17
Selbstbewusst stand Carson neben Templeton auf der Bühne, das Gewehr in der Armbeuge, und ließ seinen Blick über die Gesichter der Jungen und Mädchen wandern, die verwirrt und zugleich doch auch neugierig zu ihm aufsahen.
»Ich will es kurz machen: Auch das mit den Nightraidern ist eine Lüge gewesen. Diese Menschen, die in den Bergen leben, sich Mountain Men nennen und in Clans organisiert sind, haben nie die Absicht gehabt, Liberty 9 zu erobern und hier zu morden und zu brandschatzen. Das hat man uns nur erzählt, damit wir Angst vor der Welt dort draußen haben und glauben, nur hinter den Schutzanlagen und dank der Guardians hier im Valley sicher zu sein.«
Kendira sah, wie Commander Ferguson die Fäuste ballte und mit hasserfüllten Augen zu Templeton und Carson blickte. Es schien ihn alle Willenskraft zu kosten, ruhig auf seinem Platz sitzen zu bleiben.
»Und was ist mit den Raketenangriffen und dem Seelengift?«, rief jemand aus der Menge.
»Ich denke, ihr kennt mich alle und wisst, dass ich kein Spinner bin, oder?«, rief Carson in den Saal hinunter.
Zustimmendes Gemurmel antwortete ihm. Carson war bekanntlich nicht nur in den Sim-Kabinen des Schwarzen Würfels als Driver kaum zu schlagen, sondern er zählte auch zu den besten Sportlern. Mehr als einmal hatte er das jährliche Tennisturnier gewonnen und auch bei den Leichtathletikwettbewerben so manchen Sieg davongetragen. Unter den Mädchen gab es nicht wenige, die ihn für den attraktivsten Jungen hielten und heimlich oder ganz offen für ihn schwärmten.
»Gut, dann vertraut mir, wenn ich euch jetzt sage, dass absolut nichts von dem stimmt, was man uns über die sogenannten Raketenangriffe und das angebliche Seelengift der Flugblätter eingetrichtert hat!«, rief Carson. »Was wir als Gift für den Geist zu fürchten gelernt haben und nicht einmal berühren durften, wenn wir nicht das Cleansing riskieren wollten, enthielt in Wirklichkeit die Wahrheit über Liberty 9, nämlich dass wir in einem Gefängnis leben. Das war das Einzige, was auf den Flugblättern stand!«
Zögerliche Einwände wurden im Saal laut, die Carson jedoch schon im Ansatz zum Schweigen brachte, indem er abwehrend die Arme ausstreckte und den Electoren und Servanten zurief: »Ich weiß, wie euch jetzt zumute ist. Mir erging es anfangs nicht anders. Was hatte ich nicht alles für Fragen und Einwände, als Dante und Kendira anfingen, mir die Augen für die Wahrheit zu öffnen! Ohne die beiden wäre ich noch immer ahnungslos – und zusammen mit euch dem sicheren Tod geweiht!«
Die vielen Augen, die sich daraufhin auf Kendira richteten, machten sie verlegen und ließen sie erröten. Aber schon im nächsten Moment sprach Carson weiter.
»Bitte vertraut mir, wenn ich euch versichere, dass wir euch sehr bald alles erklären werden. Aber wir müssen uns jetzt unbedingt mit einer Sache beeilen, die keinen weiteren Aufschub duldet, wenn wir die Befreiung von Liberty 9 nicht in Gefahr bringen wollen!« Sein Blick ging kurz zu den hohen Fenstern hinüber, hinter denen sich die Morgendämmerung mit heller werdendem Grau ankündigte.
»Was in den nächsten Minuten geschieht, entscheidet darüber, ob wir unsere Freiheit gewinnen und die ganze Wahrheit darüber erfahren, was es mit Liberty 9 auf sich hat, oder ob unser aller Befreiung scheitert.«
Mit einem Lächeln der Bewunderung verfolgte Kendira, wie redegewandt und souverän Carson seine Aufgabe erledigte. Es war still im Saal. Wie verstört und aufgewühlt die Jungen und Mädchen auch noch immer sein mochten, sie hingen wie gebannt an seinen Lippen – und sie vertrauten ihm. Was er ihnen mitteilte, erschütterte sie maßlos, aber sie zweifelten nicht an seinen Worten, sondern sie glaubten ihm! Sie war stolz auf ihn und hoffte, dass es ihm auch ebenso gut gelang, alle auf den Schock vorzubereiten, der sie gleich erwartete.
»Und weil wir die Ketten unserer Versklavung nicht mit ein paar mutigen Leuten und ein paar Gewehren und Handfeuerwaffen abwerfen können, haben wir uns Hilfe geholt, und zwar eine Truppe von Männern, die zu kämpfen verstehen«, fuhr Carson fort. »Wenn es wirklich stimmen würde, dass die Nightraider eine blutrünstige Mordbande sind und nichts als Leichen und verbrannte Erde hinter sich lassen … was wäre dann wohl passiert, wenn es fast fünfzig von diesen schwer bewaffneten Männern gelungen wäre, schon vor einer Stunde hier in die Lichtburg einzudringen …«
Whitelock schnaubte verächtlich. »Lächerlich!«
»Müssten wir dann nicht längst alle tot sein? Müsste dann nicht Liberty 9 schon lichterloh in Flammen stehen?«, rief Carson.
»Klar wären wir dann alle tot!«, kam es von Flake.
Und sein Zwillingsbruder Fling schickte die Frage hinterher: »Willst du uns etwa darauf vorbereiten, dass sich einige dieser Mountain Men tatsächlich schon hier in der Lichtburg befinden, oder bilde ich mir das nur ein?«
Carson grinste. »Nein, du täuschst dich nicht, Fling. Die Mountain Men sind hier! Wir haben sie in der Nacht auf geheimen Wegen in die Sicherheitszone und dann hier ins Gebäude gebracht. Aber bitte lasst euch von ihrem Anblick nicht in Angst und Schrecken versetzen!«
»Wir sind doch Auserwählte!«, rief Flake laut und sarkastisch. »Was also könnte uns schon in Angst und Schrecken versetzen – der verfluchte Cleansing-Stuhl mal ausgenommen?«
Er erntete nervöses Gelächter.
»Na ja, an ihre Tätowierungen und ihren Kopfschmuck muss man sich erst gewöhnen!«, warnte Carson. »Sie sehen wüst aus, das muss ich zugeben. Und ihre Sitten sind nicht gerade das, was man kultiviert nennen würde. Aber denkt daran: Sie stehen auf unserer Seite! Habt ihr verstanden? Sie stehen auf unserer Seite!« Er betonte jedes einzelne Wort mit großem Nachdruck. »Die Mountain Men vom Clan der Wolf-Leute und der Bones sind unsere Verbündeten!« Dann wandte er sich zu Zeno um. »Es wird Zeit! Mach den Vorhang auf!«
»Mit dem größten Vergnügen, Carson. Es folgt der zweite Akt der Vorstellung!«, sagte Zeno mit breitem Grinsen und drückte den Startknopf auf der kleinen Schalttafel an der Seitenwand der Bühne. Der schwere schwarze Vorhang öffnete sich – und zum Vorschein kam die Truppe der Wolf-Leute und Bones.
Ein erstickter Aufschrei ging durch den Saal. Fast jeder sprang vor Schreck von seinem Sitz hoch. Carson, Dante und Zeno sowie Kendira, Nekia und Hailey hatten damit gerechnet und waren vorbereitet. Ihre Waffen richteten sich sofort auf die Oberen und die drei Guardians, die erstaunlicherweise vom Anblick der Mountain Men stärker entsetzt waren als die Jungen und Mädchen.
»Runter auf die Sitze!«, brüllte Dante, sprang von der Bühne und stand im nächsten Moment vor Whitelock. »Setzen, verdammt noch mal! Oder ihr bekommt es hiermit zu tun!« Er hob das Gewehr und drohte mit der Schulterstütze.
Whitelock riss die Arme schützend vor sein Gesicht und fiel förmlich rückwärts auf seinen Sitz zurück. