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Das Lagezentrum hoch oben im dreißigsten Stock des Samurai Tower war ein gut zehn mal zwölf Meter großer Raum mit einer ebenso langen Fensterfront, die nach Westen hinausging. Damit besaß das Lagezentrum eine Weiträumigkeit, von der die einstigen Bewohner dieser Mietskasernen nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Sie war denn auch das Ergebnis von mehreren zusammengelegten Zimmern, deren Zwischenwände man bis auf tragende Stützen herausgerissen hatte.
Kendira war verblüfft, als sie hinter Akahito durch die Tür trat. Was genau sie hier oben erwartet hatte, konnte sie nicht sagen, aber bestimmt nicht das.
Zeno hinter ihr murmelte spitz: »Hier ist man sich wohl nicht einig geworden, ob das ein Führerbunker oder ein Game Room und Lümmellounge für ältere Herren werden sollte!«
Der Raum war in der Tat eine höchst seltsame Mischung aus nüchtern militärischer Kommandozentrale und kurios eingerichtetem Spiel-und Wohnzimmer.
Mit wenigen Blicken erfasste Kendira die merkwürdige Ausstattung. Was ihr zuerst ins Auge fiel, war der lange rechteckige Tisch parallel zu der Längswand, die dem Eingang gegenüberlag. Er bestand aus einer durchgehenden Metallplatte, die auf vier Holzböcken ruhte. Auf seiner Oberfläche lagen mehrere Glasscheiben, die die Fläche jedoch nicht hundertprozentig genau abdeckten. Ein wirres, buntes Muster schimmerte durch das Glas, als wäre die Tischplatte darunter bemalt. Etwa zwei Dutzend Stühle aus Holz, Plastik, Stahlrohr und Gitterdraht, von denen keine zwei dieselbe Form besaßen, reihten sich um die aufgebockte Stahlplatte.
Über dem Tisch hingen drei Lampen mit primitiven, trichterförmigen Metallschirmen. Sie sahen wie umgedrehte, von der Decke hängende Eimer aus Wellblech aus. Die Drähte stiegen zu einem kreuz und quer verlaufenden Kabelsalat auf, der die Decke mit einem spinnwebartigen Netz überzog, und trafen sich dort mit einem dicken Kabelstrang. Dieser führte hinunter zu sechs Batterien, die sich in der Zimmerecke auf einem dicken und breiten, hüfthohen Brett aneinanderreihten. Dort wo die Reihe der Batterien endete, fiel der Blick auf ein klobiges, kastenförmiges Funkgerät mit verkratztem Metallgehäuse und militärischem Tarnanstrich. Das Brett lag auf vier Säulen von Ziegelsteinen, an denen zum Teil noch alter Mörtel klebte. Daneben standen zwei fahrradähnliche, pedalbetriebene Dynamogeräte.
»Mann, sieh dir mal das Monstrum von Funkgerät an!«, murmelte Carson an ihrer Seite. »Das Ding muss noch aus einem Krieg lange vor dem Großen Weltenbrand stammen!«
Kendira ging in dem Moment ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf, nämlich dass sie eine Welt betreten hatten, die ihnen völlig fremd – und zugleich doch aus Hunderten von Spielfilmen vertraut war. Sie erkannten so vieles, das sie noch nie zuvor in der Realität gesehen hatten, von dem sie aber auf den ersten Blick wussten, wozu es diente und was es darstellte. Es stürzten so viele Eindrücke auf sie ein – und dazu kam die Ungewissheit, ob sie ihre gerade erst gewonnene Freiheit schon wieder verloren hatten.
Drei verblichene Poster hingen hinter dem Tisch an der Wand. Das in der Mitte zeigte die Freiheitsstatue, deren symbolträchtige Fackel längst erloschen war und mit den restlichen Trümmern der Lady Liberty schon seit Jahrzehnten auf dem schlammigen Meeresgrund in der Einfahrt des zerstörten New Yorker Hafens lag. Auf dem Poster rechts davon wehte eine amerikanische Flagge über einem schier endlosen Feld von Grabkreuzen aus blendend weißem Stein. Und das linke Poster zeigte den ziegenbärtigen Uncle Sam mit seinem hohen Zylinder, patriotisch geschmückt mit den Sternen und Streifen der amerikanischen Flagge. Er wies mit ausgestrecktem Arm und Zeigefinger auf den Betrachter. Und der fette Schriftzug unter der Figur verkündete:
Die US-Armee braucht dich!
Rechts vom Tisch, an der fensterlosen Hinterwand, zog sich ein langes Holzregal entlang. Es handelte sich um eine Art von offenem Waffenschrank mit Dutzenden von Einlegehalterungen für Gewehre und Handfeuerwaffen. Die Gewehre waren in der Mehrzahl Jagd-und Schrotflinten. Moderne Schnellfeuergewehre oder Maschinenpistolen befanden sich nicht darunter. Der untere Teil des Waffenschranks bestand aus unterschiedlich großen Fächern, in denen Munition sowie waffenrelevantes Werkzeug, Ersatzteile und Reinigungsmittel aufbewahrt wurden.
