lachen rollte durch den Garten wie das Grollen eines aufziehenden Gewitters.

Die Türen standen offen. Der Korridor wurde zur Tanzdiele. Die Stube des Hauptsturmführers Kempe zur Bar. Kempe lehnte am Tisch, in Nachthemd, Langschäften, mit umgeschnalltem Koppel, die Offiziersmütze verkehrt auf dem Kopf. Seine Zigarette wanderte vor Vergnügen fast bis ans linke Ohr. Er hielt Erika im Arm.

84

Ein Panzerleutnant seufzte vor Begeisterung. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, als er über den Flur ging. Er riß die Hakenkreuzfahne neben dem Führerbild in der Andachtsecke ab, kam zurück und legte sie über die Lampe in Kempes Bude. Kempe stieg auf den Tisch.

»Volksjenossen!« schrie er, »werdende Mütter und Väter ... nal herhören ... es jibt eckige und runde Kellerasseln, es jibt aoch stachelije und glatte ... die stachelijen sind die, wo sich licht rasieren ... Ick muß doch alle Kameraden bitten, auf die lasur zu achten!«

Sie schrien durcheinander, ihr Gelächter klang wie rostiges Blech. Kempe sprang vom Tisch, fiel und stand sofort wieder auf. Er tapste nach Erika und raunte ihr ins Ohr:

»Jetzt wolln wa uns mal um uns kümmern ...«

»Du bist blau«, antwortete das Mädchen.

»Na, wenn schon!«

In einem Türrahmen lehnten Doris und Klaus Steinbach. Das Mädchen starrte mit großen Augen auf Kempes Karussell. Sie stützte sich auf den Fliegeroffizier, lachte leise.

»Eigentlich hat er recht«, sagte Klaus und wies mit dem Kopf auf den Hauptsturmführer.

»Ja«, erwiderte Doris lächelnd, »er bekämpft die Peinlichkeit auf seine Weise.«

»Und wir?«

»Wir haben keine ...«, entgegnete das Mädchen, »wir sind hier nur zu Besuch.«

»Aus Versehen ...«, ergänzte der Oberleutnant. Dann spürte er, daß Doris zitterte.

»Frierst du?« fragte er.

»Ein bißchen«, erwiderte sie, aber ihr Lächeln paßte nicht zu ihren Augen. Auf einmal hatte sie Angst. Sie fühlte in diesem 85

Moment instinktiv, daß ihre Begegnung mit dem Lebensborn nicht mit einer lärmenden Party beendet sein würde. Sie fürchtete die Zukunft, ohne zu wissen, warum.

»Ich bin ja da ...«, sagte Klaus.

»Ja«, erwiderte Doris.

Hauptsturmführer Kempe und sein Schatten, der Panzerleutnant, betrachteten sie mit glasigen Augen und torkelten auf sie zu.

»Das Brautpaar!« lallte Kempe. Er streckte Klaus das rechte Bein zur Begrüßung hin. »Im Namen des Festkomitees«, grölte

»gratuliere ich euch zur Hochzeit ... hier in diesem Theater!«

Er drehte sich nach den anderen um und dirigierte das dreimalige:

»Zicke-zacke, zicke-zacke, heil, heil, heil!«

»Komm«, sagte der Fliegeroffizier zu Doris, »ich muß an die frische Luft, sonst wird mir schlecht.«

Sie schafften den Rückzug, weil Kempe eben die Treibjagd auf die Außenseiter organisierte. Er zählte laut ab und kam nicht über zwanzig.

»Denen helfen wa uff die Beene«, schrie er. Die Männer in den Nachthemden teilte er als Stoßtrupp ein. Er führte sie an die Kisten mit dem Luftschutzsand und an die Wassereimer. Er schwang die Schaufel, vermischte beides zu einem Brei. Dann ging Kempe von Tür zu Tür, polterte mit den Füßen dagegen.

»Aufmachen!« brüllte er, »Luftschutzübung!«

Wenn nicht freiwillig geöffnet wurde, schlug er die Tür ein, kippte den nassen Sand in die Betten. Binnen fünf Minuten war das Lebensbornheim zweckentfremdet. Der Zug des Vergnügens vermehrte sich durch Mißvergnügte. Kempe grinste dämlich.

»Hör doch auf!« sagte Erika, »gleich muß der

Sturmbannführer kommen.«

86

»Laß man ... den Schreibtischhengst mach’ ick ooch noch fertig ...«, lärmte der Hauptsturmführer. Trotzdem sah er einen Augenblick mißtrauisch über den Gang.

Aber der Heimleiter Westroff-Meyer ließ sich weder sehen noch hören. Er hatte heute seine neue Sekretärin nachkommen lassen, ein junges Ding mit pechschwarzen Haaren und dunklen Kohlenaugen, das nicht gerade in die Rassenfibel paßte. Aber der Sturmbannführer hatte das Mädchen Ruth nicht für die Ziele des Lebensborns, sondern für sich selbst ausgewählt.

»Wenn er kommt«, plärrte Kempe, »denn sperrn wa ihn ein

... denn kann er den Unterricht für morjen vorbereiten ... den Erbjang der Kellerasseln ...«

Er begann die leeren Flaschen durch die Fenster zu werfen, ohne die Scheiben zu öffnen.

»Aufstellen zur Parade!« rief er.

Die Gänge zitterten unter ihren Marschstiefeln. Zuerst die Männer, dann die Mädchen, dann paarweise. Und das alles endete immer wieder bei den unerschöpflichen

Schnapsvorräten des Gastgebers.

Schließlich hatte Kempe eine letzte Idee. Er ging mit dem Panzerleutnant an sein Spind. Gemeinsam wuchteten sie eine schwere graugestrichene Offizierskiste herunter. Gemeinsam verloren sie dabei das Gleichgewicht und landeten unter der Kiste, rappelten sich wieder hoch.

»Ist doch noch genug zu trinken da«, maulte Erika.

»Wir suchen nich Schnaps«, ächzte der Hauptsturmführer,

»jetzt wird’ ick dir mal wat vorführn, was du noch nie jesehen hast.«

Sie hoben die Kiste auf den Tisch und öffneten sie.

»Is det jar nischt?« fragte der SS-Offizier stolz, als er ein Gerät in die Hand nahm, das Erika zunächst für einen 87

Blumentopf hielt.

»Staunste, wat? ... Det is n’ Nebeltopf ... hab’ ick immer bei mir, für alle Fälle ... hab' schon viele Beizen damit ausjeräuchert ... Mensch, in Frankreich ... damals, weeßte ... in so ’nem Kabuff, ›Zum blauen Affen‹«, er lachte laut und dröhnend, »und denn sind wa mit der Kasse jetürmt und ham se im ›Roten Papagei‹ verjubelt ... weeßte, mit dem Wehrsold alleene is det nich zu schaffen ...«

»Solche Sachen machst du?« fragte Erika mißtrauisch.

»Ja, weeßte, Mädchen ... det Leben is kostspielig ... der Soldat braucht wat für’n Durst und wat für’s Herze ... na, nu hab’ ick ja dich ...«

»Denkste«, versetzte das Mädchen.

»Und jetzt wern wa det Haus mal unter Dampf setzen ... für wat bin ick ’n alter Pionier ...«

Er fingerte noch drei Meter Kabelzündschnur aus seinem Koffer. Dann ging er mit dem Panzerleutnant auf den Korridor. Sie stützten sich gegenseitig mit wechselndem Erfolg. Wirklich zischte der trübe, gelbe Nebel in alle Richtungen aus dem Topf, füllte die Gänge, die Stuben. Erschrockene Mädchen rannten durch die dicke Suppe. Das Fest verwandelte sich in einen Herbstmorgen am Wattenmeer. Kempes rote Lampe baumelte in seinem Zimmer im Nebel wie das Positionslicht eines Krabbenkutters.

»So, jetzt sucht mal eure Betten!« tobte der

Hauptsturmführer.

Der Panzerleutnant platzte vor Lachen.

»Mensch«, stöhnte er, »ich melde mich auch noch zu den Pionieren.«

»Det is ’ne Waffengattung, wat?« fragte Kempe stolz. Nach fünf Minuten hatte der Nebeltopf seinen üblen Inhalt ausgespuckt. In seinen Schwaden löste sich der Budenzauber 88

auf. Zurück blieb der Dunst von Alkohol und der Geruch von Chemie. Und zwischen beiden verlor sich irgendwo im Haus ein Mädchenlachen ...

An Lotte und dem überzeugten SS-Untersturmführer Lange ist das Treiben Kempes vorbeigegangen, denn beide halten sich im zweiten Stock auf. In Lottes Zimmer. Flucht, nicht Erwartung.

»Schrecklich«, sagt Lotte. Sie sitzt mit bloßen Füßen und angezogenen Knien auf ihrem Stuhl.

»Ja«, erwidert Lange, »es ist eine Schande ...«

Ihre Hand streift scheu sein kurzes, leichtgewelltes Haar.

»Ein Glück ... daß du ganz anders bist ...«

»Du auch«, meint Fritz Lange.

»Wir zwei, nicht?«

»Ja, wir zwei ...«

Lotte betrachtet den Untersturmführer mit großen, scheuen Augen. An das Opfer, das sie bringen will, denkt sie nicht mehr. Sie steht erschrocken und erschüttert vor einem Wunder: sie liebt den Mann, den sie kaum zwei Tage kennt. Sie liebt zum ersten Male in ihrem Leben. Und das macht sie weich, zart und nachdenklich. Das läßt sie Zeit und Ort vergessen, mitunter sogar das Ziel.

Die Stuben sind uniformiert wie der Zweck: ein Spind, ein Tisch, ein Schemel. Das Bett aus Stahl. Die Wäsche buntkariert. Nur kaltes Wasser in der Leitung. Aus dem Inventarverzeichnis an der Tür geht hervor, daß zur Bestückung des Raumes noch ein Eimer und ein Besen, ein Lichtschalter und eine Milchglaskugel gehören. Das ist die schlichte Einrichtung des Nationalsozialismus. So sah schon die Gefängniszelle Hitlers in Landsberg aus. Nun besteht halb Deutschland aus solchen Räumen. Beim Kommiß

wie beim RAD, bei der SS wie beim BdM. Sie sind 89

symptomatisch für alt und jung, für den Stubenappell wie für die Liebe ... wie der Staat sie wünscht. Brennt das Licht, ist das Zimmer zu hell. Geht es aus, ist der Raum zu finster. So legt sich die Nüchternheit dieses Heimes auf seine Insassen wie der Reif auf das Herbstgras.

»Fritz«, sagt Lotte leise.

»Ja ...«, erwidert er.

Er löscht das Licht, dann spürt sie seinen Arm auf ihren Schultern.

»Magst du ... mich?« fragt sie wie verloren.

»Ja ...«, entgegnet er, »ich liebe Frauen, die so zu der Sache stehen, an die ich glaube ...«

Er sieht ihr Gesicht nicht, nicht ihre gelösten Haare, nicht den weichen Mund.

Fritz Lange ist mit seinen Gedanken anderswo. Er ist bei seinen Leuten, stöhnt. Der Hund, denkt er, als die feurigen Kugeln vor seinem Kopf platzen, im Graben, neben dem Bunker. »Hurräh!« hallt es in seinen Ohren. Er kneift die Augen zusammen, duckt den Kopf.

Der Untersturmführer berührt nicht Lottes Gesicht. Er stößt wieder mit dem Iwan zusammen. Sekunden. Schreie. Das Krachen der Handgranaten. Der Russe hält die Maschinenpistole. Ein goldener Springbrunnen, in den Lange kerzengerade hineinläuft. Warum falle ich nicht, denkt er ... falle ich nicht ... falle ich nicht ...

Er spürt nicht den Atem des Mädchens.

»Fritz ... Fritz ...«, flüstert es.

Aber der Mann hört es nicht. Er holt mit dem Spaten aus. Schaufel gegen Maschinenpistole. Der Iwan hat keine gelösten Haare, auch keinen weichen Mund. Vor Entsetzen schießt er zu hoch. Der Spaten klirrt. Lange schlägt zu. Einmal. Mit der Fläche. Zweimal. Mit der Schneide. Dreimal. Mit dem 90

Blatt. Er schlägt mit dem ganzen Körper. Wie noch nie in seinem Leben. Um sein Leben.

Lottes Hände liegen in seinem Nacken, holen ihn von weit, weit her ... vom Sterben.

»Fritz ... was hast du?« fragt sie, ganz klein, ganz ängstlich, ganz verlassen.

Sein Kopf sinkt auf ihren Arm.

»Die Maschinenpistole ...«, stöhnt er.

Dann erst kommt er ganz zu sich, kehrt in die Wirklichkeit zurück, versucht zu sprechen, zu denken, während es nebelhaft durch seinen Körper vibriert: immer bleibt es Kampf. So oder so ...

91

6. KAPITEL

Der Gestank des künstlichen Nebels lag am nächsten Morgen noch zum Greifen dick im Schulungsraum. Sturmbannführer Westroff-Meyer versuchte, das unwürdige Treiben der Nacht mit Würde zu übergehen. Zuerst zuckte sein Karpfenmaul schnell und stumm. Dann fielen seine Worte wie Scherben:

»Meine Herren«, sagte er, »ich habe ja Verständnis dafür, daß Sie ... äh ... nach dem aufreibenden Kampf an der Front sich erholen wollen ... trotzdem bitte ich mir aus, daß Sie sich künftig entsprechend benehmen. Im übrigen mache ich Sie für den Schaden verantwortlich.«

Er winkte mit der Hand ab.

»Und nun untersuchen wir das Ergebnis der Kreuzung in der F-2-Generation.«

Er blieb der einzige, der richtig bei der Sache war. Die einen hörten weg, weil sie Kopfschmerzen hatten. Lotte lebte ihrem Glück nach. Doris dachte an die Zukunft. Und Klaus traf sich in Gedanken auf halbem Weg mit ihr. Hauptsturmführer Kempe rechnete den Schaden aus und fürchtete um seine Schnapskasse.

Pünktlich um zwölf Uhr schnarrte der Heimleiter:

»Heil Hitler!«

Die Rassenhygiene machte dem Mittagessen Platz. Danach hatte sich Klaus Steinbach bei dem Sturmbannführer zum Rapport gemeldet. Er wartete im Vorzimmer bei der dunkelhaarigen neuen Sekretärin. Der Oberleutnant straffte sich wie vor dem Start in seiner Jagdmaschine. Aber der Gegner, auf den er sich stürzen wollte, war kein fairer Tommy. Der junge Offizier war zu gradlinig, um Umwege 92

einzuschlagen. So mußte er heute auf den Sturmbannführer Westroff-Meyer prallen.

Als Klaus eingelassen wurde, zeigte sich der Heimkehrer jovial und vertraulich. Er wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch.

»Nicht viel Zeit, mein lieber Steinbach«, sagte er, »muß

gleich weg ... setzen Sie sich doch.«

Der Sturmbannführer zog aus seinem Papierkram ein Formular hervor.

»Sehen Sie«, sagte er, »das ist Ihre Heiratsgenehmigung ... es ist alles in Ordnung ...«

»Mein Kommandeur muß die Heiratsgenehmigung erteilen«, entgegnete Klaus knapp.

»Nee, nee«, antwortete der Heimleiter, »das machen wir ...«

Plump und stolz setzte er hinzu: »Ihr Kommandeur bin jetzt ich

... und Sie heiraten morgen.«

Wieder straffte sich Klaus.

»Nein«, sagte er dann hart, »deswegen habe ich mich bei Ihnen gemeldet.«

Westroff-Meyer schlüpfte in seine Uniformjacke.

»Was gibt’s denn da noch zu reden«, versetzte er dann unwillig. Er tippte dem Oberleutnant mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Und ich richte euch hier eine Hochzeit ein, daß die Garnisonskirche in Potsdam vor Neid wackelt.«

»Sturmbannführer«, entgegnete Klaus Steinbach ruhig, »ich

... ich kann nicht.«

»Was heißt das?« Der SS-Offizier fuhr mit scharfer Wendung herum.

»Ich werde nicht heiraten.«

Westroff-Meyer mißverstand ihn. Er setzte seine Aktentasche ab, runzelte die Stirn, war aber zu gut gelaunt, um 93

loszupoltern.

»Kindsköpfe«, knurrte er, »habt ihr die Sache noch nicht in Ordnung gebracht?« Er ging zwei Schritte auf Klaus zu, faßte ihn derb am Oberarm.

Der Oberleutnant blieb steif vor ihm stehen wie ein Holzklotz.

»Ich weiß«, schoß der Heimleiter los, »das Mädchen ist ein bißchen schwierig ... aber ein Kerl wie Sie wird doch nicht kapitulieren!«

Der SS-Offizier begann weitschweifig seine Erfahrungen mit schwierigen Mädchen preiszugeben.

Klaus fiel ihm ins Wort:

»Darum handelt es sich nicht, Sturmbannführer ... Fräulein Korff und ich werden heiraten ...«

Westroff-Meyer blieb stehen, schüttelte den Kopf.

