23
Die Planierraupe setzte sich wieder mit ratternden Ketten in Bewegung und rollte wenige Augenblicke später aus dem hohen Heckenweg hinaus auf den Vorplatz der Lichtburg. Das Quad-Cart hielt sich dicht hinter der Planierraupe. Carson lenkte es im Rückwärtsgang, sodass die Hinterseite mit den mit Sandsäcken gefüllten Metallspinden nach vorn zeigten. Noch gab ihnen das Gym Deckung und von den Mountain Men auf den Dächern erhielten sie Feuerschutz.
Aber sowie sie hinter dem Gebäude hervorkamen und auf das freie Vorfeld hinausrollten, gerieten sie unter heftigen Beschuss. Die Guardians auf den Wachtürmen ahnten wohl, was da auf sie zukam. Sie konzentrierten ihr Feuer nun ganz auf die Baumaschine und das Quad-Cart.
Ein wahrer Kugelhagel ging auf die beiden Fahrzeuge nieder. Wie zwei bösartige Hornissenschwärme jagten die Leuchtspurgeschosse heran und nahmen sie von zwei Seiten in die Zange.
Bei den ersten Kugeln, die in die Schaufel prasselten, in das Stahlblech des Motorgehäuses klatschten oder von den dicken Kettengliedern abprallten, zuckte Dante erschrocken zusammen. Der Einschlag der Kugeln auf dem Metall der Planierraupe klang wie mächtige Hammerschläge. Furcht krampfte seinen Magen zusammen. Er meinte, jeden Moment von einem der Geschosse getroffen zu werden. Kaum bewusst nahm er zu seiner Rechten, wo die Kaserne lag, eine dumpfe Detonation war, der Augenblicke später eine zweite folgte. Doch das Geräusch wurde vom lauten Schlagen seines Herzens übertönt. Er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund und seine Hände zitterten auf den Hebeln. Doch er lenkte das schwere Gefährt unbeirrt näher an das Westtor heran.
Unterdessen erwiderte Jedediah das Feuer der Guardians. Er hatte den oberen Teil der Glasscheibe des Fahrerhauses hochgeklappt und zielte durch den schmalen Schlitz zwischen der Unterkante der Schaufel und dem Motorgehäuse. Doch er beließ es bei gelegentlichen Schüssen. Wozu unnütz Munition vergeuden, wenn er doch wusste, dass er bei diesem Schusswinkel unmöglich einen der Guardians treffen konnte. Das konnte höchstens durch einen glücklichen Querschläger geschehen.
Sie hatten sich den Wachtürmen aber nicht auf diese Weise genähert, weil sie glaubten, die Guardians auf konventionelle Weise niederringen oder zum Aufgeben bringen zu können. Selbst die Bazooka war nicht Teil ihres Plans, denn ein zerfetzter Wachturm konnte die Piloten des Lichtschiffes argwöhnisch machen.
Carson begab sich erst aus der Deckung des Bulldozers, als die Entfernung zu einem der beiden Wachtürme nur noch sechzig, siebzig Meter betrug und Dante das Gefährt zum Stehen brachte. Augenblicklich zog das Quad-Cart, das Carson an die linke Seite der Planierraupe manövriert hatte, einen Großteil des Feuers auf sich. Kugel um Kugel schlug in die Spinde ein. Einige durchbohrten das Metall, blieben aber in den Sandsäcken stecken.
Dante griff zum Megafon.
»Guardians, stellt das Feuer ein und gebt auf! Eure Kameraden in der Kaserne können euch nicht zu Hilfe kommen. Die Kaserne befindet sich im Lockdown! Ihr steht auf verlorenem Posten! Aber wenn ihr euch ergebt, kommt ihr mit heiler Haut davon!«, schallte es im nächsten Moment aus dem Fahrerhaus und über das abgeflämmte Vorfeld.
Wüste, aber unverständliche Flüche wehte die Morgenbrise von den Wachtürmen herab.
