1. KAPITEL

Der Mai füllte die Luft mit Frühling. Am Nachmittag hatte es geregnet. Jetzt hingen die Dampfnebel der warmen, schwellenden Nacht in den Zweigen der Bäume wie weiße Tücher, die sich verfangen hatten. Von den Blättern fielen träge Tropfen. Um die steinernen Kandelaber der schmiedeeisernen Leuchten tanzten die ersten Mücken durch die feuchte Luft.

Nur Schritte auf dein knirschenden Kies unterbrachen die Stille des Abends. In der Ferne schlug eine Turmuhr an. Doris lehnte sich leicht gegen den Mann. Sie fühlte den Druck seiner Hand auf ihrem Arm. Sie wußte, daß sie seine Hand nach der Trennung noch lange spüren würde: fester als weich und drängender als kühl ...

»Klaus«, sagte sie leise, fast bittend.

Der Mond drehte seine Scheibe aus den Wolken. Das Licht strich über den jungen Fliegeroffizier. Er war hochgewachsen, aber schmal, sehnig, aber nicht kräftig. Seine lederne Gesichtsfarbe paßte nicht zu seinem hellen Blondhaar, so wenig wie sein Alter zu seinem Mund. Klaus Steinbach war 24 Jahre alt, und die Kerben links und rechts der Lippen stammten aus mindestens doppelt so vielen Luftkämpfen.

»Klaus«, setzte Doris zum zweitenmal an, »... dieser Urlaub

... war er schön?«

Er blieb stehen. Das Lachen löschte die Falten in seinem Gesicht. Jetzt war er wieder der unbekümmerte Junge, dem die Mädchen in die Augen sahen, während sie an seinen Mund dachten. Der junge Oberleutnant sah besser als gut aus. Aber er wußte es nicht. Er war ein Idealtyp seiner Zeit. Er konnte nichts dafür. Er glaubte an dieses Leben des Jahres 1941, und er lebte in diesem Glauben ...

»Warum willst du es hören?«

»Weil ich es wissen möchte.«

»Und warum willst du es wissen?«

»Weil ich es glauben möchte ...«

»Ja«, erwiderte er, »es war schön ... es ist sehr schön.«

»Und morgen mußt du wieder zurück ...«, sagte Doris.

»Ich kann nichts daran ändern«, antwortete er härter, als er wollte.

»Du kommst wieder ...«, entgegnete das Mädchen mit banger Sicherheit.

»Zu dir«, erwiderte er.

»Zu uns«, sagte sie. Doris hatte lange, schmale Hände. Manchmal dachte Klaus, daß sie das Schönste an ihr seien. Aber sie hatte auch lange, schlanke Beine. Und am Ende solcher Betrachtungen fand er immer alles gleich schön an ihr: die fast unnatürlich großen Blauaugen, die sich verdunkeln konnten wie der Himmel. Die unnatürlich kleinen Ohren, die in ihren Wuschelhaaren steckten wie Ornamente. Der Mund, der gleichzeitig lächelte und grübelte. Nur vor ihrer Stirn empfand Klaus Scheu. Sie war hoch und streng. Es war die Stirne eines Mädchens und einer Frau zugleich. In seinen Gedanken wenigstens oder bestimmt in seinen Träumen.

»Was denkst du?« fragte Doris.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, strich ihm mit flüchtiger Hand das Haar zurecht.

Er straffte sich, wie immer, wenn sie ihn berührte. Aus wilder Erwartung, wie aus verhaltener Scheu. Aber Doris merkte es nicht. Klaus sah in ihre Augen. Sie verschwammen vor ihm mit dem Dunkelblau, das die Nacht trug. Das unwirkliche Licht des Mondes versilberte den goldenen Flaum auf ihrer Stirne unter dem Haaransatz. Er mußte an sich halten, um sie nicht in seine Arme zu reißen.

»Was hast du?« fragte sie weich.

»Nichts«, versetzte er gepreßt.

Sechzehn Tage, dachte der junge Offizier, und kein Tag, kaum eine Stunde ohne Doris. Sie hatten zusammen Tennis gespielt. Sie waren an den Fluß gefahren. Sie saßen im Kino nebeneinander. Und sie besuchten sich gegenseitig bei den Eltern. Sie gingen über ihre Gefühle wie über Brücken, die zum gleichen Ufer führten.

Und doch blieb ein Rest. Er spürte diesen Rest, wenn er Doris küßte. Er küßte sie nie anders, wie er es das erstemal als Primaner getan hatte. Es war stets, als ob die wilde Welle, die über ihm zusammenschlug, an einer gläsernen Wand aufliefe. Aber Oberleutnant Steinbach war kein Primaner mehr. Verdammt, er wollte kein Porzellan zerschlagen. Aber er wollte diese Glaswand zertrümmern. Sooft er Doris an sich zog, fühlte er ihr sanftes Ausweichen.

Schon zu Beginn des Urlaubs. Aber heute war das Ende. Die Zeit ließ sich nicht stoppen. In diesem Moment hörte der junge Offizier im stillen Stadtpark das Dröhnen der Motoren, das Belfern der Bordkanonen, das Krachen der Bomben, das Heulen des Sturzflugs ...

Sie gingen weiter. Einen Moment war Klaus eifersüchtig auf die Dunkelheit, die sich um den schlanken Körper des Mädchens legte. Der Kies zerbrach unter seinen Stiefeln. Seine Hände wurden heiß. Er suchte nach Worten und fand sie nicht.

»Ist etwas ... mit uns?« fragte Doris.

»Nein«, antwortete er rauh.

Sie hakte sich bei ihm ein. Die Schwüle der Nacht hatte für sie keinen Doppelsinn. Plötzlich lachte sie leise.

»Weißt du noch«, fragte sie, während sie mit dem Arm auf den kleinen Platz neben dem Parkweg deutete. Das Brett einer Kinderwippe lag im Mondlicht. Sie hatten den Spielplatz des Parks erreicht, »... wie mir der Junge die Sandformen wegnehmen wollte ... und du ihn dafür verprügelt hast?«

»Ja ... ich glaube ...«, entgegnete der Oberleutnant zerstreut. Dann brummelte er: »Wir können doch nicht immer im Sandkasten spielen ...«

»Eigentlich schade«, versetzte Doris lachend. Dann erst bemerkte sie seinen Trotz. Seine Augen wandten sich vom Spielplatz ab. Er starrte verbissen geradeaus. Das Mädchen betrachtete ihn von der Seite. Klaus, dachte sie: mit sechs sah er nur mein Spielzeug, mit acht meine Zöpfe, mit zwölf meinen Nacken, mit vierzehn sah er an mir vorbei, mit sechzehn sah er mir nach, und dann begegneten sich unsere Augen allmählich, und dann immer häufiger, um einander nicht wieder loszulassen.

Sie hatten das Ende des Parks erreicht. Der Weg gabelte sich.

Sie gingen nach links, nach Hause. Doris enttäuscht, daß ihre Parkpromenade so rasch endete, Klaus mit seltsam drängenden, ziehenden Schritten.

»Du«, sagte er heiser, »kommst du ... ich meine ... trinken wir bei uns noch ... etwas?«

Die Befangenheit schnitt ihm den Faden ab. Er kam sich wie ertappt vor.

Doris erwiderte schlicht: »Gern, Klaus.«

Plötzlich begann der Ball in seiner Brust zu springen. Er redete ohne Pause. Er kürzte den Weg mit Belanglosigkeit ab. Er hatte Angst, die Freundin könnte es sich anders überlegen. Aber sie dachte nicht daran. Sie verstand so wenig von ihm wie er von ihr. Und darum betrachteten sie beide ihre Gefühle wie ein unbegreifliches Wunder ...

Im Hause brannte kein Licht mehr. Er ging voraus. Er dämpfte unwillkürlich seinen Schritt. Doris merkte es und wunderte sich. Heimlichkeiten waren ihr peinlich. Sie gingen über den dicken Läufer, erreichten das Zimmer, das Klaus schon als Junge bewohnt hatte, ganz oben, im Dachgeschoß. Doris besuchte ihn nicht zum erstenmal. Langsam zog er die Tür hinter sich zu. Der junge Offizier stand ein paar Sekunden als ob er Wurzeln schlagen wollte. Er starrte das Mädchen an, betrachtete ihre Lippen, die halb kindlich, halb geöffnet waren. Sein Blick strich über den gelben Flaum auf ihren nackten Armen, die sich plötzlich wie von selbst verschränkten. Er tastete sich weiter zu dem viereckigen Ausschnitt ihres leichten Sommerkleides. Doris betrachtete ihn immer noch verwundert. Er wich ihren Augen aus.

»Setz dich doch«, sagte er mit belegter Stimme. Gleichzeitig legte er den Arm um ihre Schultern und drückte sie auf die Couch. Er stieß mit dem Kopf an, aber er spürte es nicht. Er schmiegte sein Gesicht, seinen Mund an ihren Hals. Doris schmollte leise. Ihre Hand umklammerte sein Armgelenk. Er rang wortlos um etwas, das sich nicht erzwingen ließ. Als er es merkte, lag er ganz still, beschämt, betroffen, geschlagen.

»Ach, Klaus ...«, sagte Doris weich. Ihre Finger spielten mit seinen Ohren, seinen Haaren. Aber ihre Augen wanderten an ihm vorbei. Sie waren blau wie ein See im Sommer. Sie waren naß. Trotzdem nahmen sie in diesem Moment jede Einzelheit des Zimmers in sich auf. Dabei kannte Doris alles: den gemusterten Teppich. Den flachen Kacheltisch. Den bunten Aschenbecher, den sie ihm selbst geschenkt hatte. Den bequemen Klubsessel, der früher unten stand, aus dem sie als Kinder immer vertrieben wurden, weil sie mit den Schuhen nicht auf dem Leder herumsteigen sollten. Das Bücherbord, über dem, stilisiert und konserviert, das Hitlerbild hing. Daneben ein abgebrochener Luftschraubenflügel, als Souvenir der ersten Bruchlandung.

In Doris’ Augen saßen Tränen. Sie fürchtete, daß sie sein Zimmer, das für sie ein Stück Heimat bedeutete, unter seinem ungestümen Drängen verloren hatte.

»Klaus ...«, sagte sie bittend, während er seinen Kopf an ihrer Schulter versteckte, »versteh mich doch ... wir wollen uns das doch aufheben ... später nach dem Krieg ... er ist ja bald zu Ende ...«

Der junge Offizier schwieg.

»Es wäre so«, fuhr Doris mit der Stimme eines Kindes fort,

»wie es ... alle machen ... so billig ...«

Er richtete sich halb auf, stützte die Hand gegen die Schläfen.

»Morgen gehst du ... an die Front ... und am Abend davor ... müßt ihr mit euren Mädchen ...« Sie stöhnte leise und drehte den Kopf zur Seite. »Es ist so billig ...«, wiederholte sie, »es ist wie ein Programm. Und davor habe ich Angst ...«

»Ja«, entgegnete Klaus hart, »man kann es auch so nennen.«

Und nach einer Weile sagte er: »Daß ich vielleicht nicht wiederkomme, daran hast du wohl nicht gedacht ... und daß ich

...«

Er brach erschrocken ab, weil ihm die Ungeheuerlichkeit noch rechtzeitig bewußt wurde. Er hatte sagen wollen: Und daß

ich ein Recht darauf habe, bevor ich krepiere ... wenigstens einmal glücklich zu sein ...

Klaus machte sich von ihr los. Er stand schwerfällig auf. Mit fahriger Bewegung suchte er den Kognak. Er schenkte sich zuerst ein, kippte das randvolle Glas mit einem Zug hinunter. Jetzt erhob sich auch Doris, strich ihr Kleid glatt. Er brachte sie die Treppe hinunter. Er stand vor ihr, zwischen Zorn und Verlegenheit.

Doris lehnte den Kopf an seine Brust. Er merkte, daß sie zitterte. Sie versuchte, ihn zu küssen. Aber ihre Lippen waren 9

kühl, und sein Mund blieb verschlossen.

»Komm wieder, Klaus ...«, sagte Doris.

Dann drehte sie sich rasch um und ging hinaus. Er starrte ihr nach.

Noch ein paarmal schlägt der Propeller der Me 109 pfeifend durch die Luft. Dann reißt das leerlaufende Dröhnen der Maschine ab. Der Motor steht. Die Bordwarte stürzen wie schwarze Termiten über die Jagdmaschine, klettern auf die Flächen, reißen das Kabinendach auf, helfen ihrem Kommodore aus den Gurten. Unteroffiziere, Mannschaften, Offiziere des Jagdgeschwaders wetzen über den E-Hafen in Nordfrankreich, um dem Chef zu gratulieren. Bevor er landete, wackelte er dreimal mit den Tragflächen. Abschuß heißt das ... Oberstleutnant Berendsen winkt ab, während er sich aus der Maschine schwingt.

»Gebt mir lieber ’ne Zigarre«, schnarrt er gut gelaunt. Er betrachtet den blauen Rauch der Brasil, die man immer für ihn bereit hält ... falls er zurückkommt. Und dann blinzelt er in die Sonne, von der er eben auf eine Spitfire herabstieß.

»Alsdann«, sagt er und tippt lässig an die Mütze. Seine Männer bilden eine Gasse. Er geht langsam über den Platz, im Knochensack. Er ist kleiner als seine jungen Leutnants. Sein Gesicht wirkt breit und bullig, mit einem Unterkiefer wie aus Nußbaumholz. Er ist ein Offizier nach dem Geschmack seiner Männer. Er sitzt lieber in der Kiste als am Schreibtisch, er trinkt lieber Schnaps als Wein, und er küßt lieber Schwarz als Blond. Sein Leben ist verdammt einfach: ein Draufgänger in der Luft, ein Haudegen im Suff. Sein bescheidenes Rezept lautet: fliegen, schießen, sterben und sterben lassen. Der Krieg ist ihm gleichgültig, aber Luftkämpfe interessieren ihn ...

Das Donnern der Geschwadermaschinen, die nach ihm einfliegen, verebbt hinter ihm im Korridor der Horstkommandantur. Oberstleutnant Berendsen öffnet die Türe seines Zimmers mit einem Fußtritt gegen die Klinke, wie immer.

Der Adjutant, Hauptmann Albrecht, nimmt Haltung an.

»Nu, wie sieht’s aus?« schmettert Berendsen.

Der Adjutant hat die Unterschriftenmappe schon griffbereit.

»Nein, nein ... lassen Sie mich doch mit dem Papierkrieg in Frieden ... Was ist mit der zweiten Staffel?«

Hauptmann Albrecht betrachtet die Schreibtischplatte, Im Rahmen der psychologischen Behandlung seines Kommodore hätte er das lieber an den Schluß seines Berichts gesetzt. Er beginnt, die Pille zu versüßen:

»Hauptmann Wernecke hat zwei schöne Abschüsse gemeldet

...«

»Na, großartig!«

Jetzt fährt der Adjutant trübsinnig fort:

»Aber Leutnant von Bernheim wurde leider abgeschossen.«

»So ...«

»Oberfeldwebel Rissmann bei Bruchlandung schwer verletzt

...«

»Auch das noch ...«

Der Chef tigert in seinem Büro auf und ab, wie immer, wenn sich bei diesen Hiobsbotschaften seine Vorstellung vom fröhlichen Jägerleben trübt. Der Krieg wird ihm erst noch das Fürchten beibringen. Jetzt im Jahre 1941 ist für ihn der Heldentod nur Ungeschicklichkeit.

»Ist das alles?« knurrt er.

»Vorläufig«, erwidert der Adjutant vorsichtig. »Die Meldung der dritten Staffel steht noch aus ...«

Oberstleutnant Berendsen deutet unvermittelt auf die 11

Unterschriftenmappe.

»Na, zeigen Sie schon her ...«

Der Hauptmann referiert die Eingänge: Nachschublisten, Bestandsaufnahmen, Geschwaderbefehle,

Urlaubsverordnungen, Rapport-Meldungen ...

Der Kommodore kratzt sich im Stehen mit der Füllfeder, ohne hinzusehen. Die Gurte seiner Kombination baumeln herunter. Hauptmann Albrecht blättert um. Er hat die Papiere nach Wichtigkeit geordnet.

»Lauter Mist!« brummt Berendsen.

»Hier noch eine Anfrage der Wehrbetreuung ... ob wir ein Fronttheater wollen ...«

»Ach ...«, winkt der Oberstleutnant ab, »immer noch die alten Schicksen?«

»Nein, neue, Herr Oberstleutnant.«

»Dann brauchen Sie mich doch nicht zu fragen ...«

Der Kommodore bleibt vor seinem Schreibtisch stehen, holt eine Flasche Kognak aus dem Fach, füllt zwei Gläser.

»Noch etwas?« fragt er.

»Ja«, erwidert der Adjutant, »ein Rundschreiben von der SS

... die haben da eine Organisation ... werben Mitglieder ...«

Oberstleutnant Berendsen nimmt zerstreut das geheime Schreiben in die Hand.

»Bei uns?« fragt er etwas hilflos.

»Auch«, bestätigt Hauptmann Albrecht. »Lebensborn e. V

.... jeder Deutsche kann beitreten ... kostet eine Mark im Monat

...«

Der Chef pafft an seiner Zigarre.

»Was ... Lebensborn? Klingt wie ’n Kindergarten ... Was ist denn das schon wieder für ein arischer Schmonzes?«

Der Adjutant nimmt ihm das Schreiben aus der Hand. 12

»Darf ich?« fragt er.

Dann liest er leiernd:

»... Ein Volk, das sein höchstes Gut, seine Kinder vernachlässigt, ist reif für den Untergang ...«

»Nicht so viel Theorie, Albrecht«, unterbricht ihn Berendsen ungeduldig, »was wollen die denn eigentlich?«

»Mitglieder«, antwortet der Adjutant lakonisch. »Das Rundschreiben ist von Himmler selbst unterzeichnet«, setzt er dann hastig hinzu, »... die Bewerber sollen groß und blond sein

... nur Männer mit einwandfreiem, nordischem Aussehen ... und überzeugte Nationalsozialisten ...«

Das Gesicht des Kommodore bleibt undurchsichtig.

»Na ja«, brummt er. »Aber wir können nicht dauernd Fehlanzeigen melden ... einer muß in den sauren Apfel beißen!

... Suchen Sie einen jüngeren Offizier aus, der sich freiwillig meldet ...«

Hauptmann Albrecht hat Falten auf der Stirn.

»Nordisch ... nordisch ... nordisch«, murmelt er.

»Wie wär’s mit Steinbach?« fragt der Kommodore, »der sieht doch aus, als ob er aus Walhalla entlaufen wäre ... Nehmen Sie den ...«, sagt er abschließend.

Dann reicht er seinem Adjutanten den Kognak.

»Sagen Sie mal, Albrecht, Sie lieben wohl den Reichsführer SS nicht besonders?«

»Nach Ihnen, Herr Oberstleutnant«, erwidert der Adjutant vorsichtig.

»Gut ... trinken wir auf den Geschmack.«

Noch bevor das Glas geleert ist, fliegt die Tür auf. Ein Unteroffizier der Funkstelle meldet sich mit strammer Ehrenbezeigung. Berendsen betrachtet ihn irritiert.

»Was ist los?«

13

»Meldung von der ersten Staffel ... Oberleutnant Steinbach

... abgeschossen ...«

»Abgeschossen?« wiederholt der Kommodore mechanisch. Er schluckt, geht an das Fenster.

Hauptmann Albrecht fragt bitter:

»Soll ich nun für den Lebensborn ein anderes Mitglied namhaft machen?«

Oberstleutnant Berendsen dreht sich langsam um.

»Scheiße!« sagt er.

Dann verläßt er langsam den Raum.

›Lebensborn e. V.‹ verfügte über ein Dutzend Heime, über 700 Angestellte und ein paar hunderttausend Mitglieder. Die meisten von ihnen wußten nicht viel von den eigentlichen Zielen des eingetragenen Vereins. Sie waren nur fördernde Mitglieder. In seinem ersten Befehl sprach der Reichsführer SS

davon, daß man kinderreiche Mütter unterstützen müßte. Das klang beinahe vernünftig und einleuchtend. In seiner zweiten Anordnung tönte Himmler bereits, daß man auch der unehelichen Mutter den vollen Schutz der Gesellschaft geben müßte. In seinem dritten Erlaß aber befahl Heinrich Himmler mit verhohlener Offenheit, das uneheliche Kind planmäßig zu zeugen. Wie man Autos produziert. Wie man Geflügel auf der Hühnerfarm züchtet.

Die Wände der Zentrale glichen zur Hälfte einer Kinderklinik und zur anderen einer Bildersammlung. Sie hingen im Rahmen an der Wand, waren gleich groß und gleich kitschig: der Rassechef persönlich, fahl und nicht eben nordisch. Der entlaufene Architekt Rosenberg. Der Propagandaminister Goebbels. Der Arbeitsführer Ley. Sie alle blickten mit gläsernen Augen aus hölzernen Rahmen auf ein Werk, wie es die Geschichte nicht noch einmal kennt. Auf eine 14

Erfindung ohne Beispiel. Auf einen Frevel ohne Grenzen. Und auf der anderen Seite hingen unschuldige Kinderköpfe in einer Reihe.

Der Nationalsozialismus hatte Gott abgeschafft, die Stukas und den Kunsthonig erfunden. Das braune Reich hatte den Heldentod in Mode gebracht. Und jetzt machte sich das System daran, Kinder am Fließband herzustellen. Mit einer am Papier errechneten Kopfform. Mit einer vorher bestimmten Augenfarbe. Mit einer Mindestkörpergröße. Gezeugt ohne Liebe. Erzogen ohne Gott. Heranwachsend ohne Mutter. Kinder, die statt beten boxen und statt lieben hassen lernen sollten. Kinder des Führers ...

Auch SS-Sturmbannführer Westroff-Meyer sah nicht gerade aus wie das Endprodukt seines unheimlichen Werkes. Er leitete die Aktion römisch zwo, arabisch eins, Heim Z. Er war prall in den Hüften und massig im Genick. In seinem Gesicht kontrastierte das schlaffe Maul eines Karpfens mit den kleinen Augen eines Hechtes. Daneben trug er an den Wangen das Emblem des Korpsstudenten, Säbelschmisse, die aus der Zeit stammten, als der Führer noch nicht den Boxhandschuh entdeckt hatte.

Der Sturmbannführer diktierte erregt und konfus, wie immer mit erhobener, salbadernder Stimme, wenn er

Ungeheuerlichkeiten schwarz auf weiß festlegte. Er hatte Jura studiert und Schiffbruch erlitten. Er war auf Medizin ausgewichen und im Physikum hängengeblieben. Seinem Vater wurde es zu dumm. Er entzog ihm den Monatswechsel. Und so verstärkte Heinz Westroff-Meyer das namenlose Heer der Abenteurer, die hinter dem Hakenkreuz herliefen. Er aber wollte nicht namenlos bleiben.

»... Deshalb ...«, diktierte er seiner Sekretärin, »sind alle Maßnahmen besonders geheimzuhalten ... Es ist dafür zu sorgen, daß die künftigen Mütter schon vor der Geburt auf ihre 15

Kinder verzichten. Die Säuglinge sind rechtzeitig von den Müttern zu trennen ... Nur in Ausnahmefällen darf gestattet werden, daß die für die Aktion ausgewählten Mädchen unter eins-kommasiebzig groß sind. Auch verheiratete Frauen sind grundsätzlich zugelassen. So ihre Männer an der Front stehen, ist Sondergenehmigung einzuholen ... Es besteht Veranlassung, noch einmal auf die absolute Geheimhaltung hinzuweisen. Zu gegebener Zeit wird sich der Reichsführer SS zu diesem großen Werk für Großdeutschland bekennen ... Bis zu dieser Zeit aber ist alles zu unterlassen, was die kämpfende Bevölkerung beunruhigen könnte ... Die Volksaufklärung wird zur rechten Zeit einen Wandel der öffentlichen Meinung herbeiführen ...«

Der Sturmbannführer unterbrach seinen Fußmarsch.

»Haben Sie es?« fragte er seine Sekretärin.

»... einen Wandel der öffentlichen Meinung herbeiführen«, leierte das blasse Mädchen.

»Gut«, antwortete Westroff-Meyer, »Heil Hitler ... das Übliche ...«

Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, zündete sich eine Zigarette an.

»Ich fahre selbst zur Aktion II-1, Heim Z ... Große Sache, einmalige Sache!« setzte er hinzu. »Der Reichsführer ist ein Genie!«

Das Mädchen nickte mit willigem Nacken. Sie hieß Schmidt, und da sie kleiner als einskommasiebzig war, nannte man sie Schmidtchen. Sie hatte sich abgewöhnt, den Kopf zu schütteln. Sie glaubte an die Bewegung. Aber seitdem sie beim Lebensborn war, bewegte sich in ihrem armen Kopf zuviel ... 1939 entstand diese seltsame Organisation mit dem unauffälligen Status eines eingetragenen Vereins, dessen Führung Himmler persönlich übernommen hatte. Er rechnete sich aus, daß im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende, wenn 16

nicht Millionen junger Männer fallen würden. Er zog sie von der Summe der gleichaltrigen Frauen ab, die zwangsläufig nicht mehr heiraten konnten. Die Bilanz war der Kinderverlust. Das brachte ihn auf den Gedanken: die Toten des Zweiten Weltkriegs sollten zuerst noch ihre ›biologische Pflicht‹

erfüllen. Es sollte, nach Himmler, zumindest kein Blondschopf mehr unter dem Birkenkreuz eingegraben werden, bevor der Gefallene nicht Vater geworden war. Die Zeugung der reinen nordischen Rasse freilich blieb das Endziel des Lebensborns, der jetzt eben aus dem Stadium der Planung heraustrat. Das SS-Rasse-und Siedlungshauptamt wollte deshalb das Notwendige mit dem Nützlichen verbinden und schickte sich an, eine Art Rassensteuerung zu betreiben. Die Versuche, die der ahnungslose Pfarrer Gregor Mendel mit Pflanzen angestellt hatte, verpflanzten die Machthaber des Dritten Reiches einfach auf Menschen. Mit allen Mitteln. Vielleicht beleuchtet nichts deutlicher die Bewegung als der Lebensborn: der Sieg der Ignoranz über die Intelligenz. Die Auflösung des Anstandes in Wahnsinn.

Für die unsauberen Ziele erfand man als Afterwissenschaft die Rassenhygiene. Ein Herr Günther wurde zum Propheten der Dummheit und lieferte die Würze zu dem braunen Plan. Selbst in der Hilfsschule konnte man lernen, daß sich das deutsche Volk aus einem Schmelztiegel von Völkern im Laufe der Jahrhunderte gebildet hatte. Mit diesem geschichtlichen Prozeß wollten nunmehr Männer á la Westroff-Meyer kurzen Prozeß machen. Sie schickten sich an, eine ›neue Rasse‹ mit den gleichen Mitteln zu schaffen, wie man einem morschen Apfelbaum einen frischen Ast aufpfropft ...

»So«, sagte der SS-Sturmbannführer, »fertig für heute.«

»Wo ist denn eigentlich das Heim Z?« fragte Schmidtchen.

»In Polen«, antwortete er, »vorläufig ... wir werden es bald nach Oberbayern verlegen ...«

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»Und die Mädchen sind ... einfach so ... so bereit?«

»Wie meinen Sie das?« fragte Westroff-Meyer scharf.

»Na, ich denke ... ich meine ... die Kinder ...«

»Die Kinder?« fragte er mit gehobenen Augenbrauen.

»Was sind das ... für Mütter ... die ihre Kinder ...«

Der Sturmbannführer schwoll an. Seine fleischigen Ohrläppchen wurden rot.

»Schänden Sie nicht das Opfer dieser deutschesten aller Frauen!« brüllte er.

Er knallte die Tür zu, wuchtete über den Gang. Wir haben noch eine harte Erziehungsarbeit vor uns, dachte er ...

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2. KAPITEL

Er spürte den Ruck nicht mehr, mit dem sich der Fallschirm geöffnet hatte. Aber nach ein paar Sekunden kam Oberleutnant Klaus Steinbach zu sich, pendelte nach links, nach rechts. Eine Fangleine hatte sich über die weiße Seide gezogen. Und der Fallschirm glitt mit erhöhter Geschwindigkeit als ›Brötchen‹

zur Erde; statt mit fünf Metern Fallgeschwindigkeit sauste er mit acht bis zehn nach unten.

Dem jungen Offizier war es gelungen, in 3 000 Meter Höhe, Sekunden vor der Explosion, aus der brennenden Me auszusteigen. Er sah nach unten, und die Welt schaukelte vor seinen Augen.

Ein Wäldchen. Der Wind trieb ihn nach rechts, auf die Bäume zu. Ein Hochspannungsmast. 200 Meter unter ihm. Ein paar Sekunden glitt er auf gleicher Höhe nach unten. So lange stellte er sich vor, wie er an den Drähten zu einem Klumpen zusammenschmoren würde. Er zappelte hilflos an den Leinen. Er bäumte sich dagegen.

Dann klatschte er in einen Strauch. Die Äste zerschnitten ihm das Gesicht. Sein Fuß schmerzte höllisch. Er versuchte sich zu bewegen. Nichts zu machen. Er konnte nicht mehr aufstehen. Das Gelenk war verstaucht oder gebrochen. Er konnte nur kriechen.

Nach ein paar hundert Metern gab er es auf, legte sich auf den Rücken, spürte die noch warme Septembersonne, umfaßte mit einem Blick den wolkenlos blauen Himmel der Normandie, döste ein, erwachte wieder am späten Nachmittag, hatte fürchterlichen Hunger, konnte sich noch immer nicht rühren. Seitdem liegt er Stunde um Stunde. Der Knochensack klebt nicht mehr am Leib. Er friert. Kein Mensch zu sehen. Keine Spur von Orientierung. Der Bauer, der ihn hier findet, kann 19

sein Mörder sein. Oder sein Helfer. Es gibt gute und schlechte Menschen in Frankreich. Aber alle hassen sie die Boches. Nach der Meinung des jungen Oberleutnants grundlos ... Der Fuß schmerzt noch mehr. Das Gelenk ist verstaucht, nicht gebrochen, denkt er, sonst müßte mir viel übler sein. Er sieht die Sterne am nachtklaren Himmel. Er sucht mechanisch den Großen Bären, den Kleinen Bären, den Polarstern. Vielleicht sieht auch Doris, die längst beim weiblichen RAD ist, jetzt nach oben, überlegt er, und denkt jetzt an mich, wie ich an sie ...

Auf einmal ist ihm noch kälter. Jetzt erst wird ihm bewußt, wie dicht er am Ende vorbeigegangen ist.

Am Morgen kommt ein Mistfuhrwerk. Der junge

Oberleutnant ruft den Bauern an. Der Mann hält erschrocken, hilft dann dem Verletzten beim Aufsteigen. Geschafft, denkt Klaus. Mit vereinten Kräften kommt er über den Eingang der Mairie, findet ein Telefon, lacht schon wieder. Nach einer Stunde endlich ist der Adjutant Hauptmann Albrecht in der Leitung.

»Mensch, Sie leben!« brüllt er, stellt die Ortschaft fest.

»Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich schicke Ihnen einen Wagen.«

So fein ist die Luftwaffe noch im Herbst des Jahres 1941. 150 Kilometer sind es zum E-Hafen. Und jeden von ihnen spürt Klaus in seinem Bein. Ein französischer Zivilarzt hat ihn untersucht und verbunden. Es ist eine handfeste Stauchung, weiter nichts. Der Oberleutnant rechnet sich aus, daß er in vierzehn Tagen schon wieder fliegen kann.

Die Kameraden haben seine Rückkehr ins Leben bereits gefeiert. Am nüchternsten wirkt noch der Kommodore, der am meisten getrunken hat. Er klopft Steinbach auf die Schulter.

»Freut mich«, sagt er, »freut mich ganz außergewöhnlich!«

Neben ihm steht der Adjutant.

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»Helfen Sie mir doch ...«, wendet sich Berendsen an ihn, »da war doch etwas mit Steinbach ... oder?«

»Ja«, erwidert Hauptmann Albrecht, »Lebensborn ...«

Der Geschwaderchef setzt sich auf einen Stuhl neben Klaus.

»Hören Sie mal«, beginnt er, »wie groß sind Sie?«

»Einen Meter zweiundachtzig.«

»Prima ... HJ?«

»Ja.«

»Führer?«

»Gefolgschaftsführer, Herr Oberstleutnant.«

»Partei auch?«

»Selbstverständlich, Herr Oberstleutnant.«

»Noch ’ne Gliederung?«

»Ja ... NS-Fliegerbund.«

»Na, Mensch. Sie sind in allem drin ... da kommt’s Ihnen doch auf einen Haufen mehr oder weniger nicht mehr an?«

»Wie meinen Herr Oberstleutnant?«

»Es wird ein überzeugter Nationalsozialist gesucht ... schön«, fährt der Kommodore grinsend fort. »Aber er muß

auch noch groß und blond und was weiß ich sonst noch sein ... Wollen Sie, Steinbach?«

»Zu Befehl, Herr Oberstleutnant.«

»Quatsch, nicht Befehl ... freiwillig müssen Sie sich melden!«

»Ich melde mich selbstverständlich freiwillig, Herr Oberstleutnant.«

»Das klingt prima ... und jetzt trinken Sie einen, und unterschreiben Sie den Wisch.«

Der junge Oberleutnant, der darauf brennt, sich für Führer, Volk und Vaterland zu bewähren, tut beides.

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Er unterschreibt die Beitrittserklärung zum Lebensborn. Er ahnt nicht, daß er einen Blankoscheck für sein eigen Fleisch und Blut ausstellt ...

Die Mädchen schufteten im Trainingsanzug. Sie hatten am Vortag der Besichtigung die Baracken zu scheuern. Sie taten es mit viel Wasser und ebensoviel Hysterie. Die Größe der Zeit machte es erforderlich, daß sie marschierten, schrubbten und sangen. Im gleichen Schritt und Tritt ...

Am Abend tobte die Lehrgangsleiterin beim Appell, weil noch ein Müllkübel nicht geleert und ein Führerbild nicht abgestaubt war. Hundert Jungführerinnen des weiblichen Reichsarbeitsdienstes standen vor den Spinden der Führerschule und beeilten sich, in ihren Gesichtern Schuld auszudrücken. Denn sie verwechselten die Angst ihrer Chefin vor der Besichtigung mit eigenem Versagen.

Unter ihnen war die blonde Doris Korff. Sie kam vor vier Monaten zum RAD. Die ungelüfteten, engen Stuben der Baracke hatten sie den Blumenduft in der weitläufigen Villa ihrer Eltern längst vergessen lassen. Nicht ungern, denn Doris hatte das Leben der väterlichen Wohlhabenheit bereitwillig mit der Stunde der Bewährung vertauscht. Klaus stand an der Front, also hatte sie sich an eine andere Front zu begeben. Das war ihre einfache, gerade Überzeugung. Der Vater hatte vergeblich versucht, sie davon abzubringen. Aber die eigene Mutter bestärkte sie. Mit Stolz in den Augen hatte Frau Direktor Korff auf einem ihrer politischen Tees den Kränzchenfreundinnen mitgeteilt, daß ihre einzige Tochter Doris nun auch dem Vaterlande diene.

Mit Besenstiel, Unkrauthacke und Kartoffelmesser ... Doris schwang den Besenstiel, als wäre er ein Tanzpartner. Sie trug das grobe, braune Tuch wie eine elegante Abendrobe. Sie jätete so verbissen Unkraut, als gelte es, Deutschlands 22

Feinde auszumerzen. Sie verdarb sich die Hände und verschnitt sich die Frisur. Sie verzichtete auf Parfüm und gewöhnte sich an den Mief. Sie wollte kein Mädchen sein, sondern eine Maid. Für Führer, Klaus und Vaterland ...

Nach zwei Monaten schon war ihr Eifer aufgefallen. Nach vier wurde er belohnt. Man ernannte Doris außer der Reihe zur Jungführerin. Dann beorderte man sie auf die Führerschule. Sonderlehrgang. Und morgen sollte die Besichtigung sein. Keineswegs die erste, und noch lange nicht die letzte. Denn die Kommissionen waren an der Barackenordnung ... Erst spät in der Nacht gab sich die Lehrgangsleiterin mit dem Zustand des Lagers für den großen Tag zufrieden.

»Na, nun bin ich aber mal gespannt, was für nette Onkels uns morgen bekieken werden«, sagte Erika, eine der beiden Stubenkameradinnen von Doris, und verschränkte dabei die Arme über dem karierten Kopfkissen.

Lotte, die andere, lag still und steif in ihrem Bett.

»Ich bin müde«, sagte Doris, »nun macht endlich das Licht aus.«

»Immer so ’n Theater«, brummelte Erika, »muß das ganze Lager kopfstehen, bloß weil da ein paar Heinis kommen. Und was wolln sie besichtigen? Nichts anderes als unsere Beine ... Ist doch jedesmal dasselbe.«

Lotte setzte sich steil in ihr Bett. Sie trug die Gretchenfrisur zur Nacht aufgesteckt, als hätten die alten Germanen die Haarnadeln erfunden.

»Ich verbitte mir das!« schrie sie ihre beiden Stubengenossinnen an, »daß ihr so ... so gemein über unsere Führer sprecht ...«

Die Besichtigung am anderen Tag verlief ungefähr so, wie es Erika vorausgesagt hatte. Ungefähr.

Dieses Mädchen bewies überhaupt einen Sinn fürs 23

Praktische. Erika war nicht aus Begeisterung zum RAD gegangen, sondern aus Mangel an Begeisterungsfähigkeit. Sie hielt die Uniform für angenehmer als die Rüstung, und für das, was sie ihre Freiheit nannte, nahm sie zeitweiligen Zwang gern in Kauf. Zur Führerinnenlaufbahn hatte sie sich gemeldet, weil die Luft oben gesünder war als unten. Ihren Spind stattete sie mit Männerfotos aus, und in ihrer Freizeit verschickte sie Grüße, daß es ihr gut ginge.

