»Nein, Herr Oberstleutnant.«

»Das ist ein Befehl, Steinbach!«

Klaus hält die Luft an. Eine Fallbö schleudert die Maschine nach unten. Hecken, Bäume. Dünen. Hecken ...

In diesem Moment sieht Klaus die Me seines Kommodore. 159

Sie zieht über dem Wasser steil nach oben.

Und dann jagen sich die Meldungen. Der Feindverband kommt näher, 100, 200 Maschinen, begleitet vom Jagdschutz, gesichert bis ins letzte.

Und dagegen ziehen ein Kommodore, der konsequent ist, und ein Oberleutnant, der ihm helfen will.

Klaus Steinbach läßt sich nicht abschütteln, weder von Befehlen noch von Spiralen. Er klemmt sich hinter die Maschine seines Chefs, die steil nach oben steigt, folgt ihr. In fünftausend Meter Höhe hängen die beiden Me’s wieder waagrecht in der Luft.

Jetzt erst kommt Klaus zum Überlegen. Er ist wahnsinnig geworden, denkt er, während er vorwärtsschießt. Auf einmal steht wieder Doris vor ihm. Entschuldige, bittet er, ... aber er hat sich so verdammt anständig benommen, ich kann ihn bei seinem verfluchten Quatsch jetzt nicht allein ...

»Bomberverband halb links«, ruft der Kommodore in das Sprechgerät.

Klaus zuckt zusammen. Er sieht die Kondensstreifen wie mit einem Lineal gezogen. 30 oder 40. Zuviel für zwei! Wahnsinn!

Da, oben drüber, sieben, acht Begleit Jäger. Abdrehen, denkt Klaus, höchste Eisenbahn!

»Ich greife an«, sagt der Kommodore beinahe gleichgültig. Der Speichel schmeckt im Mund des jungen Staffelkapitäns wie geronnene Milch. Ich mit dir, denkt er. Selbstmord, freilich. Aber was soll’s.

Die Maschine des Oberstleutnants Berendsen stellt sich auf die Fläche, orgelt den Engländern entgegen. Noch einmal hört Klaus die Stimme:

»Flieg nach Hause, mein Junge.«

»Herr Oberstleutnant! ...«, schreit Klaus zurück. Die Membrane kreischt. Das optische Visier flimmert. Der 160

Schweiß beizt die Augen.

Dann sieht Klaus die Spitfires. Der Bomberverband wirbelt an ihm vorbei. Maschine oben, Maschine unten. Meer oben, Meer, unten. Glühende Fäden umspannen die Me. Das Karussell hat ihn im Griff. Klaus kommt nicht mehr heraus. Seine Augen suchen einen Halt an den unsichtbaren Wänden des Hexenkessels, fassen die Maschine des Chefs, verlieren sie, fassen sie wieder. Die Zehen krampfen sich in den Stiefeln. Der Kommodore rast stur dem Verband entgegen.

»Achtung, Spitfire von hinten!« schreit der Oberleutnant. Berendsen antwortet nicht, fliegt die Bomber von vorne an. Geradeaus. Wie ein Brett.

Die Jäger hacken von hinten auf ihn ein. Die viermotorigen Maschinen brüllen ihm glühende Kaskaden aus ihren Bordkanonen entgegen.

Klaus schlägt Haken auf Haken. Er wehrt sich gegen drei tollwütige Hunde, kann den Kommodore nicht mehr sichern, kurvt ums nackte Leben.

»Achtung!« brüllt er keuchend.

Warum reagiert er denn nicht? Wieder eine Runde im Wahnsinnskarussell. Die Bomber. Der Schwanz einer Spitfire

... Die Me des Kommodore ... alles tanzt vor seinen Augen. Und Klaus sieht in Bruchteilen von Sekunden das Unfaßbare, möchte heulen, kann nichts ändern, begreift die Zusammenhänge nicht, krallt die Zähne in die Unterlippe. Da ist er, Oberstleutnant Berendsen, der Mann, der fliegen will, und sonst nichts auf der Welt. Der sich im Ersten Weltkrieg den ›Pour le merite‹ holte. Und dann unter Brücken flog, knapp über Hochspannungsleitungen slippte, der mit dem Segelflugzeug Sturzflug bis auf ein paar Meter demonstrierte, der sich um den Tod sowenig schert wie um die Schwerkraft. Sein Geschwader hatte die größten Erfolge. Dabei führte der Kommodore einen Zwei-Fronten-Krieg: gegen die Zweifel im 161

eigenen Kopf und gegen den Feind in der Luft... Und jetzt geht es nicht mehr weiter. Vorbei. Aus. Absichtlich. Endgültig.

Ohne Kurs, ohne eine Ruderbewegung zu machen, mit hetzen, den Jägern im Genick, rast Oberstleutnant Berendsen mitten in den Bomber-Pulk, knallt mit der vordersten Maschine zusammen. Der Blitz wird zur Explosion. Tonnen von Bomben krepieren, zerschmettern sechs Engländer, die nicht wissen, was ihnen geschieht ... und einen Deutschen, der wollte, was er tut, zu einem gemeinsamen Ende in Feuer und Rauch. Zwei weitere ›Lancaster‹ demontieren unter der Wucht der Explosion. Maschinenteile wirbeln. Fallschirme öffnen sich. Ein Jäger bäumt sich auf, wirft das Kabinendach ab. Klaus wird aus dem Karussell geschleudert. Seine Me taumelt wie ein Blatt, zieht eine Rauchfahne hinter sich her. Die Spitfires lassen ihn laufen, halten ihn für erledigt. Mit starrem Gesicht weicht der Oberleutnant einem der pendelnden Fallschirme aus.

Klaus verliert rapid Höhe, erreicht die Küste, schafft die Bruchlandung, klettert benommen aus dem Wrack, möchte heulen wie ein Wolf, winseln wie ein Hund, weinen wie ein Kind ...

Der Kommodore, denkt er, und begreift allmählich und endgültig, daß der Oberstleutnant nicht mehr leben wollte, weil er nicht mehr kämpfen konnte für das, was im Namen Deutschlands geschah ...

Die Treibjagd in Polen ging weiter. Die Perversion blies Halali. Das blonde Kind wurde zum Wild, das

›Reichskommissariat zur Festigung deutschen Volkstums‹ zum Jäger, die Polizei zum Hetzer, das Leid zur Strecke, der Lebensborn zum Nutznießer ...

Sturmbannführer Westroff-Meyer arbeitete mit allen Mitteln. Am liebsten waren ihm Kinder aus den Waisenhäusern. Da gab 162

es noch am wenigsten Scherereien. Dann gelang es ihm mitunter, Eltern unter trügerischem Vorwand zur ›freiwilligen‹

Auslieferung ihrer Kinder zu überreden. Wenn aber die lügenhaften Versprechungen nicht ausreichten, griff er wahllos zu anderen Methoden: vom Stiefelabsatz zum Kolbenstoß, von der Verhaftung zur Maschinenpistole. Und seinen Weg säumten endlose Kolonnen schreiender Kinder und weinender Mütter. Die Beute, kleine, hilflose, verlassene Kinder, deren Verhängnis es war, daß sie blaue Augen, helle Haare und eine bestimmte Kopfform hatten, wurde in Barackenlagern wie in Krals zusammengetrieben.

Das Weiße im Auge des Sturmbannführers wurde gelb und durchsetzte sich mit roten Fäden. Sein Blick flatterte tief aus schwarzen Höhlen. Seine Hände begannen zu zittern. Zuerst bekämpfte Westroff-Meyer das Blut mit Schnaps. Dann sah er im Schnaps nur noch Blut. Für die braune Mordtheorie war er von vornherein nicht unbegabt, in der Praxis aber noch ungeübt.

So ging er beim Leiter der Einsatzgruppe in die Schule des Grauens. Er gewöhnte sich daran, Menschen zu jagen wie Fliegen. Er stand neben den ratternden MG’s. Er stellte sich hinter die blutjungen, fahlen SS-Soldaten, die Greise und Kinder zuerst die eigenen Gräber schaufeln ließen. Er lernte abzuschätzen, wie viele Tote auf einem Haufen lagen und wieviel Benzin man braucht, um sie zu verbrennen. Sein Auge, sein Herz, seine Hand, sein Magen wurden mit der Zeit eins mit dem Massenmord. Nur seine Nase wehrte sich noch gegen den Geruch der Verwesung ...

Heute stand Westroff-Meyer an einer riesigen Wandkarte neben dem Standartenführer. Der Tod hatte sie in Planquadrate zerlegt, der Mord in Bezirke eingeteilt. Der Leiter der Einsatzgruppe zeigte mit dem Bleistift auf einen Ort.

»Da arbeiten wir heute«, sagte er gleichgültig,

»Teilliquidation ... 500 nur.« Er wippte auf den Stiefelspitzen. 163

»Kommen Sie mit?« Er grinste. »Vielleicht ist etwas für Sie dabei ...«

So zogen sie los. Voraus die Treiber. In Autos. Dann das Erschießungskommando. In Marschkolonne. Bewaffnet bis an die Zähne. Die Männer rauchten und sangen. Auf Befehl. Aus Gewöhnung. Dienst war Dienst. Und Norm blieb Norm. Die Waschlappen und Feiglinge hatte man aussortiert. Zu ihnen gehörten alle, die es nicht fertigbrachten, Kinder, Frauen, Greise und wehrlose Männer wahllos zusammenzuschießen. Hinter der Marschkolonne fuhr der Standartenführer. In einem Schützenpanzerwagen. Neben ihm kauerte der Sturmbannführer. Als Funktionär des Lebensborns konnte er jetzt voll aus der Quelle des Todes schöpfen.

»Links, zwei, drei, vier ... ein Lied!«

Sie sangen durcheinander. Verschiedene Lieder. Zu gleichem Tritt. In ihren Feldflaschen gluckerte die Flüssigkeit: halb Kognak, halb Kaffee.

Die Panik tobte im Dorf. Aus zwei Scheunen prasselten die Flammen. Schüsse peitschten durch die Straßen. Bewährte

›Soldaten‹ lachten. Frauen, Männer und Kinder hasteten durcheinander, warfen sich zu Boden, hoben die Hände, baten um Gnade. Die Maschinenpistolen stoppten die Geste. Man griff sie wahllos. Wer jetzt neben der Kirche stand, konnte in Minuten ebensogut wohlbehalten zu Hause sein wie erschossen im Reihengrab liegen.

Westroff-Meyer stieg aus und zündete sich eine Zigarette an. Er folgte den Rollkommandos wie einem Pflug, immer auf etwas Abstand bedacht.

»Das klappt wie am Schnürchen«, sagte der

Standartenführer. »Wir werden fertig mit der Bande ...«

»War hier ... etwas Besonderes los?« fragte der Sturmbannführer mit heiserer Stimme.

164

»Was soll los sein?« antwortete der Einsatzleiter. »Wir haben unser Programm ...« Er ratterte herunter: »Ausrottung mißliebiger Elemente ... Vernichtung subversiver Personen ... Zerschlagung der Intelligenz ... Endlösung der Judenfrage!«

»Hier?« fragte Westroff-Meyer tonlos.

»Hier und anderswo!« fuhr ihn der Standartenführer an. Im Nachbarabschnitt war im Vormonat ein besseres Ergebnis erzielt worden. Die Einsatzgruppe mußte aufholen. Ein blondes Mädchen im himmelblauen Kleid lief quer über die Straße. Ein MG ging in Stellung, nahm es ins Visier.

»Nicht das Kind!« schrie der Sturmbannführer. Der Schütze nickte. Ein anderer hastete dem kleinen Mädchen nach und brachte es Westroff-Meyer wie ein apportierender Hund.

»Gut, der Mann«, lobte der Funktionär des Lebensborns. Auf dem Dorfplatz rasselten die MG’s.

»Mama ... Mama ...«, wimmerte das Mädchen.

»Wo?« fragte der Sturmbannführer. Er nahm das zitternde, weinende Kind auf den Arm.

Es zog den Kopf zurück. Dann streckte es das Händchen aus, wies auf den Dorfplatz.

Westroff-Meyer nickte. Er gab dem Schützen ein Zeichen. Ein junger SS-Soldat lag mitten auf dem Platz und wechselte den Lauf des Maschinengewehrs. Die Frauen konnten warten

...

»Wo, Mama?« wiederholte der Sturmbannführer seine Frage, betrachtete das Kind voll, lächelte überrascht. Die Ähnlichkeit, schoß es ihm durch den Kopf! Die gleiche hohe Stirn, der knappe Mund, der nämliche Trotz. Doris Korff, durchzuckte es ihn. Er grinste breit ... Du wirst eine bessere Doris, sagte er sich. Mit dir werde ich keinen Ärger haben. Du bleibst von Anfang an unter meiner Obhut. Du entwickelst dich 165

nach unserem Programm. Er fuhr dem Kind mit der Hand über den Blondschopf. Es schrie, als ob es mißhandelt würde. Das Feuer wurde automatisch eingestellt, als der Einsatzleiter auf den Dorfplatz zuging. Einen halben Schritt hinter ihm Westroff-Meyer. Er hob die Füße so hoch an, als ob er über Leichen ginge. So kamen sie an die Gruppe der Frauen heran, die sich in ihrer Todesangst aneinanderklammerten. In der vorderen Reihe fiel eine von ihnen auf die Knie, streckte bettelnd beide Arme nach dem Kind aus.

»Das Mama?« fragte Westroff-Meyer und deutete auf die Flehende, die noch 15 Meter von ihm entfernt war. Das Mädchen wollte sich losmachen, weinte haltlos. Sein Arm reckte sich der Mutter entgegen. Die kleine Hand krampfte sich zusammen. Der Sturmbannführer betrachtete die Frau. Sie war groß und schlank, rotblond und schön. Dann schob sich sein Unterkiefer nach vorne. Sie war gezeichnet. Mit dem Judenstern.

»Mist, verdammter!« fluchte er.

Der ganze Rasse-Günther stand auf einmal Kopf. Der Standartenführer neben ihm bog sich vor Lachen. Da ließ Westroff-Meyer das kleine Kind zu Boden fallen wie eine heiße Kartoffel. »Los, lauf!« schnauzte er. Erlöst, erleichtert, entronnen lief das Mädchen im himmelblauen Kleid los, der Mutter entgegen.

Der Standartenführer spuckte aus. Der junge Schütze hinter dem MG setzte die Feldflasche ab, schob sich den Stahlhelm ins Genick und zielte.

Das Kind rannte in die Garbe wie in einen Stacheldrahtzaun. Die Mutter sah es mit brechendem Auge. Sie streckte die Hand aus wie, das Kind. Die Hände wiesen aufeinander. Zwischen ihnen lagen vier Meter, die der Tod nicht mehr überbrücken konnte.

166

»Schade«, sagte Westroff-Meyer bitter zu dem

Standartenführer.

»Wenn Sie noch Kinder aussuchen wollen, machen Sie fix«, drängte der Einsatzleiter.

»Ich ... heute kann ich nicht mehr«, entgegnete der Sturmbannführer.

Er drehte sich um. Er wollte das tote Kind nicht mehr sehen. Nicht die Mutter. Nicht die anderen. Er wollte nichts mehr hören. Seine Gedanken trommelten. Immer das gleiche: Der Führer liebt Kinder ... tobte es in seinem Körper. Der Führer liebt Kinder ...

In diesem sinnlosen Rhythmus schüttelte ihn der Weinkrampf. Es wurde selbst ihm übel. Er lehnte sich schwer mit beiden Händen gegen eine Hausmauer, richtete sich mit rotem, aufgedunsen ’nem Gesicht wieder auf.

»Geht den meisten so am Anfang«, kommentierte der Standartenführer, »aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran ... Der Führer weiß, was er will. Während unsere Männer verbluten, können wir hier nicht zusehen, wie die negative Gegenauslese aufwächst.«

»Ja«, antwortete Westroff-Meyer.

»Wir fahren in das nächste Dorf ...«

Bevor der Einsatzleiter in den Schützenpanzerwagen einstieg, drehte er sich noch einmal um. Er holte weit mit der Hand aus. Seine glanzlosen Fischaugen blieben an den Gräbern hängen, die die noch lebenden Dorfbewohner für die ermordeten aushoben.

»Ja«, sagte er überzeugt, »so groß ist der

Nationalsozialismus ...«

Westroff-Meyer hörte es nicht. Bei der Aktion in der nächsten Ortschaft war sein Magen leer wie sein Kopf. Aber er war wieder dabei ...

167

11. KAPITEL

Zwei Monate später, kurz vor der Weihnacht 1941, treffen Klaus und Doris wieder zusammen. Um zu heiraten. Die Heimatstadt überschüttet sie mit Aufmerksamkeit. Unter dem Poststapel liegen auch einige Briefe mit schwarzem Rand. Während die einen dem jungen Paar Glück wünschen, zeigen die anderen das Leid an. Doris und Klaus stehen vor dem Gabentisch, betrachten die bescheidenen Geschenke und die vielen Blumen, von denen manche als typische

Kriegsgewächse verzweifelt dem Schnittlauch ähneln. Doris wurde noch einmal zum Stillschweigen über ihre Erlebnisse beim Lebensborn vergattert und in ein anderes Lager versetzt, in dem sie mit anderen, ebenso schweigsamen Mädchen zusammenkam. Vor ihrer Berührung mit dem Lebensborn hatte sie sich freiwillig für die

Führerinnenlaufbahn des RAD gemeldet Jetzt kämpfte sie um ihre Entlassung. Als verheiratete Frau hatte sie mehr Chancen, dem kompostfarbenen Tuch zu entrinnen.

Das Geschwader von Klaus wurde zur gleichen Zeit nach dem Osten verlegt, was ihm vier Tage Heiratsurlaub einbrachte. Sein eigenmächtiger Start war ohne Folgen geblieben und fiel gar nicht weiter auf, da schon Minuten später die anderen Kameraden ihre Me’s aus den Boxen holten. Sie schossen vier Feindflugzeuge ab und ließen drei eigene zurück. Wenn Oberstleutnant Berendsen nicht gefallen wäre, hätte er einen letzten Triumph erlebt: Keiner seiner Leute denunzierte ihn fahrlässig oder absichtlich. Sein Werk, seine Schule, seine Männer ...

Ein paar Tage später kam der neue Kommodore, Oberst Prillmann, ein sehniger, hochaufgeschossener Offizier, der stiller war und weniger trank als sein Vorgänger und ihm im 168

übrigen doch sehr ähnelte. Er stellte sich beinahe wortlos vor, nickte und zog sich wieder zurück.