Dante setzte das Megafon wieder an die Lippen. »Seid vernünftig und gebt auf! Wir, die Electoren und Servanten, haben mithilfe einer schwer bewaffneten Truppe Mountain Men die Macht übernommen! Alle Oberen sowie Lieutenant Blake und Lieutenant Shelton befinden sich in Gefangenschaft und Commander Ferguson ist tot. Also gebt auf, wenn ihr mit dem Leben davonkommen wollt! Das ist eure letzte Chance – sonst räuchern wir euch aus und holen euch mit Gewalt von euren Türmen!«
Wieder bestand die Antwort der Wachposten aus Flüchen und mehreren wütenden Feuerstößen.
»Okay, wenn ihr es nicht anders haben wollt, sollt ihr euren Willen bekommen!«, erwiderte Dante. Darauf warf er das Megafon hinter sich und rief Carson zu: »Scheint so, als kämen wir nicht darum herum, ein wenig Heldenmut an den Tag zu legen!«
»Okay!«, rief Carson zurück. »Zeigen wir es ihnen!«
Dante wandte sich Jedediah zu. »Sind deine Männer bereit?«
Jedediah nickte knapp. »Bring uns noch zwanzig Meter näher heran, und dann wird jeder Pfeil im Ziel sitzen!«
Dante legte den Gang ein und hielt nun geradewegs auf den Wachturm links vom Westtor zu. Carson hielt sich ganz nahe an seiner linken Seite.
Wieder beharkten die Guardians sie mit wütenden Salven. Aber die Leuchtspurgeschosse, die links und rechts von ihnen die Erde aufrissen, hielten sie nicht auf.
»Das reicht!«
Dante roch schon das Teerfeuer in seinem Rücken und meinte gar die Hitze der Flammen im Nacken zu spüren, bevor noch Jedediah das Kommando zum Halten gab.
Der Anführer der Wolf-Leute stieß die Tür der Fahrerkabine auf und sprang mit hell loderndem Brandpfeil auf der Sehne seines Bogens hinaus auf das breite Band der Raupenkette.
Dante zog den Schalthebel für die Hebehydraulik zurück, worauf die Schaufel etwa eine Armlänge höher stieg. Das war der kritische Moment, in dem nicht nur der Clan-Chef der Wolf-Leute einen Großteil seiner Deckung aufgab, sondern auch er in der verglasten Fahrerkabine.
Die Sekunden schienen sich mit einem Mal extrem zu dehnen, und ihm war, als könnte er die leuchtende Bahn der auf sie zufliegenden Geschosse ganz deutlich und wie in Zeitlupe verfolgen.
Und einige dieser Leuchtspurprojektile rasten genau auf ihn zu, als stünde sein Name auf ihnen!
Kaum war der Spalt für Jedediah breit genug, als er auch schon auf den Wachturm anlegte und den Brandpfeil von der Sehne schnellen ließ. Fast im selben Moment flogen auch von den Bögen der drei Wolf-Leute auf dem Quad-Cart Brandpfeile in die Höhe.
Sowohl die brusthohen Innenwände der Wachtürme als auch die Decken unter den flachen Giebeldächern waren mit Holz verkleidet. Anders hätte man es dort in den sengend heißen Sommermonaten auch gar nicht aushalten können.
Alle vier Brandpfeile fanden ihr Ziel. Sie bohrten sich mit ihren brennenden teergetränkten Stoffballen an der Spitze über den Köpfen der Guardians in die Holzverschalung der Decke, gleich unterhalb der Aufhängung des drehbaren Scheinwerfers. Sofort leckten die Flammen über die Holzplatten, gierig nach neuer Nahrung.
Mit einem Satz sprang Jedediah von der Kette und hechtete zurück in die Fahrerkabine. Auch Carsons Wolf-Leute brachten sich blitzschnell wieder in Deckung.
Jetzt zählt jede Sekunde. Jetzt gilt es, die Verwirrung oben im Turm für den endgültigen Schlag zu nutzen!, schoss es Dante durch den Kopf, während er schon zu den Hebeln griff und so hart Vollgas gab, dass der Bulldozer sich mit einem jähen Ruck in Bewegung setzte.