Erst im Gemeinschaftsraum merkten die Mädchen, daß

diesmal die Besichtigung von einem SS-Führer geleitet wurde. Die Stühle und Mädchen standen still, als ihm die Lehrgangsleiterin meldete.

Der SS-Offizier dankte mehr als herzlich. Dann wandte er sich dem hakenkreuzverhängten Podium zu, neben dem ganzjährig die gleichen Grünpflanzen standen, wie sie gern in Metzgerauslagen ausgestellt werden.

»Schnieker Bursche«, sagte Erika und spitzte die fülligen Lippen.

»Kameradinnen«, rief der SS-Führer in den Saal. Lotte hielt den Kopf fast andächtig schief. Auf ihrem Mausgesicht erschienen hellrote Kreisflecken, als hätte man ihr das Parteiabzeichen als Abziehbild hinaufgedrückt.

»Ich freue mich, daß ich heute zu euch sprechen darf«, schmetterte der Schwarzuniformierte. Seine Haare, borstig kurzgeschnitten, sahen aus, als ob sie sich beim Anblick der 20 Stuhlreihen voll braun uniformierten Charmes sträuben würden.

»Wir alle kämpfen für eine Idee, einen Gedanken, ein Werk: für den Endsieg! Ihr Mädchen, ihr jungen Frauen, ihr Führerinnen, die ihr daran teilhabt, die ihr eure ganz persönlichen Opfer dafür bringt, seid gewiß, daß es euch der Führer mit seiner Sorge in seinen einsamen Stunden täglich hundertmal vergilt ...«

24

Die geleckten, abgegriffenen Worte der Parteisprache quollen wie Nebel in den Raum. Die Mädchen überlegten nicht, wie ihnen Hitler die Tonnen abgeraspelter Kartoffelschalen je vergelten könnte, sondern sie bekamen bei dem Gedanken an des Führers blaue Augen sehnsüchtige Lippen. Nicht alle, aber der SS-Führer rechnete ohnedies nur mit einer Minderheit ...

»Ihr alle werdet sagen, wenn ich euch jetzt frage: Seid ihr Nationalsozialisten? Da werdet ihr sagen: ja ... Aber seid ehrlich! Seid ihr es wirklich? Mit heißem Herzen, ganzer Hingabe, mit jeder Faser eures Lebens, eures Daseins ...?«

Es rauschte durch die Stuhlreihen. Ein paar helle Mädchenstimmen riefen:

»Ja!«

Über ihnen lag Lottes Zustimmung wie ein Supersopran. Der SS-Führer lächelte nicht. Er senkte den Kopf. Es sah aus, als ob er seine Ergriffenheit verbergen wollte.

»Wenn ich euch aber nun frage«, er schlug die Augen wieder auf, und sein Blick war wie verschleiert, »wer von euch will dem Führer ein wirkliches Opfer bringen? Ein echtes, großes, einmaliges Geburtstagsgeschenk ...? Wer würde es tun ...? Wer?« brüllte er mit gesteigerter Stimme in den Saal. Hundert Arme fuhren fast gleichzeitig in die Höhe. Der Funktionär des Systems war ebenso geschickt wie verlogen, ebenso plump wie gerissen. Er winkte lächelnd ab. Mit modulierter Stimme erklärte er den Mädchen, um was es sich handelte, ohne ihnen etwas zu erläutern.

»Ihr sollt euch nicht leichtsinnig in etwas stürzen, zu dem ihr dann nicht stehen könnt«, sagte er. »Eure Bereitschaft ehrt euch ... aber ihr sollt wissen, daß es ein hohes Opfer ist, das ihr bringen dürft ... das höchste Opfer einer deutschen Frau ... Überlegt es euch!« hetzte er weiter, »ihr habt alle Freiheit, euch zu entscheiden ...«

25

Und wieder brannte der Wille zur Bewährung in den jungen Gesichtern. Dabei hatte keine der Maiden eine Ahnung, wovon der Sprecher redete. Er benutzte die vermeintliche Offenheit als Mantel der Lüge.

Es waren keine hundert Mädchenarme mehr, die sich in die Luft reckten. Ein paar fielen in sich zusammen wie zaghafte Flämmchen. Dann noch ein paar. Aber es waren nicht allzu viele, die im Angesicht der Kameradinnen den Mut aufbrachten, feige zu sein. Auf diesem Trick basierte die Rechnung. Der SS-Führer konnte, lächelnd mit den Fingern gegen das Pult trommelnd, das Endergebnis abwarten. Doris streckte die Rechte noch immer aus. Jetzt zögerte sie eine Sekunde. Sie spürte ein Kribbeln in den Fingerspitzen. Aber die neben ihr sitzende Lotte verfolgte mit hämischen Augen alle, die ihre Meldung zurückzogen.

»Eine Schande«, zischte sie, »so eine Schande!« Lotte fand es unglaublich, daß ein deutsches Mädchen sich weigern konnte, dem Führer etwas zu schenken, was er forderte. So fing sich Doris wieder. Es blieb bei ihrer Meldung. Was soll schon kommen, dachte sie ernst und schlüssig. Der Führer will nichts Unrechtes! Man wird uns auf Frontlazarette verteilen. Ich werde Klaus näher sein. Ich bin ihm diese Meldung schuldig, dachte sie ...

Der Werber zählte noch einmal die Hände. Dann stellte er die Geburtstagsliste zusammen. Die Mädchen mußten einzeln vortreten und sich eintragen. Die Falle schnappte zu ... Lautlos zunächst. Es ging wie am Fließband. Während der Offizier seine Rede gehalten hatte, bauten seine bis dahin unsichtbaren Helfer in den drei angrenzenden Barackenräumen Schreibtische und Geräte auf.

Wenn die Arbeitsmaiden am Podium ihre Namen nannten, wurden sie in den Nebenraum geschleust. Doris sah auf dem Aktendeckel die Aufschrift ›Lebensborn‹. Es sagte ihr nichts. 26

Dann standen zwei Ärzte im weißen Kittel vor ihr. Unter den Mänteln starrten die Militärstiefel hervor, aus den Kragen die SS-Runen. Es kamen jeweils fünf Mädchen in den ersten Raum.

»Schöner Gabentisch«, sagte Erika leise zu Doris und deutete auf die ärztlichen Instrumente.

Die Ärzte hantierten wortlos. Vor den Augen der Mädchen tanzten Meßgeräte. Zirkel wurden an die Hinterköpfe gesetzt. Seltsame Holzleisten gegen die Stirn gepreßt. Die Männer in den weißen Kitteln murmelten Zahlen, die sie von ihren Geräten ablasen, warfen sie ihren Schreibern zu wie ein Kammerbulle den Rekruten zu kurz geratene Uniformstücke. Doris versuchte, den Ärzten in die Augen zu sehen. Aber sie begegnete nur ausdruckslosen Blicken, die wohl ihren Kopf, aber nicht das Gesicht zur Kenntnis nahmen. Nur den Schädel. Er wurde betastet wie eine Ware. Minutenlang.

»Nordisch«, konstatierte einer der Ärzte befriedigt.

»Guter Kopf«, erwiderte der andere, »ideale Form.« Er sagte es nicht zu Doris, sondern zu seinem Kollegen, als spräche er nicht über ein Mädchen, sondern über einen Gaul beim Roßmarkt.

»Da hinaus«, sagte der Schreiber.

Doris und Erika betraten den nächsten Raum.

Die kesse Berlinerin flüsterte:

»Wußte gar nicht, daß bei der SS lauter Spezialisten für Hals-, Nasen-und Ohrenkrankheiten sind.«

»Schädelmessung haben wir in der Schule auch schon gehabt«, entgegnete Doris tapfer.

Jetzt waren Ärztinnen da. Die Mädchen mußten sich ausziehen. Die Untersuchung war gründlich und dauerte lange. Schließlich standen sie alle wieder angekleidet auf dem Flur. Dann wurden mehr als die Hälfte abberufen. Sie waren geprüft 27

und für tauglich erklärt worden. Lotte keuchte:

»Gott sei Dank, sie haben mich doch genommen!«

Es blieben noch 14 Mädchen übrig, die die Kommission für würdig befunden hatte, im Namen der deutschen Frau dem Führer ein Opfer zu bringen. Sie sahen einander ratlos an. Sie konnten nicht ahnen, was ihnen bevorstehen sollte.

»Donnerwetter«, sagte Erika auf einmal. Ihr Blick ging schnell von einer Kameradin zur anderen. »Blondinen bevorzugt, wie?« stieß sie hervor. »Alle blond ... alle blaue Augen ... alle groß?«

Die Arbeitsmaiden starrten sich an. Sie erschraken auf Kommando wie junge Katzen, die sich erstmals im Spiegel begegnen.

»So ein Zufall.« Lotte lächelte hohl.

»Bei mir schon«, grinste Erika, »mein Alter hat ’ne Glatze, meine Mutter ist fuchsrot, und meine Brüder sind pechschwarz

... Glück muß der Mensch haben ... und blond muß er sein!«

Die anderen Maiden schwiegen betreten.

Der SS-Führer erschien wieder.

»Sie können sich gratulieren«, trompetete er, »Sie sind angenommen ... wir bleiben in Verbindung.«

Die Kommission fuhr wieder ab. Die Mädchen gingen zurück auf ihre Stuben. Am ersten Tag nach der Untersuchung rätselten sie noch. Am zweiten gaben sie es auf. Am dritten hatten sie es vergessen. Am vierten schrubbten sie wieder Böden, putzten wieder Bohnen und hackten wieder Kartoffeln. Sie lernten, wie man RAD-Führerin wird, und was es heißt, junge Mädchen bei sinnloser Arbeit sinnvoll zu kommandieren. Acht Tage später stürzte Erika zu Lotte und Doris atemlos in die Stube.

»Die haben uns reingelegt!« schrie sie außer Fassung. Sie sah die stets beleidigte Lotte und stieß sie an. »Weißt du, was 28

du unserem Führer schenken sollst, du Schneegans?« Ihre Stimme überschlug sich. »Ein Kind sollst du ihm schenken.«

Doris betrachtete die Stubenkameradin wie eine Verrückte.

»Ihr glaubt’s wohl nicht?« zischte Erika. »Ich hab’s selbst gelesen ... in der Schreibstube.«

Doris schüttelte den Kopf.

»Wir kommen alle in ein Heim«, rief Erika ... »Die Männer sind auch schon bestellt ... und dann«, ihre Stimme wurde wieder überlaut und häßlich. »Und dann, na ... gute Nacht! Viel Vergnügen ... Bruthennen seid ihr, weiter nichts.«

»Halt den Mund!« fuhr Lotte sie an.

»Das gibt es nicht«, erwiderte Doris leise. Sie hatte recht. Nur wußte sie noch nicht, daß man recht haben und trotzdem irren kann ...

Sie wischte die Gedanken aus ihrem Bewußtsein. Das war dummes Geschwätz der Miesmacher.

Am nächsten Tag erschien SS-Sturmbannführer Heinz Westroff-Meyer auf der RAD-Schule und versammelte die ausgewählten vierzehn Maiden, alle blond, alle blauäugig, alle über eins-siebzig groß, um sich.

Die Auserwählten saßen in einer Reihe wie verängstigte Hühner nach einem Gewitter. Sie teilten den Blick zwischen dem Barackenboden und dem Sturmbannführer WestroffMeyer. Sie trugen grobe Röcke in der häßlichsten Farbe, die es gibt, und dazu weiße Blusen, aus denen sich wie hilflos die gebräunten Arme schälten. Die Zeit schrieb ihnen vor, Schuhe mit flachen Absätzen zu tragen und Lieder mit platten Texten zu singen. Vorne, am rechten Flügel: Lotte, gläubig, beinahe verzückt; daneben Doris, ängstlich, beinahe entsetzt; hinter ihr Erika, belustigt, beinahe verächtlich. Dann das Rudel der anderen elf Mädchen, alle blond, alle groß, alle blauäugig, alle jung, alle idealistisch, alle dazu ausersehen, zwischen die 29

Mühlsteine des Systems zu geraten.

»Kameradinnen«, begann der Sturmbannführer, »ich komme aus Berlin ... ich soll euch den persönlichen Dank des Führers für euer einmaliges Opfer übermitteln.«

Ihr Stolz kämpfte mit ihrer Unruhe. Sie horchten und hofften, freudebang, doch ahnungsschwer.

»Die Stunde der Bewährung ist gekommen. Ihr fahrt morgen in den Einsatz. Ich will versuchen, ihn euch zu erklären ...«

Seine dunkelbehaarte Hand, die an einem seltsam dünnen rosa Gelenk hing, bewegte sich unruhig am Lederkoppel.

»Die arische Rasse verblutet in einem Schicksalskampf gegen den bolschewistischen Untermenschen. Wir werden diesen Krieg gewinnen! Aber unter großen Opfern. Es gilt, das Volk und seine Rasse zu erhalten ...!«

Der Sturmbannführer brach ab. Sein Blick zielte nach den Augen der Mädchen, schnell und durchdringend. Die roten Schmisse in seinem Gesicht zuckten. Sein Karpfenmaul wurde zum Torpedorohr. Seine Lippen katapultierten die Maiden, die wie hypnotisiert auf ihren Schemeln saßen.

»Ihr werdet ab morgen an einem Sonderlehrgang teilnehmen. Ihr werdet auf Männer stoßen, die sich im Kampf bereits bewährt haben und deren rassische Substanz von uns ebenso geprüft wurde wie die eure. Ihr dürft stolz darauf sein, daß ihr zur Elite, zur höchsten Auswahl, die es geben kann, gehört ...«

Jetzt mußte Westroff-Meyer ins Detail gehen. Er mußte diesen 14 Mädchen das ungeheuerliche Programm mitteilen, das seine Organisation, der Lebensborn, ›durchführen‹ wollte. In diesem Moment war er nicht mehr der dunkelhaarige, olivhäutige Cäsar mit dem hehren, hohlen Pathos, sondern er wirkte ganz schlicht wie eine in die Ecke getriebene Ratte. Doris schaltete ab. Die rassehygienische Berieselungsanlage tropfte an ihr vorbei. In diesem Moment sah sie Klaus, den 30

Oberleutnant der Luftwaffe, vor sich. Er lächelte ihr zu, und die Kerben links und rechts seiner Lippen verschwanden. Er war wieder der unbekümmerte Junge, dem die Mädchen in die Augen sahen, während sie an seinen Mund dachten. Ihre Lippen formten lautlos seinen Namen. Sie lächelte. Er hatte recht gehabt. Sie mußten jetzt die Scheu abstreifen. Sie gehörten zusammen. Vor aller Welt. Für alle Zeit. Doris spürte seinen Arm auf ihren Schultern. Seine Augen brannten auf ihrem Gesicht. Sie streichelte seinen Namen, seine Haare, seine Schläfen. Sie sah ihn, wie er in die Maschine stieg, und über ihr Gesicht huschte die Angst. Und dann rollte die Me aus. Das Kabinendach wurde beiseite geschleudert, und ein schlaksiger Junge mit einem strahlenden Gesicht stieg aus. Doris wollte nach ihm greifen, wollte ihm etwas sagen ... im nächsten Urlaub, Klaus ... – da stand wieder der SS-Sturmbannführer Westroff-Meyer vor ihr.

»Es ist mein Wunsch, es ist der Wunsch des ganzen Volkes, daß diese edelsten Männer, die an dem Lehrgang teilnehmen, eure Partner werden ... ich will nicht verhehlen, daß sich der Lebensborn aus dieser Begegnung ein Kind erwartet ...«

Er hob sofort abwehrend die Hände.

»Am liebsten wäre es uns, wenn ihr euch zu einer Ehe mit diesen Männern entschließen könntet. Aber ...«, fuhr er gedehnt fort, »die Bewegung kann ihren Nachwuchs nicht mehr dem Zufall überlassen ... deshalb müssen wir im großen, im ganz großen Stil, künftig die Elternauswahl treffen ... auch da, wo eine Ehe unmöglich ist, die sonst den vollen Schutz des Nationalsozialismus genießt.«

Er entlastete seine strapazierten Stimmbänder, sprach jetzt weich und gefällig:

»Und ihr werdet sagen: und wo bleibt die Liebe? Jawohl«, gab er sich selbst die Antwort, »die Bewegung ist auch für die Liebe. Aber nur zwischen geeigneten Partnern ... Die 31

schmutzige, schwüle, sinnliche Erotik herkömmlicher Art ... –

das muß einmal deutlich gesagt werden – ist eine jüdische Erfindung, die wir nicht weit genug von uns weisen können. Wir wollen Sauberkeit statt Schmutz! Wir fordern Verantwortung statt Kitsch ...! Wir erwarten keine Kinder des Zufalls, sondern Garanten des Reiches!«

Die 14 Arbeitsmaiden des Führerinnenlehrgangs erschraken in Linie zu einem Glied. Selbst Lotte zuckte zusammen, lächelte mit fahlen Lippen. Aber dann wurden ihre Augen groß, gläubig. Ihr Gesicht rötete sich, gab die Antwort: sie war bereit. Als erste.

Erika schüttelte ganz einfach den Kopf. Irene sah auf den Boden. Sie wollte aktive RAD-Führerin werden. Sie hatte zu tun, was man ihr befahl.

Vor Doris drehte sich alles. Niemals, dachte sie! Das kann kein Mensch von mir verlangen, nicht einmal der Führer, der vielleicht von dieser Sache gar nichts weiß.

Sie schwiegen. Sie schwitzten. Sie husteten. Sie wagten es nicht, einander anzusehen. Sie brauchten noch Zeit, um die ungeheuerliche Forderung zu verdauen.

»Ich muß noch einmal sagen«, fuhr der Sturmbannführer fort, »daß alles freiwillig ist. Ihr seid bei dem Lehrgang nicht genötigt, euch zu etwas zu entschließen, zu dem ihr hinterher nicht stehen könnt ...«

Er suchte wieder schnell und einschüchternd ihre Augen.

»Ihr seid als Vorkämpferinnen auserwählt. Seid stolz darauf, Vorposten für Großdeutschland zu sein! Ich weiß, die Zeit ist noch nicht reif, um euer Opfer ganz zu erfassen ... vielleicht sind eure Eltern noch zu sehr im Gestern verwurzelt, um eure einmalige Tat zu begreifen ... vielleicht habt ihr persönliche Gründe, sie nicht offenkundig werden zu lassen ... Wir haben deshalb Vorkehrungen getroffen, euch unter den vollen Schutz der Bewegung zu stellen ...«

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Wieder senkte er die Stimme. Wieder kämpfte er einen Augenblick mit der Verlegenheit. Und wieder siegte die Routine über den Anstand.