Eines Tages ließ er Klaus kommen.

»Hören Sie, Steinbach«, sagte er und wies auf den Personalakt des jungen Staffelkapitäns, »Sie sind ein vorzüglicher Soldat ... ich weiß ... da hat mir eine SSDienststelle einen Wisch geschickt ... politische Beurteilung ... Ich will Ihnen nichts vormachen ... sie ist vernichtend.«

»Jawohl, Herr Oberst«, erwiderte Klaus.

»Mich geht diese Sache nichts an«, fuhr der neue Kommodore fort. Sein Gesicht wurde melancholisch. »Aber ich will nur einwandfreie Leute in meinem Geschwader haben

... Haben wir uns verstanden?«

»Jawohl, Herr Oberst.«

Der Kommodore nahm den Brief des Westroff-Meyer, riß

ihr durch und warf ihn in den Papierkorb.

»Wo die Durchschläge herumflattern, kann ich Ihnen allerdings nicht sagen«, brummte er zum Abschluß. So war der erste Schlag des Heimleiters Westroff-Meyer in den Papierkorb gefallen.

Klaus lernte, ihn zu vergessen. Entweder er flog oder er dachte an Doris ...

Und jetzt ist es soweit.

Sie stehen nebeneinander in der Kirche, die Klaus bisher nur aufgesucht hatte, wenn es unumgänglich war. Doris trägt, entgegen dem Protest ihrer Mutter, ein dunkles, schickes Schneiderkostüm.

»Zieh doch deine Uniform an«, hat Frau Korff gejammert,

»die Leute sollen nur sehen, daß du im Einsatz bist und dich bewährst.«

Die schlichte Klarheit der gotischen Kirche nimmt sie beide gefangen. Auf einmal empfinden sie Ruhe, Stille, 169

Geborgenheit. Draußen vor dem großen Kirchenportal ist schon wieder Krieg. Hierher aber hat sich Gott zurückgezogen. Klaus Steinbach muß ständig an Oberleutnant Kirn denken, der oft 50 Kilometer weit zu einer Feldmesse gefahren war. Vor einer Woche hat ihn das Geschwader beigesetzt. Dann spürt er den leichten Druck von Doris. Ihr Gesicht ist blaß, aber weich. Das lange Blondhaar liegt links und rechts der hohen, klaren Stirne. Ihre Augen saugen sich an der Zeremonie fest, als wollten sie sie für alle Zeit auswendig lernen ...

Sie betrachtet den Mann von der Seite. Und sie weiß, daß

sich heute etwas erfüllt, wovon sie als Kind spielerisch träumte, wonach sie sich als junges Mädchen sehnte und was sie nunmehr, in, der reifen Zärtlichkeit der Frau, erleben darf. Mein Gott, wie reich sind wir, denkt Doris. Dann zuckt sie bei den Worten des Priesters zusammen:

» ... bis der Tod euch scheide ...«

Ihre Lippen werden schmal. Für einen Augenblick besetzt der Krieg selbst noch die Kirche.

Auch Klaus hörte es. Ohne Doris wäre vielleicht alles viel leichter, überlegt er. Wie soll ich jetzt noch starten, fliegen, kämpfen? Das große Kreuz am Altar verwandelt sich in das Balkenkreuz am Rumpf seiner Messerschmitt. Auf einmal stehen rundherum Kreuze, vorne, rechts, links, hinten. Aus Holz. Provisorisch gebastelt. Namen in Tintenschrift. Gebrochene Erkennungsmarke ... Führer befiehl, wir folgen dir

...

Und dann braust die Orgel, mächtig in ihrer Feierlichkeit, und feierlich in ihrer Macht, denn sie übertönt das Krepieren der Granaten, das Krachen der Bomben, die Schreie der Kinder in Polen, das Leid, die Nacht, den Nebel, die Verwirrung, den Tod ...

Dann sind Doris und Klaus zusammen. Allein.

170

»Drei Tage«, sagt die junge Frau.

»Eine Ewigkeit«, erwidert Klaus.

»Vorher ...«, antwortet Doris leise.

»Wo bleibt ihr denn?« ruft die Mutter.

Sie hat ihr Kränzchen von der Frauenschaft um sich versammelt und will das junge Paar herumzeigen. Wenn ich nicht aufpasse, überlegt Klaus, dann deutet sie mit dem Zeigefinger noch auf meine goldene Frontflugspange.

»Ich bin froh«, sagt Doris, »daß es mit uns soweit ist ...«

»Froh?«

»Nein, glücklich natürlich.«

»Hast du es denn anders erwartet?«

»Niemals ... und du?«

»Wie kannst du nur fragen?«

Doris tritt an das Fenster. Sie ist etwas voller geworden, es steht ihr gut, ihre Augen glänzen. Die Haut in ihrem Gesicht glüht.

Klaus geht auf sie zu, legt den Arm um ihre Schultern, zieht sie ganz fest an sich.

»Klaus ...«, setzt sie zögernd an, »wir werden bald nicht mehr allein ... du, ich ... wir ...«

»Wir?« fragt er, immer noch lachend.

»Ja«, wiederholt sie sanft, »wir werden bald nicht mehr allein sein ...«

Im ersten Moment begreift er es nicht. Dann um so schneller, um so drängender.

»Mein Gott, Doris ...«, sagt er.

Das Glück ist ohne Grenzen ...

Der Krieg hatte die Flitterwochen für Doris und Klaus auf zweiundsiebzig Stunden reduziert. Die Frist war allzu kurz. Sie 171

reichte nur zu einer Vorahnung des Glücks. Die beiden jungen Menschen spürten, daß jede Sekunde ein Stück von der Gegenwart abbröckelte. Sie begannen, immer wieder nach der Uhr zu sehen. Sie versuchten, den Schlaf zu betrügen. Ihre Gedanken wollten sich am Abschied vorbeidrücken. Aber Klaus und Doris dachten daran, stetig und hoffnungslos, ob sie die Zärtlichkeit einhüllte, ob sie sich in die Augen sahen oder nebeneinander hergingen, ob sie allein waren oder in Gesellschaft törichte Fragen beantworten und sich für gewohnheitsmüde Glückwünsche bedanken mußten. Noch Sechsundsechzig Stunden. Noch fünfzig. Noch vierzig. Die Zeit wurde zwischen Traum und Erfüllung, Sehnsucht und Angst zerrieben.

Einen Tag vor seiner Abfahrt traf Klaus seinen Vater allein im Arbeitszimmer. Der Direktor Hans Steinbach war alt und schmal geworden, lachte selten und sprach wenig.

»Glücklich?« fragte er.

»Ja«, erwiderte der junge Fliegeroffizier.

Hans Steinbach stand auf.

»Glück ist das Teuerste, was es im Krieg gibt, nicht wahr, mein Junge?«

Klaus nickte stumm.

»Vater ...«, begann er umständlich, »ich habe noch eine Bitte

...«

»Ja, mein Junge.«

»Du sollst dich ... wenn ich weg bin ... um Doris kümmern

...«

»Aber das ist doch selbstverständlich«, antwortete er lachend.

»Ja ... aber in den nächsten Monaten besonders ...«

Der Vater betrachtete ihn fragend. In seinem blassen, 172

beinahe leblosen Gesicht wirkten die Augen unnatürlich groß

und jung.

»Ja, Vater ... bitte ... ich kann es dir nicht sagen, nicht jetzt, ich schreib’ es dir ...«

»Gut«, nickte Direktor Steinbach. »Ich habe den Gästen für heute abend abgesagt. Du willst sicher mit Doris allein sein ...«

»Ja. Und noch was, Vater ... ich war heute auf der Universität, habe mich immatrikulieren lassen. Für Jura.«

Direktor Steinbach sah wortlos zum Fenster hinaus. Es wirkte, als ob er gar nicht zugehört hätte. Dann drehte er sich langsam um.

»Ich denke, du bist aktiver Offizier?« fragte er ruhig.

»Ich will es nicht bleiben.«

»Warum?«

»Das ist kein Beruf. Ich will nicht lebenslänglich ein Funktionär der Vernichtung sein ... töten und töten lassen ... ich sehe das heute ganz anders. Wenn der Krieg aus ist, dann will ich mit dieser Uniform nichts mehr zu tun haben.«

»Das ist endgültig?« unterbrach ihn Hans Steinbach.

»Ja. Ich will einen Beruf haben, der mich ausfüllt, befriedigt, in dem ich etwas bin, ich – und nicht meine Schulterstücke ... Vater ...«, fuhr er dann zaghaft fort, »hast du niemals ... ich meine, an der Bewegung ... gezweifelt?«

»Gezweifelt?« schnaubte der Vater verächtlich. Er ging auf seinen Sohn zu, legte die Hand auf seine Schulter. »Für mich ist Hitler schon lange tot, schon von Anfang an. Und jetzt wunderst du dich, mein Junge«, setzte er hinzu, »weil ich nie mit dir darüber gesprochen habe. Damit muß man selbst fertig werden! Zuerst warst du noch zu jung. Und später ... da wollte ich es dir nicht noch schwerer machen, an der Front ...«

Er kämpfte gegen seine Erregung und siegte mühselig. Sein Gesicht zuckte. Seine Augen waren feucht geworden. Klaus 173

wußte, daß er seinem Vater noch nie so nahegestanden hatte wie in diesem Moment.

Vater und Sohn gingen fast verlegen auseinander, als Doris in das Zimmer wirbelte. Sie bemerkte es und fragte:

»Komm’ ich ungelegen?«

»Nie«, erwiderte Klaus.

»Wie kannst du so etwas fragen?« setzte Hans Steinbach hinzu. Dann sagte er: »Du wirst sicher bald vom RAD entlassen. Hättest du Lust, in meiner Firma zu arbeiten?«

»Ja ... aber ...«

»Kein Aber! Mein Vorschlag ist sehr egoistisch«, fuhr der Direktor fort, »ich will dich soviel um mich haben wie überhaupt möglich.«

Er legte die rechte Hand um ihre Schulter, mit der linken umfaßte er Klaus. So schob er sie sanft aus seinem Arbeitszimmer. Er mußte allein sein, um die plötzliche, heiße Dankbarkeit darüber zu ertragen, daß sein Sohn zu sich gefunden hatte ...

Noch zweiundzwanzig Stunden. Die Uhr lief weiter. Mechanisch und brutal. Der Zeiger drehte sich. In Deutschland. Im Westen. Im Osten, wo der Vormarsch nach Moskau in der Schneewüste liegenblieb. Wo die Panzer gesprengt wurden und die geschlagenen und wieder gesammelten Russen im breiten Gegenstrom heranfluteten. Wo Armeen erfroren und verbluteten. In einem gespenstischen Furioso. Mit Mann und Roß und Wagen.

Und Klaus mußte nach dem Osten, wo Hunderttausende deutscher Soldaten für ihre erfrorenen Hände und Beine die Ostmedaille am laufenden Band erhielten, die die Landser den

›Gefrierfleischorden‹ nannten.

Klaus und Doris standen am Bahnhof. Er trug sein graues Alltagsgesicht. Aus den kalten Höhlen seiner schmucklosen 174

Fenster sah das Gebäude auf Tränen des Glücks und Szenen des Leids. Keiner, der fuhr, wußte, ob er wiederkam.

»In der Heimat ... in der Heimat ... da gibt’s ein Wiedersehen

...«

Nie wurde eine erbärmlichere Lüge von Millionen gesungen. Klaus schluckte.

»Doris ...«, sagte er rauh, »du hättest nicht mitkommen sollen.«

»Dann hätten wir uns um eine halbe Stunde gebracht ...«

»Aber diese halbe Stunde ist schrecklich.«

»Es ist niemals schrecklich, wenn wir zusammen sind«, erwiderte die junge Frau tapfer.

Nur nicht weinen, redete sie sich ein. Hinterher, wenn der Zug abgefahren ist, dann ja ... aber nicht jetzt! Es ihm nicht schwerer machen, als es schon sein muß.

»Es ist ganz gut, daß ich nach dem Osten komme ...«, versuchte der Fliegeroberleutnant zu trösten. »In der Luft sind wir dort ja noch überlegen.«

»Sicher ...«

»Ganz bestimmt ... das sage ich jetzt nicht bloß so ... wir haben doch viel bessere Maschinen ...«

»Ja, Klaus ...«

»In einem halben Jahr bin ich schon wieder mit Urlaub an der Reihe ... und dann haben wir vier Wochen, Mädchen, stell dir vor, vier ganze Wochen!«

Der Lautsprecher zerhackte den Traum. Der

Fronturlauberzug lief ein. Die Frauen am Bahnsteig stellten sich auf die Zehenspitzen, andere wagten den aussteigenden Soldaten nicht entgegenzusehen, aus Angst, die erwarteten Söhne und Männer könnten nicht unter ihnen sein. Das Schicksal ließ sich vier Minuten Zeit zum Umsteigen. 175

»Komm wieder«, sagte Doris.

»Bestimmt ...«

Er schob sich nach innen.

»Geh jetzt ...«

»Nein, ich warte noch«, entgegnete Doris fest. Er fand das Abteil, ergatterte ein Fenster, teilte es mit drei anderen Soldaten. Und in diesen letzten Sekunden sprachen Augen, Hände und Lippen vierstimmig. Das gleiche. Mit derselben Inbrunst. Mit der einstimmigen Verzweiflung. Mit der uniformierten Angst.

Dann ratterten die Achsen:

»Komm wieder ... komm wieder ... komm wieder ...«

Aber sie holperten ihre Forderung nicht für alle, die im Zuge waren ...

Wenn SS-Sturmbannführer Westroff-Meyer während seines Raubzugs durch Polen nachts aus dem Schlaf hochschreckt, tastet seine Hand automatisch nach der Flasche. Dann stehen die Maschinengewehre still, verstummen die Schreie der Mütter und das Weinen der Kinder. Dann zwingt sich der unmenschliche Menschenfänger, an die dunkelhaarige Ruth zu denken, seine rassige, wenn auch nicht rassische Sekretärin in Berlin.

Westroff-Meyer hat sein Soll erfüllt und ist schon auf der Rückreise. Er hat mehr als 200 Kinder geraubt, die zur

›Verschubung‹ bereitstehen. Nach Deutschland, wo ihn Lob und Beförderung erwarten. Er war nicht der einzige, der das besetzte Polen nach Kindern ›wertvoller Erbmasse‹

durchkämmte, aber der erfolgreichste. Er gewöhnte sich an Grauen und Fusel.

Auf der Rückreise besucht er zum Abschluß, als letzte Station, ein Vernichtungslager. Auch hier gibt es Kinder, wenn auch die meisten von ihnen für den Lebensborn nicht in Frage 176

kommen. Der Lagerkommandant dieser riesigen

Vernichtungsanstalt für Menschen empfängt ihn gleichmütig.

»Spülen Sie sich erst den Reisestaub hinunter«, sagt er und deutet auf den Alkohol.

»Komischer Geruch hier in der Gegend ...«, entgegnet der Sturmbannführer.

»Alles halb so schlimm«, knurrt der Kommandant verdrossen.

Westroff-Meyer hat hektische Flecken im Gesicht. Die Begegnung mit der brutalsten Form der Idee, die er am Schreibtisch vertritt, ist ungeheuerlich. Wieder fürchtet er das Grauen, dabei graut es ihm ohne Furcht ...

»Was ich für Sie tun kann, soll geschehen«, erklärt der leitende Mörder, »viel wird nicht für Sie dasein ...«

»Muß ich ... mit hineingehen?«

»Nur keine Bange ... ist nichts dabei, die Leute wissen nicht, daß sie vergast werden ...«

Es ist nichts dabei ... Der Sturmbannführer frühstückt am anderen Morgen reichlich. Unterlage für alle Fälle. Der Bummel durch das Lager endet beim Krematorium. Zum erstenmal sieht Westroff-Meyer ein KZ von innen. Angewidert betrachtet er die ausgemergelten Gestalten in den gestreiften Anzügen. Die kahlrasierten Köpfe. Die tiefliegenden Augen. Er denkt nicht daran, wie sein Kopf ohne Haare, sein Körper ohne Essen, und seine Augen ohne Leben aussehen würden. Langsam weicht der Druck. Der Sturmbannführer blickt sich um, sieht die Gaskammern von außen.

Gleise führen dicht an die Kammern heran. Eine Rangierlokomotive zischt. Güterwagen poltern gegeneinander. Posten mit Gewehren reißen die kreischenden Türen auf. Menschen quellen heraus. Graue Gesichter. Frauen und Männer. Kaum noch zu unterscheiden. Der Zug kommt aus 177

Litzmannstadt. Der Lautsprecher empfängt ihn:

»Sie haben alle Kleider zur Entlausung abzulegen.«

Entlausung ... das ist es. Westroff-Meyer lacht in sich hinein. So erleichtern die sich die Arbeit!

»Na, sehen Sie sich um«, sagt der Lagerkommandant neben ihm.

Westroff-Meyer sieht die Frauen, die sich vor ihren Mördern auch noch ausziehen müssen. Sein Blick gleitet weiter. Dann sucht er die Kinder, sortiert mit den Augen. Mädchen mit schwarzen Locken. Jungen mit breiten Nasen. Kinder mit großen Augen wie schwarze Kirschen. Sie klammern sich an die Mütter. Oder halten still und fest die Hände der Väter. Das alles kann der Sturmbannführer nicht gebrauchen. Er rümpft die Nase. Am vorletzten Wagen entdeckt er einen blonden Schopf. Die Mutter ist dunkel. Westroff-Meyer steigt über Kleiderbündel. Der kleine Junge ist höchstens vier Jahre alt. Erbanlage ... rezessiv ... dominant, überlegt der Sturmbannführer. Seine Gedanken schaukeln um ein Leben. Der Junge hat blaue Augen, die die Angst jetzt dunkel färbt. Er legt den Kopf an die Hüfte der Mutter. Westroff-Meyer grinst breit, will Vertrauen erwecken.

»Popolski?« fragt er.

Die Frau nickt.

Die Hand des SS-Offiziers umspannt den Schädel des Kindes. Es ist eine väterliche Geste. Aber sie erfüllt nur den Index. Großartig, diese Kopfform, denkt Westroff-Meyer ... Er nimmt das Kind bei der Hand. Mit der anderen klammert es sich bei der Mutter fest. Die Mutter sieht ihn nur an, sagt kein Wort. Ihre Lippen zittern. Westroff-Meyer tritt einen Schritt zurück.