»Ich bin kein Nervenarzt«, zischte er, »wenn Sie hier spinnen wollen, sind Sie an der falschen Adresse, Herr Oberleutnant!«

»Ich will heiraten ... wir wollen heiraten ... aber nicht hier«, sagte Klaus schnell und scharf.

Die Stirnadern Westroff-Meyers schwollen an.

»Erklären Sie das!«

»Ich bin altmodisch«, versetzte der Oberleutnant, »ich möchte mich ein ganzes Leben lang an meine Hochzeit erinnern ...«

»Und?«

»Ja ... an meine Hochzeit, Sturmbannführer ... und nicht an einen Saustall!«

Der Heimleiter stützte sich schwer mit der Hand auf den Tisch. Seine Stimme war gefährlich:

»Wie nennen Sie das?«

94

Klaus sprach ruhig und deutlich:

»Ich bin hierhergekommen, um meine Pflicht zu tun ... Und was habe ich hier angetroffen?«

»Was?«

»Ich halte eine Menge von Wehrbetreuung«, fuhr Klaus fort. Der Spott lächelte in seinem Gesicht. »Aber es gibt ein paar Dinge, da hat sie aufzuhören ...«

»Wehrbetreuung ? «

»Sie wollen mich nicht verstehen, Sturmbannführer ... ich will deutlicher werden ... Ich habe nichts gegen Ihre Rassenhygiene und nichts gegen den Budenzauber des Hauptsturmführers Kempe ... Aber zwischen

Nebelhandgranaten und diesem Zirkus hier ... findet meine Hochzeit nicht statt ... Ich habe nichts dagegen, daß mich meine Freunde zum Standesamt begleiten ... aber die hier ... das sind nicht meine Freunde!«

Ihre Blicke kreuzten sich. Westroff-Meyer bewegte die Zunge im Mund. Dann stieß er sich mit einem Ruck vom Schreibtisch ab. Mit einer lässigen Bewegung nahm er die Heiratsgenehmigung und warf sie achtlos über den Tisch.

»Interessant«, sagte der Sturmbannführer mit tückischem Lächeln. Seine Pupillen wurden zu Eis. »Sehr interessant, Herr Oberleutnant ... Zirkus nennen Sie den Lebensborn? Diese lebensnotwendige Bewegung der edelsten Frauen und Männer unseres Volkes ... dieser Elite, der anzugehören Sie nicht verdienen ...«

»Ich will damit nichts zu tun haben«, knurrte Klaus. »Ich halte nichts von ... Freudenhäusern.«

Jetzt brüllte der Heimleiter los:

»So bezeichnen Sie eine Institution, die der Reichsführer gegründet hat? Herr ... was haben Sie für eine Gesinnung!«

»Ich bin Offizier«, erwiderte Klaus gepreßt.

95

»So.«

»Ich bin Parteigenosse.«

»Aha.«

»Ich bin HJ-Führer.«

»Ich will Ihnen mal was sagen«, fuhr ihn Westroff-Meyer an, »für mich sind Sie ein Schweinehund!«

»Ich bitte Sie, das auf der Stelle zurückzunehmen!«

antwortete der Oberleutnant mit mühsamer

Selbstbeherrschung.

»Zurücknehmen?« wiederholte der Heimleiter höhnisch und hämisch, »mit Ihnen werde ich Fraktur reden ... mit Ihnen fahre ich Schlitten! Verlassen Sie sich darauf!«

Jetzt gefror sein Gesicht. Zu Haß.

»Ich lasse diese Sache nicht auf sich beruhen«, setzte er leise hinzu. »Ich werde ein Protokoll einreichen. Mit Feinden der Bewegung machen wir kurzen Prozeß!«

Klaus klappte lässig die Hacken zusammen. Das neue Vorzimmermädchen betrachtete ihn erschrocken. Die Erleichterung, zu seiner Überzeugung gestanden zu haben, war bei Klaus in diesem Moment größer als die Furcht. Die Billardkugeln klicken. Die blaue Kreide rotiert auf der Tafel. Der weiße Ball rollt über das grüne Feld wie die ruhige Kugel, die Sturmbannführer Westroff-Meyer am Nachmittag schieben läßt. Hauptsturmführer Kempe stützt sich auf seinen Stock.

»Da könnt ihr wat lernen, ihr Flaschen!« sagt er. Er steht wie immer im Rudel seiner neuen Freunde, und wie immer ist seine Umgebung buntgewürfelt und laut, füllt die Zeit mit Langeweile und langweilt sich mit der Zeit. Wenn die Männer unter sich sind, erzählen sie, tauschen Erfahrungen und Witze aus. Ihr Gespräch verstummt, wenn Ruth, die schwarzhaarige Heimsekretärin, durch den Raum kommt. Dann 96

sehen sie ihr alle nach wie einer dunklen Oase in der blonden Monotonie.

Kempe sieht Erika, legt den Billardstock beiseite, grinst sie an.

»Na, mein Mädchen ...«

»Deine Witze waren auch schon besser«, erwidert die Jungführerin.

Eben ist sie Lotte begegnet und schüttelte den Kopf. Die ehemalige Stubenkameradin ist nicht wiederzuerkennen. Sie geht gelockert, fast beschwingt. Ihre Haare flattern wie eine blonde Mähne. Ihre Augen glänzen. Und auf ihren Lippen trägt sie sogar etwas Rouge. Sie und der Untersturmführer Lange sind beinahe ein klassisches Liebespaar geworden. Sie zeigen es offen und natürlich, so daß der Klatsch vor ihnen haltmacht. So sind sie auch jetzt zusammen, im Lesezimmer, wo sie sich kennenlernten.

»Komm, wir bummeln«, sagt Lange.

Dann gehen sie gemeinsam durch den Altweibersommer, eingehängt, wortlos. Lotte atmet tief. Ihr Gesicht brennt. Sie ist glücklich. Sie lehnt an seiner Schulter, wie sie es erträumt hat. Sie geht über einen Blumenteppich, auch wenn nur faules Herbstlaub unter ihren Füßen raschelt. Sie greift tastend nach seiner Hand, spürt den Druck und glaubt, daß auch er glücklich ist.

Fritz Lange kennt sich auf einmal nicht mehr aus. Die Konturen von Licht und Schatten, von Neigung und Laune, von Zucht und Natur verwischen sich in seinem Bewußtsein. Man hat ihn in dieses Heim kommandiert, damit er seine Pflicht erfüllt. Man sagte ihm, daß es notwendig sei und daß es keine Bedenken gäbe. Die Bedenken nähme der Reichsführer alle auf sich. Einer für alle ...

Und nun sieht er in dieses Gesicht und kommt sich schäbig 97

vor. Befehl? Ohne Rücksicht darauf, ob es sich um ein MGNest oder um ein Mädchen handelt? Stellung wird genommen

... die Toten läßt man liegen. Der junge Offizier fühlt die Grenzen der Heeresdienstvorschrift. Er ist ein typisches Opfer der Zeit. Beim Parademarsch streckt er die Beine aus, ohne zu überlegen, was seine Stiefel zertreten. Aber hier macht er sich Gedanken. Wegen Lotte. Um Lotte.

»Ja«, sagt er, »wir haben uns hier als ... freie Menschen getroffen ...«

»Und gefunden«, ergänzt das Mädchen.

Lange sucht nach einem Anfang. Vor Verlegenheit drückt er Lottes Hand. Sie mißversteht es und gibt den Druck zurück.

»Ich meine«, fährt er rauh fort, »wir haben gewußt, wozu wir uns hier ... ich meine ...«

Lotte betrachtet versonnen ihre Schuhspitzen.

»Ich hätte es nie geahnt«, antwortet sie leise, »ich bin so ... so glücklich ...«

Sie möchte ihm alles erklären. Das Glück ist schneller als ihre Zunge. So sagt sie sich alles nur selbst. Lotte möchte dem Führer danken und Fritz küssen. Sie war auf ein Leben im Gleichschritt gefaßt und fühlt nun, wie ihr Herz aus der Reihe tanzt. Und daß es dabei keinen Widerspruch gibt, ist ein Wunder für sie. Sie fühlt sich einig mit ihm, dem Führer und dem Volk. Zärtlich legt sie ihre Arme um seinen Nacken.

»Fritz«, sagt sie, »weißt du, was das Schönste wäre?«

Der Mann strafft seinen Hals. Er spürt das Gewicht Lottes. Und es zieht, zerrt.

»Nein«, antwortet er beklommen.

»Wenn wir ... wenn du ... schon gleich hier ...«

»Was?« fragt Lange dumpf.

Lotte lächelt. Ihre Lippen formen Hoffnung und Zweifel, Koketterie und Sehnsucht. Ihre Augen glänzen. 98

»Wenn wir ... auch hier ... heiraten würden ...«

Untersturmführer Lange löst langsam die Arme von seinem Nacken. Sein Mund hängt zwischen zwei harten Falten. Es muß sein, sagt er sich, ich muß ihr alles sagen. Verdammt, überlegt er, das ist ja fast wie an der Front, wenn man zwischen die Reihen Wehrloser hineinknallen muß ...

»Nein«, antwortet er Lotte so schonend wie möglich. Aber er weiß in diesem Moment: ob man zärtlich am Abzug zieht oder hart, deshalb tötet der Schuß genauso gemein.

»Nein, Lotte ...«, würgt er an den Worten, »das können wir nicht ...«

Sie sieht ihn an. Ihr Lächeln gerinnt. Ihre Schultern zucken hilflos.

»Nein?« fragt sie leer.

Seine trockene Zunge fährt über die rissigen Lippen.

»Du hast mich ... du hast mich vorhin nicht richtig verstanden ... wir haben doch gewußt ... was wir hier ...«

Auf einmal überzieht sich Lottes Gesicht wie mit einer zweiten Haut, die alt, runzelig, pergamenten wirkt.

»Ach was«, sagt der Untersturmführer mit einem dummen, fahlen Lächeln, »komm, Mädchen, das verstehst du doch?«

»Nein«, entgegnet Lotte leise, »das versteh ich nicht ... hast du ... mich denn nicht...?«

»Doch, das schon ... aber ...«

»Aber?« fragt sie ruhig.

Fritz Lange platzt brutal heraus:

»Ich bin schon verheiratet.«

Lotte nickt, mechanisch, tapfer und langsam. Wie gelähmt. Nickt und schluckt. Pferde nicken so, wenn sie die Peitsche spüren, unter dem Joch. Ihr Atem verkürzt sich. Bekommt Ton und Farbe. Zerhackt die Silben:

99

»Ich ... ich verstehe ...«

Sie nickt wieder und geht weiter. Der Weg ist lang.

»Ich verstehe ...«, sagt sie ein zweites Mal. Ihr Atem wird noch kürzer. Fuß vor Fuß, denkt sie, nicht schwanken. Das gibt es nicht! So etwas kann der Führer nicht wollen! So ein Geschenk, daß ich ... denkt sie. Ihre spitzen Zähne verbeißen sich in die Unterlippe.

Fritz Lange versucht den Arm um ihre Schultern zu legen und sie tapsig an sich zu ziehen.

Die Erde dreht sich unter Lottes Füßen. Die Bewegung schraubt sie förmlich in den Boden hinein.

»Laß mich«, sagt sie.

Dann läuft sie weg, zerschlagen, zertreten, gescheitert. Doris hörte Schritte vor ihrer Türe, die plötzlich stehenblieben. Klaus, dachte sie. Da klopfte es. Er trat ein, nickte und sah seltsam unsicher an ihr vorbei, betrachtete die geöffnete Tür ihres Schrankes, registrierte die säuberlich geordnete Wäsche im obersten Fach. Kante auf Kante, wie mit einem Lineal gezogen, zum Appell beim RAD ...

»Hast du ... etwas zu lesen für mich?« fragte er gezwungen.

»Etwas zu lesen?« wiederholte Doris lachend.

Dann suchte sie mit übertriebenem Eifer, kramte hastig zwischen Büchern und Heften, warf alte Illustrierte durcheinander.

Doris trug einen weißen, flauschigen Bademantel. Klaus kannte ihn, als eine Erinnerung an die Zeit, in der noch nicht alles, und vor allem nicht die Gefühle uniformiert waren. Er verfolgte jede Bewegung. Sie spürte es. Er schluckte, als sie ihm eine Ausgabe des illustrierten Beobachten entgegenhielt. Auf dem Titelbild legte der Führer die Hand auf einen unschuldigen Kinderscheitel. Seine Augen wirkten gleichgültig. Aber die rührselige Unterschrift ließ keinen 100

Zweifel aufkommen. Klaus Steinbach hatte auf einmal etwas gegen diese Hand. Seine Arme hingen schlaff nach unten.

»Kennst du es schon?« fragte Doris.

»Nein«, antwortete er.

Sie sah zu ihm auf. Die Illustrierte fiel auf den Boden. Hitler lag auf der Nase.

»Was ist denn, Klaus?« fragte Doris leise.

Seine Hand legte sich auf ihre Schulter. Auf einmal war ihm heiß, obwohl Westroff-Meyer Kohlen sparte. Er betrachtete ihr Blondhaar und dachte an die Vergangenheit.

Der Holzschemel wurde zum Klubsessel, zu Hause, in seinem Zimmer. Die bunte, karierte Wäsche der nationalsozialistischen Weltanschauung verwandelte sich in die schottische Decke auf seiner Couch, und diese Nacht wurde zu einer anderen Nacht. Er sah Doris, wie sie war. Er fürchtete, daß sie den Kopf wegdrehen könnte, so wie damals ...

»Entschuldige«, murmelte er. Er wollte gehen, aber er blieb stehen.

»Klaus«, antwortete Doris, »willst du mir nichts sagen?«

Er kam sich jung, ungeschickt und dumm vor.

Da streichelte sie ihn. Und Klaus Steinbach spürte zum ersten Male in seinem Leben eine solche Zärtlichkeit. Das waren nicht mehr die schüchternen Hände eines jungen Mädchens, das ebensogut an Puppen zupfen konnte. Das waren Hände, die mehr wußten als Zärtlichkeit und Spielerei, Hände, die einen Traum erfüllten: den Wunsch nach Güte und Behutsamkeit.

Der Fliegeroberleutnant, der kühl zu lächeln pflegte, wenn er im Luftkampf war, hatte Angst, daß seine Augen naß würden. Dann sprach er schnell und wirr.

»Ich dachte«, sagte er, »ich wollte ... weißt du ... es klingt so albern, aber ich dachte schon die ganzen letzten Tage ... ich 101

sollte ... aber ich habe ... und jetzt hast du ... hoffentlich glaubst du nicht ...«

Doris’ Hand blieb stehen. Ihr Mund suchte seine Lippen, dann seine Stirn, dann ertastete er sein Gesicht. Zentimeter für Zentimeter. Ganz langsam. Ganz bewußt. Ihre Augen waren weit offen, als läge sie an einem Sommernachmittag auf einer Wiese und folgte den ziehenden Wolken. Sie schob ihn leicht von sich weg.

»Wir ... nicht wahr, wir ...«, begann Klaus wieder unbeholfen.

»Klaus«, erwiderte Doris fest, »wenn sie es hier nicht einmal zerschlagen konnten, dann ...«

»Nicht zerschlagen?« fragte er zögernd.

Plötzlich blähten sich seine Lungen mit Luft. Er wollte den Blutstrom, der ihm vom Herzen über den Kopf und dann wieder über den Rücken rauschte, abpressen, aber er konnte es nicht. Er hatte Angst, es könnte so kommen wie damals, an seinem letzten Urlaubstag.

»Wenn ich, wie damals ...«

Doris senkte den Kopf. Er sah, wie sie atmete. Dann hob sie die Hand.

»Klaus«, sagte sie, »wir dürfen keine Angst mehr voreinander haben ...«

Die Erde schwebte. Seine Füße lösten sich.

Er wußte nicht mehr, ob er auf sie zuging oder sie ihm entgegenkam ...

Sie fanden sich wie nie zuvor. Sie hielten sich in den Armen, und es lösten sich Zwiespalt und Zweifel. Die Zeit stand still. Die Sterne kreisten nicht mehr. Das Wunder schlug wie eine Flamme über ihnen zusammen. Die Zeit der Angst war vorbei, die Angst vor der Zeit war verweht. Sie liebten sich. Und ihre Liebe war ohne Zweifel, ohne Ende.

102

»Klaus ...«, sagte Doris. Ihr Atem streifte sein Gesicht. Wie oft hatte sie seinen Namen genannt! Scheu oder verhalten, in Freude und Trauer. Noch nie hatte er ihn so aus ihrem Munde gehört.

Und so streiften Doris und Klaus des Menschen ewige Einsamkeit ab. Die Minute wurde zur Stunde, und die Stunde kannte keine Minute mehr.