Vier, fünf Geschosse sirrten noch durch den breiten Spalt, bevor die Schaufel sich wieder herabsenken konnte. Die Kugeln zertrümmerten die beiden oberen Teile der Frontscheibe sowie das Glas in der Tür.
Etwas Heißes fuhr brennend über Dantes linke Wange und er spürte etwas Warmes über seine Wange und zum Kinn hinunterfließen. Flüchtig wischte er sich übers Gesicht, und als er die Hand wieder zurückzog, um die Hebel zu bedienen, sah er Blut an seinen Fingern.
Jedediah lachte trocken auf. »Keine Sorge, ist nur ein harmloser Streifschuss. Aber doch gut genug für eine anständige Narbe, die dich immer daran erinnern wird, wie viel Glück du gerade gehabt hast.«
»Erhabene Macht!«, entfuhr es Dante unwillkürlich. Sein Herz raste und pumpte Adrenalin durch seinen Körper. Er holte alles aus der behäbigen Planierraupe heraus und jagte den Bulldozer mit Vollgas auf den Wachturm zu. Das niedrige Vorgitter walzten er so mühelos nieder, wie ein Stiefel eine Nuss zermalmt.
Aus dem Wachturm vor ihnen kam verzweifeltes Geschrei. Womit sollten die beiden Guardians auch das Feuer löschen, das über ihren Köpfen loderte? Und falls sie versucht hatten, die Pfeile an ihrem gefiederten Schaftende herauszuziehen, hatten sie feststellen müssen, dass die Brandpfeile aus zwei Teilen bestanden – und sie nur die hintere, nutzlose Hälfte in den Händen hielten, während die obere Hälfte, die den Brandsatz trug, mit der Spitze tief und fest im Holz steckte.
Das Quad-Cart schoss nun hinter dem Bulldozer hervor, als dieser nur noch wenige Meter bis zum Wachturm zu überwinden hatte, und raste mit aller Leistungskraft seiner Batterien auf ihn zu. Sekunden später hatte Dante ihn neben die im Zickzack aufsteigende Treppe aus Gitterrosten gelenkt.
Carson und Jebb sprangen nun vom Cart und griffen nach dem Stahlseil mit den Eisenhaken. Jeder packte ein Ende. Carson lief damit zur nächsten Stahlstrebe des Turms, legte das Seilende um den Strahlträger und hängte den Haken ein, während Jebb das andere Ende des Stahlseils in die Vorrichtung vorn am Bulldozer einklinkte.
Mehrere Kugeln sirrten durch die Stützstreben des Turms, trafen in spitzem Winkel auf Metall und jaulten als gefährliche Querschläger davon. Zwei davon schlugen in das Quad-Cart ein. Aber keine der Kugel traf Carson oder Jebb. Die Guardians im Wachturm jenseits des Tores schienen nicht die besten Schützen zu sein – glücklicherweise. Und die Männer genau über ihnen kämpften mit dem Feuer über ihren Köpfen.
»Zurück!«, brüllte Dante, legte den Rückwärtsgang ein und stieß den Gashebel bis zum Anschlag vor. Die anruckenden Ketten rissen den Boden auf und schleuderten schwarze Erdklumpen hoch.
Carson und Jebb sprangen in das Quad-Cart zurück.
Schräg rechts hinter ihnen war wieder eine dumpfe Detonation aus dem Kasernengebäude zu hören, begleitet von einem metallischen Reißen.
Diesmal nahm Dante die gedämpfte Explosion bewusst wahr. Er wandte kurz den Kopf, während sich das Stahlseil schon zu straffen begann, und blickte zur Kaserne hinüber. Er erschrak, als er das Loch in der Außenwand sah, das im Erdgeschoss eines Wohntraktes klaffte. Die Ränder des Lochs waren ausgefranst, als hätte die Wand nicht aus Stahlplatten, sondern aus dünnem Blech bestanden. Aus der Öffnung, deren Durchmesser einen guten halben Meter betrug, waberte Rauch und drang triumphierendes Geschrei.