»Es wird keine Eintragung eurer Kinder in das standesamtliche Register erfolgen ... ihr werdet sie in einem Heim des Lebensborns zur Welt bringen, der sie dann geschlossen zu guten Deutschen, zu Nationalsozialisten erzieht

... ihr dürft sie in den besten Händen wissen. Sie werden die Führergeneration von morgen stellen. Die Sorge um sie nimmt euch der Staat ab. Ihr werdet weder seelisch, noch wirtschaftlich durch sie belastet sein ... und ihr sollt euch auch nicht an euren Partner gebunden fühlen ... Wir erwarten noch viel mehr von euch: ihr sollt heiraten. Und ihr sollt dann mehrfache Mütter werden ... aber das erste Kind für Adolf Hitler!«

Er redete noch zehn Minuten, in einer seltsamen Mischung aus Aufruhr und Besänftigung, dem üblichen Rotwelsch der Partei. Er nützte die Verwirrung der Mädchen aus. Er peitschte sie mit Worten. Er streichelte sie mit Phrasen. Er ließ sie nicht zum Nachdenken kommen.

Und dann rief er sie einzeln in den Nebenraum, zur endgültigen Verpflichtung für den Lebensborn. Er wollte sich jede noch einmal einzeln vornehmen.

13 Arbeitsmaiden blieben zurück, sagten nichts, lösten sich dann allmählich in Gruppen auf, die halblaut miteinander sprachen. Am Fenster standen Doris, Lotte und Erika, die in einer Barackenstube wohnten.

»Was sagt ihr jetzt?« fragte Erika.

»Unmöglich!« erwiderte Doris mit steifen Lippen.

»Ein Kind ...«, begeisterte sich Lotte. Ihre Worte streichelten es bereits.

»Du dumme Gans kriegst sicher Zwillinge«, versetzte Erika hart.

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Lotte überhörte es. Sie hatte ein neues Evangelium. Und sie war bereit, ihm blind zu folgen.

»Ein Glück, zu dieser Elite zu gehören.«

»Bestimmt«, versetzte Erika spöttisch, »je reinrassiger, desto dümmer ... das siehst du schon im Hundezwinger.«

Bevor sie etwas entgegnen konnte, wurde Lotte aufgerufen. Sie ging schnell, als ob sie sich verspäten könnte. Die zurückgebliebenen Mädchen berieten ratlos. Gefühlsmäßig waren sie fast alle gegen diese entmenschte Zumutung. Aber die Bewegung, in der sie aufgewachsen waren, hatte sie gelehrt, daß der Schnee heiß und das Feuer kalt, die Nächte hell und die Tage dunkel sind. So schwankten sie oder sie waren zu feige, zurückzutreten oder sie waren schlüssig, nein zu sagen ... wenigstens, bis sie der Sturmbannführer noch einmal einzeln ins teuflische Gebet nahm.

Selbst Erika entschloß sich, zur Überraschung aller, den Vertrag zu unterschreiben, ganz einfach aus Neugier, wie die Sache weiterginge, in der Gewißheit, daß sie damit fertig würde.

Doris war als Vorletzte an der Reihe.

»Ich trete zurück«, erklärte sie.

»Warum?« fragte Westroff-Meyer.

»Persönliche Gründe«, erwiderte sie, »ich bin verlobt.«

Er nickte.

»Sie wissen, daß der Einsatz freiwillig ist?«

»Deswegen will ich ja nicht daran teilnehmen ...«

»In erster Linie handelt es sich um einen Lehrgang«, fuhr der Sturmbannführer fort, »um eine Schulung ... das andere ... das ist nur ein Zweck am Rande ... Kameradin«, sagte er mit plötzlichem Du, »ich glaube, eine Schulung kann gerade dir nicht schaden!«

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Doris hob hilflos die Schultern. Westroff-Meyer machte ein paar schnelle Schritte und blieb neben ihr stehen.

»Bist du eine Nationalsozialistin?«

»Ja ... das schon«, entgegnete sie zögernd.

»Hast du Vertrauen zum Führer?«

»Ja«, beteuerte sie schwächlich.

»Na also«, sagte er abschließend.

Er reichte ihr ein Formular, deutete mit dem Finger auf Punkt drei, der den freien Willen herausstellte. Er drückte ihr einen Federhalter in die Hand. Er bearbeitete sie noch fünf Minuten.

Die unnatürlich großen Blauaugen des schönen Mädchens verdunkelten sich wie der Himmel. Der Mund lächelte nicht, sondern grübelte. Die Stirne war hoch und streng, die Stirne eines Mädchens, das eine saubere Frau werden wollte. Der Sturmbannführer zog alle Register. Er lockte und drohte, fluchte, polterte und streichelte. Zuletzt gab er Doris drei Minuten Bedenkzeit.

Inzwischen ließ er die letzte RAD-Unterführerin Herta rufen. Sie unterschrieb sofort.

»Willst du dich als einzige ausschließen?« fragte WestroffMeyer dann Doris. Seine Worte legten sich wie Nebel um sie.

Ihre Hand zitterte, als sie die Unterschrift leistete, mit dem brennenden Vorsatz, nichts zu tun, was ihre Liebe zu dem Fliegeroberleutnant Klaus Steinbach gefährden könnte. Sie schrieb ihren Namen in steilen, spitzen Buchstaben, ohne das Formular genau durchzulesen.

Bald sollte eine Zeit kommen, zu der sie die verschlüsselten Bedingungen auswendig wußte. Die Klauseln sollten zu Fallstricken ihres Lebens werden, zu festen Fesseln. 35

3. KAPITEL

Das riesige Haus, in dem sich die turbulenten Ereignisse der nächsten Wochen abspielen, liegt im Warthegau. Der Lebensborn e. V. hat dem Bau eine Zentralheizung aufgezwängt, wie er dem deutschen Volke das blonde Element aufpfropfen will.

Bis zur nächsten Kleinstadt sind es acht Kilometer. Ursprünglich war das Heim ein Nervensanatorium. Es ist umgeben von gemähten Feldern. Aus den Bäumen hinter dem Garten rieselt das dürre Laub. Es ist warm. Die sinkende Sonne vergoldet die Dahlienköpfe, die in dicken Rabatten die Kieswege umsäumen. Die hohen Glastüren zur Terrasse sind geöffnet. Die schwebenden Fäden des Altweibersommers tanzen zu flirrendem Mädchenlachen, zu Gesprächsfetzen, zu kehligen Männerstimmen, zu dem Klirren von Porzellan, zu dem Klappern der Bestecke.

Der Speisesaal ist im Erdgeschoß untergebracht. Sturmbannführer Westroff-Meyer sitzt mitten unter seinen Gästen, die Arme lässig auf die Tafel gestützt, so, als ob er sich selbst nur gewaltsam daran hindern könnte, die Hände in Zufriedenheit zu reiben. Sein Gesicht drückt stereotypes Wohlwollen aus. Sein Mund bewegt sich in munter-harmlosem Gespräch. Über seine Schultern werfen die ölgemalten Augen des Führers einen heroischen Blick auf die gewaltige KaffeeTafel. In dieser Umgebung wirkt Hitler, als ob er Hunger hätte

...

Der Heimleiter hat die erste Begegnung seiner LebensbornKandidaten organisiert. Um die Peinlichkeit zu vermeiden, arrangierte er diese Kaffeestunde für etwa 50 Teilnehmer in Blond. Kuchenschlacht heißt der Brauch, den der Nationalsozialismus zu seiner Gesellschaftsform erhob. Vom 36

Pimpfen bis zum Amtswalter, von der NSV bis zur Arbeitsfront ist sie das gängige Mittel, um Kameradschaft und NS-Kultur, Lebensfreude und Freßsucht, Sportgeist und Gemütlichkeit zu pflegen. In diesem Falle soll aus Bergen von Streuselkuchen sogar die staatlich geförderte Liebe sprießen. Bunte Reihe am hufeisenförmigen Tisch. Die Mädchen zum Teil in Zivil. Die Männer ausnahmslos in Uniform. Das Gros stellt die SS. Und der Lebensborn hat tatsächlich auch hier eine strenge Auswahl getroffen ... so fehlen eigentlich die Schlägertypen der Totenkopfverbände. An ihre Stelle kommandierte man die Soldaten von der Front als Teilnehmer dieser seltsamen Tagung. Fast sieht es so aus, als ob das EK I das niedrigste Eintrittsgeld sei.

Die Dienstgrade reichen vom Uscha bis zum

Hauptsturmführer. Die Schulterstücke rangieren hinter der Schädelform. In einer Ecke sitzen zwei Heeresoffiziere. Drei Stühle sind noch frei, reserviert für geladene Gäste der Luftwaffe. Die schnellste Waffengattung der Wehrmacht hat sich, wie üblich, verspätet.

Doris sitzt in der Mitte. Zuerst wagt sie es kaum, sich umzusehen. Ihre Hände sind feucht und zittern. Der Kaffee schmeckt bitter, der Kuchen nach Sacharin. Ihre weiße RADAusgehbluse trägt sie wie ein Opferhemd.

»Wir beginnen mit dem offiziellen Teil erst, wenn wir vollzählig sind«, sagt Westroff-Meyer. Er sitzt vierschrötig in einem Armstuhl, schon optisch ein allmächtiger Kuchenpräsident.

Der Mann, der rechts von Doris sitzt, trägt die Uniform eines Hauptsturmführers. Sein Selbstbewußtsein ist ein Meter 88 groß. Auf der linken Seite seines Waffenrockes hat er fast alles, was der Krieg an Auszeichnungen bietet. Er heißt Horst Kempe und wirkt im Gespräch fast verlegen. Er fühlt sich zunächst nicht ganz wohl am Platz.

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Vor drei Tagen führte er noch eine Kompanie Sturmpioniere gegen die Russen. Man holte ihn weg. Er trug es mit dem Fatalismus des Frontoffiziers, dem alles recht ist, außer Zigarettenmangel. Er wäre lieber bei seinen Männern geblieben. Als er erfuhr, warum man ihn abberufen hatte, fluchte er zuerst, und dann grinste er. Er ist ein Typ, der immer vorne steht, an der Front sowohl wie im Wirtshaus, der beim Skat am höchsten reizt und am Schießplatz am kürzesten zielt. Er beugt sich nach links, betrachtet die Tischkarte, die vor Doris liegt.

»Doris«, sagt er, »hübscher Name.«

Sie zuckt die Schultern.

»Biste schüchtern?« berlinert Kempe.

»Mitunter.«

»Komischer Laden hier, was?« versetzt der

Hauptsturmführer grinsend.

Doris nickt. Er betrachtet sie von der Seite. Sie gefällt ihm. Sie gefällt allen. Kempe kämpft gegen seine Empfindungen wie gegen Partisanen. Er möchte etwas Nettes sagen, sucht nach Worten, runzelt die Stirn, zerquetscht den Fluch zwischen den Zähnen, denkt an seine Einheit und stäubt sich Puderzucker von der Uniformjacke.

Er berührt ihre Hand wie aus Versehen.

Doris zuckt zusammen wie unter einem Stromstoß.

»Entschuldigen Sie«, sagt der Hauptsturmführer unbeholfen. Er wendet sich nach rechts, an Lotte. Sie trägt ihr Feiertagsgesicht. In den letzten zwei Tagen, seit sie weiß, für welchen Zweck sie ausgewählt ist, ging mit der RADJungführerin eine Verwandlung vor. Ihr durchschnittliches Mausgesicht wirkt auf einmal fast hübsch. Die dicken Zöpfe ihrer Gretchenfrisur hat sie in einem Kranz um den Kopf gewunden. Sie trägt ihn wie eine Krone.

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»Sie kommen von der Front?« sagt sie zu Kempe.

»Ja«, erwidert der Hauptsturmführer zerstreut. Sie deutet auf sein EK I.

»Für was haben Sie das bekommen?« fragt sie.

»Weeß nich ...«, brummt er, »ick war der einzige Offizier des Bataillons, der es noch nich hatte.«

Lotte betrachtet ihn betroffen.

»Aber das muß man sich doch verdienen.«

»Sicher«, antwortet Kempe. Er grinst gutmütig. »Wissen Se«, setzt er hinzu, »da vorn is es janz einfach ... entweder man krepiert, dann braucht man keenen Orden. Oder man wird verwundet, dann bekommste ihn beim nächstenmal. Oder man lebt noch, dann kriegt man ihn ...« Er lacht lautlos. »Und daß

ick noch lebe, daran zweifeln Se doch wohl nich?«

»Ja ... aber ...?« stottert Lotte.

»Keen aber«, erwidert er. » ... Noch’n Stück Kuchen?«

»Nein, danke .... Ein EK I ist doch die Ehrung für eine Tat?«

»Sicher«, versetzt der Hauptsturmführer mit Freude an der Ironie. »Aber Taten vollbringen wir doch alle – oder?«

Sturmbannführer Westroff-Meyer sieht ärgerlich auf seine Armbanduhr. Im gleichen Moment baut sich eine Ordonnanz vor ihm auf, steht stramm und meldet ihm etwas.

»Führen Sie die Herren gleich herein«, schnarrt der Heimleiter.

Niemand achtet auf den Zwischenfall. Nach der zweiten Tasse Kaffee ist die erste Verwirrung etwas aufgetaut. Das Gespräch plätschert jetzt. Ganz alltäglich. Vom Lebensborn wird nicht gesprochen ...

Doris sieht auf. Ihr abwesender Blick streift die Tür, durch die drei Luftwaffenoffiziere kommen. Luftwaffe auch, denkt sie und betrachtet den Hauptmann, der in den Raum tritt und 39

mit lässiger Ehrenbezeigung stehenbleibt, gefolgt von einem jungen Leutnant, der ungeniert die anwesenden Mädchen mustert, bevor er den auf sie zukommenden Sturmbannführer grüßt. Hinter ihm steht ein Oberleutnant, dessen Gesicht noch halb verdeckt ist und der jetzt fast zögernd näherkommt, dessen junge Augen zu der ledernen Haut nicht passen wollen, der fast mürrisch wirkt.

Er sieht aus wie Klaus, denkt Doris.

Da schreckt sie zusammen.

Es ist Klaus Steinbach, der Oberleutnant der Jagdflieger. Vor vier Tagen hatte Klaus seinen letzten Luftkampf bestritten. Er war Staffelkapitän geworden, und zum Ritterkreuz fehlten ihm noch drei Abschüsse. Er hatte, wie es in der Fachsprache hieß, ›Halsschmerzen‹. Aber es war wie verhext: Entweder die Tommies kurvten davon, oder er mußte selbst den Rückzug antreten, oder der Luftraum über der Normandie blieb frei von Feindflugzeugen. So startete der junge Oberleutnant verbissen Tag für Tag; denn am Himmel endete auch sein Horizont.

»Steinbach«, hatte ihn Oberstleutnant Berendsen, der Mann mit dem Nußbaumkinn, begrüßt, »es ist ohnedies nicht viel los bei uns im Moment.«

Klaus sah ihn fragend an.

»Sie sind nämlich abkommandiert ...«

»Wohin, Herr Oberstleutnant?«

Der Kommodore lachte breit und bullig. Er nahm ein Schriftstück in die Hand.

»Lebensborn«, antwortete er, »Mensch, freuen Sie sich, Sie werden ’ne Art Kindergärtner.«

»Wie lange muß ich weg?« fragte der junge Staffelkapitän gepreßt.

»Drei Wochen ... Sie melden sich in Berlin, von da aus 40

werden Sie weitergeschleust ... Zigarre? Kognak?«

Der Geschwaderchef paffte kleine, schnelle Wölkchen in die Luft, schenkte das übliche Quantum der üblichen Flüssigkeit in die Gläser, reichte eines seinem Offizier.

»Prost«, sagte er, »ich weiß zwar nicht, ob Ihnen das ganze deutsche Volk Ihren Lebensborn-Einsatz danken wird ... aber eins kann ich Ihnen sagen: das Geschwader ist Ihnen jedenfalls dankbar, daß Sie es vertreten ...«

Berendsen wußte nicht, wovon er redete, und Klaus ahnte nicht, was ihm bevorstand. Wenn er nicht gerade flog, dachte er an Doris. Er war nicht mehr ärgerlich, wenn er sich des letzten Urlaubs erinnerte, sondern freute sich auf den nächsten. Er hatte seine Eltern gefragt, was sie von einer Verlobung mit der blonden Nachbarstochter hielten. Und der Vater antwortete ihm beinahe verwundert. Es galt als abgemacht, als selbstverständlich, daß Doris und Klaus zusammengehörten. Denn das war eine dieser klaren Jugendlieben, die durch ein ganzes Leben gehen können.

Zuerst fuhr er nach Paris, hatte einen Tag Aufenthalt und balgte sich in Luftwaffenmanier durch die Nahkampfdielen, die ihm im übrigen nichts abgaben. Er hätte Gelegenheit genug zu Abenteuern aller Art gehabt, aber in seinem schlichten, 24 Jahre alten Leben gab es bislang nur ein Erlebnis: Doris. Dann fuhr er nach Berlin, meldete sich in der Lebensbornzentrale, mußte eine Stunde warten. Was dann kam, ließ ihn an seinem Verstand, an Gott, am Führer und an seinem Werk zweifeln. Zum ersten Male, seitdem er lebte. Die Vergatterung der Männer, die für den Sondereinsatz römisch zwei, arabisch eins, Heim Z, vorgesehen waren, nahm ein Hauptsturmführer vor, der ohne Umwege auf sein Ziel losging. Es waren etwa neun Offiziere verschiedener Waffengattungen im Raum, die sozusagen einen

›repräsentativen‹ Querschnitt der deutschen Wehrmacht 41

bildeten. Sie saßen auf mitgebrachten Stühlen und mißtrauten ihren Ohren.

»Wir sind unter uns, ›unter Männern‹«, sagte der Funktionär des Lebensborns e. V., »Wir brauchen nicht lange herumzureden ... Der Nachwuchs unseres Volkes muß

sichergestellt werden. Wir haben für euch die geeigneten Partnerinnen ausgesucht und werden euch im Rahmen eines Lehrgangs mit ihnen zusammenbringen. Und das übrige besorgt ihr selbst ... ich darf mir wohl eine Gebrauchsanweisung ersparen ...« Er grinste hämisch und dreckig.

Ein baumlanger Oberleutnant der Infanterie, zwischen dessen Kragenecken an einem zu langen Band das Ritterkreuz schaukelte, stand mit rotem Kopf auf.

»Was heißt das?« fragte er hart.

»Sie tun Ihre Pflicht, Herr Oberleutnant ...«

»Welche Pflicht?«

»Die Pflicht zum Kind.«

»Was soll der Unfug? Wollen Sie Frauen bei einem Pflichtappell in dieser Weise degradieren? Und was sind das für Mädchen, die sich dazu hergeben? Und welche Kinder sollen das werden?«

»Das überlassen Sie gefälligst uns ... wir haben die Aktion nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten eingeleitet ... Ich bin nur hier, um Sie zu ermahnen, diese ... diese Maßnahme so würdig wie möglich durchzuführen ...«

»Dann bin ich wohl fehl am Platz«, entgegnete der Ritterkreuzträger.

Er stand auf, ging auf den Hauptsturmführer zu. Es sah aus, als ob er ihm die Verachtung in das Gesicht spucken wollte. Dann verließ er den Raum, knallte die Tür ins Schloß, daß der Mörtel aus dem Rahmen bröckelte.

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»Wir werden mit ihm abrechnen ...«, knirschte der Beauftragte. Er sah sich um. Er sah an der Reihe der anderen Offiziere entlang.

»Noch ein Verräter?« fragte er barsch.

Klaus zuckte zusammen. Nein, ein Verräter war er nicht. Er wollte mit der Sache nichts zu tun haben, gewiß nicht. Er wollte überhaupt nichts. Am liebsten wäre er zurückgefahren. Sofort. Aber man ließ ihn nicht aus. Man traktierte ihn mit Einzelheiten, vor denen ihm schwindlig wurde. Man improvisierte in aller Eile einen Kurs lediger Väter, die ihr eigen Fleisch und Blut liegenlassen sollten wie verschmutzte Handschuhe. Nach dem Willen des Staates, für den Klaus zu kämpfen und zu sterben jederzeit bereit war ... bisher wenigstens ...

Da war etwas, was nach seinem Weltbild griff, das die lodernden Flammen am Waldrand, zwischen denen der HJGefolgschaftsführer Klaus Steinbach stand, auslöschen wollte. Den jugendheißen Schwur, den Hunger nach Bewährung, das bodenlose Vertrauen in die Zeit ...

Der Abglanz des Feuers zog über ein junges, klares Mädchengesicht. Doris ..., dachte Klaus. Ich war dumm ... wie schön, daß ich dumm war. Wir gehören zusammen, Doris! Das wußten wir immer, nicht? Das ist nicht an einen Urlaub gebunden, das kommt von selbst auf uns zu. Das ist ganz anders wie bei den anderen. Das ist so hell und so heiß und so lockend wie die Flammen am Waldrand ...

Dann saß der junge Staffelkapitän im Kübelwagen mit zwei weiteren Luftwaffenoffizieren. Die anderen Teilnehmer der biologischen Wachtparade hatte man in andere Heime kommandiert. Denn jetzt eben startete der Lebensborn seinen ersten ›Großeinsatz‹.

Er sah nach draußen. Die Bäume flogen vorbei, Passanten, Fuhrwerke ... Aber eines blieb immer: Doris. An sie dachte er, 43

als er auf das frühere Nervensanatorium zuging. Nur an sie. Er sah nicht links und nicht rechts. Er ging wie im Nebel. Er hört das Lachen, das Geplätscher des Gesprächs. Er bleibt einen Augenblick wie geblendet in der Tür stehen, wagt nicht, sich umzusehen, geht dann mit tauben Beinen auf seinen reservierten Stuhl zu, hebt zögernd den Kopf, betrachtet Sturmbannführer Westroff-Meyer, hört seine strahlenden Worte:

»Ich eröffne den Lehrgang. Wir sind jetzt vollzählig. Wir sind zu einem ernsten Zweck hier ... wir dienen dem Volk!

Herrschaften, getrunken wird hier nichts und am besten auch nicht geraucht. Ich bitte mir aus, daß hier Disziplin herrscht. Sonst könnt ihr euch jederzeit an mich wenden ... betrachtet mich als euren Pflegevater.«

Nein, denkt Klaus, das ist kein Freudenhaus, das ist ein Irrenhaus. Und die Mädchen? Nur Verrückte können zu so etwas bereit sein. Nur Verkommene! Nur Verlorene ... Auf einmal ist ihm alles gleichgültig. Er hebt den Kopf und sieht sich frei um, nimmt die Parade ab, betrachtet Erika, die ihn wohlgefällig mustert, sieht Irene, die mit einem Oberscharführer flirtet, verzieht die Lippen, als er die Zopfkrone Lottes bemerkt.

Und dann trifft ihn ein Schlag wie damals über Reims. Nein, denkt er! Doris! Doris hier! Meine Doris ...! Er zweifelt an seinen Augen. Das kann doch nicht sein! Das gibt es nicht! Doris!

Das Mädchen versucht schwach, ihn anzulächeln. Da stirbt jeder Ausdruck in seinem Gesicht und verkrampft sich zu etwas ... zu Verachtung, zu Ekel ...

Am liebsten hätten sie noch Stunden auf ihrem zähen Streuselkuchen herumgekaut. Sie fürchteten sich vor dem Augenblick, da die starre Tischordnung aufgelöst wurde. Was 44

sie dachten, sprachen sie nicht aus, und was sie aussprachen, dachten sie nicht. Die Augen gingen ihre eigenen Wege, wie von Magneten abgelenkt. Ein unheimlicher Gast, der nicht auf der Verpflegungsliste stand, hatte sich eingefunden: die Scham. Die Mädchen und Männer schwiegen oder sprachen zu schnell. Die Befangenheit legte sich auf das Lachen. Die Unsicherheit marschierte in jeder Geste mit. Junge Menschen, die längst gewohnt waren, ungezwungen miteinander umzugehen, benahmen sich steif und töricht wie in der ersten Tanzstunde. Sie lachten mit fremden Stimmen. Sie horchten mit anderen Ohren. Sie benutzten Augen, die ihnen nicht mehr gehörten.

Gegen 18 Uhr hob SS-Sturmbannführer Westroff-Meyer, Kuppler für Großdeutschland, die Tafel auf. Zunächst machte niemand davon Gebrauch. Wenn sich diese Gesellschaft von 50 Menschen irgendwo sonst begegnet wäre, hätten sich bereits erste Freundschaften gebildet, künftige Pärchen abgezeichnet und Gruppen zusammengefunden. Jetzt aber sagten sich alle nur ja und nein oder höchstens vielleicht.

Es ging auf den Abend zu. Auf den ersten. Und einer dieser Abende, die ihnen bevorstanden, sollte, konnte, mußte furchtbar werden. Die Ungeheuerlichkeit, die man in der Theorie ihnen noch mit dem Holzhammer der Zeit beibringen konnte, verlor in der Praxis Vernunft, Figur, Überzeugung. Irgendwie verspürten sie alle, daß wenigstens die Natur sich nicht vom Nationalsozialismus kommandieren ließ. Immer wieder betrachtete Doris den ihr schräg gegenübersitzenden Klaus, der systematisch an ihr vorbeisah. Sie las in seinem Gesicht. Sie ärgerte sich. Dann begriff sie ihn. Und zuletzt wurde sie traurig. Ich gehe zu ihm hin, sagte sie sich, und erkläre ihm alles. Er liebt mich. Er muß doch Vertrauen zu mir haben ...

Dann wurde auf einmal kaltes Wasser über ihren Rücken 45

gegossen. Wie kommt Klaus hierher, fragte sie sich, was hat er hier zu suchen? Wie kann er sich auf einen so pervertierten Frevel einlassen? Sie wollte aufstehen, ihm auf die Schulter klopfen und schlicht sagen:

»Komm Klaus, wir gehen nach draußen ...«

Jetzt hätte sie Gelegenheit dazu. Aber sie verlängerte die Frist immer wieder um fünf Minuten, bis sie auf eine halbe Stunde angelaufen war.

Er stand auf und trat an das Fenster. Die Uniform scheuerte so unruhig auf seinem Körper, als ob er sie auf der nackten Haut trüge. Er kehrte der Gesellschaft, mit der er nichts zu tun haben wollte, den Rücken. Er fuhr abrupt herum, betrachtete aus kleinen, verkniffenen Augen den Heimleiter. Ich schlag’

ihn zusammen, dachte er, ganz bestimmt tue ich das. In diesem Moment ging SS-Hauptsturmführer Kempe auf ihn zu.

»Wat macht ihr Scheiche von der Luftwaffe?« fragte er. Klaus zuckte mit den Schultern.

»Ick wollte auch immer Schlipssoldat werden«, fuhr Kempe fort, »na ja, dann hat mich eben die SS geschnappt.«

»Jawohl, Herr Hauptsturmführer«, versetzte Klaus mechanisch.

»Quatsch«, erwiderte er, »laß den Otto ...« Er streckte ihm die Hand hin. »Ick heeße Horst ... und wenn du mir folgst, dann heben wir jetzt einen.«

Der Staffelkapitän reagierte nicht.

»He«, sagte Kempe, »dich hab’ ick gemeint ... wie heeßte denn eijentlich?«

»Klaus.«

»Na ja, versteh’ ja schon ... peinlich, dieser Laden hier ...« Er grinste. »Ick meine ... vorläufig ... bis dahin verkrümeln wir uns ...«

46

Der Fliegeroffizier folgte, ohne Vorsatz, ohne Willen, ohne Überzeugung. Er lief hinter dem langen Hauptsturmführer her. Gerade, als Doris sich ein Herz gefaßt hatte und auf ihn zuging.

»Klaus ...«, sagte sie und lächelte zaghaft.

Da lief er an ihr vorbei ...

Sie betranken sich lautlos.

»Alter Frontsoldat hat immer seine Marschverpflegung dabei«, feixte Kempe. »Komm ... sauf! Dann wird dir gleich besser ...«

Das erste Glas schmeckte nach Galle, das zweite nach Spiritus, und vom dritten ab verwandelte sich der Schnaps in Wodka.

»Haste ... Ärger gehabt?«

»Nicht besonders.«

»Also, Mann, mach doch die Klappe auf ... was ist denn?«

»Meine ... Braut ... meine frühere Braut«, verbesserte sich Klaus abrupt, »ist da ...«

Der Hauptsturmführer begriff schneller, als man es erwarten konnte.

»Schöne Scheiße!« sagte er lakonisch.

Von da ab verstanden sie sich schweigend. Sie hörten Stimmen im Gang und kümmerten sich nicht darum. Von Befangenheit spürten sie nichts mehr. Sie umarmten die älteste Geliebte des Soldaten: den Alkohol. Sie tranken ihn in sich hinein, bis er sie verschlang.

Als es Klaus hundeelend war, verließ er das Zimmer und ging in den Garten.

Kempe erinnerte sich flüchtig an den Zweck, der ihn hierher gebracht hatte. Und da er immer in vorderster Stellung zu sein pflegte, wollte er auch hier den Anfang machen. Er ging in den Unterhaltungsraum, rülpste dezent und war wieder der alte. Er 47

stand wieder auf seinen eigenen Beinen, so wie er seine Stimme und seine Augen wieder gebrauchen konnte. Er sah sich mit sicherem Instinkt um. Nun hatten sich doch die ersten Grüppchen gebildet. Etwas abseits von ihnen hatte Lotte auf einem handgeschnitzten Stuhl Platz genommen. Sie hörte weg und wirkte dabei seltsam konzentriert.

»Na«, begrüßte sie Kempe, »so allein?«

»Sie?« erwiderte sie weder erfreut noch verärgert.

»Darf ick Platz nehmen?«

»Bitte.«

»Wie fühlste dich denn hier?« fragte er grinsend. Lotte sah geradeaus.

»Na, hör mal, Mädchen, ick hab' dir wat jefragt.« Immer, wenn er betrunken war, berlinerte er besonders stark.

»Ich fühle mich auf jedem Posten wohl, auf den man mich stellt.«

»Ach so«, entgegnete er gedehnt. Seine Augen wurden klein. Er betrachtete Lotte angestrengt, aber der Wodka verwischte ihre Züge.

»Sei doch nicht so jeschraubt ...«

»Was meinen Sie, Herr Hauptsturmführer?«

»Quatsch«, antwortete er, »ick heeße Horst.«

Sie sah ihn an. Und diesmal bemerkte sie nicht nur sein EK

I, sondern auch sein Gesicht.

»Na ... wie wär’s denn mit uns zween?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie heeßt det?« fuhr er sie an.

»Wie meinst du das?« verbesserte sich Lotte und wurde rot dabei.

»Machst schon Fortschritte ...« Er imitierte ihren Tonfall: 48

|»und wir sind doch hier, um unsere Pflicht zu erfüllen ...«

»Jawohl«, entgegnete sie ernst.

»Und wann fangen wir damit an?«

»Zur gegebenen Zeit«, versetzte sie verbissen und verkrampft.

»Weeste wat«, antwortete er auf den Flügeln des Schnapses,

»ick denke, heute abend ist die Zeit gekommen ...«

Er schob seinen Stuhl näher an Lotte heran, die ihn mit großen, starren Augen betrachtete ...

Der Sturmbannführer konnte sich auf seinen

Hauptsturmführer verlassen ...

49

4. KAPITEL

Der Herbst machte traurig und müde. Er legte sich schwer auf die Schultern. Aus dem dunklen Zelt der Nacht lösten sich Schatten, Menschen, Schicksale. Auf dem Kies knirschten Schritte. Drinnen, im weiträumigen Haus, girrte ein Mädchenlachen auf, stieg steil in die Höhe, brach plötzlich ab. Einer suchte am Radio, hastig von Station zu Station, als sollte Musik die Mauer der Befangenheit durchbrechen, als könnte Rhythmus feuchte Hände und unstete Blicke beseitigen. Denn diese erste, für 50 junge Menschen vom Lebensborn arrangierte Begegnung war banal und borniert. Oberleutnant Klaus Steinbach ging ziellos durch den gepflegten Park, den Kopf zwischen die Schultern gezogen. Auf einmal blieb ein Schatten vor ihm stehen. Aus der Nacht schälte sich ein dünnes, dürftiges Lächeln.

»Klaus ...«, sagte Doris leise. Ihre Stimme klang verloren. Ihre schmale Gestalt wirkte hilflos und rührend. Ihre Arme blieben auf halbem Wege stehen, wie von Angst gelähmt. Sie standen voreinander, reglos und fremd. Das Gesicht des jungen Offiziers war fahl, die Augen des Mädchens schimmerten .feucht. Irgendwo wurde eine Tür zugeknallt. Dann klang eine rostige Stimme laut durch den Park:

»Kann denn Liebe Sünde sein ...?«

Klaus’ Lippen zuckten mit, fast im gleichen Takt. Er hatte Doris sofort erkannt. Aber er sah sie nicht an. Etwas streifte ihn weich. Aber er gab dem Strom nicht nach. Er suchte nach einem befreienden Wort. Aber er fand nur bange Gedanken.

»Klaus ...«, begann Doris zum zweitenmal, »bitte ... sag doch was ...«

Er schwankte leicht nach vorne wie ein Baum unter einem 50

plötzlichen Windstoß. Dann sah Doris sein Gesicht fast über ihrer Stirn, nahe auf einmal, unheimlich nah. Sie erschrak.

»Das also ...«, quetschte er zwischen den Zähnen hervor,

»das also ... hast du dir aufgespart ... weißt du noch ... damals

... im Urlaub?«

Er sprach die Worte nicht. Er spuckte sie aus. In seinem Gesicht zuckten die Muskeln wie Gefühle, und über diese nachtfahle Skala zogen Verzweiflung und Not, Liebe und Haß, Enttäuschung und Hoffnung.

Das Mädchen hielt ihm den Kopf entgegen, schmal und blaß. Eine Sekunde lang wußte Klaus, daß er Doris nie schöner gesehen hatte. Ihre Lider und Lippen waren geschlossen. Aber er übersah ihr Gesicht. Er schluckte, schmeckte die Bitternis, bis es ihm weh tat.

Da ging er weiter. Mechanisch. Schritt für Schritt. Ziellos. Er hatte mit seinen weichen Knien fertig zu werden. Er ließ Doris stehen, als gäbe es sie nicht auf der Welt. Und dabei hatte seine Welt einmal nur aus Doris bestanden.

Mein Gott, dachte das Mädchen, das kann, das darf doch nicht so enden! Bei Doris war die Liebe größer als der Trotz, die Sehnsucht stärker als der Schmerz. Deshalb folgte sie ihm, über die Gartenwege hinweg, die sich in der Finsternis verloren. Zögernd zunächst, dann rascher. Schließlich holte sie ihn ein.

Sie legte die Hand auf seinen Arm. Er zuckte zusammen, zog seinen Arm krampfhaft zurück.

Doris begann zu sprechen, zu bitten. Sie wollte erklären. Es war doch alles so einfach und ohne ihr Zutun gekommen! Da stellte sie entsetzt fest, daß es keine Erklärung gab, daß das Einfache konfus und die Wahrheit verlogen wirkte. Die Sätze wurden zu Fallen.

Klaus blieb mit einem Ruck stehen. Er brach achtlos einen Zweig vom Strauch, klatschte fahrig damit gegen seine 51

Stiefelschäfte. »Gib dir keine Mühe«, sagte er durch die Zähne,

»hast du dich ... freiwillig hierher gemeldet ... oder nicht?«

Doris schwieg. Gelähmt. Verwirrt. Verraten. Und allein, unendlich allein ...

»Na also«, fuhr er mit kalter, erzwungener Ruhe fort. Seine Worte verwehten. Doris und Klaus liefen nah und doch fern nebeneinander her. Der Dorn eines verblühten Rosenstrauches verfing sich im Rock des Mädchens. Doris riß

ihn aus. Als ob sie mit ihm ihre Hemmung beseitigt hätte, verfügte sie auf einmal wieder über ihre Stimme von früher, über das Lächeln von damals, über die Sicherheit von einst.

»In unserem Park waren die Wege viel breiter«, sagte sie ruhig.

Dann betrachtete sie Klaus bang von der Seite. In seinem Gesicht gab es keine Erinnerung. Oder doch? Konnte die Zeit, in der ein Blick, ein Händedruck, ein Lächeln genügt hatten, um sich zu verstehen, jemals vergessen sein?

Und du, Klaus, dachte Doris, wie kommst du hierher ...? Siehst du ... du kannst es mir sowenig erklären wie ich dir. Aber Doris sprach es nicht aus. Ihre Liebe war so klar wie ihre Stirn, und sie weigerte sich, sie durch einen schmutzigen Verdacht von der Höhe in die Niederungen zu zerren. Doris senkte den Kopf.

»Wohin sind wir ... geraten, Klaus?« fragte sie. Sie hatten die Wegbiegung auf dem freien Rasenplatz erreicht, in dessen Mitte die ›Adolf-Hitler-Eiche‹ stand, ein mickriges Bäumchen, gepflanzt zu Ehren des Führers, begossen in dem Wahn, daß die Bäume des

Nationalsozialismus in den Himmel wachsen könnten. Da blieb Klaus Steinbach zum zweitenmal stehen. Umständlich zog er ein Zigarettenpäckchen aus der Tasche, als wollte er Zeit gewinnen. Er wußte gar nicht, daß er in diesen 52

Sekunden nach einer Brücke über seinen Stolz, nach einer Furt durch die Tiefe suchte. Aber er fand nichts, nur ein Streichholz, das in seiner Hand flackerte.

»Was willst du eigentlich noch?« fragte er rauh. Sie bewegte die Lippen so lautlos und verzweifelt, daß es ihm weh tat. Aber er konnte nicht aufhören, Doris und sich zu verletzen.

Sie stand neben ihm wie ein ausgesetztes Kind. Ihre Augen flehten. Es gelang ihr nicht, ihm zu sagen, daß sie heim wollte

... heim zu ihm, und heim zur weißen Villa am Stadtrand, heim in den Park, in dem sie als Kind mit Klaus gespielt, in dem sie ihn als Mädchen geküßt hatte. Zurück in ein Paradies, in dem es den Sturmbannführer Westroff-Meyer nicht gab. Zurück, nur ein halbes Jahr, um noch einmal anzufangen, um alles anders zu machen.