Das Fenster war geöffnet. Der Herbst atmete mit. Die Nacht war nicht dunkel. Sie wurde zu einem Schattenbild. Und sie sahen sich und sonst nichts auf der Welt. Sie schwammen Seite an Seite über einen mondhellen See. Er war unendlich, hatte kein Ufer, keinen Anfang und kein Ende. Er trug sie, und im Takt seiner Wellen trieben sie in der Fülle des Glücks ... Sie lagen im Gras und schauten wortlos ins All. Sie gingen nebeneinander her, eifersüchtig auf jeden Schritt Abstand, der zwischen ihnen lag. Sie atmeten gemeinsam. Alles was sie trennen könnte, lag weit, unendlich weit hinter ihnen zurück. Sie vergaßen, wo sie waren. Irgendwo im Haus klang Lachen. Das Trampeln von Füßen. Türen wurden

zugeschlagen. Hauptsturmführer Kempe hetzte über den Gang, blieb stehen und grölte:

»Raustreten zum Frühsport! ... Mit Damen!« Das Lachen würgte seine Worte ab.

Doris und Klaus hörten es nicht. Es spielte keine Rolle für sie, daß ein Spind an der Wand stand, daß die Bettwäsche kariert war, daß es nach Kernseife roch, daß ein Führer-Bild über dem Tisch hing. Adolf Hitler konnte sie nicht sehen, dazu war es zu dunkel. Es ging den Führer auch nichts an, denn was zwischen Doris und Klaus geschah, hätte er nie befehlen können. Der Born des Lebens hat nichts mit Lebensborn zu tun.

»Glücklich?« fragte Klaus.

103

»Ja«, entgegnete Doris leise, »... und du?«

»Sehr glücklich.«

»Ist das viel?«

»Mehr gibt es nicht ...«

»Immer?«

»Noch länger ...«, antwortete der Fliegeroberleutnant beinahe feierlich.

Doris richtete sich halb auf. Sie lachte hell und gelöst.

»Das gibt es doch gar nicht.«

»Für uns gibt es alles ...«, erwiderte Klaus leise. Und doch war der Geist des Nationalsozialismus allgegenwärtig, der Ungeist, der alles Edle, alle Empfindungen beschmutzte.

»Sie werden sich zwischen uns drängen«, sagte das Mädchen unvermittelt und drückte die hohe Stirn gegen seine Schultern. Klaus hörte es nicht. Die Angst, daß in diesem Haus alles entweiht werden müßte, hatte sich nicht erfüllt. Der Schmutz wagte sich nicht an sie heran. Klaus betrachtete Doris mit Augen, die sie nie wieder loslassen wollten. Ihre Zerbrechlichkeit weckte seine Ritterlichkeit. Er wollte sie schützen, und wenn er mit Gespenstern ringen mußte. Er wollte sie verteidigen, selbst wenn es gegen Tod und Teufel ginge. Das alles empfand er nebulos und verschwommen und doch schon klar.

»Wir werden bald heiraten«, sagte er.

»Ja«, erwiderte Doris schlicht.

»Was kann also noch geschehen?« Er sprach gegen ihren weichen Mund. »Nächste Woche gehen wir von hier weg. Und dann wollen wir nie mehr daran denken ... dann sind wir niemals hier gewesen ...«

»Ja«, antwortete sie zum zweitenmal. Sie wollte es glauben, 104

aber sie konnte es nicht.

»Dann sind wir für immer zusammen ...«

Doris nickte. Ihre Augen glänzten.

»Wir werden eine Wohnung haben ... du brauchst nicht mehr zum Arbeitsdienst ... nie mehr ...«

Er zog ihre Hand zu sich hoch, küßte ihre Fingerspitzen.

»Und dann?« fragte das Mädchen leise weiter.

»Und dann ...«, murmelte Klaus. Aber es fiel ihm nichts mehr ein.

Doris’ Stimme vibrierte:

»Ich will es dir sagen ... du gehst wieder nach draußen ... an die Front ...« Die Traurigkeit belebte ihr Gesicht. »Bitte, Klaus

... geh nicht wieder! ... Du kannst mich jetzt nicht allein lassen

... Klaus ... ich halte das nicht aus ...«

»Aber Doris ... der Krieg ist bald aus ...«, versetzte der junge Offizier ohne Überzeugung.

»Vielleicht ist er dann schon ... zu spät aus ...«

Klaus schwieg betroffen.

Ihre Augen flüchteten. Dann fuhr Doris beinahe mechanisch in die Höhe.

»Klaus«, sagte sie dann, »sie werden nur darauf warten, bis du wieder an der Front bist ... dann werden sie uns etwas antun.«

Er zog sie zu sich zurück.

»Du siehst ja Gespenster!«

Sie lag schmal und verlassen neben ihm.

»Können wir nicht morgen wegfahren?« fragte Doris.

»Das wird nicht gehen ...«, erwiderte er gedehnt.

»Diese Menschen hier ...«

»Was gehen sie uns an?« antwortete Klaus heftig. »Nur um 105

uns beide geht es ... und bei uns stimmt alles ...«

»Ja«, entgegnete Doris.

»Wir haben mit dieser Sache hier nichts zu tun ... nichts mit diesem Heim ... nichts mit diesem dummen Westroff-Meyer und seiner Kastaniensammlung.«

»Aber er hat uns in der Hand ...«

»Unsinn«, versetzte Klaus barsch, »und wenn ich hier wegfahre, trete ich aus dem Lebensborn aus.«

»Klaus ... sie werden dir ...«

»Nichts werden sie ... was meinst du, was geschieht, wenn die Wehrmacht ... die Luftwaffe ... wenn das Volk von dieser wahnwitzigen Entartung erfahren?«

»Und wie sollen sie es erfahren?« unterbrach ihn das Mädchen ruhig.

»So etwas läßt sich nicht geheimhalten«, versicherte der Fliegeroberleutnant.

»Hoffentlich ...«, erwiderte Doris bange.

Dann schlugen die Flügel der Nacht wieder über ihnen zusammen. Der Traum wurde zur Gegenwart und die Gegenwart zum Traum. Die Sehnsucht erfüllte sich. Doris und Klaus brauchten nicht miteinander zu sprechen, um sich zu verstehen. Sie fühlten besser, was sie einander zu sagen hatten, als es Worte vermocht hätten. So erfaßten sie, daß sie ihr ganzes bisheriges Leben nur füreinander gelebt hatten; daß sie sich gefunden hatten, weil sie reif waren; daß sie ihre Gefühle erst richtig begreifen konnten, als sie sich erfüllt hatten ... Und dieses Bewußtsein war stärker als die bescheidenen Stationen ihres Daseins: als das Lagerfeuer am Waldrand; als die Jugendheißen Lieder; als die lodernden Flammen der Fackelzüge; Ist der Glaube an den Führer; als der wütende Drang, sich für das Vaterland zu bewähren; als der versponnene Wahn vom eigenen Heldentod ...

106

Diese Ideale verbrannten im Hochofen des Glücks, blieben schale Schlacken. Parolen verkohlten. Verirrungen wankten, Schlagwörter stürzten ein. Auf einmal hatten sie Augen, die sahen, und Ohren, die hörten.

Irgendwann in der Nacht erwachte Doris, sah den Schatten von Claus neben sich. Er war ihr so vertraut, als wäre er immer hier gewesen. Sie richtete sich vorsichtig auf und betrachtete ihn. Ihre Liebe stand Wache.

Langsam faltete Doris die Hände wie zum Gebet... 107

7. KAPITEL

Der Morgen beginnt mit Kernspruch, Malzkaffee und Hausklatsch. Dann, wie jeden Morgen punkt zehn Uhr, werden unter der polternden Regie des Heimleiters die Stühle zusammengeschoben. Der Frühstückssaal verwandelt sich in einen Unterrichtsraum. Tratsch wird zur Wissenschaft, Liebe zur Züchtung und der Mensch zur Formel.

Die donnernde Rede des SS-Sturmbannführers WestroffMeyer umsäumt verantwortungsloses Treiben mit salbungsvoller Berechtigung. Er schreitet vom Massenwahn zum Rassenwahn. Die Kreide in seiner kurzgliedrigen Hand ächzt über die Schultafel, die 50 jungen Menschen die Aufhebung aller Naturgesetze begreiflich machen soll. Die Lehre des Heimleiters ist simpel und falsch. Ehe ist Zufall und der Zufall verwerflich. Züchtung ist Gebot und Gebot ist Befehl. Auslese ist Tat, und die Tat soll marschieren ...

»In hundert Jahren«, schleudert der Heimleiter in den Raum,

»gibt es in Europa nur noch die nordische Rasse ... Was nicht zu ihr gehört, wird absorbiert oder vernichtet ...«

Du Vollidiot, denkt Hauptsturmführer Kempe feixend. Fang doch bei deiner schwarzhaarigen Sekretärin an ... Oder besser: melde dich, du Feigling, in meine Pionierkompanie, dann absorbiert dich der Iwan ... Wer soll deinen Quatsch denn ernst nehmen?

»Wir züchten den blonden Menschen«, doziert WestroffMeyer weiter, »wir schaffen das Kind mit den blauen Augen ... Wir führen unser Volk wieder zur ursprünglichen Rassereinheit zurück ... Wir schalten das minderwertige Blut aus ... Wir werden ein Volk von Herrenmenschen!«

Vor allem du, überlegt Klaus Steinbach. Die Verachtung zieht seine Lippen auseinander. Warum steht keiner auf, 108

warum schlägt ihm keiner ins Gesicht? ... Beinahe erschrocken fragt sich der Luftwaffenoffizier im nächsten Moment: warum tue ich es nicht? Warum? Und zum erstenmal spürt er Scham, weil er es nicht wagt, offen seine Meinung zu vertreten. Klaus lehnt sich zurück. Thesenerhärtung durch Gehirnerweichung, denkt er. Dann sieht er zu der neben ihm sitzenden Doris, in deren Gesicht die Verwunderung steht, wie immer von nun an, wenn NS-Parolen und gesunder Menschenverstand aufeinanderprallen.

»Eure Kinder«, ruft der Heimleiter in den Saal, »sind unsere Geheimwaffe in diesem geschichtlichen Prozeß!«

Untersturmführer Lange nickt. Was sein muß, darf sein, meditiert er.

»Wenn euer Glaube ins Wanken gerät, wenn ihr einmal in eurer Kleinheit die Größe der Zeit nicht begreifen könnt, dann denkt an Adolf Hitler! Er wacht, wenn ihr schlaft, und er kämpft, wenn ihr zaudert ...«

Und er bleibt nüchtern, wenn ihr besoffen seid, denkt Erika mit spitzem Mund ... er zieht sich den Scheitel, weil er keine Glatze hat, und er löffelt Gemüsesuppe, damit das Fleisch länger für Großdeutschland reicht. Die Sache des Sturmbannführers ist so dumm, daß sie das Mädchen schon wieder belustigt ...

»Und so beten wir zur Vorsehung ...«, schnaubt der Heimleiter abschließend.

Lotte, die RAD-Jungführerin, die sonst mit großen, gläubigen Augen, leicht vorgebeugt, seine Worte in sich hineinfraß, folgt heute dem Unterricht taub und blicklos. Die Welt, die in diesem Heim erst für sie aufging, ist zusammengebrochen. In dem Augenblick, da sie lieben lernte, mußte sie Verzicht begreifen. Zu hoch waren ihre ausbrechenden Gefühle in den Himmel gestürmt, als daß Lotte jetzt den Sturz ertragen könnte.

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Immer wieder, fast hypnotisiert, streifen ihre Augen den Untersturmführer Lange, der heute weiter von ihr wegsitzt, weil er taktlos ist. Seit gestern, seit dem Gespräch im Garten, weiß Lotte, daß ihr mädchenhafter Traum einer gemeinsamen Zukunft vernichtet ist. Daß der Mann sie nicht liebte, sondern nur einen Befehl ausführte. Daß er nicht frei ist, sondern eine Frau hat. Vielleicht auch Kinder, die allerdings nicht auf Befehl gezeugt wurden ...

Die Scham brennt. Die Demütigung wühlt. Seit Stunden begreift das mißbrauchte Mädchen, welche Ungeheuerlichkeit diese Bewegung, an die es stur und begeistert geglaubt hatte, verlangt. Und dazu kommt die Sehnsucht nach dem Mann, der ihr niemals gehört hat und ihr nie gehören wird. Nie!

Einmal will ich ihn noch sprechen, denkt Lotte. Ich will nur wissen, ob es so sein kann. Ob ich gar nichts für ihn bin. Wenn lieh ihm nur einen Bruchteil so viel bedeuten würde, wie er mir, dann ...

Lotte steigert sich in die Hoffnung hinein, ohne es zu wissen. Sie erlebt das Mittagessen wie in Trance. Sie geht mechanisch auf ihr Zimmer, versucht auszuruhen, vergräbt den Kopf in den Kissen, steht wieder auf, verläßt mit steifen Beinen das Haus, geht ruhelos im Garten auf und ab, auf und ab. Auf einmal kommt der Untersturmführer auf sie zu. »Fritz

...«, sagt Lotte leise.

Er nickt, sieht an ihr vorbei, will etwas sagen. Aber seine Zunge ist wie gelähmt.

»Bist du ... schon lange ... verheiratet?« »Drei Jahre.«

»Und du ... magst deine Frau?« »Sicher«, entgegnet Fritz Lange trocken. »Kinder?« »Zwei.«

»Und wenn wir ...« »Was?«

»Ein Kind ...«, antwortet sie zögernd. »Aber das weißt du doch ... das war doch ...« »Abgemacht, nicht?« »Ja.«

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Er versteht ihre Verzweiflung nicht. Er sieht sie an. In ihrem Gesicht ist wieder die zweite Haut aufgezogen: gelb, runzelig und pergamenten. In diesem Moment begreift der Mann nicht, was ihn zu dem Mädchen hingezogen hatte, findet kein Wort, keine Geste, keine Brücke.

»Und wir?« nimmt Lotte einen letzten Umweg zu dem Verhängnis.

»Wir bleiben ja noch ... eine ganze Woche zusammen ...«

»So eine Blonde?« erwidert der Chauffeur dumm.

»Mensch, hier sind doch fast alle blond.«

»Ja, vor ein paar Minuten ... Richtung Stoppelfelder, auf den Wald zu ...«

Die beiden Männer laufen los. Erika reibt langsam die Handflächen gegen den Rock. Sie beißt die Zähne aufeinander. So ein Saustall, denkt sie. Sie sieht Lange nach. Hoffentlich bricht er sich die Beine! Lotte ... sie hat sie nie gemocht. Nicht besonders. Nie hätte sie geglaubt, daß sie um Lotte Angst haben könnte. Ihre Hände kleben am Stoff. Sie starrt auf den Wald.

Die beiden Männer keuchen nebeneinander her.

»Sie tut sich was an!« stöhnt Lange mit pfeifender Stimme.

»Du merkst alles ... was hast du ihr gesagt?«

»Die Wahrheit.«

»Idiot!«

»Es geht nicht um uns ... Hauptsache ist der Wunsch unseres Führers ...«

»Quatsch!«

Sie wechseln die Richtung. Der Herbstwald lichtet sich.

»Sie muß zur Südbrücke sein«, knurrt Kempe.

»Sie steht doch zur Bewegung ...«, salbadert Lange, »sie muß das doch verstehen!«

111

»Du hast ’nen seelischen Rohrbruch«, fährt ihn der Hauptsturmführer an, »jetzt dreh bloß den Haupthahn zu!«

Der Wald endet. Vor ihnen breitet sich wieder brettebenes Land. Nur die Brücke wölbt sich über den Kanal.

»Da ist sie ja!« schreit Fritz Lange.

200 Meter vor ihnen taumelt das Mädchen auf dem Feldweg vorwärts.

Als sie das Mädchen sehen, rufen sie gleichzeitig. Lotte stockt, dreht sich um, sieht Lange und Kempe, hetzt weiter.

Die beiden Männer setzen ihr nach. Der Abstand verringert sich. Kurz vor dem Kanal beträgt er noch 20 Meter. Lotte taumelt die Brücke hinauf, greift nach der Verstrebung. Dann wendet sie sich um. Die Pistole in ihrer Hand zittert. Sie richtet den Lauf gegen sich.

»Keinen Schritt näher!« ruft sie schrill, »ich ...«

Kempe steht sofort, reißt Lange zurück.

20 Meter. Und der Pistolenlauf zittert.

»Lotte«, brüllt Lange hochaufgerichtet, »leg sofort das Ding weg!«

Das irre Lächeln in Lottes Gesicht verzerrt sich noch stärker. Sie ist kalkweiß, rührt sich nicht.

»So was tut keine deutsche Frau!« heult der

Untersturmführer.

»Halts Maul!« zischt Kempe. Er stößt ihn in die Rippen, hält die hohle Hand vor den Mund.

»Laß die Faxen, Mädchen«, ruft er Lotte zu. Er versucht, gutmütig zu lächeln. Es mißlingt. Er geht einen Schritt vorwärts. »Komm«, redet er Lotte zu, »der alte Kempe will dir ja nichts Böses.«

Er streckt ihr beide Hände entgegen wie ein Parlamentär. 112

Der Pistolenlauf zittert.

Kempe geht noch einen tastenden Schritt weiter. Nur noch 18 Meter.