»Carson! Gefahr von rechts! Aus der Kaserne!«, brüllte Dante über das Dröhnen des Motors hinweg zu. »Die Kerle haben es geschafft, ein Loch in die Außenwand zu sprengen! Kümmere dich darum!«
Carson gab Gas und schoss hinter der Planierraupe hervor, in Richtung Kaserne.
Im nächsten Moment spannte sich auch schon das Stahlseil. Dante gab noch einmal ruckartig Gas. Die Stahlstrebe bog sich, und der Turm wankte, als bebte die Erde unter ihm.
Panische Schreie kamen aus dem Turm.
Jedediah lachte auf. »Zeit, die Ernte einzufahren.«
Dante nickte und stieß den Schalthebel nach vorn. Der Bulldozer ratterte einen Meter auf den Wachturm zu. Doch kaum hing das Seil ein wenig durch, als Dante auch schon wieder den Rückwärtsgang einlegte und erneut heftig anfuhr. Das Seil antwortete mit einem hohen, singenden Ton auf die starke Spannung. Zugleich knickte die Stahlstrebe ein und der Turm neigte sich ihnen entgegen.
Endlich begriffen die Guardians, dass jeder Widerstand sinnlos war. Zum Zeichen ihrer Kapitulation warfen sie ihre Gewehre über die brusthohe Einfassung.
Dante griff zum Megafon, drückte die Taste im Handgriff und rief mit grimmiger Genugtuung zu ihnen hoch: »Warum nicht gleich so? Und jetzt kommt mit erhobenen Händen runter!«
Die Bodenluke im Turm klappte auf und die Guardians kletterten schwankend die Treppe herunter.
Fast im selben Moment brach das Feuer vom anderen Wachturm ab. Auch da flogen nun die Gewehre über die Brüstung, und jemand schrie: »Okay, wir ergeben uns!«
Indessen hatte Carson das Quad-Cart einige Dutzend Meter vor der Kaserne zum Halten gebracht. Es stand fast auf selber Höhe mit dem aufgesprengten Loch.
Während die Männer vom Wolf-Clan aus sicherer Deckung heraus ihr Gewehrfeuer auf die Öffnung konzentrierten, griff Carson zur Bazooka. Hastig klappte er die Schulterstütze aus, stellte das Visier hoch, zog eines der Granatgeschosse aus dem Metallbehälter und ließ es ins Rohr gleiten.
»Ihr steht auf knalliges Feuerwerk?«, brüllte er zur Kaserne hinüber, während er schon auf das Loch zielte. »Das könnt ihr haben! Hier kommt ein ganz besonderer Knaller!«
Er drückte ab.
Die Treibladung explodierte. Ein extrem heißer Feuerstrahl jagte durch das Rohr, als die Bazooka das raketengetriebene Granatgeschoss unter scharfem Fauchen ausspuckte.
Carson wunderte sich, dass der Rückstoß ihn nicht umwarf. Er spürte nicht mehr als einen leichten Schlag gegen die Schulter und eine Hitzewelle an seiner rechten Wange, die auf dem Rohr anlag.
Die Granate verfehlte ihr Ziel. Sie explodierte mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag mehrere Meter links von der Öffnung und dazu auch noch viel zu hoch, nämlich an der Dachkante des oberen Stockwerks.
»Verdammter Mist!«, fluchte Carson. Das Blut schoss ihm vor Wut und Verlegenheit ins Gesicht. Hastig lud er nach. Dabei schrie er zur Kaserne hinüber: »Freut euch nicht zu früh. Der Knaller hat noch einen Haufen Brüder! Und ihr werdet gleich mit ihnen Bekanntschaft machen!«
Mit dem Ausrichten des Rohrs und dem Zielen nahm er sich diesmal einige Sekunden mehr Zeit. Diesmal saß der Schuss. Die Granate flog mitten durch die Öffnung, explodierte im Innern und ließ das Gebäude wie unter dem wuchtigen Hammerschlag eines Riesen erzittern.
Im selben Moment griff Zeno in den Kampf ein, und zwar mit einer ganz eigenen Waffe.