Links vom Eingang lag der Teil des Lagezentrums, den Zeno so treffend als Game Room oder Lümmellounge für ältere Herren bezeichnet hatte. Dort stand gleich neben der Tür eine alte, neonbunte Jukebox, bis auf den letzten Speicherplatz gefüllt mit Singles. Dahinter schlossen sich ein Billardtisch mit Füßen aus Löwenklauen, ein großes Dartboard und ein Glasschrank mit einer Sammlung von Baseballschlägern, Bällen und ledernen Catcher-Handschuhen an.
Den Abschluss bildete eine bunt zusammengewürfelte und hufeisenförmig arrangierte Sitzgruppe. Sie bestand aus einem wuchtigen Vierer-Sofa, das mit einem abgewetzten, teppichartigen Material bezogen war und ein grässliches, augenschmerzendes Blumenmuster aufwies, einer Holzbank mit hohem Rückenteil, drei Ohrensesseln, einigen ledernen Sitzwürfeln und einem gepolsterten Armstuhl, der mit flammend rotem Samtstoff bespannt war. Anstelle von Postern hingen an dieser Wand mehrere unterschiedlich lange und breite Blätter mit Tuschezeichnungen.
»Was für ein wüster Mischmasch!«, murmelte Carson.
Kendira nickte wortlos. Ihre Aufmerksamkeit galt schon nicht mehr der seltsamen Einrichtung. Ihr Blick war auf den Mann gefallen, der mit dem Rücken zu ihnen vor dem offenen, nach Westen gehenden Fenster stand – obwohl die Bezeichnung Fenster nicht ganz zutraf. Es handelte sich vielmehr um eine mehrere Meter lange Öffnung, die vom Boden bis zur Decke reichte und durch ein hüfthohes Metallgitter gesichert war. Verschließen ließ sie sich mit zwei Bretterwänden, die auf Rollen liefen und jetzt zurückgeschoben an den Seiten standen.
Der Mann war von schlanker, mittelgroßer Gestalt mit schmalen Schultern. Sein eisgraues Haar war militärisch kurz geschoren. Er hatte ein staubgraues Hemd mit Stehkragen an, das er locker über einer schwarzen, seidig glänzenden Hose trug. Seine Füße steckten in schwarzen Ledersandalen. Er blickte durch ein altes ausziehbares Fernrohr aus Messing und dunklem Holz, das vielleicht im 18. Jahrhundert dem neuesten Stand der Linsen-und Fernrohrtechnik entsprochen hatte.
»Die Überlebenden aus dem Wrack, es sind alles Morituri, Tai-Pan«, meldete sich Akahito, während seine Männer die sechs Alukisten in den Raum brachten. Sie stellten sie nahe der Sitzgruppe ab und gingen wieder. »Und hier sind sechs Kisten, die der Chopper an Bord hatte.«
»Sehr gut, Akahito. Das war ein exzellent ausgeführter Einsatz!«, lobte der Mann am Fenster, schob das Fernrohr zusammen und legte es vor sich in einen am Gitter hängenden Drahtkorb. Dann griff er zu einem silberbeschlagenen Gehstock, drehte sich um und kam ihnen einige Schritte entgegen. Dabei zog er das rechte Bein nach, das steif zu sein schien. Sein Gesicht wies energische Züge und helle, wachsam blickende Augen auf. Sein Alter ließ sich schwer schätzen, aber jenseits der sechzig musste er schon sein. Ein stilisierter schwarzer Drache war in das graue Stehkragenhemd über der linken Brust eingestickt. »Auch Ning hat seine Sache mal wieder gut gemacht. Die Islander, die euch schon so dicht im Nacken saßen, doch noch rechtzeitig abzuhängen …«
»Wir verlangen eine Erklärung!«, platzte es da aus Carson heraus. »Warum hat man uns hierherverschleppt? Was haben wir euch Samurai getan, dass ihr uns wie Gefangene behandelt?«
Es mochte nicht gerade geschickt gewesen sein, dem Tai-Pan das Wort abzuschneiden, aber er sprach ihnen doch allen aus der Seele. Sie alle bangten und wollten Gewissheit, wollten Antworten – vor allem auf die wichtigste Frage, was die Jachis mit ihnen vorhatten.
»Erst einmal haben wir euch vor der Meute Trümmerratten gerettet«, erinnerte Akahito ihn. »Und keiner hat gesagt, dass ihr Gefangene seid.«
»Aber verschleppt habt ihr uns dennoch!«, beharrte Carson. »Warum?«
»Wir haben euch mitgenommen, damit ihr nicht den Islandern in die Hände fallt!«, antwortete Liang.