»Nu, nu?« brummt er.

Ein Wachmann sieht es. Das Bajonett schimmert auf seinem 178

Karabiner ... Der Mann hat Geistesgegenwart. Er lacht dabei.

»Die Kinder werden extra entlaust«, schreit er auf polnisch die Mutter an.

Der Sturmbannführer nickt dankbar. Die Frau schluckt.

»Los, los, Matka ... oder ich geb’ dir eins auf die Finger!«

brüllt sie der Posten an.

»Dem Jungen passiert nichts«, salbadert Westroff-Meyer,

»bestimmt nicht.«

Über das Gesicht der Mutter laufen Tränen. Mit einer wilden Bewegung reißt sie ihr Kind noch einmal an sich. Noch einmal. Dabei flüstert sie heiß in sein Ohr. Es ist der Abschied für immer.

»Nur entlaust«, beteuert der Sturmbannführer wieder. Dann hat er den Jungen an der Hand. Das Kind sieht ihn nicht an und dreht sich nicht um. Es steigt mit kleinen festen Schritten über die Gleise und über die armseligen Kleiderbündel der anderen. In seinem blonden Haar spielt der Wind.

Aus dem Lautsprecher plärrt Musik. Westroff-Meyer pfeift mit. Der erste Schub betritt die Gaskammer. Es dauert nicht lange. Aber dem Posten geht es nicht schnell genug. Der zweite Schub. Diesmal ist die Mutter des kleinen Kindes dabei. Der Junge bleibt stehen, als ob er plötzlich erfassen würde, was man ihr antut.

»Mama«, wimmert er.

»Mama gleich kommen«, antwortet der Sturmbannführer lächelnd.

In diesem Moment zischt das Gas aus den Ventilen. Die Mutter stirbt. Zwei oder fünf Minuten lang. Mit einem Gebet für ihr Kind auf den Lippen. Zu einem Fluch für ihre Mörder bleibt ihr keine Zeit.

»Groß ist die Ausbeute nicht«, sagt Westroff-Meyer zu dem Lagerkommandanten.

179

»Denken Sie, wir sind hier ein Kindergarten? Ich bin kein Freund davon, hier den Vorgang zu komplizieren ...«

»War ja nur ein Versuch«, entgegnet der Sturmbannführer versöhnlich. Dabei reibt er sich die Hände mit den zu kurz geratenen Fingern. Ich bin doch ein Mensch, lobt er sich zynisch selbst, ich hab’ dem sicheren Tod noch ein Kind abgekauft.

Und ein blondes dazu noch.

180

12. KAPITEL

Dann ist Doris wieder beim RAD. Ihr Entlassungsgesuch vermodert in einer Schublade. Die junge Frau kommt in ein Lager, das abseits liegt und in dem die Insassen weniger mit Schrubber und Spitzhacke als mit leichten Büroarbeiten beschäftigt werden. Die Verpflegung ist gut, die medizinische Betreuung läßt nichts zu wünschen übrig. Das Lager wird von einer ältlichen Führerin geleitet, die Doris zum Rapport befohlen hat.

»Ich habe Sie rufen lassen«, beginnt sie, »weil ... weil ...«

Sie nestelt fahrig an ihrer germanischen Haartracht. Seltsam, denkt Doris, daß sich viele dieser ›WaIküren‹ irgendwie ähneln: spitznasiges Gesicht, eckige Figur, uncharmante Stimme, fahle Gesichtshaut, die mehr und mehr die Farbe des Uniformrocks annimmt.

Doris weiß, warum man sie rief. Ihr Blick bleibt offen. Auf dem Schreibtisch der Vorgesetzten liegt ein ärztlicher Bericht. Die Untersuchung fand vor zwei Tagen statt. Doris kennt das Ergebnis längst und ist so glücklich darüber, daß ihr nicht einmal mehr das schiefmäulige Lächeln der Führerin etwas anhaben kann.

»Na, schön«, sagt die Führerin, »da läßt sich nun nichts daran ändern.«

»Wie bitte?« fragt Doris ruhig.

»Ich habe Ihnen zu eröffnen«, antwortet die Lagerleiterin,

»daß Sie ein Kind bekommen.«

»Ich weiß.«

»Sie wissen?«

»Ja«, erwidert sie behutsam, »ich bin doch nicht aus Stein.«

Die Lagerführerin läuft rot an.

181

»Ich habe Sie nicht danach gefragt«, entgegnet sie spitz. Ihr Gesicht wirkt verkniffen. »Vorläufig bleiben Sie bei uns«, fährt sie fort.

Doris hört schweigend zu. Mit geschlossenen Lippen. Mit glänzenden Augen.

»In der heutigen Zeit kann man nicht feiern, bloß weil man ein Kind erwartet«, schnarrt die Lagerleiterin. »Sie sind Führernachwuchs. Sie bleiben. Wenn es so weit ist, kommen Sie in ein Heim.«

»In welches Heim?« fragt Doris.

Die Führerin glättet nervös das Papier des

Untersuchungsberichts. Ihre Hand bleibt auf dem Vermerk liegen, der besagt, daß ein Durchschlag an die Zentrale des Lebensborns geschickt wurde.

Doris lächelt in sich hinein. Es ist ihr gleichgültig. Ihr Leben hat einen neuen Sinn. Seit ihr Leben diesen Sinn bekam, sind tausend Wichtigkeiten des Alltags zu einer einzigen Nebensächlichkeit geworden. Sie lächelt fester.

»Worüber lachen Sie?« fragt die RAD-Führerin scharf.

»Ich bedanke mich für die Sorge, die Sie sich um mich machen.« Sie spricht ohne Ironie.

Die Lagerleiterin betrachtet sie wütend. In ihren Augen funkelt etwas, Neid vielleicht oder Verachtung.

»Gut ...«, sagt sie heftig, »erledigt.«

Doris geht mit schmalen, tastenden Schritten. Von jetzt ab mißt sie die Zeit nach Herzschlägen und Feldpostbriefen. Und ihre ganze Erscheinung spiegelt das Wunder des Lebens wieder: ihr Gesicht wird fraulicher, aber nicht älter; ihre Augen leuchten in innerem Glanz, aber sie bleiben wach. In den folgenden Monaten verwandelt sich eine junge Frau in eine zärtliche Mutter.

Dann wird Doris in Marsch gesetzt ...

182

Das Heim liegt in Pommern. In der Nähe der Ostseeküste. Am Rande einer Kleinstadt. Der Park steht voll alter Bäume. Den weißgetünchten, niedrigen Bau sieht man nur undeutlich hinter den Stämmen. Die Auffahrt ist mit einem eisernen Gitter verschlossen. An der Mauer klebt ein bronzenes Schild:

›Entbindungsheim‹. Das ist alles.

Doris kommt am Abend an. Der Glutball der Sonne taucht in den Park und entflammt das eiserne Gitter zu einem goldenen Tor. Die junge Frau atmet tief. Schön ist es hier, denkt sie. Sie ist allein, muß ihr Gepäck selbst tragen, trotz ihres Zustandes. Oder vielleicht gerade deswegen. Die Bewegung beruft sich auf Nietzsche, als ob er SA-Obersturmführer gewesen sei.

»Gelobt sei, was hart macht«, faselt man dem Philosophen nach, der im übrigen an Gehirnerweichung gestorben ist. Doris drückt auf die Klingel, wartet ein paar Sekunden. Dann wallt ihr eine Gestalt wie ein Schloßgespenst entgegen: eine braune Schwester. Die junge Frau nennt ihren Namen. Die Schwester sucht ihn mit Vogelaugen auf einer Liste.

»In Ordnung«, antwortet sie kalt.

Sie öffnet das Tor nur halb. Sie nimmt der jungen Frau den Koffer nicht ab.

»Der Heimleiter wird morgen mit Ihnen sprechen«, sagt sie am Gang, »heute ist es zu spät. Dr. Jessrich ist nicht mehr im Hause.«

Bei dem Wort Heimleiter zuckt Doris zusammen. Sie denkt an Westroff-Meyer.

Im ersten Stock macht die Schwester vor einer Tür halt.

»Hier liegen Sie nur vorläufig«, kommentiert sie. Dann setzt sie hinzu: »Es ist übrigens erwünscht, daß Sie alle Privatgespräche vermeiden ... die Hausordnung werden Sie morgen von Dr. Jessrich erfahren ...«

Dann steht Doris im Zimmer. Nach dem ersten Blick glaubt 183

sie, schon einmal hiergewesen zu sein. Beinahe die gleiche Einrichtung wie im ersten Lebensborn-Heim. Reinliche, kalte Zweckmäßigkeit. Zwei Betten. Auf dem linken sitzt eine Frau im Morgenmantel. Sie legt das Buch beiseite, in dem sie gerade las.

Die Frau im Zimmer steht auf. Schwerfällig. Sie ist aschblond und groß. Um ihre blauen Augen liegen dunkle Ringe. Ihr Lächeln ist schwer zu deuten: ein bißchen Mitgefühl, etwas Spott.

»Ich bin Frau Grete«, sagt sie. Ihr Händedruck ist fest. Doris lächelt verlegen.

»Ich heiße Steinbach«, erwidert sie dann.

Die große Frau legt den Finger an den Mund. Gleichzeitig setzt sich die Ironie in ihrem Gesicht fest.

»Lieber nicht«, sagt sie dann rasch, »wie ist Ihr Vorname?«

»Doris.«

»Also Frau Doris«, lächelt die andere, »Nachnamen gibt es in diesem Hause nicht.«

»Warum?«

Frau Grete schüttelt den Kopf.

»Sie ahnungsloser Engel«, meint sie, »na ja, morgen wird man Ihnen Bescheid sagen ... wissen Sie ... es ist etwas seltsam hier, aber der Mensch gewöhnt sich an alles.«

Doris packt ihren Koffer aus. Obenauf liegt ein Bild von Klaus. Die junge Frau hält es in der Hand. Ihr Blick wird hell und strahlend.

»Das legen Sie mal lieber wieder schön weg«, sagt Frau Grete, »sonst nimmt man es Ihnen ab.«

»Wieso?« fragt Doris.

In diesem Moment sieht sie den Spruch über der Tür. Ihre Augen werden starr. Sie buchstabiert mit halbgeöffneten 184

Lippen:

»Vom Kindesvater zu sprechen ist taktlos.«

Die andere lächelt.

»Tolles Haus, nicht?«

»Ich verstehe überhaupt nichts mehr«, erwidert Doris mit schmalen Lippen. »Was soll das bedeuten?«

Frau Grete betrachtet Doris aufmerksam.

»Sind Sie verheiratet?« fragt sie plötzlich. Hastig setzt sie hinzu: »Sie brauchen es mir nicht zu sagen ... Sie dürfen es eigentlich gar nicht, aber ...«

Doris unterbricht sie:

»Natürlich ... ja, ich bin verheiratet.«

»So natürlich ist das gar nicht«, versetzt Frau Grete,

»jedenfalls nicht hier ... sehen Sie, und deshalb steht der Spruch an der Wand.«

Jetzt endlich begreift Doris. Endstation Lebensborn, denkt sie. Aber dann kehren ihre Gedanken um. Es ist so gleichgültig, was sonst noch geschieht. So gleichgültig! Der Spruch hat nichts zu bedeuten. Nicht für sie. Nicht für das Kleine. Sie braucht Klaus Steinbach nicht vor der Welt zu verbergen, und vor ihrem Kind nicht den Vater zu verleugnen. Die Parole an der Wand geht sie nichts an. Sie übersieht sie wie eine obszöne Kritzelei in einer, schmuddeligen Vorstadtkneipe.

Daß Frau Grete bei der Beschreibung der

Eigentümlichkeiten dieses Heimes nicht übertrieben hat, stellt Doris am anderen Morgen fest. Das Frühstück wird gemeinsam eingenommen. Bei dieser Gelegenheit stellt man Doris vor. Die Oberschwester mit dem goldenen Parteiabzeichen auf der Tracht und einem Gesicht, das wirkt wie zerknittertes Fahnentuch, besorgt das nach der, Vorschrift.

»Frau Doris«, sagt sie laut, »Frau Edith ..., Frau Frieda ..., 185

Frau Hildegunde ..., Frau Bertha ...«

Doris gibt lauter Vornamen die Hand. Die anderen Frauen und Mädchen sehen sie forschend oder herausfordernd, gleichgültig oder spöttisch an. Manche machen ein Gesicht, als trügen sie eine Last, die sie nicht schnell genug loswerden können.

»Frau Doris«, sagt die Oberschwester nach dem Frühstück,

»Sie melden sich bitte beim Heimleiter.«

Sie muß im Vorzimmer warten. Eine Assistentin schiebt ihr einen Stuhl hin. Die Tür zum Ordinationsraum ist nur angelehnt. So hört Doris jedes Wort des Gesprächs mit, obwohl sie es gar nicht will. Dann beugt sie entsetzt den Kopf nach vorne.

»Alles in Ordnung, Frau Ursula«, sagt der Arzt, »wir können Sie entlassen.«

»Na, Gott sei Dank! Sagen Sie, bringe ich das Übergewicht wieder weg?«

»Anzunehmen.«

»Die Geschichte hat meiner Figur genug geschadet ...«

»Also dann ...«, erwidert der Arzt, schroffer im Ton, »alles Gute!«

Zuerst klappern hohe Absätze auf dem Holzboden. Dann kommt eine vielleicht 20jährige Blondine in das Vorzimmer, die es eilig hat.

Die Assistentin steht auf.

»Wollen Sie«, sagt sie leise, fast verlegen, »Ihr Kind nicht noch mal sehen?«

»Wozu?«

»Es ist nebenan«, erwidert die Assistentin wie bittend.

»Ist nicht mein Kind«, entgegnet die Blondine beim Abgang,

»ist ja eures ... ihr habt es gewollt ... auf Wiedersehen, 186

Fräulein!«

Doris taumelt benommen hoch. Dr. Jessrich nimmt sie bei der Hand, führt sie in den Behandlungsraum. Unter dem weißen Kittel trägt er Juchtenstiefel, über dem Kragen Schmisse. Trotzdem ist er ein Herr. Seine Untersuchung ist knapp und sachlich.

Er nickt Doris aufmunternd zu. »Vielleicht in einer Woche.«

Seine grauen Augen nehmen sie in die Zange.

»Frau Doris, ich bin hier nicht nur der Chefarzt, sondern auch der Heimleiter.«

»Ich weiß«, antwortet die junge Frau zerstreut.

»Alle unsere Vorschriften«, fährt der Heimleiter fort,

»dienen dem Schutz der Mütter.«

»Vielen Dank«, versetzt Doris, noch immer abwesend. Dr. Jessrich zieht eine Augenbraue hoch.

»Alle Kinder, die hier zur Welt kommen, gehören dem Staat

... oder fast alle ...«

»Ich bin verheiratet«, sagt die junge Frau einfach.

»Bis zu Ihrer Entlassung bleibt das Kind in unserer Säuglingsstube ... dann nehmen Sie es mit«, entgegnet der Arzt gereizt. »Was ich sagen wollte ... darum wünschen wir nicht

...«

»Ich weiß schon«, antwortet Doris, »ich halte mich an die Bestimmungen, ganz bestimmt, Herr Doktor.«

Vielleicht ein Sonntagskind, denkt sie dabei, ich muß es Klaus sofort schreiben ...

Dann ist sie wieder in ihrem Zimmer. Frau Grete empfängt sie lächelnd.

»Ja«, sagt sie, »medizinisch sind die auf Draht ... ich weiß

es, ich bin schon zum dritten Male hier ... und Sie?«

»Zum ersten Male«, antwortet Doris.

187

»Freuen Sie sich?« Die Stimme der Stubengenossin klingt, als ob ein Stein auf einer Glasplatte kratzt.

»Freuen?« Doris lächelt. Erster Unmut verwandelt sich in Zärtlichkeit. »Freuen?« wiederholt sie leise, »das ist doch viel zu wenig.«

»Na, na ...«, rasselt Frau Grete, »hier gibt es welche, die ganz anders denken ... werden Mütter ... und sind schon wieder weg, man weiß nicht wohin ...«

»Und das Kind?« fragt Doris mit dumpfem Entsetzen.

»Na, hören Sie ... die werden von irgend jemand adoptiert oder kommen in ein Heim ...« Ihre Hand weist auf den Spruch an der Wand.

Doris legt sich auf ihr Bett. Sie lauscht. Sie lauscht fassungslos, fängt zu zittern an.

Dann laufen ihr einfach Tränen über das Gesicht. Tränen der Freude und auch Tränen der Angst.

Frau Grete kommt auf sie zu, streicht ihr mit der Hand über das Haar.

»Wird schon, Kindchen«, sagt sie, derb wie behutsam. Unvermittelt geht sie an ihren Koffer, kramt, kommt mit einem Foto zurück, setzt sich neben Doris auf das Bett.

»Ja«, sagt sie, »ich habe auch meinen Mann bei mir ... er ist Offizier bei der SS ... wenn der wüßte, was hier gespielt wird, na, der würde ein Theater machen.«

Sie reicht Doris das Bild.

Mehr aus Höflichkeit betrachtet es die junge Frau. Dann zittert ihre Hand plötzlich heftig. Sie hat den Mann erkannt. Auf dem Foto ist Hauptsturmführer Horst Kempe, der Mann mit dem ein Meter achtundachtzig großen Selbstbewußtsein, abgebildet.

Langsam legt Doris die Fotografie beiseite. Ihre Hand ist 188

schwach.

»Gefällt er Ihnen?« fragt Grete Kempe.

»Ja«, erwidert Doris.

»Er ist so unvorsichtig ... da draußen an der Front. Ist Ihr Mann auch Soldat?«

»Ja ... Fliegeroffizier.«

»Ich glaube, die zwei würden sich gut verstehen ...«

»Kann schon sein«, entgegnet Doris zerstreut. Sie legt sich auf ihr Bett. Sie kann nicht schlafen. Durch das Haus geistert die Ungeheuerlichkeit. Irgendwo krähen die Kinder in ihren kleinen Wiegen, ausgerichtet wie zum Appell. Nur eine Minderheit entspricht der errechneten Norm. Viele haben dunkle Augen oder runde Köpfe. Denn die Natur pfeift auf Westroff-Meyer. Sie spuckt Rosenberg ins Gesicht. Und ihre Gesetze erheben sich turmhoch über das Gewäsch des Rasse-Günther.