»Was glaubst du, was du alles versäumst«, ruft er, »das tut dir ja so leid, wenn’s zu spät ist!«

Wieder einen Schritt.

»Das ist Fahnenflucht!« brüllt Lange.

Kempe schlägt mit dem Fuß nach ihm aus.

»Den Lange lassen wir strafversetzen, nicht wahr, Mädchen

... der darf dir nischt mehr tun«, schreit der Hauptsturmführer. Noch 15 Meter.

Der Pistolenlauf zittert stärker. Lotte krallt beide Hände um den Griff.

»Das ist eine dumme Sau, der Lange!« brüllt Kempe. Ihre Schultern zittern. Die Tränen laufen über das Gesicht.

»So ist’s richtig, Mädchen!« ruft Kempe rauh und weich zugleich, »flenn dir nur ordentlich aus. Schwemm det Zeug alles wech!«

Der Hauptsturmführer kämpft nicht um Meter. Er ringt um ein Leben. Wie noch nie. Er streckt wieder eine Hand aus.

»Na, jib mal die Kanone her ... wir trinken einen! Verlaß dir uff mir, ick sage keenen Menschen wat ... es bleibt unter uns ... und der Lange wird sich hüten!« Er sieht giftig zu seinem Kameraden hinüber.

Noch zwölf Meter ...

»Kann ja jeder mal was Dummes tun«, ruft Lange, »du wirst dich sicher wieder bewähren ...«

»Soll ick diesen Dussel in den Kanal schmeißen?« fragt Kempe.

Lotte weint. Und gleichzeitig lacht sie. Ein Fels ist abgebröckelt. Auf einmal möchte sie sich dem

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Hauptsturmführer an den Hals werfen. So hat noch nie jemand zu ihr gesprochen. Sie begreift nicht, was mit ihr vorgeht.

»Na, jib sie her«, lockt Kempe freundlich.

Er ist bis auf fünf Meter heran.

Lange hält sich einen Schritt hinter ihm. Gleich geschafft, denkt; er, noch nachhelfen. Einen psychologischen Dreh noch. Er bleibt stehen. Von seinem Einfall festgenagelt.

»Gib ihm die Pistole, Lotte«, sagt er, »es hat ja gar keinen Sinn ... sie ist nicht geladen ...«

Ihr Mund wird steif. Das Lächeln stirbt. Ihr Gesicht verkrampft sich zur Verachtung. So betrachtet Lotte den Untersturmführer, der sie um alles betrog: um ihren Glauben an den ersten Mann im Leben. Um ihr Vertrauen auf Gefühle. Um alles. Und jetzt will er ihr die Möglichkeit nehmen, alles hinter sich zu lassen, will er sie um eine lumpige Kugel betrügen!

Vier Meter noch.

Lotte überlegt nicht mehr. Wie ein Kind, das noch einmal zornig mit dem Fuß aufstampft, zuckt ihr Finger am Abzug. In wilder Gegenwehr. Mit Eigensinn. Aus Protest. Der Schuß peitscht.

Kempe wirft sich nach vorne. Aber seine Hand greift ins Leere.

Lottes Oberkörper sinkt nach hinten schwer über das Geländer, bekommt Übergewicht, klatscht in das stehende Wasser des Kanals. Ein welkes Blatt wirbelt langsam hinterher. Der weiße Schaum färbt sich rot.

Kempe steht am Geländer. Zu spät. In diesem Moment haßt er Lange. Er muß etwas tun, um nicht auf ihn einzuschlagen.

»Ja«, sagt er schwerzüngig, »du Schweinehund, vererb dich ordentlich ... von deiner Sorte brauchen wir mehr ...«

Und so wird, bevor noch das Heim im Warthegau dem Leben gedient hat, der erste Sarg hinausgetragen. Eine Tote 114

begleitet die Aktion römisch II, arabisch 1, Heim Z, wie ein düsteres Vorzeichen.

115

8. KAPITEL

Doris meldet sich befehlsgemäß im Vorzimmer des Heimleiters. Sturmbannführer Westroff-Meyer sah sie, ging in sein Büro und ließ das Mädchen warten. Er haßte Doris und Klaus, weil sie sich ihm widersetzten, weil er ihre Verachtung spürte. Wenn er eine Meldung über den Zwischenfall mit dem Luftwaffenoffizier an die SS-Zentrale weiterreichte, dann kam Kempes Walpurgisnacht auf und warf ein ungünstiges Licht auf die Zustände im Lebensborn-Heim. Das wiederum könnte zu der Ablösung Westroff-Meyers führen. Und dieser Druckposten war so ruhig ...

So nahm er sich vor, Klaus und Doris nicht frontal anzugehen, sondern sie auf Sicht fertigzumachen. Er hoffte immer noch, daß ihm die beiden zu einer Reklame-Hochzeit im Lebensborn-Heim verhelfen würden. Deshalb hatte er Doris bestellt, um ihren Trotz zu brechen.

Nach einer halben Stunde ließ er sie eintreten. Er betrachtete sie wortlos, nickte, bot ihr einen Stuhl an, als er sich bereits gesetzt hatte. Sie blieb stehen.

»Haben Sie es sich überlegt?«

»Was?« erwiderte Doris.

»Die Hochzeit.«

»Sicher«, antwortete das Mädchen offen, »Klaus und ich heiraten.«

»Wann?«

»In ein paar Wochen.«

»Nein«, entgegnete er hart, »sofort!«

»Das geht nicht.«

»Meinen Sie?« fragte der Heimleiter drohend.

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Doris ließ sich nicht einschüchtern. Seit sie sich mit Klaus eins fühlte, hatte sie jede Unsicherheit verloren. Und sie kämpfte für ihn, um ihn, gegen eine trübe Gegenwart, für eine saubere Zukunft.

»Sie sind also schon von ihm angekränkelt«, fauchte Westroff-Meyer sie an. »Kein Wunder ... diese Schlappschwänze von der Luftwaffe ... diese Feiglinge!«

»Feiglinge?« fragte Doris scharf.

Er ging ihren Augen aus dem Weg. Er wußte, daß er zu weit gegangen war, nickte und zwang sich zur Ruhe.

»Damit wir uns nicht mißverstehen«, sagte er dann, »ich kann Ihren sauberen Freund vernichten! Er hat hier Äußerungen getan, die ihm das Genick brechen werden ... wenn ich sie weitergebe. Wenn ...«, setzte er hinzu und hob den Kopf.

Jetzt erschrak Doris. Davon hatte ihr Klaus nichts gesagt. Sie spürte instinktiv, wie gefährlich der Sturmbannführer war.

»Sehen Sie«, fuhr er fort. Er änderte sofort den Ton, wurde beinahe liebenswürdig. »Ich will mit Ihnen sprechen, weil ich Sie für ... für vernünftig halte ... Sie heiraten doch ohnedies.«

Er lächelte wissend. »Eine Hand wäscht die andere ...« Er sah sie lauernd an: »Tun Sie mir einen Gefallen, und ich lasse die Sache auf sich beruhen ... Haben wir uns verstanden?«

»Ja«, versetzte Doris kleinlaut. Es wurde ihr schwindlig. Die unbestimmte Angst war wieder da. Und sie steigerte sich noch, als Westroff-Meyer freundlich wurde. Das Wohlwollen eines Teufels, dachte das Mädchen.

»Sie sprechen also mit ihm?«

Doris senkte den Kopf.

»Ja«, antwortete sie leise.

»Ich erwarte morgen Ihre Antwort«, schloß er das Gespräch. Der Sturmbannführer trug die Panne militärisch stramm und 117

politisch laut. Er stand auf seinem Podium wie auf einem Denkmalsockel. Sein Kinn gab sich kantig, handgeschnitzt für tausend Jahre. Die gesamte Belegschaft des Lebensborn-Heims war im, großen Saal zum Appell angetreten. Stehend hörten sich die Männer und Mädchen an, was der Heimleiter Westroff-Meyer zum Tod der Arbeitsdienstführerin Lotte zu sagen hatte.

»Kameraden, Kameradinnen!« schnarrte er, die linke Hand am Koppel, »ich habe euch antreten lassen, damit wir uns klar werden, was die Stunde von uns fordert.«

Die Männer standen mit kalten, leeren Gesichtern. Die Mädchen waren blaß. In der hintersten Reihe drückte eine Teilnehmerin des Lehrgangs ihr Taschentuch gegen den Mund. Draußen, irgendwo im Haus, lag Lotte. Starr, wächsern, tot. Von eigener Hand getroffen. Eine von fünfzig, die sich in diesem Heim einleben oder ausleben sollten ... Und seitdem war etwas anders geworden. Frost legte sich auf die Gesichter, zwischen denen die Stimme Westroff-Meyers wie ein Sturmwind heulte. Aber sie konnte nicht einmal die Oberfläche kräuseln. Er folgte seinem Rezept. Wahrheit mit Lügen und Fragen mit Phrasen niederzudonnern. Übung macht den Meister, und der Heimleiter war ein Meister der Lüge und Phrase.

»Mitleid«, brüllte er, »ist falsch am Platz. Ein Mensch, der sein Leben für etwas anderes opfert als für den Führer und Großdeutschland, ist dieses Leben sowieso nicht wert!«

Er kniff die Hechtaugen zusammen. Sein Blick traf das Gesicht des Hauptsturmführers Kempe, und er las Auflehnung, ohne sie beweisen zu können. Der SS-Offizier zerbiß etwas zwischen den Zähnen. Er sah aus, als ob er fahl lächelte.

»Das klingt hart«, tobte Westroff-Meyer weiter, »verdammt hart sogar. Aber wir haben kein Verständnis, wenn einer das Ziel aus den Augen verliert ...« Seine Stimme schwoll wie eine 118

Flutwelle: »Jawohl«, donnerte er, »dieses Mädchen hat uns verraten ... als es sich an eine Liebelei verlor ... es sollte dem Führer etwas schenken, und wollte sich selbst etwas nehmen ... vor allem euch jungen deutschen Frauen sollte das ein warnendes Beispiel sein!«

In Erikas Gesicht klebte die Wut.

»Ist denn hier kein Mann?« zischte sie.

Oberleutnant Steinbach hörte es, straffte den Oberkörper wie im plötzlichen Entschluß. Ein Frontsoldat war er schon immer. Aber jetzt wurde er ein Mann.

»Untersturmführer Lange«, sagte der Heimleiter.

»Hier!« meldete sich der blonde SS-Offizier.

Westroff-Meyer winkte ab, sprach jetzt um eine Nuance jovialer: »Ich kann auch Sie nicht ganz freisprechen ... Sie hätten mir schon längst Meldung machen müssen ... Sie mußten ja wissen, daß ... Vorfälle dieser Art ...«, seine Stimme schwoll wieder an, »unserer Idee schaden ... verstanden?«

Der Unterkiefer Langes klappte herunter.

Kempe stand neben ihm. Los, gib’s ihm, mach ihn fertig, dachte er.

»Jawohl!« schrie Lange zackig und schnappte nach Luft. Es sah aus, als stände er unter dem Hochreck und könnte nicht an die Stange kommen.

»Waschlappen!« brummte Hauptsturmführer Kempe.

»Wir beschließen den Appell mit einem dreifachen Sieg Heil auf unseren Führer.« Gleichzeitig warf der Heimleiter den Arm hoch.

»Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!« riefen die Angetretenen. Aber ihre Rufe prasselten so dünn wie Feuer in einem Abfallhaufen.

Sie traten weg.

119

Beim Hinausgehen standen Doris und Klaus nebeneinander. Er legte seine Hand auf ihren Arm, zog sie auf den Gang. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter.

»Mir ist schlecht, Klaus«, sagte Doris leise.

»Mir auch«, erwiderte der Oberleutnant knapp. »Komm«, setzte er hinzu, »bloß hier raus ... ich weiß nicht, was geschieht, wenn ich den Kerl ...«

»Sei vernünftig ...«, bat das Mädchen leise.

»Nein«, entgegnete er hart, »die Vernunft ist feige ... und die Feigheit hat keine Vernunft.«

Sie hatten das Zimmer von Doris erreicht. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Klaus ...«, fragte sie ängstlich, »was hast du vor?«

Der Fliegeroffizier sprach fast mit geschlossenen Lippen.

»Hör zu, Liebes«, antwortete er hastig, »wir dürfen hier keinen Tag länger bleiben. Wir müssen weg. Sofort!«

Licht und Schatten trafen sich auf dem Gesicht von Doris.

»Unmöglich.«

»Es muß sein«, versetzte er ernst, »wir machen uns mitschuldig, wenn wir länger bleiben ...« Seine Stimme wurde heftig: »Ich komme mir wie ein Hehler vor ...«, schnaubte er,

»ich kann mich nicht mehr sehen ...«

Klaus faßte nach der Hand des Mädchens, so fest, daß es schmerzte.

»Ich gehe in die Stadt, zur Post, und gebe zwei Telegramme auf: eines an deine RAD-Führerin, das andere an meinen Kommodore ... Dieser ... dieser Einsatz«, spuckte er das Wort aus, »ist freiwillig ... wir machen jetzt Gebrauch davon.«

Doris schloß die Augen. Sie hatte noch nie gefühlt, wie es ist, wenn ein Mann etwas in die Hand nimmt. Ihr Mann ... Es war so schön ... Und dabei hatte sie Angst. Sie fürchtete, daß

120

Klaus mehr wagte, als er riskieren durfte.

»Klaus«, fragte sie bittend, »wollen wir nicht ... erst heiraten?«

»Hier?« Er ließ ihre Hand sinken. »Nie!«

Das große blonde Mädchen, dessen Augen sich verdunkeln konnten wie der Himmel, senkte den Kopf.

»Ich hab’ es ihm ... zugesagt«, erwiderte Doris zögernd. Sie wagte nicht, Klaus anzusehen.

»Wem?«

»Dem Sturmbannführer.«

»Warum?«

»Deinetwegen ...«

»Meinetwegen?« fragte der Fliegeroffizier betroffen.

»Klaus«, entgegnete Doris, und jetzt glänzten ihre Augen naß, »du hast dich hinreißen lassen ... du hast etwas gesagt ... gegen die Bewegung«, setzte sie schnell hinzu, »wenn wir heiraten, wird er dich nicht melden, dann ist es erledigt ... o Klaus ... ich hab’ so Angst um dich ...«

Der junge Oberleutnant sah über ihre Schultern hinweg in eine Ferne, die er noch nicht kannte, die er niemals gespürt hatte, nicht einmal, wenn er die Geschoßbahnen seiner Bordkanone verfolgte. Und der Horizont ist rot vor Haß und Empörung ...

»So«, antwortete er gläsern, »Erpressung also?«

»Klaus ...«

»So ist es doch!« fuhr er unheimlich ruhig fort. Er fühlte ihre Hand durch den Stoff seines Waffenrocks. Er spürte ihre Hilflosigkeit und die Bereitschaft, ihm trotzdem zu helfen. Einen Moment wühlte die Versuchung in ihm, nachzugeben, sich auf die Insel des Glücks zu retten. Aber gleich wurde sein Gesicht wieder steif, und er sah nur eine Oase im braunen 121

Sumpf: sein Geschwader.

Er strich ihr zärtlich über den Scheitel.

»Doris«, sagte er, »du brauchst keine Angst zu haben ... ich erledige das ... ich bin schon mit ganz anderen Burschen fertiggeworden ...«

Sie sah ihm nach, als er von ihr wegging. Sie wollte sich freuen, aber sie konnte es nicht. Sie wollte hoffen, aber sie glaubte nicht an die Hoffnung. Sie spürte eine Furcht, die keine Gestalt hatte. Sie dachte auf einmal an das Mädchen Lotte, die tote Stubenkameradin, und hatte plötzlich rasende Angst, daß

auch sie in einen letzten Ausweg fliehen könnte, der keiner ist. Der Abend ist schwer wie Senkblei. Überall lauert der Schatten einer Toten. Kein Mensch hat Lust, mit Untersturmführer Lange zu sprechen. Ein Vorkämpfer wird zum Außenseiter. Das verstimmte Klavier bleibt stumm. Die Spruchbänder in den Aufenthaltsräumen welken. Die Stille wird zum allgegenwärtigen Gespenst, dem keiner auskommt. Selbst Hauptsturmführer Kempe hat sich in sein Zimmer zurückgezogen. Klaus Steinbach ist in die Stadt gegangen, um die Telegramme aufzugeben. Doris liegt in ihrem Bett und versucht zu lesen.

Im Keller des Hauses schläft die tote Lotte in die Ewigkeit. Gestorben am Glauben. Gemordet vom Frevel ... Erika flüchtet in den Garten. Vor dem Kartoffelschälen beim RAD war sie in den vermeintlichen Ulk des Lebensborns davongelaufen. Seit sie weiß, daß dieser Spaß tödlich ist, sehnt sie sich nach Wassereimer und Schrubber zurück. Sie spürt die Zweige nicht, die ihr Gesicht streifen. Sie achtet nicht auf die Steine, die ihr Fuß wegschiebt. Sie denkt an Lotte, die sie nicht mochte, und um die sie jetzt trauert wie um eine Freundin. Erika ist nicht allein im Park. Viele halten die Luft des zweckentfremdeten Nervensanatoriums nicht mehr aus. Viele starren auf den Kalender, um das Ende des Spuks zu 122

ergründen. Manche sehen auf die Uhr, um die Stunde voranzutreiben.