»Klaus ...«, sagte sie schlicht, »ich hab’ dich lieb ...« Ein schmales, blasses Lächeln huschte über ihr Gesicht. Jetzt sah Klaus sie an, spürte Hitze und Kälte. Seine Augen brannten in den Höhlen. Seine Zunge lag trocken im Mund. In diesem Moment haßte er sich und den Heimleiter. In diesem Augenblick roch der Herbst nach Fäulnis, und er wünschte, er könnte diesen Geruch mit dem der Pulvergase seiner Bordkanone vertauschen. Jetzt wollte er starten, fliegen, kämpfen und fallen.

»Und ich ...«, stieß er mit fremder, harter Stimme hervor,

»ich ... will dich nie ... nie mehr sehen ... hörst du!«

Doris rührte sich nicht.

»Geh!« zischte er.

Jetzt tat sie es.

Als sie sich mit zögernden Füßen von ihm entfernte, hoffte Klaus, daß sie bleiben würde. Der Fliegeroffizier trat mit dem Stiefel gegen Adolf Hitlers schäbige Eiche. Doris, dachte er, 53

verloren, verraten, verdammt. Er preßte die Hände an die Rinde.

Und auf einmal drehte sich der Baum mit ihm, flachtrudelnd wie ein Flugzeug, das in den Abgrund stürzt ... Der Abend gibt sich zwanglos, unpolitisch und unbiologisch. Sturmbannführer Westroff-Meyer läßt kalte Platten zum Pfefferminztee reichen. »So, Kinder ...«, sagt er jovial, als er die starre Tischordnung aufhebt, »nun beriecht euch erst mal

...«

Jetzt geht der Heimleiter mit schnellem Schritt durch den unteren Speisesaal auf eine Gruppe von RAD-Führerinnen zu, die unter dem Spruchband »Heilig sei uns jede Mutter guten Blutes!« ihre Schinkenbrötchen verzehren und ihren Pfefferminztee trinken.

»Na, wie fühlt ihr euch?« fragt er.

»Danke, gut, Sturmbannführer«, antworten sie im Chor.

»Ihr sollt euch hier richtig einleben«, erwidert WestroffMeyer, »am Tag werden wir hart arbeiten ... aber am Abend wollen wir gesellig sein ...« Er nickt und schnarrt:

»Weitermachen!«

Dann geht er auf die andere Seite, auf zwei alleinsitzende SS-Unterführer zu, die aufspringen wollen, was er mit einer Handbewegung verhindert.

»Wir sind hier nicht so förmlich«, stellt er gut gelaunt fest.

»Gefällt’s euch?«

Er wartet das obligate »Jawohl!« nicht ab, sondern setzt gleich hinzu:

»Sitzt doch hier nicht rum wie die Holzblöcke ... los, laßt die Mädchen da drüben nicht allein!« Seine kleinen Hechtaugen streifen den anderen Tisch. »Die beißen euch schon nicht.«

Die Maiden beobachten ängstlich und neugierig das Gespräch.

54

Wenn sie über die Köpfe der beiden Soldaten hinwegsehen, lesen sie an der Wand:

›Dem Sieg der Waffen muß der Sieg des Kindes folgen!‹

Und darunter steht, um den letzten Zweifel auszuschließen, als Verfasser dieses Kernspruchs: Heinrich Himmler. In der Tür dreht sich Westroff-Meyer noch einmal zurück, um zu verfolgen, wie sein Befehl von den SS-Führern ausgeführt wird.

Die beiden SS-Leute sehen es und stehen auf. Sie gehen eckig auf den anderen Tisch zu, während die Maiden geflissentlich an ihnen vorbeisehen. Der vordere überspielt seine Verlegenheit.

»Na«, sagt er, »was macht ihr denn hier?« Dabei nimmt er einen Stuhl und setzt sich umständlich.

»Ihr seid wohl taubstumm?« fragt der zweite.

»Nein«, erwidert eines der Mädchen, »ihr seid ja auch nicht sehr gesprächig.«

»Kommt schon noch«, beteuert der erste, bevor er schweigt. Er dreht sich nach seinem Kameraden um und flucht halblaut:

»Herrgott ... zum Trinken müßte man was haben!«

Zufriedener ist der Heimleiter schon mit dem Musiksaal, dessen verstimmtem Klavier ein junger Leutnant markige Weisen abgewinnt, angefeuert von dem angetrunkenen Hauptsturmführer Kempe, der immer bei allem vorangehen muß. Dieser Raum reißt die erste Bresche in die lähmende Atmosphäre des Lebensborn-Heimes. Hier finden die ersten zusammen, weil sie primitiv oder kaltschnäuzig, angetrunken oder gleichgültig sind, oder weil sie ganz einfach die Befangenheit zu Paaren treibt. Hier stehen die Männer und Mädchen bereits in bunter Reihe um das Instrument. In einem improvisierten Wunschkonzert, für das das Repertoire des Pianisten nicht ausreicht.

55

»Los!« ruft Kempe mit dröhnendem Baß dem Klavierspieler zu. Er fuchtelt mit den Armen den Rhythmus mit und grölt:

»Oh ... du schö-ö-öner Westerwald ...« Beim Wort ›schön‹

fährt seine Stimme Schiffschaukel.

Ein Mädchen lacht hell. Zwei Männer singen mit. Ein Untersturmführer legt die pralle Hand auf die Schulter einer üppigen Blondine. Sie kichert und zeigt neckische Gegenwehr.

» ... pfeift der Wind so kalt ...«, tobt Hauptsturmführer Kempe.

Dann sieht er den Heimleiter und bricht ab.

»Weitermachen!« befiehlt der Sturmbannführer zum zweitenmal. Er klopft dem Klavierspieler auf die Schulter.

»Bringen Sie nur etwas Leben in die Bude, Mann ...« Bevor er den Raum verläßt, setzt er überflüssig hinzu:

»Herrschaften, morgen um zehn, im Lehrsaal eins ... Heil Hitler!«

»Heil Hitler!« rufen sie zurück.

Dann marschiert der Westerwald wieder. Kempe hebt den oberen Deckel des Klaviers auf und starrt auf die Saiten. Wenn er Bier zur Hand hätte, würde er es hineinschütten, wie in Polen oder sonst irgendwo, wo man erobern und zerstören konnte.

Dabei mögen die Mädchen ihn. Er ist nicht unsympathisch, und man merkt ihm gleich an, was er will, im Guten wie im Bösen. Der Hauptsturmführer hätte Gelegenheit, nach der Schönsten zu sehen, aber er pflegt immer nach der nächsten zu greifen.

Heute nach Lotte, der gläubigen RAD-Führerin, die sich gerade in ihrem Zimmer umzieht, weil ihr die Weltanschauung doch noch etwas Platz zur Eitelkeit läßt.

Der Spaß mit dem Klavier wird Kempe zu langweilig. Er klappt den Deckel zu. Bier kann er doch nicht hineingießen, 56

und im übrigen hat er noch Schnaps auf der Bude, der in diesem Hause so verpönt wie notwendig ist.

Auf dem Gang trifft er Klaus Steinbach, der sich nach dem Zusammenstoß mit Doris vom Garten in das Haus stiehlt.

»Na, Kamerad«, sagt er, »heben wir wieder einen?«

»Laß mich.«

»Ja, weeß schon ... det tolle Ding mit deiner Braut ...«

Klaus geht weiter. Der Hauptsturmführer läuft hinter ihm her.

»Laß doch den Kopp nich hängen, Mann ... hier jibt’s doch ville Bräute ...« Er lacht breit und behaglich, »ick hab' schon eene ... sehr schön is se nich, verstehste ... aber sonst ...«

Klaus geht in sein Zimmer, knallt die Türe zu und dreht sofort den Schlüssel herum.

Der Hauptsturmführer schüttelt erschrocken den Kopf und geht zurück.

Lotte trägt einen hellen Pullover zu einem grauen Flanellrock.

»Na, Mädchen ... da biste ja ...«, begrüßt sie der SS-Offizier.

»Gehen wir noch ein bißchen bummeln ... frische Luft ...«

»Ja«, antwortet die RAD-Führerin kleinlaut.

Sie gehen durch den Park. Er legt automatisch seine Hand um ihre Schulter, zieht Lotte an sich. Es ist vielleicht das erste Mal, daß sie in ihrem bescheidenen Leben die noch bescheidenere Zärtlichkeit eines Mannes streift und sie so stark durchpulst wie der Glaube an den Führer.

»Na, nu biste ja janz manierlich ...« Der Mann mit dem einen Meter 88 großen Selbstbewußtsein streichelt ihr Kinn. Dann kämpft Schnapsdunst mit Nachtluft.

»Schon viel erlebt?« fragt er.

»Wie meinen Sie das?«

57

»Mensch, Lotte, wir sagen doch du zueinander ...«

»Ja«, erwidert sie. Sie hebt zuerst den Kopf, dann die Augen.

»Ich hab’ noch nichts erlebt ...«, antwortet sie dann leise,

»und ich möchte auch nichts erleben ... so nicht ... ich will ...«

»So, nischt ... und da kommste hierher?«

Er betrachtet Lotte, die verwirrt auf den Boden sieht. Er zieht die Schultern hoch.

»Na ... mir soll’s recht sein ...«, brummt er. Er läßt die Zügel seiner Gedanken schießen. Schließlich sagt er mit trunkenem Trübsinn:

»Alles Mist ... dieser Quatsch!«

Dann bleibt er stehen und zieht Lotte unvermittelt an sich. Sie macht sich steif wie eine Puppe. Sie zittert. Aber ihre Lippen sind kalt. Sie denkt an das Opfer, das sie bringen will und beißt die Zähne aufeinander. So schwer ist das, überlegt sie. Aber ich tue es ja nicht für mich ... für die anderen, für die Bewegung, die mich dafür ausgewählt hat, und die das Volk durch Nacht zum Licht führt.

»Komm«, sagt Kempe leise, »wir gehen nach oben ...«

Die RAD-Führerin nickt schwerfällig und mechanisch mit dem Kopf. Ihr Nacken ist steif. Ihre Augen wirken starr. Sie hat Angst. Vor dem Opfer, das jetzt kommen muß ... Doris weinte tränenlos. Sie lag wach. Die Verzweiflung schüttelte sie wie ein Krampf. Sie hörte seine Worte wie von einer Geisterstimme wiederholt. Immer den gleichen Satz, denselben Sinn:

»Ich will dich nie wiedersehen, hörst du, nie wieder ...«

Gut, dachte Doris, ich will es dir leicht machen, Klaus, ganz leicht ...

Sie hörte Schritte vor der Tür und richtete sich auf. Sie hoffte, daß er doch noch zu ihr finden würde, und sie fürchtete, daß ein anderer Zugang suchen könnte. Stand da nicht jemand 58

vor der Tür?

Von unten kam wieder Lachen, Gesprächsfetzen. Türen wurden zugeschlagen. Entfernte Schritte trampelten über die Gänge. Wieder drehte einer am Radio. Was macht Klaus jetzt, überlegte Doris, denkt er wenigstens an mich? Und warum das alles? Was ist das für ein System, das junge Mädchen so erniedrigt? Wer hat das Recht, so in ihre natürlichen Empfindungen, in ihr persönliches Leben einzugreifen? Wer darf sie so versachlichen? Wer stellt die ungeheuerliche Forderung an sie, ihre Kinder so dem Staat zu opfern, wie man einst im alten Babylon die Erstgeborenen in den glühenden Rachen des Götzen Baal schleuderte?

Ein leiser Trost streichelte sie in diesem Moment. Ich versteh’ dich ja, Klaus, dachte sie, daß du damit nichts zu tun haben willst. Ich würde dich sonst nicht lieben können ... Doris war ein junges, natürliches Mädchen, das eine junge, natürliche Mutter werden wollte, deren Hände ihr Kind zärtlich streicheln, deren Ohren verzückt hören, wie es zum erstenmal das Wort Mutter ausspricht. Und dieses Kind sollte von Klaus sein, dem Nachbarssohn, den sie von klein auf liebte; von demselben Oberleutnant Klaus Steinbach, der sie jetzt haßte, erniedrigte und beleidigte, weil die Zeit sie wie ein Strudel in den Abgrund gerissen hatte ... die Bewegung, an die sie immer noch glauben wollte, obwohl sie sie nicht mehr verstand ... Wieder hörte Doris Schritte, fuhr entsetzt hoch. Die Tür ging auf. Klaus ... hoffte, dachte sie einen Augenblick. Dann flammte Licht auf. Und sie sah enttäuscht und doch erleichtert, daß Erika, die Stubenkameradin aus dem RAD-Führerlager, vor ihr stand.

»Was machst du denn hier?« sprudelte sie los, »ich such’

dich schon die ganze Zeit ... ist ganz lustig unten ...«

Erika setzte sich auf Doris’ Bett.

»Los, keine Müdigkeit vorschützen! Zieh dich an, 59

Mädchen!«

Doris wandte fast ruckartig das Gesicht von ihr ab. Da faßte sie Erika am Kinn und fragte betroffen:

»Was hast du denn?«

»Ach ... nichts ...«

»Ärger gehabt?«

»Nein.«

»Doris ... du wirst den Unsinn hier doch nicht ernst nehmen

...?« Sie redete sich in Zorn, der rasch wieder abflaute: »diesen aufgeblasenen Quatsch ... diese nordisch-fälische Mischpoke ... Was passiert?«

»Es ist ... etwas anderes ...«

»Versteh’ ich nicht ...«

»Hör mal«, sagte Doris. Sie lächelte blaß und matt. »Ich halt’s hier nicht mehr aus ... ich muß weg. Morgen schon! Ich kann hier keinen Tag mehr bleiben ...«

»Aber das geht doch nicht«, versetzte Erika betroffen.

»Mach keine Dummheiten, Mädchen ... ist doch alles halb so schlimm ... Wir schlagen uns hier schon durch. Meinst du, ich habe Angst? ... Führerkinder ... Mensch, bei denen piept’s wohl!«

Erika stand auf. Mit den Gedanken war sie bereits wieder im Aufenthaltsraum, wo gelacht und geflirtet wurde.

»Willst du mir nicht doch ... sagen ...«

»Ich ... ich kann nicht ...«

»Also, mach keinen Quatsch, Mädchen ...«, sagte Erika abschließend, löschte das Licht, schloß die Tür und hatte es eilig. Sie schüttelte die Sorge um Doris ab, nicht, weil sie herzlos war, sondern weil sie die Verzweiflung der Freundin nicht richtig erkannt hatte.

Erst zu spät, am nächsten Vormittag um zehn Uhr, würde 60

Erika ihre Oberflächlichkeit verwünschen ...

Von dem Moment an, da das Mädchen Lotte und der SSHauptsturmführer Kempe die Schwelle des Zimmers überschritten haben, kommen sie sich wie auf Kommando nackt vor. Der Raum ist einfach, fast spartanisch eingerichtet. Die Möbel sind hell, aber kalt. Das ölgemalte Hitlerbild, der Führer mit hochgeschlagenem Mantelkragen, ist in jedem Raum dieses Heims zu Hause.

Lotte steht am Fenster, soweit wie möglich vom Lichtkegel entfernt. Sie schämt sich. Aber dieses heiße Gefühl reicht noch nicht aus, um ihr Weltbild einzureißen. Morgen, denkt sie, oder übermorgen ... Aber heute noch nicht ... So darf es nicht sein!

Ich kenne ihn doch kaum! Freilich, er gehört zur Auslese wie ich. Aber er sieht mich ja gar nicht richtig an. Er weicht mir aus. Er grinst, wenn ich ihn etwas frage. Und er riecht nach Alkohol.

Kempe deutet auf seine Aktentasche.

»Marschgepäck«, sagt er lakonisch.

Er setzt sich auf das Bett, schlägt die Tasche auf wie ein Zauberer, der die weiße Taube flattern läßt.

Es ist Wodka. Und nicht einmal die Gläser hat der Offizier vergessen. Er nimmt die Flasche, als ob er ihr den Hals abdrehen wollte, zieht den lockeren Korken heraus, schenkt zwei Gläser voll.

»Prost!« sagt er, »setz dich doch ... machen wa’s uns jemütlich, Mädchen ...«

Lotte wird von der Peinlichkeit gewürgt. In ihrem blassen Gesicht sind rote Flecken. Sie sieht sich um, betrachtet die Tür, als ob sie gleich fliehen möchte. Wenn er nur etwas sagen würde ... eine herzliche Geste oder eine dienstliche Parole, ja, auch das ... schließlich will Lotte bewußt erleben, was man von ihr verlangt ...

61

»Keinen Durst?« fragt Kempe. »Prima Ware ... meine Kompanie hat davon schon ganze Fässer ausgesoffen ...«

»Ich mag das nicht«, erwidert Lotte.

»Den Wodka?«

»Daß du so trinkst ...«

»Probier’s mal«, entgegnet der Hauptsturmführer. »Ach ...«

setzt er hinzu, »weeß schon ... das dämliche Licht ...« Er geht an das Waschbecken, nimmt das Handtuch und legt es über den grünen Lampenschirm.

»So ...«, sagt er grinsend, »und jetzt jute Nacht.«

»Ich versteh’ dich nicht«, versetzte Lotte. Sie spürt die Gänsehaut auf ihren Armen und ist auf einmal grenzenlos enttäuscht und ernüchtert.

»Wat vastehste nich?«

»Wir sind doch hier ... zu einem ... ernsten Zweck ...«

»Sicher ... aber der Ernst kann doch auch jemütlich sein, nich?«

»Wir tun hier, was das Volk von uns erwartet ...«

»Knorke«, erwidert der SS-Offizier feixend. Dann spült er das zweite Glas hinunter.

Lotte geht mit den schleppenden Schritten eines gefangenen Tieres auf die andere Seite. Sie steht unter dem Hitler-Bild, streift es einen Moment mit den Augen, als ob der Führer sie schützen könnte.

»Det is unsa Adolf ...«, sagt Kempe, »kenn’ wa ...«

Er füllt das nächste Glas, hebt es:

»Prost, Alter!«

Dann dreht er sich nach Lotte um.

»Haste schon mal den Führer erlebt?«

»Nein«, erwidert das verwirrte Mädchen.

62

»Aber ick ... ick hab’ ihm schon die Hand jedrückt ...« Er nickt sich ernst und stolz zu. Sein Nationalsozialismus ist mehr praktischer Art. Er ist jederzeit bereit, die Feinde der Bewegung totzuschlagen, aber die braune Theorie zu glauben –

nein, das kann kein Mensch von ihm verlangen.

»Seid ihr alle so?« fragt Lotte.

»Wie?«

»So ... so respektlos ... und betrunken ... und ...«, Lotte sucht nach dem Wort, findet es: »verantwortungslos ...«

»Hör zu, Mädchen ... wir kämpfen, wir sterben, und wir lassen sterben ... und alles für den Führer ... so ... und jetzt biste dran ...«

Kempe verschüttet das Glas, betrachtet trübsinnig den verlorenen Wodka, schenkt sich nach, beobachtet die noch immer unter dem Hitler-Bild stehende RAD-Führerin, die nie echter war als jetzt in ihrer Hilflosigkeit.