Diese Kinder recken die schmalen Hände. Sie weinen sich in ein Leben, das der Führer befahl. Kinder, deren Väter nur Funktionäre sind. Kinder, denen man nicht sagen wird, wer der Gekreuzigte ist. Kinder, die später die Hände zur Faust ballen statt zum Gebet schließen sollen.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück wird die Post verteilt. Die Oberschwester besorgt das, ruft die Empfänger auf. Nur die Vornamen. Doris will einen Brief weiterreichen, um ihr behilflich zu sein. »Nein«, entgegnet die Oberin kalt, während sie die Hand von Doris zurückweist, »das ist nicht zulässig.«

Allmählich begreift die junge Frau. Jetzt erst fällt ihr auf, daß die braune Schwester die Briefe umgedreht übergibt. Ihr Name wird aufgerufen. Wieder wendet die

Oberschwester den Umschlag.

»Danke«, sagt Doris heftig, »das ist bei mir nicht nötig. Ich 189

heiße Steinbach und mein Mann auch. Das kann jeder wissen!«

Ihre Augen glänzen. Die anderen Frauen starren sie betroffen an.

»Ich habe das nicht gehört«, antwortet die Oberin heftig, und scharfe Linien laufen von der Nasenwurzel zu den dünnen Lippen. Ihr Geiergesicht rötet sich.

Doris sieht an ihr vorbei und betrachtet Frau Kempe, die warnend den Kopf schüttelt.

»Liegestunde, meine Damen!« unterbricht die Postverteilerin die Szene, »ich bitte!«

Die Glastüren zum Park werden zurückgeschlagen. Auf dem kurzgeschorenen Rasen stehen bunte Liegen. Die Sonne malt helle Flecke in die Bespannung.

Doris geht allein hinaus. Die anderen folgen ihr in zwei Gruppen, die erregt untereinander diskutieren. Ein Liegestuhl ist noch frei, auf der linken Seite des Parkweges. Doris fühlt sich befreit. Ihr Stolz und ihr Trotz gehören nicht mehr ihr allein. Was sie sagte, sprach sie für einen, der noch nicht auf der Welt ist, aber den sie jetzt schon schützen will. Aus der einen Gruppe löst sich ein Mädchen mit einem harten, glatten Gesicht und geht auf Doris zu.

»Ich bin Frau Edith«, sagt sie. Es klingt, als ob sie den Ton der Oberin nachahmen wollte.

»Möchten Sie sich zu mir setzen?« entgegnet Doris freundlich.

»Nein. Es wäre besser, Sie würden sich woanders hinsetzen.«

»Wieso?« fragt Doris ruhig.

Das Mädchen wölbt verächtlich die Unterlippe.

»Sie wollten uns provozieren, nicht wahr?«

»Nein«, antwortet die junge Frau gelassen.

190

»Sie sind wohl sehr stolz auf Ihren Ehemann?« fährt Edith fort. Sie betont das letzte Wort, als ob sie den Begriff mit dem Fuß treten wollte. »Aber, Sie müssen verstehen: Wir haben keinen.« Sie deutet mit dem Kopf auf die anderen Frauen. »Wir haben uns dem Reich zur Verfügung gestellt ... und wir lassen uns deswegen nicht beleidigen ...«

Doris wendet langsam den Kopf. Die anderen Insassen des Heims haben ihre Stühle in zwei Gruppen aufgestellt. Sie begreift: Die beiden Lager trennt nicht nur ein Parkweg, sondern ein Abgrund.

»Verstehen Sie das?« fragt Edith hart.

»Ja«, antwortet Doris leise. Sie möchte etwas Versöhnliches hinzusetzen, nestelt verlegen an den Worten.

»Ich war übrigens auch in einem solchen Heim ...«

Doris sieht an ihr vorbei. Nur war es bei mir ganz anders, möchte sie sich sofort korrigieren, ganz, ganz anders. Ihr Blick saugt sich an einer Tafel fest: fotografieren streng verboten.

»Dann kennen Sie ja unser Opfer«, erwidert Edith spitz.

»Gott, seid ihr alle dumm ...«, sagt Doris leise. Zuerst sieht es so aus, als ob Edith auf sie einschlagen wollte. Dann knickt sie in den Knien ab, läßt sich ins Gras fallen, legt den Kopf auf die Arme und befreit sich im hemmungslosen Weinkrampf.

Denn sie beginnt, das wirkliche Opfer zu begreifen ... Und dann kam Sturmbannführer Westroff-Meyer mit blutigen, wenn auch nicht leeren Händen nach Berlin zurück. Er vertauschte mehr als 200 geraubte Kinder mit einem Lob aus höchstem Munde. Unterwegs ließ er seinen Wagen vor einem Uniformgeschäft stoppen, um die neuen Schulterstücke zu erstehen. Er hat nicht umsonst geraubt. Das Leid der Mütter, die Schreie der Kinder, die Schüsse im Dorf und die Schornsteine der Krematorien verliehen ihm den neuen Stern. 191

Er war jetzt Obersturmbannführer. Und er trug den hohen Rang wie ein Mannequin das neue Modell. Er hob die Schultern, wichtig im Stolz auf das nichtige Blech.

Er ging über den Gang seiner Behörde, trat polternd in sein Büro und zog Ruth, die Sekretärin, aus dem Vorzimmer an seinen Schreibtisch.

»Freust du dich, daß ich wieder da bin?«

»Ja«, entgegnete Ruth ohne Freude.

»Ich auch«, erwiderte er. »Das war ein Einsatz, kann ich dir sagen ... in so einem Drecksland sieht man erst, wie groß

unsere Idee ist ...«

»Ja«, versetzte sie. »Eigentlich hab’ ich dich schon heute morgen erwartet.« Er streichelte mit plumper Hand ihr Kinn.

»Das weißt du doch«, antwortete er gönnerhaft, »meine Tage gehören dem Führer.«

»Ich hab’ dir was mitgebracht«, produzierte er sich weiter und beschäftigte sich mit seinem Gepäck.

»Hier«, sagte er und deutete auf einen Nutriapelz, »für dich.«

»Für mich?« erwiderte Ruth.

»Ja.« Er legte ihn ihr um die Schultern.

»Schön«, sagte sie.

»Aus Warschau.«

»Teuer?«

Westroff-Meyer hob die Schultern.

»Nicht schlimm«, antwortete er dann beiläufig. Er dachte nicht darüber nach, ob der Mantel eine Gewehrkugel oder ein paar Kubikzentimeter Gas gekostet hatte ...

»Das ist noch lange nicht alles«, fuhr er fort. Er kramte nach einem Etui und fand den Solitär. Er schob ihn Ruth über den Finger. Er war zu weit, denn er gehörte an eine andere Hand.

192

»Toll«, sagte Ruth. Sie bewunderte den Ring. Nach einer Weile meinte sie: »Gibt’s denn in Polen so schöne Brillanten?«

»Wenn man auf Draht ist, kann man alles haben ...«

Was für ein Glück, schoß es dem Obersturmbannführer durch den Kopf, bei einer solchen Bewegung Vorkämpfer zu sein! Nichts ging verloren! Die Feinde wurden vernichtet. Die Goldzähne wanderten in die Tresore der Deutschen Bank. Ihre Leichen wurden verbrannt. Und ihre Habe verteilt. An Männer, die dem Führer bedingungslos die Treue hielten. Er entnahm dem Koffer eine Flasche Schnaps, schenkte sich ein.

»Nimm ’nen Schluck«, sagte er. »Na, wie bin ich zu dir? Wie ein Vater, was?«

»Vater ist natürlich Quatsch!« verbesserte er sich. Ruth trat an den Spiegel, betrachtete sich im neuen Mantel von der Seite. An den Schultern sitzt er nicht richtig, dachte sie, und die Länge muß man etwas kürzen. Und hier, am linken Ärmel, ist eine abgescheuerte Stelle ...

»Neu ist er nicht mehr ...«, brummelte Westroff-Meyer,

»aber noch gut erhalten.«

»Ja«, versetzte die Sekretärin.

»Aber der Brillant ist lupenrein! Ein Vermögen wert! Kannst du mir glauben!«

»Du verwöhnst mich«, sagte sie mechanisch. Sie dachte an den kommenden Abend und spürte das Kantinenessen. Einen Moment wurde ihr schwindlig. Sauerkraut und Kartoffeln, dachte sie, garniert mit Nutria, und obenauf schwimmen eineinhalb Karat ...

Westroff-Meyer wurde dienstlich.

»Gib mir doch einmal die Akten der Aktion römisch zwo, arabisch eins, Heim Z.«

Dann umspannte er den Akt mit der prallen Hand. Mein 193

Werk, dachte er im trunkenen Stolz. Er schlug den Ordner auf. Oben lag die Kostenrechnung, und dann kamen die Namen, die Schicksale, der medizinische Befund, das Ergebnis. An einem Namen blieb er hängen: Doris Steinbach ... Also hat sie ihn doch geheiratet, überlegte der Obersturmbannführer. Und jetzt ist sie im Heim Mecklenburg. Und jetzt soll sie mich kennenlernen! Und er ebenfalls ...

Er blätterte weiter, stieß auf Erika. Kein Befund. Daneben lag eine Anfrage, ob der Lebensborn etwas gegen ihre Entlassung aus dem RAD einzuwenden hätte. Von mir aus, dachte er gutgelaunt. Dann ärgerte ihn sofort sein eigenes Wohlwollen.

Er klingelte nach Ruth.

»Hör zu«, sagte er, »diese Erika Baumann ist hierher in Marsch zu setzen ...«

»Warum?« fragte die Sekretärin.

»Weiß ich selbst noch nicht«, knurrte er.

»Jetzt bist du aber nicht mehr lieb ...«, schmollte sie. Er sah auf den Nutria, hörte die Schüsse der

Vernichtungskommandos, griff nach dem Glas und ertränkte den Spuk.

Wie sehr sie in diesem Heim am Schnittpunkt menschlicher Schicksale steht, erkennt Doris erst in den nächsten Tagen richtig. Die Gänge blitzen vor aufdringlicher Sauberkeit. Die Luft ist steril, die Ruhe Befehl. Trotzdem brodelt es beständig unter der Oberfläche. Zu verschieden sind die Mädchen und Frauen, die der Lebensborn in seinen staatlich finanzierten Eintopf warf.

Obwohl es im Heim verpönt ist, sich über persönliche Dinge zu unterhalten, gibt es kaum einen anderen, wenn auch nur geflüsterten Gesprächsstoff.

Am besten steht Doris mit Frau Ingeborg, die keine Ahnung 194

hat, was der Lebensborn überhaupt ist. Sie stammt aus der benachbarten Kreisstadt und wurde hierher eingeliefert, weil die anderen Frauenkliniken überbelegt waren. Sie wundert sich, aber sie versteht die Zusammenhänge nicht. Sie betrachtet das seltsame Zeremoniell als einen obskuren Kult, in den sie als Außenseiterin nicht eingeweiht sein kann. Und in ein paar Wochen wird sie, wie viele andere Mütter, die zufällig und ohne eigenes Zutun dem Lebensborn begegneten, ihr Kind und ihr Gepäck nehmen und nie mehr etwas von dieser Organisation hören.

Dann gibt es, stellt Doris fest, die Gruppe um Frau Kempe, eine Minderheit von Frauen der SS-Offiziere, die hierherkamen, um die vorzügliche ärztliche Betreuung auszunützen, die außerdem kostenlos ist. Diese Mütter gehören zu den Nutznießern des Systems. Auch sie schütteln den Kopf über den Betrieb, tuscheln und schimpfen oder schreiben es ihren Männern. Aber das Bewußtsein, zur Elite zu gehören, frißt bei den meisten die Zweifel ...

Am meisten bedauert Doris die Opfer aus den

›Schulungslehrgängen‹ von Westroff-Meyer. Wenn diese Mädchen nicht von Natur aus herzlos und stumpf sind, müssen sie daran zerbrechen, Mütter zu sein, ohne Mütter zu bleiben. Diese Gruppe nur blonder, ausgesuchter Frauen spiegelt am brutalsten die Rassenpolitik wider. Aber auch sie ist nur ein Teil des Lebensborns.

Denn das Reservoir dieser wahnwitzigen Organisation wird von vielen Mädchen gestellt, die Doris in diesem Heim auf Schritt und Tritt trifft. 20-oder 25jährige, die der Leichtsinn oder der Zufall hierherspülte. Objekt ist das Kind, wenn möglich nordisch oder flämisch. Auch dinarisch geht noch. Und wenn alle drei Merkmale fehlen, ist es noch als lebende Blutkonserve willkommen ... Der Führer braucht Soldaten. Es wird noch lange dauern, bis Doris das voll begreift, obwohl sie die Bilanz jetzt selber ziehen muß: Nicht einmal ein 195

Fünftel der in diesem wie in allen anderen Lebensborn-Heimen geborenen Kinder entstammt einer Ehe. Die Organisation mit dem spießigen Namen wurde zum riesigen Umschlagplatz des ledigen Kindes.

Erst nach dem Krieg wird man erfahren, daß die Zahl der

›Führerkinder‹ in die Zehntausende geht. Zu dieser Zeit wird man auch in den Geheimarchiven der SS Dokumente finden, die beweisen, daß Himmler nach dem Krieg für bewährte SSLeute die Ehe überhaupt abschaffen wollte. Die Pläne zur Polygamie waren fertig. So gespenstisch und fanatisch, daß

selbst besonnene Gegner des Nationalsozialismus sie nicht für echt halten wollten.

So lebt Doris in einer seltsamen Welt. Sie kümmert sich nicht um ihre Umgebung. Sie wartet, hofft und bangt. Sie nimmt einen Brief von Klaus in Empfang, geht in ihr Zimmer, um ihn allein zu lesen.

»Jetzt begreife ich«, schreibt der junge Oberleutnant an seine Frau, »was das ist, wenn du Angst um mich hast. Denn jetzt habe ich jeden Tag Angst um dich. Fürchterliche Angst. Ist einmal keine Post da, dann glaube ich, daß etwas passiert sein muß. Vor lauter Unruhe hätte ich gestern beinahe eine Maschine gerammt ...«

In diesem Moment setzt der Schmerz ein. Klaus, denkt Doris. Sie krümmt sich zusammen, ihre Hand zerknüllt den Brief. Langsam verebbt die Welle. Die Lippen lösen sich wieder. Die Augen werden groß und leuchtend. Sie sehen Frau Kempe nicht, die jetzt das Zimmer betritt. Der Blick geht über sie hinweg, durch sie hindurch, weit weg in eine Ferne, in der das Wunder beginnt.

Es hat schon begonnen. Doris lächelt zaghaft. Grete Kempe betrachtet mit einem schnellen, verständigen Blick die zusammengezogene Gestalt auf dem Bett.

»Es ist Zeit«, sagt sie, »ich gebe gleich Bescheid.«

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13. KAPITEL

Abends um halb acht liegt Doris im Kreißsaal des Heims. Die Decke ist kalkweiß. Der Spiegel der Beleuchtung blendet wie eine metallene Sonne.

Dr. Jessrich beugt sich über sie. Er hat winzige Wassertröpfchen im Gesicht, hebt unschlüssig die Schultern.

»Es kann Komplikationen geben«, sagt er zur assistierenden Oberschwester. Seine Worte klingen, als ob er Sand zwischen den Zähnen hätte.

Doris stöhnt. Sie liegt gar nicht auf der Bahre. Sie schaukelt auf einem Kahn. Und es ist Sturm. Die Sirenen heulen. Keiner hilft ihr, keiner. Ihr Kopf wirkt schmal und arm. Behutsam legt ihr der Arzt die Narkosemaske auf das Gesicht.

»Zählen«, sagt die Oberin.

Die Hexe, denkt Doris. Die Hexe aus Hänsel und Gretel ... Gretel Kempe ... Sie wird auch bald auf einem Kahn liegen. Aber sie kommt nach Hause ...

»Zählen«, wiederholt die Oberschwester.

»Eins ...«, sagt Doris schwach.

»Weiter«, bittet Dr. Jessrich ruhig.

»Eins«, röchelt Doris. Ihre Stimme stöhnt, bricht ab. Dr. Jessrich fühlt den Puls. Er ist kein schlechter Mensch, und schon gar kein schlechter Arzt, und ist wegen einer dummen Sache hierhergeraten, und die Kragenspiegel mit den Siegesrunen würgen mitunter an der Schlagader. Leben und Sterben liegt jetzt in seiner Hand. Entweder die Mutter oder das Kind ...

»Das ist gegen die Vorschrift«, sagt die Oberin.

»Halten Sie den Mund!«

197

»Sie müssen zuerst das Kind retten!«

»Hoffnungslos ...«, sagt der Arzt wie zu sich selbst. Doris hört es nicht mehr. Sie ist im Halbbewußtsein, dämmert hinüber. Vielleicht für immer ... Vielleicht für immer

... Und jetzt sieht sie etwas ganz deutlich. Schrecklich klar und nah. Klaus. Umstellt. Von den Russen. Im Hinterland. Während ich hier in Schmerzen liege, muß er sterben ... In diesem Moment beginnt der verzweifelte Kampf des Dr. Jessrich ...

Klaus flog seit Monaten im Osten. Der E-Hafen war in der Ukraine. Ein trostloses Barackenlager. An den Decken tummelten sich Nässe und Schimmel. An den Wänden marschierten die Wanzen. Auf dem rohgezimmerten Tisch stand eine Heringsbüchse als Aschenbecher. Daneben eine leere Wodkaflasche mit einer Kerze. Strom gab es keinen. Post kaum. Sonne selten. Sprit mitunter.

Es waren noch Reste des Geschwaders aus Frankreich da. Einfach auf einen Haufen geworfen. Verwildert. Auch zum Offizierskasino hatte das Ungeziefer Zutritt. Der neue Oberst kratzte sich ungeniert an der Brust, als er Klaus den Einführungsvortrag hielt.