Aber die Sekunden dehnen sich so, als ob das Dritte Reich tatsächlich tausend Jahre währen wollte. Die Zeit zerfällt in Tropfen, die gegen die Einsamkeit prasseln, in Schläge, die gegen das Gewissen hämmern. Mochte die Bewegung Gott, die Familie und die Moral abschaffen, mochte sie Millionen morden, das Gewissen konnte sie nicht töten.

Erika merkt, daß ihr ein Schatten folgt. Sie will allein bleiben und beschleunigt den Schritt. Aber der Mann hinter ihr holt kräftig aus. Es ist der Panzerleutnant, der beim Budenzauber zu Kempes Adjutanten wurde.

»Erika«, sagt er, »was machst du hier?«

»Das gleiche wie du«, antwortet das Mädchen müde.

»Ich bin bloß da, weil’s mir drinnen zu langweilig ist.«

Erika will ihn abschütteln, aber er merkt es, läuft neben ihr her.

»So allein heute?« fragt er, »ohne deinen Freund Kempe?«

»Er ist nicht mein Freund.«

»Fein«, erwidert der junge Mann. Er grinst dumm. »Gut, daß

ich es weiß ... blöde Sache, das mit Lotte, nicht?«

»Ja«, entgegnet Erika zerstreut.

»Aber das Leben geht weiter«, fährt er scharfsinnig fort. Er versucht, ihre Hand zu nehmen. Sie entzieht sie ihm mit jähem Ruck.

»Sei doch nicht so«, brummt er. Er sucht das Ende und findet keinen Anfang.

»Du ...«, sagt er heiser.

»Was?«

»Komm mit ...«

»Wohin?«

123

»Ins Haus ... wir könnten ... auf meine Bude ...«

»Warum?«

»Na, frag doch nicht so ...«

»Warum?« wiederholt Erika scharf.

»Aber das weißt du doch ...«

»Nein.«

»Warum bist du dann hier?«

»Weil ich nicht wußte, was das für ein Schweinestall ist!«

»Aber hör mal«, antwortet der Panzerleutnant. Er streckt seine Hand nach ihr aus.

»Laß mich los!« zischelt sie.

»Nein«, flüstert er heiser, »niemals ... du ... Erika ...«

Der Zorn reißt sie los. Sie fährt herum. Der Ekel gibt ihr Kraft. Sie holt aus. Mit der Faust. Schlägt zu. Mitten in sein Gesicht. Trifft ihn an der Nase. Er taumelt zurück. Ihr Arm wuchtet zum zweiten Male nach vorne. Im Wirbel der Wut drischt sie auf den verdutzten Panzerleutnant ein. Für Lotte. Für sich. Für Doris. Für den Anstand. Für die Vernunft. Für die Sauberkeit ...

Der Mann duckt sich wie ein getretener Hund.

Erika geht langsam, mit hochgezogenen Schultern, auf das Haus zu. Ihr Gesicht ist heiß. Ihre Fingerknöchel schmerzen. Das wollte ich ja gar nicht, denkt sie. Er ist ja nichts, nur ein junger, dummer Soldat.

Aber auf einmal ist dem Mädchen leicht und licht, so als ob es Westroff-Meyer in das breite Gesicht geschlagen hätte. Der Kommodore des Oberleutnants Steinbach handelte sofort. Er setzte sich mit der Luftflotte in Verbindung, die über die Reichsleitung der SS die sofortige Ablösung des jungen Staffelkapitäns erwirkte. Jetzt, zwei Tage nach seinem telegrafischen Hilferuf, stand Klaus ein letztes Mal im 124

Vorzimmer des Heimleiters.

Die glutäugige Sekretärin betrachtete ihn erschrocken, beugte sich über ihre Schreibmaschine und horchte. Sie fürchtete den Mann, der sie für sich, nicht für den Lebensborn gewählt hatte.

Unvermittelt drehte sie sich um.

»Er ist sehr schlecht gelaunt heute«, sagte sie fast bittend.

»Von mir aus«, versetzte der Fliegeroffizier kalt. Dann endlich, nach einer Viertelstunde, wurde er vorgelassen.

»Na, Sie«, sagte Westroff-Meyer. Er wühlte in seinen Papieren. »Ihr Kommodore hat Sie angefordert ...« Höhnisch setzt er hinzu: »Sie müssen ja ein tüchtiger Flieger sein.«

Klaus blieb ruhig. Er straffte den Oberkörper, als ob er mit dem EK I dem Sturmbannführer das Gesicht zerkratzen wollte.

»Sie sind ohnedies hier untauglich«, fuhr der Heimleiter mit einer unwilligen Handbewegung fort, »ich kann nur hoffen, daß Sie sich als Soldat besser bewähren denn als Nationalsozialist.«

Der junge Offizier schwieg noch immer. Seine Fäuste sehnten sich nach dem Gesicht des Sturmbannführers. Aber sie wurden von den sanften Händen des Mädchens Doris festgehalten.

»Hau’n Sie bloß ab«, sagte Westroff-Meyer, »und lassen Sie sich hier nie wieder sehen!«

»Bestimmt nicht.«

»Wie kommt das eigentlich«, fragte der Mann lauernd, »daß

Sie auf einmal so dringend benötigt werden?«

»Ich habe mich weggemeldet.«

Der Heimleiter pfiff durch die Zähne.

»So ist das ...«

125

»Ja«, entgegnete der Oberleutnant ruhig, »auch meine Braut, Fräulein Korff ... und hiermit erklären wir unseren Austritt aus dem Lebensborn.«

»Soweit kommt es gar nicht«, erwiderte der

Sturmbannführer mit angespannter Selbstbeherrschung, »ich werfe Sie hinaus!«

»Danke.« Klaus steckte die Rechte in die Tasche.

»Was fällt Ihnen ein? ... Nehmen Sie Haltung an!« Das Kriegsverdienstkreuz I. Klasse vibrierte auf dem schwarzen Uniformrock.

Klaus postierte sich noch lässiger.

»Ich werde mich«, sagte er dann, »an die Partei wenden. Ich werde überprüfen lassen, ob die NSDAP hinter einem solchen Saustall steht.«

»Sie mach ich noch fertig!« brüllte Westroff-Meyer, »wie noch keinen!«

Er knallte Klaus Steinbach die Marschpapiere über den Schreibtisch.

Der junge Oberleutnant steckte sie ein.

»Und die Papiere von Doris ... von Fräulein Korff?« fragte er.

Der Sturmbannführer grinste breit und behaglich. Die Schadenfreude zog über sein Gesicht. Er rieb sich die Hände. Er wußte auf einmal, daß er eine Geisel in der Hand hatte. Und er wußte weiter, wie man mit Geiseln verfuhr ...

»Fräulein Korff?« wiederholte er gedehnt, »hat sie denn Ihr Kommodore auch angefordert?«

»Sie meldete sich von hier weg.«

»Prächtig«, versetzte der Heimleiter.

»Und sie reist morgen mit mir ab.«

Der Sturmbannführer schüttelte sich vor Lachen. 126

»Sie Schlaukopf«, antwortete er, » ... reist mit Ihnen ab, prächtig, prächtig!«

Er trat an das Fenster.

»Jeder irrt mal«, sagte er dann scharf. »Doris wird vom RAD nicht so dringend benötigt wie Sie von der Luftwaffe.«

Er gurgelte mit seiner Freude.

»Sie bleibt hier! Sie erfüllt ihre Pflicht!« Der Heimleiter stieß mit dem Stiefel gegen die Wand. »Und Sie verschwinden, Herr Oberleutnant ... aber schleunigst!«

Klaus ging mechanisch. In seinem Kopf saß Schwindel. Er war in der Falle. Sie schnürte seine Brust zusammen. Mein Gott, dachte er, Doris, allein hier im Heim, hilflos der Tücke des Westroff-Meyer ausgesetzt.

Die Tür knallte mit dem gleichen Ruck zu, mit dem die Falle eingerastet war ...

Noch immer dröhnt der Knall in seinem Ohr. Am liebsten würde sich Klaus übergeben. Er spürt den Druck seiner Pistolentasche an den Hüften und die Ohnmacht in den Händen. Er hat sich selbst in den Hohlweg manövriert. Es läßt sich nicht mehr rückgängig machen. Nur nicht die Nerven verlieren, denkt der junge Offizier ...

Ich müßte zu Doris, überlegt er. Dann steht er mit kraftlosen Knien in der Halle. Er kann nicht zu dem Mädchen. Was soll er ihr sagen? Soll er sich streicheln lassen wie ein kleiner Junge? Soll er sich trösten lassen? Soll er wiederholen, was der Schweinehund sagte? Soll er ihre stummen Fragen anhören: Was hast du für Mittel, für Wege, für Hilfe? Was tust du jetzt, Klaus Steinbach?

Die Fragen haben ihn in der Zange, zwischen den Mahlsteinen, in der Presse, unter dem Hammer. Sie treiben ihm das Blut aus dem Gesicht und den Schweiß in die Poren. Der Oberleutnant wirft sich den Mantel über die Schulter 127

und geht aus dem Haus. Er faßt verwegene Pläne und verwirft sie wieder. Er merkt nicht, daß er den gleichen Weg geht, auf dem Doris aus dem Heim floh. Die Straße der Kleinstadt entgegen. Aber Klaus will nicht fliehen. Er will kämpfen. Er will nicht desertieren. Aber er muß Verstärkung herholen. Er erreicht die Kleinstadt. Auf einmal hat er Durst. Er betritt eine Gaststätte. Hier kann ihm kein Angehöriger des Lebensborn-Heims begegnen. Kneipen sind verboten. Bläulicher Tabaksqualm schlägt ihm ins Gesicht. Es riecht nach Eigenbau und Dünnbier.

An der Theke lehnt Hauptsturmführer Kempe und feixt. Klaus will sich wieder hinausdrücken, aber er kann es nicht mehr. Der Mann macht eine Bewegung mit dem Zeigefinger, die keinen Widerspruch duldet.

»So, so ...«, grinst Kempe mit einer Anspielung auf die schwarze Krawatte der Luftwaffe, »Schlipssoldat auf Abwegen.«

Klaus lächelt matt.

Der SS-Offizier winkt das schwarzhaarige Mädchen hinter der Theke heran.

»Zwei Doppelte«, befiehlt er, »... du kannst dich als eingeladen betrachten.«

»Keinen Appetit.«

»Die Lust kommt mit dem Saufen.«

Kempe holt zu einer großartigen Geste aus.

»Det is mein Stammlokal«, sagt er, »stimmt’s oder stimmt’s nicht, Marjellchen?«

Das Mädchen hinter der Theke nickt lebhaft.

»Siehste«, kommentiert Kempe, »det is alles unverbraucht. Noch natürlich, und ohne künstliche Erbsen ... vastehste ... und Tote jibt’s hier ooch nich.« Er hebt sein Glas in die Höhe.

»Noch ’n Doppelten!«

128

Klaus betrachtet den SS-Offizier zum erstenmal richtig. Kempe sieht mit glasigem Grinsen an dem Oberleutnant vorbei, stützt sich schwer auf seinen Ellbogen. Klaus möchte den Mann widerwärtig finden, aber seine Augen verweigern ihm den Gefallen.

Der Hauptsturmführer bestellt, und Klaus trinkt. Schweigend. Einen nach dem anderen. Einmal versucht Kempe, dem Mädchen die Schleife der weißen Schürze aufzuziehen. Aber er wirft nur ein Glas um.

»So is det nu«, murmelt er, »voll der juten Absichten, und nischt wie Scherben ...«

Klaus verschluckt sich. Der billige Schnaps brennt im Mund und die Gedanken an Doris im Kopf. Und dann gärt der Alkohol, macht Träume lebendig und das Leben zum Traum. Der Oberleutnant starrt in das gerötete Gesicht des SSOffiziers. Dann betrachtet er dessen kräftige, harte Hände. Pranken, die ebensogut eine Pistole umschließen können wie sie nach den Schürzenzipfeln des Mädchens griffen. Auf einmal sieht er diese Hände auf den schmalen Schultern von Doris. Morgen, hämmert es in ihm, morgen bin ich weg. Morgen ist die Bahn frei! Diese Hände kennen keine Rücksicht!

»Noch ’nen Doppelten?« fragt Kempe.

»Nein«, erwidert Klaus gepreßt.

»Wat? Keen Schnaps?«

»Danke«, antwortet der Oberleutnant, »es reicht.«

Der Hauptsturmführer beugt sich vor.

»Wat is denn mit dir schon wieder los?«

»Ich reise morgen ab«, versetzt Klaus knapp.

»Prima«, nickt Kempe anerkennend, »dann bist du ja raus aus dem Scheißladen.«

Klaus zuckt die Schultern. Sein Kinn zittert. 129

»Ich schon«, antwortet er dann, »aber Doris ... muß

hierbleiben.«

Kempe nickt bedächtig. Er hat verstanden, greift nach seinem Glas. Es ist leer. Er wischt es vom Tisch. Es zerspringt klirrend am Boden.

»Habt ihr Selters oder so wat?« fragt der SS-Offizier heiser. Das Mädchen gibt ihm eine ganze Flasche. Er gießt sich die hohle Hand voll, klatscht sich das Wasser ins Gesicht. Das Wasser tropft ihm über das Kinn.

»Ich will sie herausbekommen ... von draußen irgendwie ...«, sagt Klaus ohne Hoffnung.

»Det mußte«, entgegnet Kempe, »aber schleunigst!«

Auf einmal wirkt er gar nicht mehr betrunken. Er leert die Wasserflasche, ohne abzusetzen.

»Na ja«, brummt er.

»Und euer Verein ist an allem schuld.«

»Sag det nich noch mal ... ick ... wir ... die Waffen-SS haben damit nischt zu tun!«

»Wer sonst?« fragt Klaus hart.

»Hör zu, Flieger«, erwidert Kempe drohend. Er greift nach dem Schnapsglas wie nach der Kehle des Feindes. »Da kann ick pampig werden, Kumpel ...«

»Und welche Uniform trägt Westroff-Meyer? Das ist doch die gleiche ...«

»Ach, hör doch auf mit dem ... mit dem Quasselkopp ... Menschen mit ’nem Bindestrich kann ick sowieso nicht riechen. Da weeßte nich, wo du dir dran halten sollst, ob vorne, oder hinten.«

»Er wird Doris ...«

»Nischt wird er, jar nischt! Nicht, solange der olle Kempe im Hause ist, vastehste?«

130

»Nein«, entgegnet Klaus ruhig.

»Wir sind Kumpels, nicht?«

Kempe streckt Klaus die Hand hin, die Klaus vor fünf Minuten noch fürchtete.

»Und ick werde mir um det Mädchen kümmern ... aber nich so, wie du vielleicht denkst. Die steht unter meinem persönlichen Schutz ... der tut keen Bindestrich wat ... und sonst ooch keener ...«

Klaus atmet tief aus.

»Du bist blau«, sagt er leise.

»Det ooch«, grinst Kempe, »aber det Komische is: ick halte immer nüchtern, wat ich blau jesacht habe ... noch ’nen Schnaps?«

»Ja«, versetzt der Oberleutnant. Er ist so froh wie benommen, so erleichtert wie bewegt.

»Na also«, knurrt Kempe, »alles in Ordnung!«

Er stützt sich jetzt auf beide Ellbogen.

»Ick bin Mensch, det kannste mir glooben. Weeßte, Klaus, Durst hab’ ick immer ... aber hier besauf ick mir mit System ... denn sonst kann den Quatsch doch keen Mensch aushalten ... und uff Doris kannste dir verlassen, und uff mir ooch ...«

Damit ist für den Hauptsturmführer das Problem vorläufig abgeschlossen. Er winkt das dunkelhaarige Mädchen heran, legt gutmütig den Arm um dessen Schultern und sagt zufrieden:

»Det is wat Reelles ...«

So gehen sie schließlich, eine Stunde später, als Freunde auseinander, Kameraden der Zeit und des Alkohols. Der verstaubte Feldflughafen in Nordfrankreich empfing den Oberleutnant Steinbach wie ein Stück Heimat. Die Tragflächen der Me’s auf den Zementpisten waren für ihn keine 131

Geierschwingen der Vernichtung, sondern Vogelarme des Höhenflugs. Die Mechaniker winkten ihm zu, er lachte zurück. Dann hielt der Kübelwagen vor der Baracke. Er betrat sein Zimmer, öffnete den Schrank, betrachtete den Knochensack wie einen Festtagsanzug. Dann streifte sein Blick die Fotografie von Doris. Das Glas war angestaubt. Er wischte es mechanisch ab. Er war für Minuten wieder bei der LebensbornAktion römisch zwei, arabisch eins, Heim Z, und er nahm in diesem Moment zum zweitenmal Abschied von Doris. Fünf Minuten noch, in denen er alles umwerfen möchte. Doris lächelt traurig und fern, als wäre er schon abgereist. Die Liebe spannt sich zwischen ihnen wie eine Brücke über einen Abgrund. Und sie starren hinab. Sie halten die Handflächen gegeneinander. Klaus spürt das Zittern ihrer Haut.