»Weiß schon«, knurrte er, »der Führer raucht nicht, trinkt nicht, schläft nicht, fällt nicht ...«

Das Mädchen schüttelt sich unter seinen Worten wie unter einem Regenguß.

»Und vegetarisch lebt er ooch noch ... So, Lotte, und jetzt lassen wa die Faxen, und jetzt zwitscherste mal einen ...«

»Geh«, sagt sie lauter, als sie will, »geh sofort weg ... mit dir

... mit euch ... will ich nichts zu tun haben ... ihr seid wie ...«

»Hör mal, Kleene ... langsam wer’ ick ärgerlich ... det kann ick dir varaten.«

»Ich rufe den Heimleiter.«

»Quatsch«, sagt er. Dann geht er auf Lotte zu, legt die Arme um sie, preßt sie an sich, ohne Überzeugung eigentlich, nur auf Befehl.

Kempe spürt ihren Widerstand. Er liest den Ekel aus ihrem Gesicht. Da läßt er sie los. Geht wieder an seine Aktentasche, 63

korkt die fast leere Wodkaflasche zu, nimmt das Handtuch von der Lampe, sieht im kräftigen Lichtstrahl das weinende Mädchen, nickt.

»Weeßte wat«, sagt er jetzt doch ärgerlich, »rutsch mir den Buckel runter, du dämliche RAD-Zicke!«

Er knallt die Tür zu, schüttelt sich und geht wieder nach unten, schon versöhnt und bereit, nach der nächsten zu greifen

...

Am nächsten Tag, Punkt zehn Uhr, beginnt die Schulung. Der Speiseraum wird zum Lehrsaal. Die Tische stehen an der Wand, die Stühle in Marschkolonne. Vorne, an der Schmalseite des Raums, hat der Sturmbannführer Westroff-Meyer Kartenbilder entrollt und aufgehängt, auf die er mit dem Zeigestock deutet wie in der Schule. Seine Stimme klingt ölig. Er agiert, als hätte er sein Leben lang davon geträumt, Zuhörer zu finden. Jetzt hat er es geschafft. Nach einem erfolglosen Versuch in Juristerei und Medizin sattelt er auf ein anderes Pferd um. Auf das Paradepferd der Bewegung. Auf die Rassenhygiene.

Die Kartenbilder sind mit Blumen, mit Erbsen und Kastanien bemalt. Wirre Linien zeigen auf, wie man sie kreuzte. Aus roten Blüten werden weiße, aus runden Erbsen kantige, aus stacheligen Kastanienschalen glatte. Mit seiner Auffassung von Biologie beginnt der Heimleiter von der Pike auf ...

»Diese botanischen Erkenntnisse können wir ohne weiteres auf den Menschen übertragen«, ruft der Heimleiter seinen Schülern zu, die weder Erbsen noch Kastanien, sondern Menschen sind, die gleichgültig vor sich hinstarren, zum Fenster hinausschauen, oder an seinen Lippen hängen. Erika, die Praktische, denkt an das Gemüse, das sie beim Arbeitsdienst geputzt hat. Und dann erschrickt sie. Wo ist Doris? Sie fehlt! Erika will aufstehen und im Zimmer der Freundin nachsehen, aber sie wagt es nicht. Mein Gott, denkt 64

sie, wenn Doris tatsächlich geflüchtet ist, ohne Marschbefehl, ohne Abmeldung, ohne Urlaubsschein ...

Ganz in ihrer Nähe sitzt Klaus, der nicht mehr über Doris nachdenken will und doch muß, der sie mit den Augen sucht und sich fragt, wo sie sein könnte. Und dann die Frage wieder wegwischt, und mit aufgeworfenen Lippen den rassereinen Mischmasch über sich ergehen läßt.

Auch das gehört zum Lebensborn, wie die Säuglingsheime, wie die blitzblanken Säle, wie der biedere Standartenführer in der Verwaltungszentrale, der seine Lebensborn-Heime so ordentlich leitet, daß Jahre später der Nürnberger Gerichtshof ihn ausdrücklich freisprechen wird. Auch beim Lebensborn gilt: was die Rechte tut, braucht die Linke nicht zu wissen. Die Bewegung freilich ist Linkshänder. Während man nach außen hin einen beinahe idyllischen Rahmen wahrt, während der Rassechef persönlich beteuert, daß die Erziehung eines Kindes im Schoß der Familie durch nichts ersetzt werden kann, hatte er in einem Erlaß vom 28. Oktober 1939 schon die Zeugung des außerehelichen Kindes auf dem Verwaltungswege angeordnet. Er macht das größte Wunder der Natur, die Geburt, zum SS-Befehl! Geburt um jeden Preis! Mit allen Mitteln!

Planmäßig gesteuert, überwacht vom SS-Rasse-und Siedlungshauptamt, das alles das in Bewegung bringt, was später unter dem Sammelbegriff Lebensborn bekannt werden soll.

Der Sturmbannführer doziert weiter, kunterbunt durcheinander; Binsenwahrheiten, Halbwahrheiten, Parolen und Irrtümer. Er hat seinen Himmler im Kopf und seine Leute im Blick. Und während er spricht, wandern seine Augen mechanisch durch die Reihen, registrieren genau und taxieren rücksichtlos ...

Auf einmal stockt der Heimleiter. Wo ist die Schwierige? Das Mädchen aus dem RAD-Lager, das nicht mitmachen und ausscheren wollte?

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Sein Zeigestab sinkt nach unten. Seine Adern treten an der Stirne hervor.

»Eine Teilnehmerin fehlt«, ruft er in den Saal. »Ich bitte mir aus, daß mir die Vollzähligkeit künftig richtig gemeldet wird ... Los«, sagt er zu Erika, »holen Sie Doris her!«

»Das ... das geht nicht«, antwortet sie zögernd.

»Was soll das heißen?« brüllt Westroff-Meyer.

»Doris ist ... ist abgereist.«

»Abgereist?« wiederholt der Heimleiter gefährlich leise. Dann brüllt er los: »Das ist Fahnenflucht ...! Desertion!

Fahnenflucht«, schreit er noch einmal erbost in den Saal. Jetzt erst begreift Oberleutnant Klaus Steinbach ganz und erschrickt. Fahnenflucht, dröhnt es in seinen Ohren nach. Er weiß nur zu gut, was das bedeutet ...

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5. KAPITEL

Die Stoppeln der gemähten Felder überzogen die Erde wie eine Gänsehaut. Wolkenfetzen jagten über den Boden. Dazwischen spiegelte sich eine kalte Sonne in schmutzigen Pfützen. Doris setzte über die Wasserlachen. Ihr erdfarbener Mantel flatterte im Wind. In der verlassenen Weite des eintönig flachen Landes wurde das Mädchen zum springenden Punkt, der sich in der Unendlichkeit verlor.

Doris achtete nicht auf den brennenden Schmerz in der Hand, in die der Griff des Koffers schnitt. Sie spürte nicht die Nässe, die gegen ihre Knie spritzte. Sie zuckte zusammen, wenn ihre Fußgelenke über Steinen abknickten. Sie jagte weiter, immer weiter, mit keuchendem Atem. Es hörte sich an wie das Schluchzen eines Kindes. Das Wasser in ihren Augen mochte der Wind ebensogut herausgepreßt haben wie die Angst. Das Grauen, vor dem Doris aus dem Lebensborn-Heim geflüchtet war, begleitete sie auf dem ganzen Weg. Sie hatte sich nicht ein einziges Mal umgedreht. Sie wollte das Haus, in dem die heiligsten Gefühle mißbraucht wurden, nicht mehr sehen. Sie wollte sich an nichts mehr erinnern: nicht an das lauernde Gesicht Westroff-Meyers, der mit Menschen wie mit Tieren experimentierte, nicht an die Mienen der Versuchsmenschen, bei denen die Gewöhnung allmählich größer wurde als die Befangenheit. Nicht an den Abend, an dem Schritte vor ihrem Zimmer verhielten. Die Theorie schritt zur Praxis und sollte durch eine Nacht mit einem fremden, langschädeligen Uniformträger vollzogen werden. Da hatte Doris der Gedanke an die Flucht wie ein Fieberschauer überfallen ...

Aber an etwas mußte sie jetzt, auf diesem endlosen Weg zwischen den Meilensteinen der Verlassenheit, denken: an 67

Klaus Steinbach, den Oberleutnant. An seine kalten Augen. An seinen harten Mund. Sie hatte ihn zu sehr geliebt, seine Lippen zu weich geküßt, als daß sie jetzt den Gedanken ertrüge, ihn verloren zu haben.

Doris wußte nicht, was sie mehr vorwärtstrieb: der Widerwille gegen die ungeheure Zumutung, die jederzeit an ihre Zimmertür klopfen konnte, oder das Bewußtsein, auf Klaus für immer verzichten zu müssen.

Aus dem Horizont wuchs der Kirchturm der Kleinstadt wie ein warnender Finger. Da setzte die Not zum Endspurt an. Links, rechts, links, rechts. Die Lunge stach. Die Beine schmerzten. Die Gedanken rasten. Die Pfützen spritzten. Wohin? Wohin soll ich gehen?

Nach Hause. Wohin sonst! Und vor dem näherkommenden Bahndamm ahnte Doris die Begegnung im Elternhaus.

»Gut, daß du da bist, Kind«, sagt der Vater. Er holt zwei Gläser, schenkt sich ein, hebt sein Glas und sagt: »Prost ... auf dich, Doris!«

Gelb schimmert der Kognak im Glas. Vorzügliche Ware, aus Frankreich, von Klaus geschickt! ...

Doris stolperte, taumelte, verlor den Koffer, rastete einen Moment. Die Mutter ...

»Was machst du denn für Sachen, Doris? ... Was? Weggelaufen? Ohne Urlaubsschein? ... Mein Gott, wie kannst du so etwas tun?« Sie hat den leise klagenden Ton, den sie immer anwendet, wenn sie bei ihren politisierenden Kaffeekränzchen auf Zweifel ihrer Damen stößt.

»In welche Situation bringst du mich?« fährt sie fort. »Nein, das ist doch alles Unsinn! Das ist nur Gewäsch! ... Die Feinde der Bewegung stecken überall ... Du mußt sofort zurück in dein Lager! ... Ich möchte nicht, daß meine Tochter ...«

Doris nahm den Koffer wieder in die Hand. In die linke, in 68

die rechte. Sie spürte die Schwielen auf der Haut. Die Oberarme zogen wie Mühlsteine nach unten. Hundert Meter noch bis zum Bahndamm.

Sie schaffte sie, stellte den Koffer ab, setzte sich darauf. Wohin?

Zurück ins Lager? Mein Gott, die Arbeitsdienstführerin ... Doris sah das vertrocknete, altjüngferliche Gesicht und seine schnaubende Reaktion. Auf einmal drehten sich alle Begriffe vor ihr: Elternhaus, Staat, Arbeitsdienst, Hitlerjugend ... alles wankte und schwankte und paßte nicht mehr zueinander. In dieser Stunde war Doris zu verwirrt, um damit fertig zu werden, um sich zu verteidigen.

Sie hielt sich eher für eine schlechte Nationalsozialistin als für eine gesunde, junge Frau. So suchte sie die Schuld bei sich, weil sie nicht glauben wollte, daß die eingehämmerten Maßstäbe ihres Lebens krank waren.

Das Fieber verebbte. Mit glanzlosen Augen stand das Mädchen an der Schranke neben der kleinen Station. Doris starrte auf die Schienen.

Plötzlich bremste ein Wagen vor ihr. Seine Räder radierten auf dem Kies. Doris zuckte zusammen. Der Mann am Steuer trug SS-Uniform. Er gehörte zum Stammpersonal des Lebensborns. Der Heimleiter hatte ihn als Schergen ausgeschickt.

»Steigen Sie ein!« sagte der Uniformierte barsch.

»Ich ... ich wollte ...«, erwiderte Doris.

»Das können Sie alles dem Sturmbannführer sagen.«

Sie mußte ihren Koffer selbst verladen. Dann stieg sie ein. Blicklos, glücklos, wortlos kauerte sie auf ihrem Sitz. Der Fahrer gab Gas. Der Kübelwagen holperte zurück in das Heim, das zu ihrem Schicksal werden sollte ... Auf einmal empfindet Klaus Steinbach fürchterliche Angst 69

um Doris. Seine Augen tasten sich im Schulungsraum über die Erbsen und Kastanien an der Wandtafel hinweg. Doris ... warum ist sie weggelaufen? Vielleicht meinetwegen? Zwischen Schuld und Verantwortung spürt er auf einmal den grellen Strahl jäher Freude.

Dann aber denkt er wieder militärisch-exakt: Was kann der Sturmbannführer gegen sie unternehmen? Meldung wegen unerlaubter Entfernung? ... Strafarbeit in einer Rüstungsfabrik?

... Versetzung in ein namenloses Nest am Ende der Welt? ... Parteiverfahren? ... Als Bodensatz dieser Überlegung bleibt bei Klaus zurück: es darf nicht geschehen!

Er betrachtet den Heimleiter, den er haßt, seitdem er ihn sah. Er kräuselt die Lippen über seine botanisch-biologischrassenhygienische Wissenschaft, quer durch den Gemüsegarten. Dann wandert sein Blick zu Erika, der Jungführerin, weiter. Sie ist eine Freundin von Doris, denkt er. Ich muß mit ihr sprechen.

Bei der gemeinsamen Mittagstafel setzt er sich einfach neben sie. Er sucht einen Anfang, findet ihn nicht und zerschneidet zornig seinen Burgunderbraten. Haben sie Doris wieder eingefangen? Er hofft und fürchtet es gleichzeitig ... Klaus sehnt sich nach seinem Feldflughafen. Er denkt an seinen Kommodore mit dem Kinn aus Nußbaumholz. Er sieht ihn breit und bullig aus der Me klettern und an seiner Zigarre kauen. Was würde er an meiner Stelle tun? Wie könnte sich Oberstleutnant Berendsen hier zurechtfinden, der alles auf der Welt, außer seinem Steuerknüppel und seinem Schnapsglas, mit spitzen Fingern anfaßt?

»Sie sind aber schweigsam, junger Mann«, sagt Erika.

»Ja«, erwidert Klaus verworren.

»Das ist aber mal ’ne Antwort!«

»Sie sind eine Freundin von ... Doris?«

70

»Sie kennen Doris?« fragt die Jungführerin schnell zurück.

»Ja«, entgegnete er, »ich habe ... ich meine ... wir waren ...«

»Was waren Sie?«

»So etwas wie verlobt ...«

»Heiliger Strohsack! Also darum!« sagt Erika erschrocken. Dann sieht sie den Oberleutnant voll an, lächelt und fragt:

»Und?«

Er zuckt die Schultern.

»Das Reden haben Sie nicht erfunden ...«

Erika wendet sich wieder ihrem linken Nachbarn zu. Nach dem Dessert sagt sie zu Klaus:

»Sie sehen so konsequent an mir vorbei, daß ich denke, ich bin gar keine Frau.«

»Sie sind ... seid Ihr denn welche?«

»Was soll das heißen?«

»Na, wenn man sich hierher meldet.«

»Wir haben uns nicht hierher gemeldet, verstehen Sie! Und wenn wir uns hierher gemeldet hätten, dann wär’s auch alles ... Wenn Sie mich fragen ... ich bin immer noch lieber hier, als daß ich Böden schrubbe, Rüben hacke und Erbsen putze.«

»Und ... hinterher?«

»Hinterher?« antwortet Erika verächtlich. »Mensch, hinterher! ... Ja meinen Sie denn, ich laß mich hier mit so einem Knilch ein? ... Ja glauben Sie denn ...« Sie deutete auf Westroff-Meyer. »Eher freß’ ich noch seine stacheligen Kastanien!«

»Guten Appetit«, versetzt Klaus heftig.

»Nee«, ergänzt Erika, »so nicht ... so geht’s bei mir überhaupt nicht ... und wenn der Reichs-Heini persönlich käme.«

»Und ... die anderen?«

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»Was gehen mich die anderen an!« entgegnet Erika gereizt.

»Ich hab’ nur für mich zu sorgen ... Und wenn Sie Doris meinen ... dann sage ich Ihnen: zweimal nicht! ... Verstehen Sie?«

Klaus nickt verwirrt.

»Sie haben Krach mit ihr gehabt?«

»Ja.«

»Sie haben sie weggetrieben ... Sie sind also schuld, daß sie

...«

»Ja«, sagt Klaus leise.

»Dann sorgen Sie auch gefälligst, daß Doris aus diesem Schlamassel wieder herauskommt!«

»Wie ... seid Ihr denn ... hierher ...?« fragt der Oberleutnant.

»Ganz einfach«, antwortet Erika, »zuerst hieß es: vortreten, wer dem Führer ein Opfer bringen will. Da haben wir uns gemeldet. Und dann wurden wir ausgesucht ... Und dann haben wir überhaupt erst erfahren, um was es geht.« Erika lacht schnell und spöttisch. »Aber das dürfen Sie mir glauben ... bei so was ... da hört sich bei mir der Nationalsozialismus auf!«

Klaus zuckt zusammen. Er, der sonst die Faust ballt, wenn man etwas gegen die Bewegung sagt, wird auf einmal von der Lästerrede des jungen Mädchens gestreichelt. Er sieht sich in der Runde um. Die allgemeine Befangenheit hat sich wieder um ein Stück verringert. Zur Linken und Rechten des Sturmbannführers sitzen, wohl als besondere Auszeichnung des Heimleiters, die ersten Paare. Vor dem Essen kam es zu einer Eifersuchtsszene zwischen zwei SS-Unterführern. Sie galt der zerwühlten Hannelore, die am Frühstückstisch stolz und geschmacklos erzählte. Die einen grinsten dämlich, den anderen wurde es übel. Sie sollten in den nächsten Wochen noch oft erleben, wie die Weltanschauung zum Kaffeeklatsch und der Kaffeeklatsch zur Weltanschauung wurde ... 72

Und dazwischen springen die ersten Flirts von Platz zu Platz, kreiseln Sympathie und Abneigung um den großen Tisch, Enttäuschung und Hoffnung, Wunsch und Verzicht. Und die Gesellschaft der nach Tabellen ausgewählten und vom Zufall zusammengestellten 50 Menschen rollt wie ein Reiseomnibus in das Verhängnis.

Erika hat ja recht, überlegt Klaus Steinbach. Natürlich ... Aber das hier, das sind Auswüchse, ohne die es eine große Weltanschauung nicht gibt. Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten, denkt er.

»Eins kann ich Ihnen noch sagen«, platzt Erika in seine Gedanken, »wissen Sie, was Sie sind, Herr Oberleutnant?«

Sie trinkt ihren Apfelsaft aus, leckt sich mit der Zunge die Lippen und ergänzt ungeniert:

»Ein Esel!«

In diesem Moment betritt Doris wieder das Haus, aus dem sie flüchten wollte. Mit dem zögernden Schritt und dem verfallenen Gesicht einer unschuldig Verurteilten, die in das Gefängnis muß. Sie sieht auf den Boden, folgt dem Fahrer stumm und stumpf bis zu dem Büro des Sturmbannführers Westroff-Meyer.