»Wissen Sie, Steinbach, hier ist das Fliegen eine reine Kammerjägerei ... Russen und Läuse ... was Sie von oben sehen, müssen Sie zertreten ...« Sein Gesicht verzog sich zu einem vertraulichen Grinsen. »Man lebt hier schlechter, aber länger ...«

Die Einsätze waren fast Zufall. Man blieb sich selbst überlassen. Geflogen wurde, solange es hell war und der Sprit reichte. Geflogen wurde aus Zeitvertreib. Wenn man Lust hatte, knackte man die Wanzen, sonst ließ man sie laufen. Oder die Iwans. Von Luftkampf war keine Rede mehr. Heute flog Klaus die Quadrate D 57, C 47 und B 37 ab. Die 198

Sicht war schlecht. Es regnete. Erst am Steuerknüppel konnte er wieder geordnet denken. Fliegen ist das einzige, was hilft, überlegte er. In den stinkenden Baracken, immer das gleiche Waldgeviert vor den Augen und dann den ewigen, russischen Sommerregen. Da wird man wahnsinnig. Doris ... Rußlands Erde schwamm unter ihm weg. Die FW 190 brummte gleichmäßig. Nach acht Minuten hatte der junge Oberleutnant die HKL erreicht. Seine Augen überprüften mechanisch die Instrumente. Die Nadel der Benzinuhr zitterte auf voll. Die plötzliche Versuchung ließ eine Hand um den Steuerknüppel zucken. Zieh' nach links, dachte er, tritt nach unten, 180 Grad. Wir machen dann ab nach Westen, solange der Vorrat reicht. Und dann?

Klaus lächelte müde. Dann würde man Oberleutnant Steinbach wegen Angst um die eigene Frau, wegen Feigheit vor dem Feind erschießen.

Er versuchte die Wolken vor sich mit den Augen auseinanderzuschieben, die sich immer wieder zu dem Gesicht seiner jungen Frau zusammenballten. Klaus rieb das beschlagene Kabinenfenster blank, stellte die Kiste auf die Fläche, sah hinunter. Wald, Wiesen, Wald, Tannen-und Laubbäume, dunkel vom Regen.

Die Flächen pfiffen, als er die Maschine umklappte. Die Rollbahn. Er jagte an ihr mit 500 Stundenkilometer Fahrt entlang. Die Kolonnen spritzten auseinander. Es waren eigene, die nicht daran glauben wollten, daß es noch eine deutsche Maschine gab. Klaus lächelte verkrampft. Zum Ausgleich winkten ihm eine Minute später die Russen zu wie die Pimpfe daheim beim Volksflugtag.

Der Staffelkapitän legte den Sicherungsverschluß am Steuerknüppel um. Der Feuerknopf für die Bordkanone lag unter seinem Daumen. Beginn des B-Quadrats. Aber Klaus sah nichts, zog eine Schleife. Die Wiesen dampften. Hügel hoben 199

sich ihm entgegen. Die Erde war schwer und feucht. Aber leer. Klaus schüttelte den Kopf, flog den Kurs zurück. Abgrasen nannte man das. Spuren in der Erde. Sie endeten am Heck eines Panzers, der den Dreck aufwühlte. Er krebste unter der FW 190 wie ein tastender Käfer.

Kein Hoheitsabzeichen.

Klaus umflog den Panzer einmal, zweimal. Plötzlich gab der Kasten Gas und haute ab. Klaus drückte die Maschine an, heulend jagte sie auf den Käfer zu, der im Visier wuchs, fetter und fetter wurde. Abfangen. Leichter Druck auf den Knopf. Die Zwei-Zentimeter-Granaten spritzten wie Wasser aus einer Düse. Dusche des Todes. Wie silbrige Tropfen zerstäubten die Geschosse auf den Stahlplatten. Klaus flog den nächsten Angriff. Der Kasten stolperte durchs Gelände, wackelte auf den Wald zu. Beim Abfangen der Maschine stieg der Magen des Oberleutnants bis zum Hals.

Genug, dachte er, als er sah, daß das schwarze Ding sich im Kreise drehte. Eine Kette mußte erledigt sein. Ganz abschießen konnte Klaus den Panzer nicht, dazu war der Bursche zu dick. Er jagte jetzt steil in den verwaschenen Himmel, orientierte sich neu, suchte die anderen Quadrate ab.

Aus der Spirale heraus sah er die Artilleriestellung. Durch das Aufjaulen der Maschine rasselten unklar die eigenen Abschüsse. Die russischen Kanoniere sprangen in weiten Sätzen in die Splittergräben. Ein paar hielten sich schützend die Hände ins Genick, als ob das was nützen würde. Die Stellung flitzte unter Klaus durch. Er preßte die Lippen aufeinander. Jetzt Linkskurve. Und dann bloß ab in den Dunst!

Da prasselte etwas anderes mit. Häßlich und klirrend. Die Schweine haben leichte Flak, überlegte Klaus. Im nächsten Moment zischte siedendes Öl über seine Beine. In der Kabine war Nebel. Es roch nach Benzin. Es stank infernalisch. Der Oberleutnant suchte den Öldruckmesser. Der Zeiger ruckte in 200

weiten Sprüngen, als messe er den Ausstoß einer geplatzten Schlagader. Er stierte in den rotierenden Kreis der Schraube. Doris, ich komme ...

In der nächsten Sekunde spuckte die Maschine, zog eine schwarze Qualmspur hinter sich her, verlor Höhe wie ein Fahrstuhl. Aus, dachte Klaus. Zehn Kilometer vor der HKL. Er riß am Gashebel. Eine Baumreihe jagte auf ihn zu. Dann krachte es. Äste rissen Aluminium auseinander. Klaus fühlte sich an den Beinen gepackt. Eine Riesenfaust schlug seinen Kopf gegen eine Betonwand.

Sein Bewußtsein zerplatzte wie ein Feuerwerk. Und zwischendurch hämmerte es: Doris ... Doris ... aus ... Er wußte später nicht, wie er aus dem Wrack gekommen war. Seine Kombination war zerfetzt. Der linke Unterarm hing nur noch am Knochen. Das Blut an der Stirne verklebte die Augen. Er taumelte durch nasses, hüfthohes Gras. Mechanisch wischte er sich über die Augen, riß sie auf, fühlte einen stechenden Schmerz, stolperte über die eigenen Füße, schlug lang hin.

Oben, an der Rollbahn, stoppte ein LKW. Russische Infanterie sprang vom Wagen. Unter den Schritten der Sowjetsoldaten zerteilte sich das Gras.

Die Russen kamen näher. Genau auf ihn zu. Klaus duckte sich in das hohe, nasse Gras. Unter den Stiefeln der Iwans brachen Zweige und Gestrüpp. Mit der Hand des unverletzten Arms zerrte der abgeschossene deutsche Fliegeroffizier die 08 aus der Tasche. Er preßte die Waffe zwischen die Knie. Das Knirschen kam näher. Klaus hob vorsichtig den Kopf. Er sah die runden Stahlhelme der Sowjets. Sie bewegten sich durch das Gras wie die gewölbten Rücken von Schildkröten. Da drüben, 200, 300 Meter entfernt, lag die Maschine. Die Russen schrien sich etwas zu. Die Pistole, die Klaus jetzt in die Hand nahm, zitterte. Sein Atem rasselte wie aus einem Ventil. 201

Nein, dachte er, keine Gefangenschaft ... vielleicht würden sie ihn auch gar nicht gefangennehmen. Tiefflieger waren verhaßt; auf beiden Seiten. So nicht, überlegte er ... Vielleicht ist es ein Junge, fieberte Klaus zusammenhanglos ... und ich will anständig sterben ... vor ihm.

Die Russen hatten das Wrack der brennenden Maschine erreicht. Sie näherten sich ihr mit Maschinenpistolen im Anschlag. Die zerfetzte FW qualmte träge. In diesem Moment geschah es. Die Druckwelle nahm Klaus den Atem. Er hatte das Gefühl, daß ihm jemand einen Knebel in den Hals stieß. Das Flugzeug richtete sich auf wie ein angeschossener Adler und platzte in der nächsten Sekunde. Wie in Zeitlupe. Metallteile flogen durch das Gras, schlugen klatschend gegen Büsche und Bäume.

Klaus ließ sich vornüber fallen. Die Restmunition patschte und knallte.

Die Iwans schrien mit hohen Fistelstimmen. Klaus sprang auf. Lief einfach los. Hinter ihm verebbte das Geknatter. Auf hundert Meter fiel er dreißigmal, ebensooft schlug er sich den Arm an.

Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Die gute FW, dachte er sinnlos.

Als er wieder stürzte, blieb er liegen, riß das Verbandspäckchen aus seiner Tasche, wickelte die Mullbinde um den verletzten Arm. Er wartete.

Als es dunkel war, stand er ächzend auf. Der Wald nahm kein Ende, aber der Schmerz einen neuen Anfang. Der Arm wurde zur lodernden Fackel. Klaus stöhnte und fürchtete sich. Er fuhr mit der Hand über die Stirn. Überall sah er Flammen. Er wollte sich verbergen, aber die Flammen wichen nicht aus seinem Blick. Von allen Seiten rollten feurige Räder auf ihn zu. Zwei Stunden taumelte er so quer durch die Flammen. Dann wuchs aus der Lichtung eine klobige Blockhütte. Der 202

Wald war dünner geworden, durchsichtiger. Klaus schleppte sich heran, von Baum zu Baum. Seine Zähne klapperten. Die Hütte lag schwarz und schweigend vor ihm. Die letzten Meter kroch er nur. Keine Tür. Ein schwarzes, offenes Loch gähnte ihn an. Langsam schob er sich durch. Duft von Heu kitzelte seine Nase. Die Hütte war leer. Klaus ließ sich umfallen. Die weiche Unterlage trug ihn wie ein weites Meer. Er dämmerte hinüber.

Dann weckte ihn der Tritt gegen das Schienbein. Er wollte nach der Pistole greifen. Aber ein Fuß stand auf seiner Hand. Das irre Licht einer Kerze blendete ihn. Vorne irgendwo rumpelte die Front wieder los.

Klaus sah in drei flache, breitknochige Frauengesichter. Sie starrten ihn wortlos aus schrägen Augen an. Ohne Angst. Ihre kräftigen Figuren hoben sich unter den wattierten Jacken ab. Eine zeigte auf seinen Arm. Klaus folgte dem Blick. Jetzt erst sah er, daß der Verband schwarz durchblutet war. Er richtete sich auf. Wenn sie schreien, dachte er verschwommen. Sie hatten keine Waffen. Wenigstens keine Partisanen, hämmerte es an seinen Schläfen.

Klaus wußte nicht, was ihn dazu trieb. Er fingerte mühselig sein Soldbuch aus der Tasche. Mit einem Bild von Doris. Einer Fotografie, die er immer mit scheuer Ehrfurcht betrachtete. Doris!

Er zeigte das Bild der Russin. Eine zweite hob die Kerze an. Es war unheimlich. Draußen trommelte die Front. Und die drei Russinnen betrachteten das Bild mit der phlegmatischen Ruhe, die ihnen ein riesiges Land in das Blut gepflanzt hatte. Die kräftige Frau lächelte. Sie nickte, sie zeigte auf das Bild. Klaus nickte.

Die Mühsal des Überlegens zeichnete Falten auf ihre Stirne. Sie sagte schnell etwas zu den anderen beiden Frauen, die langsam mit dem Kopf nickten.

203

Klaus bückte sich und hob die Pistole auf. Die Russinnen reagierten nicht.

Die Frauen zeigten mit der Hand in eine Richtung.

»Germanski«, verstand Klaus, mehr nicht.

Nur seine Augen bedankten sich, bevor ihn die Nacht wieder verschlang.

Er stolperte über ein Kabel. Eine weiße Leuchtkugel zischte steil über den Wald. Klaus folgte dem Draht. Er mußte zu einer Funkstelle führen. Ob es eine deutsche oder eine russische sein wird, daran hing vielleicht sein Leben, so lose, wie sein Arm am Gelenk.

Er müßte längst auf deutschem Gebiet sein. Wo stecken die Sowjets? Es war sinnlos, in die Nacht zu sehen. Vor seinen Augen rotierten wieder die feurigen Kreise.

Auf einmal ließ er den Draht los. Fast wäre er in den Erdbunker hineingestolpert. Laß es Deutsche sein, dachte er verschwommen, im Namen von Doris ... Abschuß ... Einschlag. Erst hohl, dann grell.

Do ... ris ...

Hohl ... grell ...

Do ... ris ...

Klaus schnappte noch einmal Luft. Dann stieß er mit dem Absatz die Bunkertür auf. Es stank nach Machorka. Die Iwans verschwanden fast im Nebel des Zigarettenrauchs. Nur die glitzernden Achselstücke erkannte Klaus sofort. So breit sind unsere nicht ...

Der russische Offizier hatte einen Kopf wie eine Billardkugel.

»Towaritsch?«

Klaus hob die Pistole, die ihm die russische Frau gelassen hatte, damit er sich zu seiner deutschen Frau durchschlagen konnte.

204

In weiten Sprüngen hetzte Klaus über Drähte, Löcher, Gräben.

Die Hölle brach los. Leuchtkugeln überschlugen sich am Himmel. Maschinengewehre spuckten. Glühfäden der Geschoßbahnen spannten sich über das Niemandsland. Und Klaus lief, stolperte, fiel, lief, stolperte. Er hatte keinen Arm mehr, keine Lungen, keinen Kopf, kein Herz. Doch, ein Herz hatte er noch. Es schlug hart und schnell gegen die Rippen. Ein Faustschlag streckte ihn nieder. Von vorne. Granatwerfereinschlag. Dann ein MG. Ganz nahe. Der Mündungsknall zerrte an seinem Trommelfell. Er spuckte Blut. Feuerpause.

»Ihr Hammel!« brüllte Klaus. Dann spuckte er mit grimmiger Freude. Ihr könnt mich durchlöchern, dachte er irr, aber ihr kriegt mich nicht.

Er horchte bewußt. Es war ein deutsches MG.

Er richtete sich auf.

»Deut ... scher!« keuchte er, »Deut ... scher!«

Sein gesunder Arm fummelte durch die Luft wie ein Propeller.

»Hört ihr ...«, stöhnte er, »Deutscher!«

Er schlug lang hin.

»Parole?« rief eine Stimme in die Nacht.

»Scheiß ... parole«, schluchzte Klaus. »Abgeschossen ... Flieger ...«

Die Russen gaben Kattun von hinten. Die Hölle überbot sich noch einmal. Die zertrampeln mich mit ihren Granaten wie eine Laus, dachte Klaus.

Er lief blindlings auf das deutsche MG zu, war ganz nahe.

»Leg ihn um«, sagte einer der Besatzung.

»Er spricht Deutsch«, erwiderte der Schütze.

205

»Quatsch ... der uns gestern die Handgranate in die Stellung geschmissen hat, hat auch Deutsch gekonnt. Ich will nicht krepieren!«

»Macht, was ihr wollt!« brüllte Klaus. Er torkelte mit erhobener Hand auf die Stellung zu. Er schrie irres Zeug.

»Meine Frau ...«

Einschlag.

»Ich muß nachsehen ... ich muß! ... Ich kann sie doch nicht

...«

Einschlag.

Klaus fiel fast über den MG-Schützen, der die Pistole auf seine Brust setzte und sein Gesicht ganz nahe gegen den Versprengten schob.

»Mann!« sagte der Infanterist, »wer hat dich denn so zugerichtet?«

»Die Iwans«, lallte Klaus, »und ihr ... Schwei ... Schweine

...«

Jetzt endlich umspannte ihn die Ohnmacht ...

Der Raum riecht nach Äther, der Äther nach Opfer. Doris ist weg, aber hellwach im Unterbewußtsein. Das Skalpell in der Hand des Dr. Jessrich glitzert im Takt seiner Pulsschläge. Er will die Mutter nicht opfern, um das Kind zu retten. Er darf das Kind nicht preisgeben, um die Mutter zu schonen ... Auf einmal liegt das feuchte Messer ruhig in seiner Hand. Während er ansetzt, faßt er den schwersten Entschluß, den es für einen Chirurgen gibt: Er will versuchen, Mutter und Kind durchzubringen und weiß ... daß es unter Umständen beider Todesurteil ist. Sein Gesicht verkrampft sich unter der Erkenntnis, wie brutal die Menschheit sein kann. Doris schläft fest: Klaus ist da. Er lacht, zieht sie an sich. Und dann wird sein Gesicht streng. Warum quält er mich bloß

mit Mathematik? Nur weil Vater ihn gebeten hat, sich um 206

meine Schularbeiten zu kümmern? Die steile Falte steht ihm gut. Aber lieber würde Doris mit ihm spielen. Räuber und Gendarm. Er soll sich mit seiner Mathematik zum Teufel scheren oder irgendwohin! Ich will schwimmen! So schön kühl das Wasser ... heißer Tag heute. Blauer Himmel. Strahlende Sonne. Der Wind kräuselt leicht die Wellen. Ein Steg. Die langen, schlanken Beine von Doris baumeln ins Wasser.

»Bis zur Boje!« ruft Klaus.

Sie springen. Er lacht hinter ihr. Sie krault. Links, rechts. Plätscherbewegung mit den Füßen ... Fünf Meter voraus, sieben, acht. Er lacht immer hinter ihr. Und dann kommt er. Er sieht aus wie eine Haifischflosse, die über ihr zusammenschlägt, überholt sie, ist an der Boje, schnellt um, schwimmt zurück ...

Es ist gar keine Sonne und Klaus nicht zu sehen. Und die Wellen sind hoch, schlagen immer höher. Und Doris kann nicht mehr.

Ihr Körper bäumt sich auf, wird niedergedrückt. Sie würgt ohne Ende. Wasser, nichts wie Wasser. Literweise Wasser. Wieviel kann ein Mensch schlucken?

Doris wirft den Kopf hin und her. Nichts. Nichts mehr. Lange nichts. Warum tun sie nichts? Bloß keine Mathematik!

Sie schlägt die Augen auf. Still und ausdruckslos. Sie fühlt wie sie atmet. Wiederbelebung ... denkt sie noch. Und dann ist Klaus weg ...

Endlich begreift sie. Das Bewußtsein kommt zurück. Langsam, zäh, klebrig. Und da, neben ihr ... sie kann den Kopf nicht wenden. Ihre Augen gehen abseits, sehen ihn zum erstenmal, den Dritten, den Kleinen, den Jungen ...

»Du ...«, sagt Doris in grenzenloser Verwunderung. Dann rinnen aus geschlossenen Augen die Tränen unter langen Wimpern.

207

»Du ...«, flüstert die junge Mutter noch einmal. Er liegt auf Dr. Jessrichs Arm. Der Arzt ist so weiß wie seine Patientin. Aber er lächelt, zaghaft, verloren, beglückt.

»Das war ein wahres Wunder ...«, sagt er leise.

»Ja«, erwidert Doris, ohne ihn anzusehen.