»Und weil nicht jeden Tag ein Hyperion-Helikopter vom Himmel fällt«, fügte Tai-Pan Yakimura gelassen hinzu, »und wir nicht jeden Tag Todgeweihte wie euch zu Gesicht bekommen.«
»Das ist keine Antwort, mit der wir etwas anfangen können, Tai-Pan«, meldete sich nun Dante zu Wort, doch mit gemäßigter, respektvoller Stimme. »Sind wir nun Gefangene oder Geiseln – oder sind wir frei? Das müsste doch leicht zu beantworten sein!«
»Ich habe nicht die Absicht, euch eurer Freiheit zu berauben«, versicherte der Tai-Pan.
»Wobei ›frei‹ in eurer Situation nur ein anderes Wort für ›so gut wie tot‹ ist«, fügte Akahito dem trocken hinzu.
Liang nickte knapp. »Nehmen wir mal an, irgendein Wunder hätte euch nicht nur davor bewahrt, von den Trümmerraten abgeschlachtet und in Stück gerissen, sondern auch von den Islandern aufgegriffen zu werden – wohin hättet ihr dann gewollt? Und wie hättet ihr das angestellt? Wisst ihr überhaupt, was das da draußen ist?« Er deutete zur großen Wandöffnung hin, hinter der sich unter einem tief hängenden grauen Morgenhimmel eine trostlose Trümmerlandschaft abzeichnete.
Wie zur Bestätigung seiner Worte fielen irgendwo in der Ferne mehrere Schüsse, die von zwei Feuerstößen aus Maschinenpistolen oder Schnellfeuergewehren beantwortet wurden.
»Ja! Die Dunkelwelt!«, stieß Kendira hervor. »Wir wissen sehr wohl, wo wir abgestürzt sind und was das für eine elende und gesetzlose Welt ist!«
»Aber wisst ihr auch«, fragte Akahito, »warum man euch in der Dunkelwelt so wie früher die todgeweihten Gladiatoren im alten Rom Morituri nennt?«
Der Tai-Pan hob die Hand. »Vielleicht sollten wir nicht gleich mit der Tür ins Haus …«
Jetzt war es Nekia, die ihm ins Wort fiel. »Wir wissen, welche Lügen uns all die Jahre in Liberty 9 aufgetischt worden sind! Und wohin die Verbrecher in Presidio uns schicken wollten und was uns dort erwartet hätte!«
Verblüffung zeigte sich auf Yakimuras Gesicht. »Ihr wisst das und seid trotzdem in den Helikopter gestiegen? Warum um alles in der Welt habt ihr das getan, wenn ihr wisst, dass ihr da lebend nicht wieder herauskommt?«
Carson warf sich stolz in die Brust. »Weil wir unsere Freunde auf Tomamato Island befreien wollten – so wie wir das Valley von Hyperions Handlangern befreit haben!«
»Ihr habt was getan?«, stieß Yakimura ungläubig hervor.
»Liberty 9 befreit und die Macht über das Tal an uns gebracht!«, bestätigte Dante knapp. Nach dem, was Nekia und Carson gerade schon preisgegeben hatten, war es sinnlos, jetzt noch irgendetwas zurückzuhalten. Zudem fasste er langsam Zutrauen. Sein Gefühl sagte ihm, dass ihre Befürchtungen übertrieben gewesen waren. »Und das in den Kisten ist unsere Ausrüstung, mit der wir nach der Landung auf der Atominsel die Wachmannschaften überwältigen und unsere Freunde retten wollten. Wir selbst haben die Zahlenschlösser angebracht.«
»Allmächtiger, ihr habt diesen Teufeln das Handwerk gelegt?«, entfuhr es Yakimura. »Ich kann es kaum glauben! Das müsst ihr uns genau erzählen! Auch wie ihr eure Kameraden auf der Insel retten wolltet. Aber sagt mir erst mal, wie ihr heißt.«
Sie stellten sich mit Namen vor und vergaßen auch nicht, Joetta und Marco zu erwähnen.
»Macht es euch bequem und erzählt! Ihr könnt mich übrigens Kaito nennen«, bot der Tai-Pan ihnen an, während er in dem Lehnstuhl Platz nahm. »Akahito und Liang, unsere beiden besten Drachenflieger, habt ihr ja schon kennengelernt. Akahito, besorg uns doch eine Erfrischung. Unsere Gäste sehen reichlich mitgenommen und müde aus.«
»Ich kümmere mich darum, Tai-Pan.«
Gäste!
Dieses eine Wort befreite sie von der Angst, vom Regen in die Traufe gekommen zu sein. Die Libertianer warfen sich stumme Blicke zu und verteilten sich über die Sitzplätze. Jedem stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben.
»Und jetzt erzählt!«, forderte Kaito Yakimura sie erwartungsvoll auf, während draußen in der Dunkelwelt noch immer Schüsse fielen.