»Doris ...«, fragt er mit schmalen Lippen, »soll ich hierbleiben?«

»Nein«, erwidert sie tapfer.

»Du hast nicht das Gefühl ...« Sein Mund wird hart.

»Nein«, entgegnet sie schlicht, »ich weiß, daß du mich nicht im Stich läßt.«

»Und wenn ich dich mit dem ganzen Geschwader

herausholen muß«, sagt er heftig.

Doris lächelt verloren.

»Du sollst nicht denken, daß ich kindisch bin«, drängt Klaus.

»Das denke ich doch nicht.«

»Angst?«

»Nicht ... viel ...«

»Ich bleib’ hier«, versetzt er, ohne es zu glauben. Das Mädchen lächelt müde.

»Und ich soll nicht denken, daß du kindisch bist?«

Sie stehen voreinander. Doris fährt mit den Fingerspitzen 132

über seine Nase, um seine Schläfen, über seinen Mund. Mit einem harten Ruck löst er sich von ihr, sieht nach der Tür.

»Willst du so gehen?« fragt sie leise.

»Nein«, antwortet der Oberleutnant, »ich will überhaupt nicht gehen.« Dabei macht er die ersten Schritte, die von dem Mädchen wegführen.

Doris betrachtet ihn mit dunklen, umflorten Augen, will ihn begleiten.

»Bitte, nicht«, sagt er.

»Ich darf nicht mit herunter?« fragt Doris zaghaft.

»Bitte, nicht«, wiederholt der Oberleutnant, »es ist ... schon schwer genug ...«

»Nicht winken?« fragt sie.

»Kein Abschied«, antwortet er.

Doris sieht ihm nach, will die Treppe hinuntergehen. Sie bleibt stehen, wo sie stand. Dann hört sie, wie der Wagen anfährt, der ihn in die Stadt bringt.

Vor zwei Tagen ... Und jetzt?

Der Adjutant unterbrach die Erinnerung Steinbachs.

»Fein, daß Sie da sind«, sagte er, während er ihm die Hand entgegenstreckte. »Der Kommodore erwartet Sie.«

»Ich muß mich noch umziehen.«

Hauptmann Albrecht lachte.

»Seit wann so förmlich? ... Kommen Sie wie Sie sind.«

Oberstleutnant Berendsen stand auf, als Klaus seinen Dienstraum betrat, ging ihm entgegen, schüttelte ihm kräftig die Hand.

»Sie kommen wie gerufen«, sagte er. Dann kramte er den obligaten Kognak aus dem Schrank. Die Haut in seinem massiven Gesicht war straffer geworden. Aber die Hand des Oberstleutnants blieb ganz ruhig, als er die Gläser randvoll 133

schenkte.

»Prost!« sagte er, »wie war’s?«

»Danke für die Rückkommandierung.«

»Sie hatten’s aber eilig«, brummte der Kommodore, »war’s denn nichts bei Ihrem Kindergarten?«

»Nein, Herr Oberstleutnant«, versetzte Klaus knapp. Berendsen nickte.

»Hier wird’s allmählich mulmig«, sagte er dann, »die Tommys werden immer mehr und wir immer weniger ... Bevor ich’s vergesse: Von Ihrer Staffel ist nicht mehr viel da ...«

»Ge ... gefallen?« fragte Klaus Steinbach trocken.

»Nicht alle«, versicherte der Geschwaderchef. »Maier ist versetzt ... Hübner liegt im Lazarett ... na ja ... und ein paar ... hat’s erwischt ... Kommen Sie, nehmen Sie noch ’nen Schluck.«

Wen, dachte Klaus, aber er wagte es nicht zu fragen.

»Na, nu erzählen Sie, wie war’s denn?« fragte Berendsen zum zweitenmal.

»Ich will nicht darüber sprechen, Herr Oberstleutnant.«

»So schön?« feixte der Kommodore.

»So beschissen!« antwortete der Oberleutnant.

»Was haben Sie eigentlich dort gemacht?«

Klaus hob die Schultern. Plötzlich würgte ihn der Ekel wieder; er quoll auf wie steigendes Moor. Wie oft hatte er im Lebensborn-Heim gewünscht, daß er eine Minute nur mit seinem Kommodore sprechen könnte!

Und jetzt brach auf einmal alles aus ihm heraus, konfus fast, durcheinander. Ein Bericht, der zur Anklage wurde. Zuerst wollte ihn der Kommodore ungeduldig unterbrechen, aber dann streckte er den Kopf nach vorne. Sein Gesicht wurde hart und kalt. Er vergaß den Kognak.

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Klaus konnte sich jetzt konzentrieren. Er berichtete, wie man ahnungslose Mädchen, darunter seine Braut, bei ihrem jugendlichen Idealismus gefaßt hatte, um sie wie eine Ware zu mißbrauchen. Wie man versuchte, die ›Weltanschauung‹ in ein Wochenbett zu verwandeln und Kinder auf Befehl zu züchten, Kinder, die ihre Eltern niemals kennen sollten. Er ließ nichts aus: nicht die Peinlichkeit, nicht den Alkohol, nicht die Erpressung Westroff-Meyers ...

Oberstleutnant Berendsen stand so hastig auf, daß sein Stuhl umfiel.

»Warum haben Sie den Kerl nicht einfach in die Fresse geschlagen?« fragte er scharf.

Klaus schwieg.

»Weiß schon«, setzte Berendsen hinzu, »entschuldigen Sie, Steinbach ... verstehen Sie, ich bin Soldat ... mich geht diese Dreckspolitik nichts an ... Ich hab’ ja viel gesehen und gehört, was mir nicht paßte, und immer Augen und Ohren zugehalten

... aber wenn das stimmt ...«

»Es stimmt, Herr Oberstleutnant.«

»Wissen Sie, was das heißt?« fauchte ihn der Kommodore an, »für Sie, für mich, für uns alle? ... Wir kämpfen nicht mehr für unser Vaterland, wir verteidigen Bordelle!«

»Es stimmt, Herr Oberstleutnant.«

»Wir verrecken hier ... langsam aber sicher, damit die so einen Saustall ...« Er brach plötzlich ab. Er stützte sich schwer auf den Schreibtisch. Sein Gesicht brannte. Seine Hände preßten sich so fest auf die Schreibtischplatte, daß die Fingerknöchel weiß anliefen.

»Gut, Steinbach«, sagte er ruhig, »ich ziehe die Konsequenz aus der Sache ...«

Klaus betrachtete ihn verwundert. Er kannte seinen Kommodore, den er vergötterte, schlecht. Er ahnte noch nicht, 135

wie tapfer, konsequent und erbarmungslos Oberstleutnant Berendsen war.

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9. KAPITEL

Der Lebensborn tanzt zum markigen Marschfox, blond in der Bewegung, eckig im Schritt. Das Vergnügen ist befohlen. Der Lehrgang findet im Tanzsaal statt. Sturmbannführer Westroff-Meyer wird zum Gastgeber.

Doris steht im Trubel. Hände greifen nach ihr. Worte umschmeicheln sie. Arme versuchen, sie an sich zu ziehen. Fremde Schritte zwingen ihr den Takt auf. Für das Mädchen mit der hohen, schmalen Stirn wird jede Drehung zur Qual, jeder Wechselschritt zur Angst. Seit Klaus sich an die Front zurückholen ließ, treibt sie durch das aufgezwungene Leben im Heim wie auf einem schiffbrüchigen Floß im Meer, allein und fröstelnd, mit dem Grauen vor der Tiefe, dem Schrecken vor dem aufziehenden Sturm. Sie sondert sich ab, so gut es geht. Sie erscheint nur auf Befehl.

Doris tanzt wie auf heißen Kohlen, wie über spitzen Nadeln. Ihr Gesicht ist blaß, ihre Hände bleiben kalt. Sie sieht Westroff-Meyer, in dessen Gesicht die Lauer hängt.

»Warum immer so zurückgezogen?« fragt ein

Hauptscharführer.

Doris weicht aus, als sein Kopf sich ihr nähert.

»Gehen wir auf die Terrasse?« fragt der nächste.

»Kommen Sie mit mir nach oben ... ich hab’ noch etwas Gutes zu trinken da!«

»Damenwahl!« schreit Westroff-Meyer und klatscht in die kurzfingrigen Hände.

Doris bleibt sitzen. Ihr Stuhl wird zum Block auf dem Mädchenmarkt.

Da kommt Hauptsturmführer Kempe auf sie zu. Er lächelt verlegen.

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»Damenwahl!« ruft der Heimleiter zum zweiten Male. Er schleudert das Wort Doris ins Gesicht.

»Quatsch!« sagt Kempe. Er nickt. »Würden Sie mal mit mir tanzen?« fragt er.

Doris erhebt sich mit schweren Füßen, verwirrt und doch befreit.

»Ja, sicher.«

»Ick seh’ schon die janze Zeit, wie Sie hier rumdrucksen ...«

Sie stehen auf dem Parkett. Doris läßt sich willenlos führen.

»Was macht Klaus?« fragt er.

»Ich hab’ noch keine Post von ihm, Herr Kempe.«

»Nennen Sie mir ruhig Horst«, erwidert der

Hauptsturmführer. »Und vor mir brauchen Se keene Angst zu haben.«

»Wenn Se wollen«, fährt Kempe grinsend fort, »tanze ick den janzen Abend mit Ihnen.«

»Warum?« fragt Doris zerstreut.

»Doris ... vastehn Sie mir nich falsch.«

Das Mädchen lächelt.

»Da jibt’s keine Mißverständnisse«, brummelt er weiter,

»der Klaus jefällt mir ... Sie sind knorke ... Ihr beide zusammen seid prima ... und det is alles.«

»Sie sind ein feiner Kerl, Horst«, erwidert das Mädchen herzlich.

»Hörn Se bloß uff«, überspielt er seine Verlegenheit, »sonst gloob ick’s selbst noch ...«

Sie lachen beide. Die Stunde verliert jede Peinlichkeit, selbst jetzt, da Klaus weg ist. Doris erlebt, daß Kempe das Versprechen, von dem sie nichts weiß, ernst nimmt. Und so werden sie Freunde. Ohne Gewicht, ohne Verpflichtung, ohne Wunsch, ohne Belastung. Die abschätzenden Blicke der 138

anderen können Doris nicht mehr bedrohen. Kempe und das Mädchen tanzen den ganzen Abend.

Und Sturmbannführer Westroff-Meyer freut sich. Vergeblich. Als Doris gegen elf Uhr auf ihre Stube geht, grinst er vor sich hin, steht auf, geht auf den Hauptsturmführer zu.

»Na, Kempe, altes Schlachtroß!« sagt er feixend,

»gratuliere!«

Der SS-Offizier sieht auf den Erbsenzüchter hinunter. Er grinst ihn an.

»Zu wat, Sturmbannführer?«

»Zur neuen Braut«, antwortet der Heimleiter, und klopft Kempe jovial auf die Schulter.

»Keine Ursache.«

Westroff-Meyer kneift ein Auge zu.

»’nen Schnaps?« fragt er wohlwollend.

»Von Ihnen?«

»Warum nicht?« versetzt der Heimleiter gespreizt, »oder hältst du mich für einen Duckmäuser?«

»’nen Schnaps nehm’ ich von jedem«, antwortet Kempe. Der Sturmbannführer geht voraus, in sein Büro. Das Parfüm der Sekretärin schlägt seinem Begleiter entgegen, süßlich und schwül. Das Radio läuft auf halben Touren. Die Polster des Sessels sind so eingedrückt, als ob eben jemand gegangen wäre. Der Führer blickt gläsern und heldisch von der Wand. Die Tolle auf seiner Stirn paßt für ein Parteibüro so gut wie für ein Boudoir.

»Auf die Zukunft!« schmettert Westroff-Meyer und kippt den Schnaps mit einem Zug. »... Du kannst ruhig du zu mir sagen, Kamerad.«

»Denn jib mir noch eenen«, erwidert Kempe trocken. Der Heimleiter nickt zufrieden. Alkohol ist im Heim 139

verboten. Aber was Jupiter nicht erlaubt ist, darf der Ochse zu sich nehmen. Er betrachtet Kempe unsicher, schenkt ihm willig nach. Er spürt den Frontgeruch und denkt: Wir von der SS sind doch tolle Hunde ...

»Ich wollte dir schon lange mal sagen, daß ich sehr zufrieden mit dir bin, Kamerad Kempe ...«, sabbert er los.

»Na ja ...«

»Nein, wirklich ... du bist der Typ, den wir brauchen: gesund, ehrlich, gradheraus ... das ist unser Deutschland!« Der Heimleiter geht um Kempe herum. »Ich hab’ mit Vergnügen gesehen«, fährt er fort, während er dem Hauptsturmführer gegen die Brust tippt, »daß die kleine Korff jetzt in die richtigen Hände kommt ... ja, ja ...«

Kempe wischt sich den Schnaps vom Mund.

»Wieso?« fragt er träge.

»Meinen Segen habt ihr«, strahlt Westroff-Meyer. Er tritt einen Schritt zurück, betrachtet Kempe von oben bis unten.

»Und ihr paßt bestens zusammen ...«

Der Pionieroffizier hebt einen Mundwinkel.

»Red’ keinen Bockmist, Sturmbannführer«, antwortet er dann gelassen, »das Mädchen ist verlobt.«

»Verlobt ...«, grinst der Heimleiter. Seine Hand wuchtet auf seine Schenkel. Dann gießt er Schnaps nach. »Das laß mal meine Sorge sein«, sagt er väterlich, »darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.«

»Warum?«

»Verlobt ...«, wiederholt der Sturmbannführer hämisch, »und mit wem? ... Das kann ich dir sagen: mit einem Lumpen! Mit einem Verräter! ... den ich fertigmache!«

»Wieso?« fragt Kempe scharf.

»Du verteidigst ihn wohl noch? Du stellst dich wohl noch vor ihn, was?«

140

Der Ton des Heimleiters wird schroff, fast drohend. Kempe behält lässig die Hände in den Taschen.

»Verräter?« fragt er durch die Nase, »det würde ick jerne jenauer wissen ... wieso? ... wat hat er verraten?«

Westroff-Meyer dreht nervös am Radiogerät. Aber die Sendestationen liefern nur Nachrichten. Die breite Stimme des Sprechers füllt gedämpft den Raum, verliest den Wehrmachtsbericht. Dazu zischt der Heimleiter:

»Was er verraten hat? Den Glauben an den Führer! Ein Miesmacher! Ein Querulant ist das! Ein halber Bolschewik!«

Die Stimme des Heimleiters japst: »Hier hat er gestanden ... und was er gesagt hat, reicht für ... der Bursche ... ist reif!

Kapiert?«

Horst Kempe lächelt mit geschlossenen Lippen.

»Seltsam«, sagt er dann, »die Defätisten gehen an die Front

...« Er gießt sich gemächlich das Schnapsglas voll, prostet Westroff-Meyer grinsend zu: » ... und die Helden bleiben zu Hause, nich?«

»Was soll das heißen?« fragt der Heimleiter, bleich wie sein Führer, »ich verbitte mir diesen Ton von Ihnen, Kempe!«

»Ach ... so herum, Herr Sturmbannführer? ... nee, mein Lieba, nu bleiben wir schon beim du ... ick möchte dir mal wat sagen unter Brüdern: Wenn du mitreden willst, denn meld dir in meine Kompanie ... denn kannst du Erbsen und Kastanien pflanzen, und der Iwan kooft se dir ab ... Die hier, in diesem Narrenhaus, die sind faul, die stinken, mein Lieba ... und det hat der Steinbach jerochen ... vastehste? Und nu willste ihm an den Kragen fahren, weil er ’ne saubere Nase hat!«

»Was fällt Ihnen ein?« brüllt Westroff-Meyer.

»Halt die Klappe!« erwidert Kempe ungeniert. »Ick hab’

schon lange keene mehr einem jescheuert, vastehste? ... und mit mir machste det nich ...«

141

Der Heimleiter sackt zusammen. Er überlegt von unten herauf, wie er jetzt Kempe fertigmachen könnte. Aber hier ist er ratlos, hier prallt er gegen einen Felsblock von ein Meter achtundachtzig. Ein Frontoffizier, der beim Angriff der erste und beim Rückzug der letzte ist, fürchtet sich nicht vor einem dienstgradhöheren Heimatkrieger.

»Und eins sag’ ick dir noch, oller Drückeberger ... laß dir nicht erwischen von mir ... wühl in deinem Dreck hier alleene

... aber jieß ihn nicht anderen Leuten über den Kopp ... sonst geht der Laden hier hoch!«

Er steht auf, feuert mit einer Handbewegung das Glas vom Tisch.

»Ick bin kurz davor!«

Das Gesicht des Sturmbannführers zuckt wortlos. Er kauert, als ob er einen Schlag abdecken wollte.

Der Nachrichtensprecher garniert den verlorenen Krieg mit erfolgreichen Meldungen:

» ... in der vergangenen Nacht überflog der Feind nur mit schwachen Verbänden das Reichsgebiet ...«

Westroff-Meyer antwortet immer noch nicht. Sein Gesicht sieht aus wie ein geplatztes Ei.

»... Die Flak schoß sieben anglo-amerikanische Bomber ab

...«

Kempe nickt.

»Prima Burschen«, murmelt er.

»... Im Westen«, fährt der Sprecher mit monotoner Stimme fort, »gelang es Oberleutnant Klaus Steinbach, Staffelkapitän in einem Jagdgeschwader, an einem Tag seinen 14., 15. und 16. Gegner im Luftkampf zu besiegen ...«

Kempe steht auf, nimmt das Glas Westroff-Meyers, baut sich drohend vor ihm auf.

»Das sollte man dir in die Fresse schütten«, sagt er zum 142

Abschluß.

Je höher die Me nach oben geturnt war, desto stärker durchpulste Klaus das Gefühl schwereloser Befreiung. Die Erde lag als dunstige Niederung tief unter ihm. Er flog über den Wolken, entlang des endlos blauen Horizonts. Irgendwo unter ihm, unter den trübschwarzen Wolkenschwaden lagen seine Probleme und seine Ängste: das Lebensborn-Heim, der Sturmbannführer Westroff-Meyer. Hier aber war der Himmel frei und klar. Für Minuten vergaß der junge Oberleutnant den Krieg, der von Tag zu Tag erbarmungsloser und erbärmlicher wurde. Seit die Operation. ›Seelöwe‹, die Invasion auf die britische Insel, in das Kanalwasser gefallen war, tobte die Luftschlacht über England. Aber die deutsche Luftwaffe investierte vergeblich Mut und Blut. Bald mußten die Verluste ihren Abbruch erzwingen. Und dann war der Weg frei für Hunderte, für Tausende von viermotorigen; Feindbombern, die in Rudeln, in Pulks, in Schwärmen über dem gequälten Deutschland schwebten, mit Tonnen von Tod und Tränen in den Rümpfen.

Der Staffelkapitän flog nicht in der Rotte, sondern allein. Bereits jetzt, im Spätherbst des Jahres 1941, hatten die deutschen Jäger gegen eine mehrfache Übermacht anzutreten. Ein abziehender Bomberverband hatte den Alarmstart ausgelöst, Klaus suchte die blaue Wüste ab. Sein scharfer Blick sah sofort die vermutlich mit Motorschaden hinter dem Pulk zurückgebliebene »Lancaster«. Er stieß seitlich von oben auf sie herab. Seine Bordkanone spuckte die Kanzel auseinander. Die Maschine trudelte schwarzqualmend gemächlich nach unten.

Jetzt erst, fast zu spät, bemerkte Klaus die begleitende

›Spitfire‹. Er wich ihr im Sturzflug aus, zog die Maschine steil nach oben und leitete damit ein Luftduell ein, wie es zu dieser Zeit noch möglich war. Auch der Gegner suchte Höhe. Klaus holte das Letzte heraus, setzte zu einem Looping an, stellte die 143

Maschine auf den Kopf, schoß und traf in diesem Moment. Er drehte, um seinen Feldflughafen anzufliegen. Sein Benzinvorrat war fast zu Ende. Da stieß er auf den dritten Gegner. Er wollte ihm ausweichen. Aber in plötzlicher Gleichgültigkeit flog er ihn frontal an. Der Abstand verringerte sich rasend. Sie waren auf gleicher Höhe. Es sah aus, als ob sie sich rammen wollten. Der Tommy schoß zuerst. Die Garbe zischte über den Oberleutnant hinweg. Er biß auf die Zähne und riß den Abzug seines MGs durch. Während er die Maschine hochriß, sah er den Gegner mit weggesägter Tragfläche nach unten stürzen.

Klaus Steinbach landete beinahe mit dem letzten Tropfen Sprit. Er vergaß, seine Erfolgsmeldung über Sprechfunk weiterzugeben. Die Bordmechaniker wollten ihn auf die Schulter heben. Er wehrte benommen ab.

Da stand auf einmal sein Kommodore neben ihm.

»Gut gemacht«, sagte Oberstleutnant Berendsen, und kaute auf seinem Zigarrenstummel herum. Er bemerkte es nebensächlich, ohne Freude, ohne Teilnahme. Er lief seit Tagen mit grüblerischem Gesicht herum. Seit sich Klaus vom Lebensborn-Heim zurückgemeldet hatte, versuchte der Kommodore über die Luftflotte gegen den rassischen Irrsinn zu protestieren.

Der General benahm sich ganz undienstlich. Er rief ihn an und sagte:

»Hören Sie, Berendsen, wir sind Flieger und sonst nichts ... diese SS-Geschichten gehen uns nichts an ... Stellen Sie einfach keine Leute mehr zum Lebensborn ab, verstanden?«

»Verstanden«, antwortete der Kommodore.

Aber damit war für ihn der Fall nicht erledigt. Alles, was er bisher übersehen und überhört hatte, stand in ihm auf und rebellierte. Der Mann, der immer den Gegner frontal angriff, wußte, auf einmal nicht mehr, ob dieser Gegner vorne oder in 144

seinem Rücken war ...

Der dreimalige Erfolg des Oberleutnants Klaus Steinbach, der im Wehrmachtsbericht erwähnt wurde, sollte an diesem Abend im improvisierten Kasino des Feldflughafens gefeiert werden. Bei diesen Gelegenheiten wußten die Offiziere nicht mehr, ob sie auf das eigene Leben oder auf das Sterben des Feindes tranken. Vielleicht war der Schnaps längst Selbstzweck geworden, der das Gestern bedeckte und das Morgen vernebelte, der das Bewußtsein ertränkte und den verlorenen Glauben an den Sieg durch einen Siegesrausch ersetzte.

Sie standen auf, als der Kommodore erschien, ihnen zunickte und am Kopfende der Tafel Platz nahm. Zu seiner Rechten saß

Klaus. Links von ihm Hauptmann Albrecht, der Adjutant. Die Stühle waren bis zum letzten Platz besetzt – Wie die Betten in den Frontlazaretten. Die Gesichter waren teilweise neu, anonym fast, wie der Heldentod ...

»Weitermachen!« sagte der Kommodore schleppend. Er griff nach dem Glas. Seine Hand zitterte. Je mehr er trank, desto nüchterner wurde er. Ruckartig stand er auf.

»Meine Herren«, sagte er fest, »ich trinke auf die Erfolge des Oberleutnants Steinbach.«

Die Hand fuhr zum dritten Knopf, das Glas zum Mund. Die Ordonnanzen gossen sofort nach. Oberstleutnant Berendsen wartete.

»Es ist ein Brauch«, fuhr er dann fort, »das Glas auf den obersten Führer und Feldherrn zu leeren ...« Gleichzeitig nahm er sein Glas und schleuderte es gegen die Wand. Klaus erschrak. Mein Gott, dachte er, jetzt also wird er protestieren, trunken vor Zorn, und zornig im Trunk, wird sich um Kopf und Kragen bringen, und ich trage die Schuld.

»Meine Herren«, begann Berendsen wieder. Er stand auf und schob das Ritterkreuz etwas auf die Seite, »was wir hier 145

machen, wie wir hier kämpfen, das brauche ich Ihnen nicht zu erzählen ... was ich Ihnen aber einmal sagen muß, ist: für was wir kämpfen.«

Der etwas farblose Hauptmann Albrecht sah verlegen auf die Tischdecke. Er stieß den Kommodore mit dem Fuß an. Aber Berendsen merkte es nicht, oder wollte es nicht spüren. Oberleutnant Kirn, geradlinig wie sein Scheitel, hob den Kopf und sah seinen Geschwaderchef aus blassem Gesicht voll an. Er besuchte, so oft es ging, den Feldgottesdienst, weil er mit dem Krieg nicht mehr fertig wurde. Und ganz allmählich hatte sich der Spott seiner Kameraden in Achtung verwandelt. Neben ihm saß Dietrichs, der mit einem Bein flog. Ihm gegenüber Hauptmann Gerber, dessen beide Brüder gefallen waren. Daneben Oberfähnrich Kronenberg, hoher HJ-Führer, der über den Umweg der Luftkriegsschule zu dem Frontgeschwader gestoßen war. Dann Leutnant Pflüger, nach 21 Luftsiegen aus dem Mannschaftsstand aufgestiegen, zweimal abgeschossen.

»Ich habe bisher keinen von Ihnen gefragt, ob er Nationalsozialist ist oder nicht ... auch der Gegner fragt nicht danach ... wir sind schließlich alle etwas, was ich für wichtiger halte: Deutsche ... Wir sind keine Politiker, sondern Soldaten!

... Aber«, setzte er hinzu, griff nach einem neuen Glas, leerte es, ließ sich einschenken, »wenn wir für unser Vaterland kämpfen, dann verteidigen wir automatisch sein politisches Regime.«

Die leicht vornüberhängenden Schultern des Kommodore strafften sich, reckten sich in die Höhe. Sein Gesicht war hart, seine Miene kalt, seine Hand ruhig. Aber seine Augen brannten.

»Wir brauchen uns nichts vorzumachen«, fuhr er fort, als ob er die Worte gegen den Wind spuckte, »wir alle haben ... Sachen, gesehen und gehört, die nicht gut klingen. Und wir alle 146

haben uns darüber hinweggesetzt, in der Meinung, daß der Kampf des Volkes keine Zweifel zuläßt ...«

Hauptmann Albrecht gab seine Versuche auf, den Geschwaderchef zu stoppen. Oberleutnant Kirn nickte schwer und selbstverständlich. Klaus sah den Oberstleutnant bittend an. Dietrichs, spürte einen plötzlichen Stich am amputierten Bein. Oberfähnrich Kronenberg preßte die Lippen aufeinander. Leutnant Pflüget schüttelte wie betäubt den Kopf.

»Was mich betrifft«, fuhr der Kommodore jetzt ruhig und langsam fort, »haben diese Zweifel jedes erträgliche Maß

überschritten ... Ich mußte einen unserer Offiziere zu einer Aktion des Lebensborns abstellen ... dieser Verein will sozusagen den nordischen Bestand unseres Blutes aufforsten. In der Theorie ist das lächerlich, in der Praxis verbrecherisch ... Meine Herren«,, sagte Berendsen, und blickte an der Reihe seiner Offiziere entlang, »man hat hier mit Tricks und Drohungen gläubige BdM-Mädchen und RAD-Maiden in ein Heim gelockt, hat wildfremde Männer auf sie gehetzt, hat alle Gesetze des Anstandes auf den Kopf gestellt, um diese Wahnideen zu verwirklichen ... man hat ein Bordell zur Weltanschauung erhoben ...«

»Herr Oberstleutnant...«, wollte ihn Steinbach unterbrechen.

»Nein, Steinbach«, antwortete der Kommodore hart, »jetzt spreche ich.«

Die Offiziere sahen sich betroffen, entsetzt, verständnislos, mißtrauisch an. Alle Augen schienen zu fragen: wer ist der Judas, der Denunziant, der Verräter: Wer wird den Geschwaderchef der Gestapo übergeben?

Und wie automatisch wurden ihre Augen von dem jungen, fahlen Oberfähnrich Kronenberg angezogen. Er senkte den Kopf. Ich muß ihn melden, dachte er. Und dabei ahnte er schon, daß es ihm gehen werde wie dem cimbrischen Sklaven, der das Schwert wegwarf, weil er den alten Marius nicht töten 147

konnte.

»Man hat den Schmutz zur Pflicht erhoben, und die Pflicht zum Schmutz degradiert«, sagte der Kommodore mit schneidender Stimme. »Man versuchte, Menschen zu züchten wie Kaninchen, um eine angebliche Elite zu schaffen ... man hat den nackten Trieb zum Rassebesen erkoren und kehrt damit den Dreck zu Haufen ...«

Sein Gesicht war voll Verachtung. Sein Atem ging schwer. Oberstleutnant Berendsen stützte sich jetzt mit einer Hand auf den Tisch.

»Was mich betrifft, meine Herren ... ich weigere mich, das zu decken! Das hat mit Deutschland nichts zu tun! Ich werde persönlich die Folgen aus diesen Tatsachen ziehen ... Das war’s«, sagte er, nickte seinen Offizieren zu und ging mit schnellen Schritten aus dem Raum.

Die Runde brauchte Sekunden, um mit dem Zwischenfall fertig zu werden. Die einen hatten Angst um den Kommodore, die anderen um sich. Manche hielten ihn für einen Weichling, die Mehrzahl aber war beschämt von seiner konsequenten Tapferkeit, die er nicht erst im Kasino zu beweisen brauchte. Hauptmann Albrecht faßte sich als erster, räusperte sich und sagte hastig:

»Die Sache bleibt natürlich unter uns ... der Kommodore ist überarbeitet und braucht Urlaub ... Meine Herren, Stillschweigen ist Ehrensache in diesem Fall!«

Was hat Berendsen vor, dachte Klaus, damit ist doch für ihn die Sache nicht erledigt...

Es kam keine Stimmung auf. Die Witze hinkten auf Stelzen. Das Gespräch umging den heißen Brei. Die Siegesfeier endete nicht bei der restlichen Vertilgung des Kognaks und des Bewußtseins. Der Alkohol schmeckte heute nicht nach Leben, sondern nach Schnaps. Und das war der säuerlich-scharfe Atem der Vernichtung.

148

Auf dem Kiesplatz hinter dem Lebensborn-Heim stehen die Teilnehmer der Aktion römisch zwei, arabisch eins, Heim Z, angetreten im offenen Viereck. Untersturmführer Lange hat die Hand griffbereit am Knebel für die Schnur und wartet auf das Zeichen, die Fahne einzuholen. Der Kurs ist beendet, der Zweck erfüllt. Das übrige ist nun Sache der Natur. Des Dritten Reiches Flagge, die jede Schande deckt, knattert glorreich im Wind. Die Mädchen und Männer, jetzt wieder säuberlich getrennt, starren mit frostigen Gesichtern hinauf, wie das Symbol, für das sie leben und sterben und notfalls auch lieben, sich senkt.

Sturmbannführer Westroff-Meyer hält den Schlußappell. Er schreit zackige Fetzen von sich, die der Wind verdaut:

»Ich darf sagen«, brüllt er, »daß ihr Vorkämpfer geworden seid ... ihr habt eine neue, sittliche Ordnung geschaffen ...«

Eines der Mädchen im dritten Glied ist blaß, spürt Übelkeit, wie es sie nie kannte. Drüben, halbrechts, steht der Mann, den sie nun liebt. Ein Oberscharführer, in dessen Brusttasche der Marschbefehl zum Fronteinsatz steckt. Er sieht trübe auf das träge flatternde Hakenkreuz. Das Gesicht des Mädchens reizt nicht mehr. Die Liebe ist fahnenflüchtig.

»Ich darf sagen«, schallt der Sturmbannführer hohl, »der Versuch ist geglückt!«

Da wird dem Mädchen schwarz vor den Augen. Es sinkt zu den Füßen der Kameradinnen, wird in das Haus getragen, während der Heimleiter weiterspricht.

Hier ist es zugig und kahl. Die Offizierskisten stehen in der Halle. Die Taschen der Arbeitsmaiden lehnen sich schutzbedürftig an. Aber die Hochzeitsreise findet nicht statt. Das Gepäck marschiert getrennt, und seine Besitzer sind vereint geschlagen.

Auf den Korridoren stapelt sich die Bettwäsche. Das Stammpersonal bohnert die Zimmer. Morgen läuft der nächste 149

Kurs an. Zwischendurch wird noch gelüftet. Das braune System hat es eilig, ›Hitler-Kinder‹ en gros zu zeugen. Westroff-Meyer plärrt weiter. Auf einmal lachen sie in der ersten Reihe. Die Schnur, an der der Untersturmführer verzweifelt zerrt, hat sich verfangen. Die Fahne steht still, weht kümmerlich auf Halbmast.

Auch Doris muß lachen, wie erlöst. Für sie besteht kein Grund zur Trauer. In einer Stunde geht der Zug. Und sie wird nie wieder etwas mit dem Lebensborn zu tun haben. Nie wieder, denkt sie ...

»Ein Lied!« befiehlt der Heimleiter.

»Wir werden weitermarschieren ...«, dröhnt es gemischt über den Platz.

»Wegtreten!« schnauzt der Sturmbannführer.

Damit ist die Aktion römisch zwei, arabisch eins, Heim Z, vorläufig abgeschlossen.

Einen Tag später erreichen Doris und Erika die Führerinnenschule des weiblichen RAD. Sie stehen vor ihren Spinden und packen aus. Auch hier ist ein neuer Lehrgang eingezogen. Junge Mädchen mit blassen Stadtgesichtern.