Ob Doris aufwacht oder einschläft, ob sie mit wiedergefundener Kraft sich auf den Arm stützt oder ob sie still in den Kissen liegt: Das Glück streichelt sie behutsam und fest. Sie ist noch im großen Saal mit den anderen zusammen. Und sie lebt wie im Traum, in dessen Wirklichkeit ihre Augen glänzen. Richtig wach ist sie nur, wenn man den Kleinen bringt. Ohne Klaus will sie ihm keinen Namen geben, obwohl sie ihn längst mit Klaus anspricht. Doris betrachtet ihn versonnen. Er hat seine Stirn, denkt sie, seine Augen, seine Nase. Und er wird werden wie der große Klaus, so jungenhaft und doch ernst, so energisch und doch weich.

Was um sie vorgeht, berührt die junge Frau nicht. Sie spürt keine Verachtung, nur Mitleid. Neben ihr, zum Beispiel, liegt Inge, die ihr Kind nicht sehen will, die nur eine Angst hat, daß

ihr Eltern erfahren könnten, was hier, im abgelegenen Lebensborn-Heim, vor sich gegangen ist. Rechts von ihr Ursula, hauptamtliche RAD-Führerin, Mutter auf Geheiß, ohne Berufung, ohne Freude, mechanisch einen Befehl ausführend, wie Gänge schrubben oder Betten bauen.

Auf der anderen Seite Jutta, die vom Vater ihres Kindes nur weiß, daß er Panzersoldat ist, der am liebsten Quark mit Marmelade frühstückt. Neben ihr Edith, die auf einmal ihr Kind liebgewinnt und es behalten will, um für das kleine Mädchen zu sorgen und zu kämpfen. Und ganz hinten in der Ecke Frau Kempe.

Ein paar Tage später sind Doris und Grete Kempe wieder in ihrem Zimmer. So verschieden sie sind, sie kommen sich näher, und in einem sind sie sich ja gleich: Sie sind Mütter. 208

Die Tage verlaufen im ruhigen Rhythmus: Einmal kommt der Arzt, zweimal die Post.

»Wieder nichts«, sagt Doris hilflos.

»Geht mir auch oft so«, tröstet sie die Frau des Hauptsturmführers, »und dann kommen oft vier, fünf Briefe auf einmal ... und man weiß gar nicht, mit welchem man anfangen soll ...«

»Ja«, antwortet Doris matt.

»Ich will es Ihnen gar nicht sagen«, beginnt die große, blonde Frau behutsam, »meiner kommt ... er hat Urlaub.«

»Ich freue mich für Sie«, entgegnet Doris. Sie kann nichts dafür, daß ihre Stimme spröde klingt.

Und dann stürmt er herein, wuchtig und bullig, lachend und plump. Er hält die Blumen wie einen Spaten fest, küßt seine Frau auf die Stirn und sagt:

»Prächtig, prächtig! Alles jut jejangen, wat?«

»Ja, Horst«, erwidert sie.

»Unsere anderen sind auch in Ordnung ... war schon zu Hause.«

»Das ist Frau Doris«, stellt seine Frau, im Bett liegend, vor. Horst Kempe dreht sich um, erschrickt, setzt an. Doris winkt ihm mit den Augen. Er begreift sofort, gibt ihr die Hand.

»Horst Kempe«, sagt er und zwinkert ihr zu.

Er angelt sich einen Hocker und setzt sich zwischen die beiden Frauen.

»Schön habt ihr es hier ...«, meint er, um etwas zu sagen.

»Ich war zum letztenmal da«, erwidert seine Frau verbissen,

»ich will mit all dem hier nichts mehr zu tun haben ...«

»Na, reg dich nicht auf!«

»Horst, versprich mir, daß ich nie mehr in ein solches Heim 209

muß!«

»Na jut ...«, brummelt er gutmütig, »aber hier kostet es doch nischt ...«

»Mir ist es trotzdem zu teuer ...«, entgegnet seine Frau.

»Besuchszeit um!« verkündet die Schwester in der Tür. Der Hauptsturmführer steht sofort auf.

»Also mach’s jut, Grete ... ick bleib hier in der Jejend und schau immer mal vorbei ...«

Er dreht sich zu Doris um.

»Und wie jeht’s dem Ihren?« fragt er hilflos.

»An der Front ...« Horst Kempe nickt.

»Dämliche Frage ...«, knurrt er, »entschuldigen Sie ... Also dann bis morgen, meine Damen!«

Er zieht den Kopf ein, als ob er sich stoßen könnte ... Obersturmbannführer Westroff-Meyer hielt seine Stellung nach der Devise: Der Tag für den Führer, die Nacht für mich. Er verteilte seine Gunst gleichmäßig wie seine Beute. Weil er selbst vor der Zentrale Angst hatte, blieb er gefürchtet. Das System sparte beim Terror seine eigenen Leute nicht aus. So gab sich Westroff-Meyer aus Furcht forsch.

»Spann ein!« sagte er zu Ruth, seiner Sekretärin. Er wühlte in den Papieren auf seinem Schreibtisch. »So eine Sauerei!«

fluchte er, »da haben die Pfaffen Wind gekriegt von unserer Idee und machen Theater ...« Er blieb stehen. »Denen werden wir’s zeigen!«

Der Obersturmbannführer hielt den Bericht über eine Predigt in der Hand, den ein Denunziant in einer Kirche mitstenographiert hatte.

»Mit so einem Quatsch muß man sich herumschlagen ...«

»Na, die sind nun mal so ...«, wollte ihn Ruth beschwichtigen.

210

»Die gehören umgelegt«, tobte Westroff-Meyer, »und nach dem Krieg räumen wir auch auf ... mit denen machen wir es wie mit den Polacken ...«

»Mit den Polacken?« fragte Ruth.

»Ja«, versetzte er heftig, »ausradieren ... das Pack!« Er ließ

zwei Finger aufeinanderschnippen.

Ruth dachte an ihren Pelzmantel und fror ein paar Sekunden.

»So, nu schreib ... Bei diesen Äußerungen«, diktierte der Obersturmbannführer, »handelt es sich um eine schamlose Hetze ... sie sind frei erfunden, um den Schicksalskampf des deutschen Volkes zu unterhöhlen ... Der Nationalsozialismus vertrat immer schon eine saubere Ehemoral ... Beim Lebensborn handelt es sich um eine Organisation, die sich ausschließlich in den Dienst der deutschen Mutter stellt ...«

Nach dem Diktat griff er zum Telefon und veranlaßte die Gestapo, den Geistlichen zu verhaften. Die Priester beider Konfessionen hatten von den Praktiken des Lebensborns erfahren. Und das Gewissen erhob sich. Mutig und tapfer ... Kurz vor Mittag meldete Ruth, daß die RAD-Jungführerin Erika befehlsgemäß eingetroffen sei.

»Laß sie rein!« brummte der Obersturmbannführer. Er ging auf Erika zu, gab ihr die Hand.

»Wir kennen uns ja ...«, sagte er mit einem lauernden Lächeln. »Setzen Sie sich.«

»Danke.«

»Na ... Sie sollten ja jetzt ganz woanders sein ...«

»Ich weiß.«

Westroff-Meyer lächelte blutleer.

»Aber man kann dem Führer auch auf andere Weise dienen

...«

Seine Gedanken tasteten Erika ab und teilten sie bereits zum 211

entsprechenden Dienst ein. Sie war groß und blond, und daß sie sich von ihm nicht einschüchtern ließ, hatte ihn von Anfang an gereizt.

»Sie wollen vom RAD entlassen werden?«

Erika nickte.

»Warum?« fragte er.

Sie schwieg.

»Na, ja«, warf er versöhnlich ein, »ist ja auch ein müder Haufen ... versteh’ ich schon ... Was haben Sie vor Ihrer Einberufung zum Arbeitsdienst gemacht?«

»Ich war in der Buchhaltung einer Munitionsfabrik.«

»So«, antwortete der Obersturmbannführer so wohlwollend, als ob er die Aktienmehrheit der Rüstungsfirma besäße, »ich mache Ihnen einen Vorschlag«, begann er dann ohne Übergang, »ich suche eine zweite Sekretärin ... wollen Sie?«

»Hier?« fragte Erika.

Sie überlegte schnell. Er wird mich doch zwingen, dachte sie. Und es ist immer noch besser, in einem Büro zu tippen, als Toiletten zu polieren.

Sie nickte fast unmerklich.

»Ich hab’ ja gewußt, daß wir uns gleich gut verstehen«, sagte Westroff-Meyer herzlich. Er klopfte anerkennend mit der Hand auf ihre Schulter.

Ihre Lippen verzogen sich. Du wirst dich wundern, dachte sie.

Der Obersturmbannführer klingelte nach Ruth.

»Du brauchst eine Entlastung«, sagte er, während er die beiden Mädchen musterte. »Das ist Erika, gebt euch das Händchen ... sie wird in der nächsten Woche hier anfangen ...«

»Aber ich kann doch ...«, entgegnete Ruth schwach. Sie hatte sofort begriffen, daß sie eine Rivalin erhalten sollte. 212

»Halt den Mund«, erwiderte Westroff-Meyer. »Und nun mach mir die Marschpapiere fertig«, sagte er anschließend,

»fürs Heim vier, nach Mecklenburg ... Besichtigung.«

Er verabschiedete Erika, die noch nicht wußte, daß ihr die neue Stellung unmittelbar vom Schicksal zugeteilt worden war.

Klaus steht vor ihrer Zimmertür. Bis hierher brachte ihn die Schwester. Dann ließ sie ihn einfach stehen. Er hat heute seinen ersten Ausgang, gegen den Protest des Arztes. Er liegt in einem Heimatlazarett, ganz in der Nähe des LebensbornHeimes. Und jetzt steht er am Gang und erfährt, wie schwer es sein kann, anzuklopfen. Es ist ihm beinahe übel vor Glück, vor Verwirrung und Sorge. So wartet er ein paar Sekunden, mit gekrümmtem Finger, klopft fast behutsam.

»Ja.«

Das Wort ist leise, wie verpackt. Ja ... es klingt so leicht, so schwerelos, so gelöst. O Gott, Doris, denkt der Oberleutnant ... Dann drückt er die Klinke nieder, öffnet die Tür weit, bleibt auf der Schwelle stehen, geblendet vom hellen Licht, verwirrt von der Flut ihrer goldenen Haare, die über das Kissen fließen. Doris blickt ihn nur an. Sie sagt kein Wort. Dann streckt sie ihm die Arme entgegen. So sah er sie noch niemals lächeln. Undeutlich erkennt er das zweite Bett, in dem eine fremde Frau liegt. Er weiß nicht, daß es Frau Kempe ist, es wäre ihm auch gleichgültig. Er geht auf Doris zu, beugt sich zu ihr herab. Jetzt erst sieht sie die schwarze Schlinge an seinem Arm, erschrickt.

»Es ist nichts«, sagt er zärtlich. Aber seine Augen wandern weit weg, durch Doris hindurch und wieder zu ihr zurück. Er sieht sich wieder zwischen den Fronten, gehetzt von den Granaten, gepeitscht von einem einzigen Gedanken. Und er 213

begreift von neuem, warum dieser Gedanke so mächtig sein konnte.

»Weil es dich gibt«, sagt er ruhig, »ist nichts Schlimmes daraus geworden ... verstehst du?«

Doris nimmt sein Gesicht in ihre Hand.

»Gut, daß es so ...«

»Ja«, unterbricht sie Klaus. »So sehr hab' ich dich lieb ...«

»Uns ...«, erwidert Doris wie im Traum.

Klaus löst sich scheu.

»Kann ich ihn sehen?« fragt er.

Die junge Frau lacht, fast beschämt und doch sehr glücklich.

»Er ist schön ...«, sagt sie verlegen, »aber du findest ihn sicher ganz häßlich ... er ist noch so klein ... und hat so viele Falten ...«

Klaus legt ihr die Hand über den Mund.

»Er ist das schönste Kind im ganzen Heim«, sagt die fremde Stimme vom anderen Bett.

Klaus dreht sich erschrocken um.

»Ich bin Frau Kempe.«

Doris gibt Klaus ein Zeichen. Er begreift, betrachtet die große, blonde Frau. Die gleiche Unbefangenheit, dieselbe offene Sprache wie ihr Mann, wie Horst Kempe, sagt er sich verwundert.

»So, Herr Oberleutnant«, fährt Grete Kempe im künstlichen Kommandoton fort, »jetzt melden Sie sich bei Ihrem Sohn ... umgeschnallt und mit allen Orden, verstanden?«

Die beiden Frauen lachen. Klaus geht über den Korridor, sucht seinen Sohn.

Als ihm die Schwester hinter der Glasscheibe das Kind entgegenhält, sagt er beinahe verwundert:

»Du bist es also?«

214

Er sagt es wie zu sich selbst. Er hat die gleiche Stirn, die gleichen Augen und die gleiche Nase wie Doris, denkt er. Dann ballt das Kind die winzige Faust und schreit. Die Schwester legt es in die Wiege zurück. Da spürt Klaus vom ersten Moment an, daß er für seinen Jungen jeden Kampf kämpfen, jede Schlacht schlagen, jeden Krieg gewinnen wird. Und er ahnt noch nicht, wie bald man ihm schon dazu Gelegenheit gibt ...

215

14. KAPITEL

Die Nervosität des Stammpersonals schwimmt in der Kiellinie der Besichtigung. Dabei gibt sich

Obersturmbannführer Westroff-Meyer zunächst leutselig wie sein Führer in der Wochenschau. Er wuchtet durch das Haus, ein Herodes in zeitgemäßen Breeches. Er stürmt den Saal so stolz, als hätte er ihn erfunden. Er nimmt die Parade der Wiegen ab. Die Schwestern und der Chefarzt Dr. Jessrich folgen ihm in zwei Meter Abstand. Wenn Westroff-Meyer den Müttern begegnet, grüßt er sie stramm; sonst geht er ihnen lieber aus dem Weg.

So poltert der Kinderkommissar von Säugling zu Säugling und merkt zunächst gar nicht, wie sehr ihm die Natur beweist, daß sie noch nicht in die Partei eingetreten ist. Die Kleinen entwickelten sich zum großen Teil anders als die Erbsen und Kastanien auf der Wandtafel.

»Wie viele Kinder haben Sie im Moment?« fragt er Dr. Jessrich.

»67«, erwidert der Chefarzt.

Westroff-Meyer nickt zufrieden. Dann geht er langsam weiter, verharrt einen Augenblick vor einem Kind mit dunklem Haarflaum ... Der Führer ist auch nicht so ganz blond, denkt er, steht vor dem nächsten Säugling ... auch Rosenberg ist nicht so ganz nordisch. Er geht am übernächsten vorbei, stockt vor dem vierten Kind ... der Reichsführer selbst ist auch nicht so ganz ... schießt es ihm durch den Kopf ... und an sich selbst denkt der brave Mann zuletzt ...

Im Chefbüro wartet ein Imbiß. Der Obersturmbannführer nimmt ihn mit Abstand und Appetit.

»Sekt?« fragt Dr. Jessrich.

»Nicht um diese Tageszeit«, erwidert Westroff-Meyer. 216

»Ich muß Ihnen sagen, daß ich sehr mit dem Heim zufrieden bin ... ich werde Sie befördern.«

Dr. Jessrich schlägt die Hacken zusammen.

Der Obersturmbannführer setzt sich an den Schreibtisch.

»Bei Ihnen ist doch auch eine Frau Steinbach? ... Erinnern Sie sich an sie?«

»Jawohl, Obersturmbannführer«, erwidert der Chefarzt, »ein sehr schwerer Fall ... wie durch ein Wunder gutgegangen.«

»Ich habe meine besonderen Pläne mit ihr ... Sie wissen, daß

Sie alle Befehle auszuführen haben, ohne sich um ihren Inhalt zu kümmern?«

Das tue ich schon die ganze Zeit, denkt Dr. Jessrich. Aber er erwidert stramm:

»Jawohl, Obersturmbannführer!«

Der SS-Obersturmbannführer Westroff-Meyer macht sich mächtig. Die Abrechnung, denkt er, und kostet das wollüstige Gefühl im Stiernacken. Er hat lange gewartet, aber nicht vergessen. Und sein Haß lebte unter der Siegesrune am Kragenspiegel. Weil zwei junge Menschen es gewagt hatten, sich ihm zu widersetzen, muß und kann er sie jetzt vernichten. Seine Stiefel werden genauso mechanisch und brutal über ihr Leid trampeln wie über die Leichen in Polen. Der Sadismus macht den Funktionär, der jetzt fast ausschließlich in Diensten des Reichssicherheitsamtes steht, häßlich. An seinen Schläfen treten die Adern wie Gewürm hervor. Die Vorfreude macht die Stirn schweißnaß. Seine Stimme raunt heiser:

»Geben Sie mir doch ein Glas Sekt, Doktor Jessrich.«

»Sofort, Obersturmbannführer.«

Aus einem Schrank des blitzsauberen Ordinationszimmers mit den nüchternen, sachlichen Geräten holt Dr. Jessrich die bereits kalt gestellte Flasche.

»Also ...«, fährt Westroff-Meyer fort, »Sie kennen Frau 217

Steinbach?«

Der Arzt nickt, versteift sich im Kreuz. Er weiß, daß der Obersturmbannführer ein radikaler Bursche ist. Aber nach diesem Gespräch wird auch er ihn für einen uniformierten Verbrecher halten.

Der SS-Offizier läßt sich einschenken, sieht der perlenden Kohlensäure nach, lächelt befriedigt. Er setzt das Glas an die Lippen, trinkt aber noch nicht.

»Übrigens«, sagt er über den Glasrand hinweg, »das Kind der Steinbachs kommt in eines unserer Heime ... verstanden?«

»Nein«, erwidert Dr. Jessrich betroffen, »wieso ... Frau Steinbach ist doch verheiratet?«

Westroff-Meyer schlürft. Er wischt sich mit der Hand über die Lippen. Sein Mund wird breit.

»Ich sage Ihnen, daß das Kind in ein Heim kommt ... und Sie schreiben umgehend die Einweisung.« Der SSObersturmbannführer läßt die Ungeheuerlichkeit im Mund zergehen wie ein Bonbon.

Die Augen der beiden Männer begegnen sich. Der Arzt spürt eine kalte Hand auf seinem bloßen Rücken. Er umklammert den Stiel seines Glases. Der Sekt läuft ihm über die Finger.

»Und warum, Obersturmbannführer?« fragt er mit spröder Stimme, »ohne entsprechenden Grund kann ich die Einweisung nicht schreiben. Außerdem muß ich von der Zentrale des Lebensborns in München Erlaubnis einholen ...«

»Der Grund?« fragt Westroff-Meyer. Er kippt das Glas bis zur Neige. »Auf Ihre Korrektheit, lieber Doktor ... den Grund will ich Ihnen sagen.« Seine Augen werden starr, als wolle er den Arzt hypnotisieren. Dann bellt er los:

»Die Eltern sind keine Nationalsozialisten!« Sein Arm fährt durch die Luft, als führe er einen Säbel. »Sie sind Staatsfeinde, Verräter, Defätisten ... und aus ihrem Kind werden sie wieder 218

einen Volksverräter machen ... aber wir haben die verdammte Pflicht, deutsche Kinder zu erziehen ...! Verstanden? Reicht Ihnen der Grund?«

Der Rest Sekt an den Lippen des Obersturmbannführers wird zu Schaum. Er tritt ganz dicht an Dr. Jessrich heran. Seine Pupillen schimmern gelb.

Der Arzt legt den Kopf zurück. Durch das Brausen seiner Schläfen denkt er sinnlos: Der Atem ... sein Atem stinkt. Der Arzt schenkt fahrig ein, wie im Traum. Geburten ... das hat er hier gesehen ... aber doch nicht Ausgeburten einer teuflischen Brutalität. Da sieht Dr. Jessrich langsam die kalten Wände seines Zimmers auf sich zukommen. Ein Kloß ballt sich in seiner Kehle.

»Nein!« sagt er dann hart. Er spuckt Westroff-Meyer das Wort ins Gesicht, wiederholt noch einmal: »Nein ...« Seine Stimme klingt, als ob er erbrechen würde.

Im ersten Moment zuckt Westroff-Meyer zurück. Eine Sekunde fürchtet er die hervorquellenden Augen des Arztes, seine malmenden Kiefermuskeln. Aber jetzt lächelt er. Wieder ölig und zufrieden.

»Nein?« fragt er verwundert, »Sie wollen nicht? Sie können nicht? Warum? Was ist mit Ihnen los, Jessrich?«

Das Ungeheuer macht Kinderaugen, denkt der Arzt. Und zum ersten Male sieht er Westroff-Meyer ganz richtig, nackt, so wie er ist, häßlich, plump und brutal. Die Saite ist überspannt. Sie reißt. Nur ein häßliches Geräusch bleibt zurück.

Und der Arzt fühlt sich auf einmal frei. Frei, die Wahrheit zu sagen, Wort für Wort, und damit einen Preis für die Schuld zu zahlen, an der er stillen Anteil hatte.

»Ich denke nicht daran«, entgegnet er kalt, »ich bin Arzt und kein Kidnapper! Ich stehle keine Babys ... und niemand kann 219

mich dazu zwingen! ... Was Sie vorhaben,

Obersturmbannführer, ist Kindesentführung! ... Darauf steht Zuchthaus, auch im nationalsozialistischen Deutschland ... sonst müßte ich diese Uniform ausziehen ...«

Westroff-Meyer reagiert merkwürdig gelassen, fast gelangweilt.

»Reden Sie keinen Unsinn, Jessrich ... Quatsch, das mit der Kindsentführung ... wir retten ein Kind.« Er macht eine fahrige Bewegung mit der Hand. »Aber darum geht es im Augenblick gar nicht ...« Sein Ton wird schneidend, spöttisch: »Ich will von Ihnen wissen, ob Sie meine Befehle ausführen oder nicht?«

»Diesen nicht«, antwortet der Arzt kalt.

»Wollen Sie an die Front?« kontert ihn der

Obersturmbannführer nieder und deutet damit an, was er für eine schlimme Strafe hält.

Das Gesicht des Arztes verfärbt sich vor Ekel. Langsam, bedächtig nickt er sich selbst zu. Nun zahlst du, Dr. Jessrich, sagt er sich. Er hebt den Kopf.

»Ja«, versetzt er leise. »Hundertmal lieber zur Front ... tausendmal lieber ... und lieber heute als morgen ...«

»Ich werde Ihnen einen entsprechenden Fronteinsatz aussuchen ...«, schnaubt Westroff-Meyer.

Im Zorn wirft er die halbleere Flasche zu Boden. Sie bricht klirrend.

Und der Arzt, ein Mensch trotz seiner Uniform, weiß, daß

auch sein Leben zerschellen wird.

Dr. Jessrich rührt sich lange nicht. Dann zieht er mechanisch den weißen Mantel aus. Er bleibt vor seinem Schreibtisch stehen.

Vorbei.

Nein, denkt er, um eines werde ich mich noch kümmern.

220

Als Erika ihren Dienst in Berlin antrat, war

Obersturmbannführer Westroff-Meyer verreist. Das Mädchen Ruth empfing sie, teils mürrisch, teils gleichgültig. Während sie Erika einließ, sah sie auf ihre goldene Armbanduhr. Sie hatte gelernt, zu übersehen, woher die kostbaren Geschenke ihres Chefs stammen.

»Ich soll dich hier einarbeiten ...«, begann Ruth. Erika schluckte das Du, ohne es zurückzuweisen. Sie war ein Kind ihrer Zeit, und in ihrer Zeit wurde im Straßengraben nach dem Motto Brüderschaft getrunken: »Willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag’ ich dir den Schädel ein.«

»Du sollst in meinem Zimmer bleiben«, fuhr Ruth fort. Sie sagte es mit einer Stimme, die erkennen ließ, daß sie mit dieser Entscheidung des Obersturmbannführers nicht einverstanden war.

»So ...«, entgegnete Erika gleichgültig.

Sie ging an den Schreibtisch. Leitzordner wie in jedem anderen Büro. Eine Menge neuer Abkürzungen waren zu lernen. Ironisch dachte die entlassene RAD-Jungführerin: Zum Beispiel Ue für unehelich.

»Wenn der Chef verreist ist«, erläuterte Ruth, »werden hier die Rückstände aufgearbeitet.«

Erika nickte.

»Aus den Briefen nimmst du die Adressen und schreibst sie auf die Umschläge, das ist alles ... das Zeug muß jetzt mal raus

... es liegt schon weiß Gott wie lange hier herum.«

»Gut«, versetzte Erika.

Sie nahm eine der Vordruckkarten, las den Text:

»Wir bestätigen den Empfang Ihres Schreibens vom ... Wir bedauern, Ihnen in der Angelegenheit keine Auskunft geben zu können ... Heil Hitler.«

Das junge, hübsche Mädchen legte die Karte wieder weg. 221

Sie sollte noch genügend Gelegenheit erhalten, sich zu wundern.

Ruth betrachtete die vermeintliche Rivalin von der Seite, schluckte. Sie sah den gutsitzenden Pullover, den glatten schlichten Rock, die hellen Augen, ihr natürliches Lächeln. Da beugte sich Ruth verbissen über ihre Maschine. Sie stellte sich das Gesicht Westroff-Meyers vor und wußte alles. Erika spannte Umschläge ein und wieder aus, tippte Adressen, die einmal am Ende standen und dann am Anfang. Das war die ganze Abwechslung. Sie arbeitete drauflos wie früher in der Munitionsfabrik. Damals handelte es sich um Granaten und Kartuschen, um Zünder und Führungsringe. Und hier?

Sie nahm den Brief zur Hand und las. Nach drei Zeilen streifte sie Schwindel im Kopf.

Es war der Brief eines Mädchens, das an einer Aktion wie römisch zwei, arabisch eins, Heim Z, teilgenommen hatte. Dann war das Kind gekommen und der Mann verschwunden. Das Geschenk für den Führer krähte sich in ein hartes Leben. Der Pakt war erfüllt. Und nun schrieb die Verblendete rührend wie hilflos:

»... Können Sie nicht diese eine Ausnahme machen ... obwohl ich nicht verheiratet bin ... ich möchte mein Kind wiederhaben, und ich weiß nicht einmal, wo es ist ... Ich war ja damals noch viel zu jung ... ich wußte nicht, was es heißt, ein Kind zu haben und es dann wegzugeben ... Bitte, helfen Sie mir doch!«

Von nun an faßte Erika die Briefe an, als wären sie Steinplatten. Sie wagte kaum mehr, sie zu lesen. Sie betrachtete das gleichgültige Gesicht Ruths, und sie fürchtete sich davor, genauso kaltschnäuzig und abgebrüht zu werden. Mittagspause in der Kantine. Die Angestellten der Dienststelle aßen gemeinsam. Sie erzählten Witze und lachten. 222

Erika schüttelte sich. Ruth flirtete mit einem SS-Offizier. Sie hatte die Gunst ihrer Chefs so nötig wie die in Polen geraubten Kinder die Elternliebe.

Erika kam zuerst in das Büro zurück, sortierte Formblätter, las Namen. Unten lag wieder eine Anweisung. Sie registrierte die Meldung:

›Klaus Steinbach ... Mutter: Doris Steinbach, geborene Korff

... Kind ist in ein Heim einzuweisen ...‹

Erika fühlte die Ungeheuerlichkeit auf sich zukommen. Sie begriff den Inhalt. Das Schreiben zitterte in ihrer Hand. Ruth kam zurück und fauchte sie an:

»Wie kommt das auf deinen Schreibtisch? ... Das ist eine Geheimsache!«

»Geheimsache?« wiederholte Erika abwesend.

Sie hatte sich schon vorgenommen, zu kündigen. Und sie wußte, daß sie jetzt bleiben mußte. Wegen Doris ... Inzwischen träumt sich Doris ihrer Entlassung aus dem Heim entgegen. Sie erholt sich rasch und gedeiht mit dem winzigen Klaus. Sie ist fraulicher und noch schöner geworden. Ihr Lächeln ist zärtlich, und ihre Zärtlichkeit lächelt. Sie liegt weich in den Kissen, gelockert, gelöst, glücklich. Dreimal täglich brachte man ihr das Kind, und sie sprach mit ihm, als ob es bereits erwachsen wäre. Und dann, jeweils am Nachmittag, kamen Klaus und Kempe, immer gemeinsam, und sie erlebten eine ruhige, gemächliche Plauderstunde zu viert, trafen Verabredungen, von denen sie von vornherein wußten, daß sie niemals eingehalten würden.

Als erster mußte Kempe zurück. Er verabschiedete sich von seiner Frau mit dem sturen Fatalismus des Frontsoldaten. Ein ganzes Volk lernte ja in diesen Jahren das Abschiednehmen von der Pike auf. Für immer oder bis zum nächstenmal. Horst Kempe schüttelte seiner Frau kräftig die Hand und sagte: 223

»Mach’s gut, Grete.«

Und dann ging er so gelassen und selbstverständlich aus dem Zimmer, als ob er zu einer Hamsterpartie über Land fahren würde.

Klaus fiel es schwerer. Doris wußte es. Er sah zum Fenster hinaus, als er sagte:

»Ich bekomme bald Genesungsurlaub ... und dann richten wir unsere Wohnung ein.«

»Ja«, erwiderte Doris, »ich bin froh, daß du nicht an die Front brauchst ...«

Klaus war nach Süddeutschland in ein Speziallazarett verlegt worden.

Dann ging er zu seinem Sohn. Und er wunderte sich, wie selbstverständlich ihm auf einmal das Kind war. Er hatte sich in der Vaterrolle immer ein wenig hilflos gesehen. Aber das Kind mit den großen Kugelaugen machte es ihm leicht. Klaus Steinbach ging, ohne sich umzusehen.

Und jetzt wartet Doris auf die Heimfahrt. Ein anderer Arzt behandelt sie. Dr. Jessrich ist noch im Haus, aber er praktiziert nicht mehr. Gerüchte wissen, daß er an die Front strafversetzt wird.

Doris und Grete Kempe plaudern noch, als das Licht ausgeht. Dann hören sie Schritte vor der Türe. Es ist Dr. Jessrich. Er geht durch das Heim, dessen Chefarzt er war, wie auf Zehenspitzen. Er hat einen harten Gang vor sich, den ihm der Anstand vorschreibt.

Endlos erscheint ihm der Weg über den dämmrig beleuchteten Korridor, über die Wollteppiche, die seinen Schrift halb verschlucken. Es ist so wenig, was er tun kann. Aber das einzige. Er muß es einfach, ohne an die Folgen zu denken.

Er steht vor der Tür, klopft beinahe zaghaft, sieht sich noch 224

einmal suchend um. Sein Herz schlägt am Hals. Bald, an der Front, wird er es weniger spüren. Aber was er jetzt vor sich hat, ist schlimmer als jede HKL.

Er tritt ein, knipst das Licht an. Sein Blick gleitet über die beiden Betten. Frau Kempe räkelt sich auf, betrachtet den Arzt.

»Was ist denn los, Herr Doktor?«

»Entschuldigen Sie, daß ich störe ...«

Doris betrachtet ihn wortlos, erschrocken.

»Hören Sie, Frau Kempe«, beginnt der Arzt, »was ich jetzt sage ... ist nur für Frau Steinbach bestimmt ... es bringt mich um Kopf und Kragen, wenn ...«

»Ich schlafe schon«, antwortet die große, blonde Frau knapp.

»Etwas ... mit dem Kind?« fragt Doris bange.

»Ja«, antwortet Dr. Jessrich, »nicht so«, wehrt er sofort ab,

»es ist gesund, entwickelt sich prächtig.«

Er setzt sich auf das Bett von Doris. Sie will sich aufrichten, aber er schiebt sie mit der Hand sanft in das Kissen zurück. Sein Lächeln gefriert.

»Bitte ... seien Sie ganz ruhig, bitte!«

Ihr Blick pendelt über sein Gesicht.

»Ist etwas ... mit meinem Mann?«

»Nein«, erwidert der Arzt knapp. Drängend setzt er hinzu:

»Bitte, Frau Steinbach ... haben Sie Vertrauen zu mir.«

Doris nickt. Ihre Augen werden groß und dunkel.

»Ich bin hier nicht als Ihr Arzt«, fährt er hastig fort,

»sondern als ein ... Mensch ... der Ihnen helfen ...«

»Was ist?« unterbricht ihn Doris. Ihre Stimme vibriert.

»Bitte, ganz ruhig bleiben, ich ... ich muß Sie warnen ...«

»Warnen?«

»Ja«, versetzt der Arzt schwer.

225

»Wovor?«

Dr. Jessrichs Augen bleiben am Boden.

»Man will Ihnen Ihr Kind nehmen ... es soll in ein Heim kommen ... ich sollte die Einweisung unterschreiben ... ich habe es abgelehnt ... aber ...«

Die Worte kippen von einem hohen Rand in den Abgrund, der Doris verschlingen will. Sie begreift nicht, sie hört die Sätze entfernt, und dabei schneiden sie ihr in die Haut. Aber sie nimmt sich zusammen. Sie spürt instinktiv, wie menschlich Dr. Jessrich ist.

»Bitte«, sagt sie mit zu hoher Stimme, »sagen Sie alles, Herr Doktor.«

»Westroff-Meyer ...«, beginnt Doktor Jessrich. Da begreift Doris alles. Die Decke, unter der sie liegt, hebt und senkt sich. Der Arzt streicht ihr vorsichtig über den Kopf, und die junge Frau wird auf einmal ruhig, stark, denkt klar, schnell.

»Was werden Sie tun?« fragt Dr. Jessrich.

Ihre Lippen bewegen sich, aber sie zittern nicht mehr.

»Ich gehe ... morgen ... mit meinem Kind ...«

»Ja«, antwortet der Arzt.

»Ich lasse es mir nicht nehmen«, antwortet Doris leise.

»Ich ... wünsche Ihnen viel Glück«, entgegnet Dr. Jessrich weich.

Doris gibt ihm die Hand.

»Handeln Sie schnell, Frau Steinbach!«

Er steht auf, ist in der Mitte des Raumes.

In diesem Moment fährt Frau Kempe hoch.

»Ich hab’ nicht geschlafen, Doktor ... Verdammt noch mal, ich hab’ nicht geschlafen! ... Das ist ja ... sagen Sie ... dafür kämpfen wir ... mein Mann? Daß man mit seinem eigenen 226

Kinde fliehen muß?«

Der Arzt nickt.

Und in dieser Sekunde erkennen drei Menschen klar und endgültig, daß das System keine Politik, sondern ein Verbrechen ist.

Frau Kempe steht auf, setzt sich zu Doris ans Bett.

»Ich helfe Ihnen«, sagt sie, »das ist klar.«

Die letzte Stunde verrinnt wie im Fieber. Doris wartet bis zum Mittag. Um ein Uhr gehen die Schwestern essen. Frau Kempe hat sich einen Liegestuhl in den Garten stellen lassen. Sie schläft nicht, sie beobachtet. Doris zieht sich unbemerkt an. Ein paarmal stützt sie sich gegen den Schrank. Sie ist doch noch schwächer, als sie annahm. Sie spürt ihr Gewicht in den Knien. Die Narbe zieht. Aber was ist dieser Schmerz, gemessen an Angst, Sehnsucht und Hoffnung?

Um neun Uhr morgens brachte man ihr Klaus. Sie flüsterte tausend Worte in sein Ohr, die er quietschend verstand. Es war eine Verschwörung.

»Weißt du«, hatte die junge Mutter gesagt, »heute machen wir unseren ersten, gemeinsamen Streich ... wir laufen einfach weg ...«

Doris weinte, als man das Kind zurückbrachte. Sie mußte sich abwenden. So bemerkte sie das verstörte Gesicht der Schwester nicht.

Jetzt sieht Doris auf die Uhr, übt Schritte, ist entschlossen, ihre Sachen hierzulassen. Sie muß den Kleinen tragen. Nur das Nötigste mitnehmen. Wenn Klaus das wüßte, überlegt sie, ich werde ihm gleich telegrafieren, wenn alles gelungen ist. Fünf Minuten nach ein Uhr geht Doris über den Korridor. Der Gong rief zum Mittagessen. Sie zwingt ihre Beine, auch wenn der Flur uferlos erscheint. Sie kennt den Weg, das Kinderzimmer, das Bettchen, den Jungen. Unter Tausenden 227

würde sie ihn auf den ersten Blick finden ... Sieben Minuten nach ein Uhr gellt ein unheimlicher Schrei durch das Haus, reißt die Patienten aus den Liegestühlen, läßt die Schwestern vom Mittagstisch auffahren.