Doris hört seinen polternden Schritt und seine wuchtigen Worte schon von weitem. Er reißt die Tür auf, betrachtet das im Vorzimmer zusammengekauerte Mädchen mit kleinen Augen und drohend:

»So, Sie! ... Kommen Sie mal herein!«

Er geht voraus und bietet ihr keinen Stuhl an. Sein Karpfenmaul verwandelt sich in einen Hechtschlund. Gleichzeitig poltert er los:

»Sie sind Angehörige des weiblichen RAD ... Sie sind sogar Unterführerin ... Sie haben sich unerlaubt entfernt ... Von der Truppe ... im Krieg ...«

73

Die Lippen von Doris werden schmal. Das also war der Trick der Freiwilligkeit. An diesem Hebel wird notfalls gedreht

...

Westroff-Meyer spürt den Widerstand des Mädchens. Seine Stimme klettert über die Tonleiter der Parteisprache:

»Was fällt Ihnen ein? ... Fahnenflucht! ... Desertion! ... Defätismus! ... Sie haben den Führer verraten! ... Sie sind ihm in den Rücken gefallen! Sie werden vom gesamten Lehrgang verachtet!«

Doris hört zu, ohne ihn zu verstehen. Dazu nickt sie kläglich mit dem Kopf, als ob sie ihm recht geben wolle. Aber es sind nur Reflexbewegungen auf die Vorwürfe, die wie ein Dampfhammer auf sie prasseln.

»Ich könnte Sie vernichten! Was heißt: ich könnte«, unterbricht sich der Sturmbannführer selbst, »ich werde es tun!

Ich werde die Sache weiterleiten!«

Er bleibt wieder stehen, fuchtelt mit den Fäusten.

»Verräter gehören zertreten! ... Sie paktieren mit dem Feind

... Sie sind nicht wert, eine Deutsche zu sein! ... In diesem Schicksalskampf unseres Volkes!«

Noch bevor ihm die Luft ausgeht, verlassen den Heimleiter die Phrasen. Der Rest ist Hustenkrampf. Mitten im Satz bleibt er stecken. Dann sagt er leise:

»Was haben Sie dazu zu sagen?«

Doris fühlt, wie sich alles in ihr nach unten zieht. Sie muß

etwas erwidern, aber sie bringt es nicht fertig. Sie fürchtet sich vor seinen kleinen, tückischen Augen. Sie hat Angst, daß er mit dem dunkelbehaarten, seltsam rosa Handgelenk, das ihr widerlich ist, nach ihr schnappen könnte. Sie senkt den Kopf, sucht an dem übergroßen Schreibtisch einen Halt. Aber er ist zu weit weg.

»Ich ... ich kann hier nicht ...«, antwortet sie dann mit 74

tonloser Stimme.

»Was können Sie hier nicht?«

»Mitmachen ...«

»So .... mitmachen können Sie hier nicht ...« Er geht ein paar Schritte hin und her. »Gerade Sie!« fährt er dann fort, »Sie haben die Schulung doppelt nötig!« Seine Hand schnellt nach vorne. »Kennen Sie den Unterschied von F-i-und F-z-Generation?«

»Nein«, erwidert Doris.

»Was wissen Sie von Mutation? Von Erbsprüngen?«

Die Jungführerin schweigt.

»Sehen Sie«, sagt Westroff-Meyer, »wie nötig Sie den Unterricht haben?«

»Gegen den Unterricht habe ich ja nichts ...«

»Gegen was denn?« bellt sie der Sturmbannführer an.

»Ich möchte ... ich will hier nicht ... ich habe Ihnen doch schon gesagt ... persönliche Gründe ...«

»Was heißt persönliche Gründe, wenn es um das Reich geht?«

»Ich bin verlobt.«

»Und?« schnauzt sie der Heimleiter drohend an.

»Mein Verlobter ist hier.«

»Was hier? ... im Ort?«

»Nein.«

»In der Kaserne?«

»Nein.«

»Ja, wo denn dann, zum Teufel?« »Hier ... im Haus«, versetzt Doris hauchleise ...

»Was sagen Sie da? ... Hier beim Lehrgang? ... Wer?«

»Klaus Steinbach.«

75

»Der Oberleutnant von der Lüftwaffe?«

»Ja.«

Westroff-Meyer gibt seine drohende Haltung auf der Stelle auf. Er läßt sich langsam in den Sessel zurückfallen. Sein Gesicht verändert sich in einer Sekunde. Zuerst steigt ihm eine flüchtige Röte bis an die Schläfen. Dann grinst er breit. Ein Goldzahn blinkt. Der Sturmbannführer stemmt beide Arme in die Rippen.

Dann lacht er los. Es hört sich an, als ob ein Riese schnarcht. Er lacht, daß sein Kopf hin und her pendelt. Er lacht, bis ihm die Tränen aus den Augen kullern. Es schüttelt ihn, bis er in Atemnot gerät. Und dann gehen seine Laute in Gewieher über. Er trommelt mit beiden Fäusten auf die Tischplatte und zwischendurch brüllt er:

»Das ist ja großartig, Mädchen! Das ist ja fabelhaft! ... Und deshalb laufen Sie weg? ... Ich wird’ verrückt!«

Er wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln und geht auf Doris zu. Er legt den Arm auf ihre Schultern. Sie zuckt zusammen. Aber der Sturmbannführer merkt es nicht.

»Ihr Verlobter? ... Hier im Haus? Einer von unserem Lehrgang?« röchelt er mehr, als er sagt. »Und da haun Sie ab?«

Endlich wird er mit seinem Zwerchfell fertig. Doris biegt den Kopf zur Seite. Sie verspürt nur Ekel, sonst nichts.

»Das ist ja prima!« schreit Westroff-Meyer, »das ist ja großartig! ... Und jetzt machen wir ’ne richtige Lebensbornhochzeit! ... So etwas war noch nie da! ... Ihr macht das vor ... Das ist ja fantastisch! ... Der Führer wird seine Freude haben!« Er betrachtet das verstörte Mädchen.

»Ach so ...«, sagt er dann mit geölter Stimme, »Ihr Fall ist eingestellt ... selbstverständlich ... Gehen Sie zurück in Ihr Zimmer ... ich arrangiere alles: Blumen, Sekt ... ’ne Hochzeit!

76

... Ich wird’ verrückt!«

Der Sturmbannführer drückt dem Mädchen die Hand, schiebt fast zur Tür hinaus und ruft dem Uscha in seinem Vorzimmer zu:

»Holen Sie mir den Oberleutnant Steinbach ... aber dalli, dal!«

Jetzt erwacht Doris ganz aus ihrer Trance. Sie geht rasch über den Gang, um Klaus nicht zu begegnen ... Nachmittag ist dienstfrei. Jeder nutzt es auf seine Weise. SSHauptsturmführer Kempe schreibt einen Brief an seine Frau, dann fährt er in das Städtchen, um seine Schnapsvorräte zu ergänzen. Klaus Steinbach legt sich in einen Liegestuhl auf der Terrasse und wartet vergeblich auf die schmächtige Herbstsonne und auf Doris. Erika hört Radio. Lotte betrachtet sich im Spiegel. Zum erstenmal richtig, seitdem sie lebt. Seit der lange Hauptsturmführer sie verlassen hat, ist sie nicht nur von seiner »politischen Haltung« enttäuscht. Sie spürt, daß sie als Frau nicht gefällt. Obwohl sie noch jung an Jahren ist, wirkt sie doch bereits wie ein spätes Mädchen, für das die Liebe noch zu früh kommt.

Sie bastelt an ihren Haaren herum. Sie löst die Zopfkrone, läßt die blonden, langen Strähnen auf die Schultern fließen, spitzt den Mund, gefällt sich besser und entschließt sich doch wieder zur alten Frisur.

Sie geht nach unten, ist wie immer abseits, hat keinen Anschluß. Wer ihr begegnet, spricht ein paar belanglose Worte mit ihr und geht ihr dann aus dem Weg. Zuerst bemerkt sie es nicht einmal. Aber nun beginnt es weh zu tun. Lotte setzt sich in den Leseraum, greift nach einem Buch. In einem Klubsessel in der Ecke sitzt ein Untersturmführer mit dem Gardemaß der Rassefibel. Er steht höflich auf, stellt sich vor.

77

»Fritz Lange ...« Dann fragt er: »Sie fühlen sich hier auch nicht richtig wohl?«

»Nein ... nicht ...«, erwidert Lotte.

Der Offizier nickt.

»Ich kann mir das ganz gut vorstellen«, sagt er, »es ist alles ganz anders gedacht ... wer an die Bewegung glaubt, muß von diesem Betrieb hier enttäuscht sein.«

Lotte nickt lebhaft. Dann betrachtet sie den Mann, das Gesicht ... was sie bisher nie tat. Für sie waren Männer nur Wesen, die Stiefel trugen und in einer Uniform steckten. Fritz Lange hat einen schmalen Kopf, eine hohe Stirn und schon etwas schüttere Haare, was die Stirn noch höher erscheinen läßt. Die schwarze Uniform sitzt eng um seine lange Gestalt.

»Wenn ich Sie störe . . «, sagt der Untersturmführer.

»Nein, keineswegs.«

»Wir zwei«, sagt der Offizier dann, »wir nehmen unsere Sache ernst, nicht?«

»Ja«, antwortet Lotte.

»Wir sind auch reif dafür«, fährt er fort, »wissen Sie, unter dem Weizen ist noch viel Spreu ...«

»Ja ... kommen Sie von der Front?«

»Ja.«

»Was sind Sie?«

»Infanterie.«

»Keine schöne Waffengattung, nicht?«

»Schön oder nicht schön«, entgegnet er, »es geht um unser Volk.«

»Sie gefallen mir«, versetzt Lotte. Dann errötet sie, betrachtet wieder dieses Gesicht und merkt auf einmal beklommen, daß nicht nur seine Worte, sondern er selbst auf sie Eindruck machen. Ich hätte meine Haare doch offen tragen 78

sollen, denkt Lotte ... und erschrickt.

In diesem Moment kommt Hauptsturmführer Kempe lärmend von seiner Besorgung zurück. Er reißt die Türen auf, sucht Anschluß, findet ihn nicht, stößt auf der Terrasse auf Oberleutnant Steinbach.

»Mensch, hab’ schon jehört«, sagt er, »du heiratest ja! ... Herzlichen Glückwunsch ... ick wird’ dir ’ne volle Pulle stiften!«

»Hochzeit?« fragt Klaus mit hoher Stimme.

»Na, ’ne Beerdigung wird’s schon nicht werden ... und hübsch is se ooch noch.«

»Hau ab!« versetzt Klaus.

»Haste Erika jesehn?« fragt Kempe.

»Nein.«

»Die wird’ ich mir mal uff’s Korn nehmen ... jefällt mir noch am besten von dem janzen Haufen hier ...«

Er läßt Klaus sitzen und fahndet nach dem Mädchen. Er stößt die Tür zur Bibliothek auf, sieht Lotte, bleibt stehen, grinst, schüttelt sich wie ein nasser Hund.

»Na«, sagt er gutgelaunt, »haste einen jefunden?«

Der Untersturmführer Lange deutet im Sitzen eine Ehrenbezeigung an.

Kempe nickt und verschwindet rasch.

»Das ist auch so einer, der nicht hierher gehört«, stellt Lange verächtlich fest.

Inzwischen stößt der lange SS-Offizier im Musikzimmer auf Erika. Er geht breitbeinig auf sie zu. Sie dreht sich lachend zu ihm um und sagt:

»Heil, Hauptsturmführer!«

Er streckt ihr lachend die Hand hin.

»Quatsch!« sagt er, »ick heeße Horst ... und du bist Erika, 79

abjemacht?«

»Von mir aus.«

»Du jefallst mir prima.«

»Dank’ für die Blumen.«

»Doch ... du bist knorke ... aber der Laden hier, der ist müd’, den wird’ ick heute abend mal auf Trab bringen ...«

Erika erwidert ironisch:

»Wir sind doch hier zu einem ernsten Zweck.«

»Na ja«, grinst Kempe, »kannste ooch haben.« Er beugt sich an ihr Ohr und verrät sein Geheimnis: »Du, ick hab’

Nachschub besorgt ... Schnaps.«

»Klingt gut.«

»Na, wie wär’s?«

»Was?«

»Wir könnten uns etwas anfreunden.«

»Das schon«, antwortet Erika, »aber ohne den ernsten Zweck.«

»Was meenste denn damit?«

»Weißt du«, erklärt das Mädchen lachend, »ich mache nicht mit ... auch wenn das hier ’ne Hühnerfarm werden soll.«

»Ach so«, erwidert er, »ist schon was dran ...« Zuerst lacht er, dann sucht er die Pointe: »Aber man braucht doch nicht gleich ’ne Kuh kaufen, wenn man ein Glas Milch will!«

»Die Kuh bin wohl ich?«

»Nein ... so war’s nicht jemeint ... ick seh’ schon ... wir vertragen uns prima! Biste von Berlin?«

»Ja«, entgegnet das Mädchen.

»Knorke«, versetzt Hauptsturmführer Kempe, »ick ooch ... wir machen’s uns jemütlich, wat?«

»Ja«, erwidert Erika, »aber zuerst muß ich noch nach meiner 80

Freundin sehen.«

Sie lächelt noch am Gang. Männer vom Schlag Kempes gefallen ihr.

Doris hat den Koffer wieder ausgepackt und ihre Sachen in das Spind gelegt. Ebenso empört wie gleichgültig, ebenso verzweifelt wie hoffnungsvoll. Am Nachmittag besuchte der Heimleiter sie auf ihrem Zimmer.

»Alles in Ordnung«, sagte er.

Dann polterte er wieder hinaus.

Jetzt erwartete und fürchtete das junge Mädchen die nächste Begegnung mit Klaus.

Beim Abendessen saß er wieder weit weg von ihr. Doris senkte den Kopf. Sie spürte seinen Blick, aber sie wagte nicht, ihn zu erwidern. Sie konnte sich vorstellen, wie seine Aussprache mit Westroff-Meyer verlaufen war. Jedes Wort war peinlich und verletzend. Sie hatte Angst vor dem nächsten Schritt und wußte nicht, wohin er führen würde. Dann kamen der Abend, die Dämmerung, die Nacht. Doris ging nach draußen, als es im Haus lustig wurde. Alle starrten sie an. Alle kannten ihre Geschichte. Alle wollten Trauzeuge einer Lebensborn-Hochzeit werden.

Dann war es wie am ersten Abend. Auf einmal blieb ein Schatten stehen. Es war Klaus. Er sagte hastig, mit blecherner Stimme:

»Ich muß mit dir sprechen.«

Doris sah ihn rasch an. Sein Gesicht war verbissen. Er tat ihr leid. Es muß ihm schwerfallen, dachte sie.

Sie liefen stumm nebeneinander her. Die Befangenheit legte sich auf die Stimme von Klaus.

»Es tut mir leid ...«, begann er mit schwerer Zunge. »Ich ...«

Dann wurde er wieder stumm. Er wußte selbst nicht, was ihm leid tat. Der Zorn war vorbei. Und er stand inmitten der 81

verbogenen Situation, in die ihn der Rassenwahn der WestroffMeyer manövriert hatte. Am liebsten ginge er sofort zur Front zurück. Aber das galt hier nicht. Erst eine Pflicht, dann die andere. Erst wird gelebt, und dann wird gestorben ... Obwohl Klaus Steinbach lieber sterben möchte als so leben ... Wieder stehen sie vor Hitlers dürrer Eiche. Am besten, dachte Klaus, ich nenne es beim Namen, ich sag’ Doris, was los ist.

»Der Dingsda ... dieser Westroff-Meyer, hat mit mir gesprochen.« Es war ihm anzumerken, daß er es rasch hinter sich bringen wollte. Doris nickte.

»Mit mir auch«, erwiderte sie leise. Ihr Blick blieb an den Schwingen seines Pilotenabzeichens hängen, und sie fürchtete, Jaß sich der Adler gleich auf sie stürzen würde. »So ...«, sagte er dann verwirrt, »mit dir auch?« Er verschränkte die Hände auf dem Rücken. Er nagte an seiner Unterlippe.

»Dann weißt du’s ...« Er hob seine Augenbrauen. »Was?«

fragte Doris.

Klaus zeichnete mit dem Fuß Kreise in den Kies. »Ich soll ... soll dich ... heiraten ...«

Doris atmete tief aus und ein. Eine taumelige Wespe summte an ihrem Ohr vorbei. Der Abend war kalt und nebelig. Das Mädchen fror, obwohl ihm heiß wurde. »Ja«, erwiderte Doris dann, »ich weiß.«

Die Stiefelspitze von Klaus zeichnete weiter. Er knirschte an Worten, als ob er Sand zwischen den Zähnen hätte. Bis hierher kam er. Aber wie es jetzt weitergehen sollte, wußte er nicht. Er sah die schlaff herabhängenden Arme von Doris. »Und du?«

fragte sie, »wirst du es tun?«

Der Oberleutnant zuckte zusammen. Er hatte sich den Augenblick, da er Doris bitten würde, seine Frau zu werden, ganz anders vorgestellt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Aber der Geschmack blieb bitter.

82

»Nun, Klaus ...«, die Stimme von Doris klang noch sanfter.

»Du führst doch sonst jeden Befehl aus ... diesen nicht?«

Jetzt sah er sie zum erstenmal voll an. Der ruhige Ton ihrer Stimme machte ihm bewußt, wie verletzt sie war. Und hier stand ich, dachte Klaus, und sagte: »Ich will dich nie mehr wiedersehen!«

»Doris ...«, murmelte der Oberleutnant, »würdest du es denn tun?«

In ihrem schmalen Gesicht blühte ein Lächeln und ging unter. Auf ihrer Stirne zeigte sich Röte und verblaßte. Um ihren Mund zuckten Gefühle, bis sich ihre Lippen spannten. Sie mochte ›ja›‹ sagen und mußte mit ›nein‹ antworten. Sie mochte lachen und würde weinen. Sie wollte Klaus haben und konnte ihn so nicht bekommen.

Doris schwankte leicht. Sie stand wieder auf dem SechsMeter-Turm der Badeanstalt und sollte springen. Das Brett federte, und unten, im blendend weißen Sand, in der Sonne, lag Klaus und lachte:

»Na, spring!« schrie er, »du Angsthase!«

Sie sprang. Damals ... Jetzt sagte sie mit einer Stimme, die Klaus noch nie gehört hatte:

»Nein.«

Da schlugen die Wellen wieder über Doris zusammen ... Sein Gesicht kam ganz nahe. Es war nicht mehr kalt und abweisend. Aber es wirkte ernst und traurig. Sie fühlte seine Hand an ihrem Ellbogen.

»Und warum nicht?« fragte er gepreßt.

Sie wendete den Kopf über die Schulter. Sie wollte sich die Erregung nicht anmerken lassen.

»Ich will nicht ... auf Befehl geheiratet werden«, antwortete sie mühsam. »Am allerwenigsten ... von dir ...«

Der Druck an ihrem Ellbogen wurde fester. Sie spürte jeden 83

seiner Finger einzeln.