»Wo wart ihr denn?« fragt eines von ihnen, dem man das Bett der toten Lotte zuwies.

»Maiglöckchen pflücken«, knurrt Erika gereizt.

»Ihr habt einen schönen Urlaub gehabt, was?«

Erika lächelt mitleidig ihre Spindtüre an. Da klebt noch die Galerie ihrer Verehrer, die sie bei der Ankunft in diesem Lager demonstrativ an das Holz nagelte. Die beiden Reihen gutaussehender Männer sind inzwischen vergilbt. Mit einem Ruck reißt die Jungführerin die Fotos ab und knüllt sie zusammen.

»Und vom Führer seid ihr auch empfangen worden ...«, fährt die neue Stubengenossin fort, »auf dem Obersalzberg ... stimmt 150

das?«

Doris dreht sich um.

»Unsinn«, sagt sie leise, »laß uns endlich in Ruhe!«

»Welches Geschenk habt ihr dem Führer gemacht?« drängt die Neue weiter. »Morgen kommt schon wieder eine Kommission ...«

Erika kneift die Augen zusammen.

»Hör zu«, sagt sie dann hart, »wenn du einen Funken Vernunft hast ... laß das ... denk an Lotte!«

»Was ist mit Lotte?«

In diesem Moment betritt die Lagerführerin die Stube. Sie geht mit süßlichem Lächeln auf Doris und Erika zu, reicht ihnen die knöcherne, trockene Hand.

»Na, wie war’s?«

»Wunderschön«, erwidert Erika ironisch.

»Was ist mit Lotte? ... Da gehen Gerüchte um ... dummes Geschwätz ... könnt ihr die Sache nicht klarstellen, heute abend beim Appell?«

Sie betrachtet Doris. Das Mädchen atmet tief ein und aus. Dann sagt es knapp:

»Wenn Sie wollen.«

»Nun?« lächelt die Führerin aufmunternd.

Doris spricht so laut und deutlich, als wolle sie die Wahrheit in Stein meißeln:

»Lotte hat Selbstmord verübt, weil sie es nicht ertragen konnte, mißbraucht zu werden ... mißbraucht auf Befehl des Führers!«

»Bist du verrückt?« schreit die Lagerführerin. Es ist still, totenstill. Das Gesicht der Führerin verwelkt in Sekunden. Die Behauptung von Doris ist für sie so ungeheuerlich, daß sie keinen Maßstab findet, nach dem sie 151

strafen, verurteilen, toben oder drohen kann.

»Das ist ja unerhört!« schrillt sie endlich. Ihr kraftloser Schrei hallt nach, während sie mit wehender Bluse über den Gang flüchtet.

Doris steht mitten in der Stube und zittert. Da legt Erika den Arm um ihre Schultern.

»Alle Achtung«, sagt sie leise.

Nach Beendigung des ersten Lehrgangs reiste

Sturmbannführer Westroff-Meyer nach Polen. Im Rahmen einer Aufgabe, bei der seine bisherige Tätigkeit vergleichsweise noch harmlos war. Auf Rechnung der Volksdeutschen Mittelstelle. Für die Ziele des Lebensborns. Um eine Treibjagd ohne Beispiel zu veranstalten. Auf Kinder

...

Er saß im Wagen. Sein Körper wackelte im Rhythmus der Straße. Der Sekt von gestern abend stieß auf. In Krakau hatte man im höchsten Kreis die Rede des Reichsführers der SS

gefeiert. Sie war ein einziger grausiger Blutgesang.

»... Wir müssen das fremde Kind guten Blutes mit allen Mitteln eindeutschen, und wenn wir es rauben müßten .... Wir müssen die gute Erbmasse des Feindes absorbieren oder vernichten ...«

Himmler hatte den Weg gewiesen. Und sein

Sturmbannführer war bereit, darüber hinaus ihm jeden Wunsch von der randlosen Brille abzulesen. So reiste er in Sachen Leben und besorgte für den Tod die Geschäfte. Freie Bahn! Er würde Polen auskämmen!

Der Sturmbannführer träumte. Er sah eine Armee von Kinderfängern unter seinem Kommando durch Polen ziehen. Er sah den Nationalsozialismus als Bassin, in dem das nordische Blut der Welt zusammenfloß, und er, gütiger Stiefvater aller blondschopfigen Kinder, die Kanalisation leitete.

152

Zunächst meldete sich Westroff-Meyer bei dem

Kommandeur, einer SS-Einsatzgruppe in der Nähe von Lodz. Der blasse Standartenführer hörte ihm unbeteiligt zu.

»Hm«, sagte er dann, »Pollacken wollt ihr aufziehen?«

»Nur reinrassige«, beteuerte Westroff-Meyer.

»Für den Lebensborn? Was ist denn das?«

»Nichts gehört? ... Sie sollten längst Mitglied sein, Standartenführer.«

»Von mir aus«, grinste der Einsatzgruppenleiter. Und so wurde der Mörder Mitglied des Lebensborns und der Funktionär des Lebensborns zum Mörder.

»Mit dem was wir umlegen, kannst du nicht viel anfangen, Kamerad«, erläuterte der Standartenführer, »Juden, Zigeuner und ähnliches ... da müssen wir schon andere Wege finden.«

»Brauchen wir nicht Vollmachten?«

»Mensch, Vollmachten!« schnaubte der Mann, der täglich tausend Menschen morden ließ, verächtlich.

Am Abend ereignete sich die erste Panne. Westroff-Meyer drang mit seinen Schergen in eine Wohnung ein, die ihm ein polnischer Spitzel verraten hatte. Eine blonde, junge Frau stand in der Türe. Sie war allein.

»Der Mann?« fragte der Sturmbannführer lauernd.

»Gefallen«, versetzte die Frau ruhig.

Er war Offizier gewesen. Die Augen der Frau glänzten traurig. Gutes Material, dachte Westroff-Meyer. Rasse, Intelligenz, Stolz ...

»Wollen Sie nicht Ihr Kind in ein deutsches Heim bringen, wo es mustergültig erzogen wird?«

Die Frau betrachtete ihn entsetzt.

»Mein Kind ist das einzige, was mir übrigblieb«, entgegnete sie im harten, gebrochenen Deutsch, »ich gebe es niemals her.«

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»Ich kann das verfügen«, erwiderte der Sturmbannführer barsch.

»Nein!« versetzte die Frau zum zweitenmal. Sie sah ihn fest an.

»Machen Sie keine Schwierigkeiten.«

»Bitte gehen Sie ...«

»Geben Sie das Kind heraus«, schrie Westroff-Meyer. Die Frau zitterte. Der Sturmbannführer rief das Begleitkommando. Die beiden Polizeisoldaten drangen in das Kinderzimmer. Die Mutter warf sich verzweifelt über das Kinderbett. Hände wollten sie wegreißen. Aber sie hatte Kraft, unheimlich viel Kraft. Sie schlug um sich. Ihre Faust klatschte dem Sturmbannführer in das Gesicht.

Der eine Posten hob ruhig den Lauf der Pistole. Es gab einen trockenen Knall.

Die Männer rissen das schreiende Kind aus dem Bett, dessen Blauaugen die Angst dunkel färbte. Es wimmerte, wehrte sich mit dünnen, schmächtigen Händen gegen die Brutalität.

»Halt’s Maul, du Fratz!« zischte Westroff-Meyer im Treppenhaus.

Das Kind starrte erschrocken aus ungläubigen Augen. 154

10. KAPITEL

Über Frankreichs Erde liegt die graue Wolkendecke wie ein Bleimantel. Seit drei Tagen kein Flugwetter. Das Tief von den Azoren bis Island war vernünftiger als die Luftmarschälle beider Seiten. Freund wie Feind nützten die Schnaufpause zu Feldpostbriefen, Langeweile und Schlaf.

Die Männer des Geschwaders Berendsen gehen sich in dieser Zeit aus dem Weg. Sie schweigen und warten, daß man den Kommodore verhaftet. Ob sie seinen Auftritt im Kasino billigen oder nicht: sie alle hängen an ihm; sie alle haben Angst, ihn zu verlieren. Ihnen allen gab er Zuversicht in einem längst aussichtslosen Kampf.

Um den Kopf des Oberleutnants Klaus Steinbach legt sich der Druck wie ein eiserner Ring. In seinem Schädel dröhnt der Motor der Me. Er versuchte in den letzten Tagen immer wieder, Oberstleutnant Berendsen zu sprechen, um die Sache auf sich zu nehmen. Aber der Kommodore lebte wie ein Einsiedler, ging nicht aus seiner Stube, ließ keinen seiner Offiziere vor, gab keine Befehle.

Es ist neun Uhr morgens. Klaus steht am Fenster und betrachtet den trüben Tag. Es ist seltsam still und leblos in den Baracken des fliegenden Personals. Kein Gepolter. Keine Flüche. Keine Witze. Keine Sitzbereitschaft. Keine Alarmklingel. Die Stille reißt an den Nerven. Sie ist ungesund wie die fahle Ruhe über See vor einem Orkan.

Immer wieder erlebt der Staffelkapitän die Szene im Kasino: die flackernden Kerzen, die drohenden Schatten an den Wänden, das fast unwirkliche Gesicht des Geschwaderchefs. Dann seine Worte. Klaus Steinbach weiß nicht mehr, ob er sie wirklich hörte oder ob er träumte. Das Unbehagen im Kopf wandert in den Magen. Er nimmt das Zahnputzglas vom 155

Waschtisch und die Pernod-Flasche aus dem Spind. Zwei Drittel Wasser. Er zählt drei Kopfschmerztabletten ab und zerreibt sie in der milchigen Flüssigkeit.

Dann geht er in den Duschraum. Das Wasser spritzt auf seine Haut wie auf heiße Platten. Als er aus dem Handtuch wieder auftaucht, sieht er den Kommodore in der Baracke. Berendsen geht mit kurzem Schritt. Seine Art, sich zu bewegen, hat etwas Unwiderrufliches. Der Geschwaderchef trägt die Fliegerkombination. Klaus erschrickt. Was will er im Knochensack? Was hat er vor?

Der junge Oberleutnant hetzt auf bloßen Füßen zurück in seine Stube, zwängt sich die Kombination über die Unterwäsche, um keine Zeit zu verlieren, hastet hinaus. Oberstleutnant Berendsen lehnt sich gegen die Sandsackwand der Box. Seine Mechaniker reißen die Tarnnetze von der Me. Der Kommodore rührt sich nicht, als Klaus herankeucht, ihn grüßt und dann nicht weiß, was er sagen soll. Berendsen betrachtet ihn schweigend, wendet sich ab, brummt:

»Morgen, Steinbach ... wo brennt’s?«

»Ist was gemeldet, Herr Oberstleutnant?« fragt Klaus verworren.

»Noch nichts«, antwortet der Geschwaderchef gleichgültig, während er mit dem Schuh einen Sandsack festtritt.

»Herr Oberstleutnant starten?« fragt Klaus weiter und wartet auf den erlösenden Anpfiff.

»Das sehen Sie ja«, entgegnet der Kommodore. Aber heute fehlt ihm der ätzende Spott, mit dem er sonst seinen Offizieren zu verstehen gibt, daß sie dumme Fragen stellen. Der Feldwebel vom Bodenpersonal, der die Maschine des Geschwaderchefs betreut, hält ihm das Zigarrenetui hin. Berendsen winkt ab.

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»Dauert’s noch lange?« fragt er ungeduldig.

Der Feldwebel betrachtet Klaus über die Schulter des Kommodore, Ratlosigkeit im Blick. Der Oberleutnant befeuchtet die trockenen Lippen. Aber der Chef gibt ihm keine Gelegenheit, noch etwas zu sagen. Er stülpt sich die FT-Haube über, läßt den Staffelkapitän einfach stehen, erreicht mit einem Satz die Tragfläche, schwingt sich in die Kabine, winkt dem Feldwebel zu. Klaus tritt ganz dicht heran.

»Darf ich mitstarten, Herr Oberstleutnant?« fragt er hastig. Die Augen des Kommodore kehren so fern zur Erde zurück, als wären sie bereits über der Wolkendecke gewesen.

»Was wollen Sie, Steinbach?« erwidert er.

»Mitfliegen«, wiederholt der junge Offizier heiser. Das gegerbte Gesicht mit der Kinnlade wie aus Nußbaumholz belebt sich für eine Sekunde. Die Augen stechen scharf und hell in das offene Gesicht des Oberleutnants.

»Sie warten gefälligst auf den Befehl«, versetzt er ruhig. Dann macht sich Berendsen mit der freien Hand den linken Handschuh zu. Der Feldwebel zieht ihm den zweiten über. In einer Sekunde zwischen Schwanken und Endgültigkeit streckt der Kommodore dann die freie Hand aus der Maschine zu Klaus herunter.

»Nichts für ungut, mein Junge«, sagt er mit schmalen Lippen.

Die Klötze werden weggerissen. Der Propeller dreht durch. Die Me watschelt heulend und spuckend aus der Box. Der Arm von Klaus fällt schlaff herab. Die Maschine verschwindet dröhnend über dem weiten Feld. Der Feldwebel wischt sich die Hand an der schwarzen Drillichhose ab.

»Komisch«, sagt er, während er das Zigarrenetui nutzlos in der Hand dreht.

»Was?« fragt Klaus gereizt.

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»So ist er nie. Und allein startet er auch nicht. Noch nie.«

Klaus Steinbach starrt über den Platz, sieht, wie sich die Me von der Zementpiste abhebt, über dem Wald verschwindet, in die Wolkendecke stößt. In diesem Moment beginnt er zu begreifen, ohne zu verstehen.

»Los!« faucht er den_Feldwebel an, »machen Sie meine Maschine klar!«

»Kann ich nicht ohne Einsatzbefehl«, erklärt der Mann vom Bodenpersonal.

»Quatsch!« entgegnet Klaus heftig. »Sollen wir den Kommodore allein lassen?«

Knapp fünf Minuten später röhrt Oberleutnant Steinbachs Me 100 mit 220 Stundenkilometern über die Bahn. Klaus ließ

sie kaum warmlaufen. In seinen Händen zuckt die Unruhe. Vier Minuten Vorsprung, denkt er, hoffentlich passiert nichts. Warum, zum Teufel, soll überhaupt etwas passieren? Was liegt daran, wenn der Kommodore allein startet? Eine Laune, ein Spazierflug. Ist ja noch keine Feindannäherung gemeldet. In einer halben Stunde landet Berendsen wieder. Und dann reicht er Tatbericht ein gegen mich, und ich komme vors Kriegsgericht wegen Befehlsverweigerung.

In diesem Moment heulen die Alarmsirenen.

»Starker feindlicher Verband nähert sich über dem Kanal dem Festland ...«

Der Wind reißt die Wolken auseinander. Auf einmal betrachtet eine kalte Sonne der Menschen Wahn. Mit dem Finger am Knüppel stößt Klaus aus der Wolkendecke. Er fliegt mitten in einen Glutofen hinein. Gleißende Strahlen bohren sich in seine Augen. Er schließt sie wie geblendet. Doris, denkt er, versteh’ bitte, Berendsen steht auf unserer Seite, ich darf ihn jetzt nicht im Stich lassen.

Tausend Meter, 1200 ... 1400 ... 1500. Die Me klettert. Ihre 158

wirbelnde Schnauze stößt in den Himmel. Klaus starrt nach links, nach rechts, richtet die Maschine gerade, stiert voraus. Blauer Himmel. Weiße Wolken. Gewölbter Horizont. Ebensogut könnte er eine Fliege in einem Glaspalast suchen. Er schaltet das Funkgerät ein, tastet wahllos die Bodenstationen ab, hört die Alarmnachricht, nickt, beißt die Zähne aufeinander. Die Peilstelle bei Dieppe meldet sich, piepsig, mit raschelndem Nebengeräusch.

Jawohl ... eine einsame Me fliegt dem gemeldeten Feindverband entgegen ... Kurs Nord ... Richtung Kanal ... Tiefflug ...

Der Staffelkapitän rechnet schnell wie nie. Kurs. Abdrift. Vorhaltewinkel. Er tritt mit verkrampftem Fuß in die Pedale, will abschneiden, geht nach unten wie im Sturz. Die Maschine bekommt unheimliche Fahrt. Mit 700 Stundenkilometern flitzt der Oberleutnant durch die Luft.

Dann rauscht das Bordsprechgerät.

»Hier Steinbach«, ruft er erregt, »Steinbach ... Steinbach!«

Es knackt. Es rauscht. Höher. 300 Meter. Häuser, Hecken. Dünen, Strand. Das Wasser glitzert. Das Sprechgerät rauscht wie das Meer.

»Sie Scheißkerl!« sagt eine Stimme ganz ruhig. Klaus erschrickt, lächelt mit klammen Lippen. Dann sagt er, hastig wie erleichtert:

»Jawohl, Herr Oberstleutnant.«

»Scheren Sie sich nach Hause!«