So finden sie Doris, zusammengebrochen vor dem Bett ihres Kindes, vor der einzigen leeren Wiege des Hauses. An der Schwester, die sie aufrichten will, krallt sie sich fest. Ihr Gesicht ist ein einziges, zuckendes Entsetzen. Doris spricht wie im Fieber, flüsternd, schreiend, immer das gleiche:

»Wo ist mein Kind ... Wo ist es? ... Sagen Sie es! Ihr habt mir mein Kind genommen ... Wo ist mein Kind? ...«

Der Zusammenbruch gibt Doris Kräfte, die sie nicht kennt, die sie nie besaß.

»Wo ist mein Kind?« schreit sie.

Die Schwestern starren auf den Boden. Die Oberin fuchtelt mit den Armen.

»Aber, nun beruhigen Sie sich doch ... wird sich ja alles finden ...«, tröstet sie schwächlich.

Doris schluckt. Wieder gleiten ihre Augen über die kleinen Betten, von denen nur eins leer ist.

Da schlägt Doris um sich. Die Schwestern kreischen. Drei, vier stürzen sich auf sie, brauchen lange, bis sie sie überwältigen.

Man schleppt die Mutter, der einer das Kind genommen hat, auf eine Bahre im Stationszimmer. Ihr Gesicht ist wächsern. Die Oberin telefoniert ohne Pause. Drei Schwestern bewachen die unendlich müde, zerschlagene Mutter. Eine davon murmelt monoton vor sich hin:

»Ihrem Kind geht es gut ... gut ... geht es gut ... ist alles in Ordnung ...«

Endlich kommt der Assistenzarzt. Die Spritze glitzert in seiner Hand. Ein Beruhigungsmittel. Es gerinnt in den Adern 228

von Doris zu eisiger, gefährlicher Ruhe.

Und dann verwandelt sich das Rauschen wieder in ein Flimmern. Es wird licht. Der Film ist wieder da. Der abgerissene Streifen.

»Ich ... ich möchte Dr. Jessrich sprechen«, sagt Doris.

»Nicht mehr bei uns«, antwortet der Assistent selbstbewußt,

»vorläufig bin ich sein Nachfolger ...« Er kennt den Preis, den er dafür bezahlte.

Doris hebt müde die Hand gegen die Stirn. Dann richtet sie sich langsam auf, unheimlich still, entsetzlich beherrscht.

»Ich verstehe«, sagt sie gläsern. Dann steht sie auf.

»Aber legen Sie sich doch hin, Frau Steinbach!«

»Ich gehe«, antwortet Doris schleppend, »rühren Sie mich nicht an ... ich ... ich hole die Polizei!«

Das Wort löst magische Verblüffung aus. An diese Möglichkeit denkt kein Mensch mehr in dieser Zeit. Doris taumelt. Es ist ihr gleichgültig. Ihr Körper brennt wie Feuer. Hinter ihr tobt der Assistenzarzt:

»Wo wollen Sie hin?« brüllt er in aufkommender Panik. Dann wird seine Stimme dünner und dünner.

Doris schlägt das eiserne Gitter zu. Zuletzt hört es sich an wie ein Keuchen:

»Ich befehle Ihnen!«

Doris hat Glück. Sie kommt bis zur Post. Sie füllt das Telegramm an Klaus aus.

Inzwischen suchen die Schwestern überall. Aber sie finden Doris nicht. Und während sie suchen, betritt die junge Frau des deutschen Oberleutnants Klaus Steinbach das Polizeigebäude des Städtchens ...

Klaus blieb nicht lange in Oberbayern. Schon nach ein paar Tagen nahm ihn bei der morgendlichen Visite der 229

Oberstabsarzt auf die Seite. Er löste den Verband und betrachtete aufmerksam die Wunde. Er schüttelte den Kopf und sagte:

»Sie sind wohl die neue deutsche Geheimwaffe?«

»Wieso?«

»Ihre Einheit hat Sie angefordert ...«

Klaus fragte wortlos.

»Ich weiß, daß Ihr Arm noch nicht ausgeheilt ist ... noch lange nicht ... aber Sie sollen da ... irgendwo im Innendienst ...«

»Im Innendienst?«

»Es ist alles sehr geheimnisvoll«, erwiderte der Oberstabsarzt. Er machte eine fahrige Bewegung mit den Schultern. »Ich tue das nicht gern«, setzte er hinzu, »und außerdem wollen Sie ja sicher auch Ihren Genesungsurlaub haben ...«

»Ja, Herr Oberstabsarzt.«

»Gegen Ihren Willen schicke ich Sie nicht zurück ...«

»Der Kommodore selbst hat mich ...?«

Der Oberstabsarzt nickte.

Klaus zögerte nicht. Irgend etwas Besonderes, dachte er ... oder man braucht mich ... Er war sogar ein wenig stolz darauf; er war immer noch Offizier ...

Zwei Sanitätssoldaten vom Stammpersonal halfen ihm beim Packen. Der Marschbefehl war schon ausgeschrieben. Jetzt erschrak er doch, daß es so pressierte. Man hatte etwas mit ihm vor.

Das weiträumige Haus lag schon hinter Klaus, als ihm ein Unteroffizier nachrief:

»Einen Moment, Herr Oberleutnant ... das ist gerade gekommen für Sie!«

Er übergab ihm ein Telegramm in der Hülle.

230

Klaus riß den Umschlag auf. Die Buchstaben kreisten vor seinen Augen, als er las:

»Westroff-Meyer ließ unser Kind entführen. Ich erstattete gegen ihn Anzeige bei der Kriminalpolizei. Doris.«

Als Doris das Dienstzimmer des Kriminalkommissars betritt, sieht er im ersten Moment unwillig von seiner Zeitung auf. Dann lächelt er, stellt sich vor und schiebt der jungen Frau einen Stuhl hin.

»Ich bin Frau Steinbach«, beginnt Doris, »und ich möchte Anzeige erstatten.«

»Gegen wen?«

»Gegen SS-Obersturmbannführer Westroff-Meyer«, sagt Doris, während sie dem Beamten fest in die erschrockenen Augen sieht.

»Weswegen?«

»Kindesentführung.«

Der Beamte zündet sich zerstreut eine Zigarette an.

»Das müssen Sie mir schon näher erklären«, murmelt er. Doris spricht. Mit trockenen Lippen. Mit schwerer Zunge. Aber klar. Sie starrt auf einen Fleck am Boden. Der Beamte nestelt an seinem Schlips, unterbricht sie:

»... In dem Lebensborn-Heim, sagen Sie?« fragt er, peinlich berührt.

Doris nickt.

»Sie waren in diesem Heim?« fragt er ungelenk weiter.

»Ja«, antwortet Doris.

»Ist denn das eine Kindesentführung?«

Doris schweigt einen Augenblick. Sie würgt die Bitterkeit hinunter, zwingt sich zur Ruhe und sagt:

»Wie nennen Sie es sonst, wenn man einer Mutter das Kind wegnimmt, Herr Kommissar?«

231

»Hm«, entgegnet der Beamte, »wir müssen natürlich zuerst ermitteln«, beginnt er dann. »Ich nehme also ein Protokoll auf, und dann ...«

»Ich will mein Kind ... und einen Haftbefehl gegen Westroff-Meyer«, versetzt Doris bestimmt. Der Beamte überlegt.

»Für einen Haftbefehl bin ich überhaupt nicht zuständig ...«

erwidert er dann vorsichtig.

»Sondern?«

»Der Ermittlungsrichter.«

»Dann möchte ich zum Ermittlungsrichter.«

»Das ist das beste«, versetzt der Kommissar.

Mitleid und Unbehagen ringen miteinander in seinem Kopf. Lebensborn ... SS ... Reichssicherheitshauptamt ... schießt es ihm durch den Kopf. Er kennt sich nicht mehr aus. Er steht auf, gibt Doris die Hand.

»Der Richter ist gleich im Haus«, erklärt er, »ich bringe Sie zu ihm.«

Er läßt Doris vorausgehen, drückt höflich an der Tür die Klinke herunter, begleitet sie schweigend über den Gang, klopft, betritt allein das Zimmer, kommt wieder.

»Bitte«, sagt er.

Er geht zurück, schüttelt sich. Unangenehm, mehr als unangenehm, so oder so ...

Dann meldet er ein Ferngespräch nach Berlin an: Reichskriminalpolizeiamt.

Auch dort ist man ratlos und wendet sich an die vorgesetzte Behörde: an das Reichssicherheitshauptamt.

Und während Doris dem Richter ein Verbrechen vorträgt, wird ihr Schicksal telefonisch ausgehandelt, eiskalt und unerbittlich.

232

Der Kopf des Ermittlungsrichters Dr. Dehn ist so kahl wie sein Gewissen, seine Stimme so leise wie sein Mut, seine Hand so fahrig wie sein Gedanke. Er ist als Mensch nicht so übel. Nur seine Urteile sind es, seit Justitia, zu der er einmal gläubig schwor, zu einer Konkubine des Systems wurde. Er handelt niemals freiwillig, aber wenn man es ihm befiehlt, hundertprozentig. Aus dem Adlerhorst des Rechts ist längst ein Geiernest des Unrechts geworden. Die dunkle Robe verwandelte sich in ein Braunhemd, das alles zudeckt: Die Angst, die Vernunft, das Fallbeil ...

Er hört Doris schweigend an, räuspert sich etwas verlegen, einmal, zweimal, sieht konsequent an der jungen Frau vorbei, den Blick in einer vagen Ferne, die an der graugetünchten Wand mit dem Spruchband ›Recht ist, was dem Volk nützt‹

endet.

»Hm«, sagt er dann, »Lebensborn ... ist das nicht ... eine politische Sache?«

»Auch das«, antwortet Doris ruhig.

»Ich meine ... gibt es da nicht ... Sonderbestimmungen?«

»Nicht einmal da«, entgegnet Doris heftiger als sie will,

»selbst dort können Mütter ihre Kinder mitnehmen, wenn sie darauf bestehen.«

»Ja, aber ich ... ich verstehe nicht ...«

»Aber ich«, versetzt die junge Frau knapp. Sie wundert sich selbst über die Ruhe, die sie hat. Jeder Gedanke in ihr schreit nach dem kleinen Klaus. Aber sie bringt es auf einmal fertig, besonnen, logisch, zusammenhängend zu sprechen.

»Das ist eine persönliche Intrige des Obersturmbannführers Westroff-Meyer ... es gibt kein Gesetz, das ihm das erlaubt, nicht einmal eine Bestimmung der ...« Doris hebt den Kopf, zwingt den Richter, sie anzusehen, »der SS ... verstehen Sie?«

»Ich versuche es«, antwortet der Richter. Er sieht verstohlen 233

nach dem Telefonapparat. Er weiß, daß ihm die Zentrale in Berlin die Entscheidung abnehmen wird. Juristisch ist der Fall klar, wie so viele andere. Aber soll er, Dr. Dehn, seine Karriere, seine Familie, seine Pension aufs Spiel setzen, um den wahrscheinlich untauglichen Versuch zu machen, einer verzweifelten Mutter zu helfen?

»Es tut mir leid«, entgegnet er dünn und trocken, »ich komme da nicht mit ... es kann sich alles nur um einen Irrtum handeln ... Sie werden sehen ...«

Doris schweigt.

»So was gibt es doch in unserem Ordnungsstaat gar nicht ... Sie wissen, daß die Mutter den vollen Schutz der Bewegung hat ...« Er fährt sich mit der Hand über den Mund, wie um die Phrase wegzuwischen. »Haben Sie denn sonst nicht ... ich meine ... vielleicht mal eine unbedachte Äußerung ... Sie sind doch arisch, oder?«

»Ja«, erwidert Doris leise, »ich bin arisch.«

Der Richter zuckt die Schultern.

»Und auch die Familie? ... der Mann ... erbgesund?«

»Mein Mann ist Offizier.«

»So«, antwortet der Richter beinahe erschrocken. Wirklich eine peinliche Geschichte!

Wenn nur diese Augen nicht wären, denkt er. Ich muß ihr helfen, gewiß ... aber um Gottes willen mich nicht mit dem Reichssicherheitshauptamt anlegen! Ich bin doch nicht verrückt! Das kann doch kein Mensch von mir verlangen. Dieser Spuk geht sicher einmal zu Ende. Aber bis er zu Ende geht, bin ich eben Gespenst. Nicht nur ich. Die anderen erst, die vom Sondergericht! Sind ja viel schlimmer. Lassen gleich die Köpfe rollen ...

Dr. Dehn steht auf.

»Ich tue für Sie, was ich kann«, murmelt er matt. 234

Er ruft einen Sekretär herein, sagt zu ihm:

»Spannen Sie ein.«

Er beginnt umständlich, die Personalien aufzunehmen. Dann macht er sich an die Formulierung der Anzeige. So vorsichtig wie möglich. Er kommt nicht weit. Das Telefon schlägt an. Ein paarmal verbeugt sich der Richter hastig und schäbig vor dem unsichtbaren Gesprächspartner. Seine Hand zittert, während er dienernd ruft:

»Jawohl ... selbstverständlich! ... werde den Befehl ausführen ... natürlich ... Sie können sich ganz auf mich verlassen ... Heil Hitler!«

Er steht am Fenster. Sein Blick geht auf die Straße. Der Protokollführer kaut an seinen Nägeln. Doris senkt den Kopf. Langsam dreht sich der Richter um.

»Gehen Sie«, sagt er zu seinem Sekretär.

Er kämpft mit der Scham, wie so oft. Es ist noch seine beste Empfindung, aber er läßt sie verkümmern. Dann sagt er, den Blick am geölten Boden:

»Tut mir leid, Frau Steinbach ... das

Reichssicherheitshauptamt hat diesen Fall übernommen ... Ich muß Ihnen eröffnen, daß Sie ... verhaftet sind ...«

235

15. KAPITEL

Klaus Steinbach wußte nicht, wie er die Fahrt im Fronturlauberzug zu seinem Geschwader hinter sich brachte. In den ersten Stunden saß er steif und betäubt in der Ecke des Abteils. Das Stoßen und Schütteln des Zuges bohrte sich in seinen verwundeten Arm. Aber diesen Schmerz spürte er nicht. Die Wunde brannte nicht mehr im Fleisch. Sie saß viel tiefer, zerfraß das Bewußtsein, mordete das Herz, löschte den Verstand, zuckte unter dem Rhythmus der Räder: Sie haben dir dein Kind genommen! Dann raffte er sich wieder auf. In irgendeiner Station taumelte er zum Gebäude, suchte ein Telefon, bestürmte das Fräulein vom Amt. Aber es war Nacht, Nacht über Deutschland, Feindflieger zerschlugen die Verbindungen, die geflickten Netze waren überlastet. So bekam Klaus das Gespräch mit Doris nicht. Er hetzte zurück zu seinem Zug. Versuchte es auf der nächsten Station wieder. Vergeblich. So ging es die ganze Nacht.

Schließlich meldete er sich bei seinem Geschwader. Der Adjutant schüttelte den Kopf.

»Um Gottes willen, Steinbach, wie sehen Sie denn aus?« Er faßte den Oberleutnant vertraulich am gesunden Arm. »Sie können natürlich sofort danach Ihren Genesungsurlaub antreten

...«

»Wonach?« fragte Klaus verständnislos.

Der Adjutant lachte wissend.

»Gratuliere, gratuliere«, tönte er.

Klaus zuckte die Schultern. Er schüttelte den Unsinn, den er nicht verstand, von sich ab. Dafür begriff er von nun an glasklar, daß er täglich seine Haut für ein System zu Markt trug, bei dem Menschenraub nichts Außergewöhnliches war.

»Ich muß sofort den Kommodore sprechen«, drängte er. 236

»Jetzt unmöglich ... aber nachher ... gleich danach«, erwiderte der Adju. »Das Geschwader tritt in einer halben Stunde an ... der General kommt doch.«

Klaus ging wortlos aus der Baracke.

»Paradeanzug!« schrie ihm der Adjutant nach.

Ein schriller Pfiff gellte über den Feldflughafen. Das Geschwader stand im Karree, sauber ausgerichtet. In der Mitte Klaus, anwesend beim Appell, abwesend mit den Gedanken. Mein Junge ... geraubt ... von so einem Schwein. Ich werde es euch zeigen!

Dann lief das militärische Brimborium. Blitzende Stahlhelme, zackige Kommandos, wirbelnder Staub. Die Meldung des Kommodore. Der General. Der Wind schlug seinen Mantel auseinander. Die weißen Streifen liefen links und rechts der Hosennaht nach unten, an die auch ein General mitunter die Hand pressen mußte.

Auf einmal begriff Klaus die Andeutung, die lachenden Gesichter, die voreiligen Glückwünsche. Das Ritterkreuz! Am liebsten würde er auf dem Absatz kehrt machen, sich im Spind verstecken. Er spürte die Galle auf der Zunge. Er konnte nicht zurück. Er stand wie angewachsen. Das Ritterkreuz!

Daran hatte er geglaubt, davon hatte er geträumt, dafür hatte er sein Leben in die Schanze geschlagen; dafür waren ganze Einheiten im feindlichen Feuer aufgerieben worden, das hatte den Selbsterhaltungstrieb junger Männer aufgelöst, hatte sie nach vorne gepeitscht, hatte ihre bloßen Körper den feindlichen Garben ausgesetzt ...

Der Boden drehte sich unter den Füßen von Klaus. Gold gab ich für Eisen, dachte er, mein Kind für einen Orden. Leere, lose Worte dröhnten in seinem Kopf, wuchsen zu einer brausenden Lawine. Der Junge ist geraubt! Und das begrub alles unter sich: Die Freude, der Stolz, den Augenblick, die Zukunft.

»Heil Hitler, Soldaten!« schrie der General.

237

»Heil Hitler, Herr General«, rumpelte das Geschwader. Klaus rief nicht mit. Mit erzwungener Kälte, wie durch eine beschlagene Glaswand, sah er dem General entgegen, der jetzt breitbeinig auf die Front der Männer zukam. Klaus hörte seinen Namen. Sein Nachbar gab ihm einen leichten Rippenstoß. Klaus setzte sich in Bewegung. In seinem Rücken brannten die Augen der Kameraden vor Neid. Er ging wie auf Prothesen, steif, hölzern.

Der Adjutant neben dem General hielt ein kleines Kästchen in der Hand. Der hohe Offizier hatte unnatürlich blaue Augen. Sie leuchteten wie in einem Ufa-Farbfilm.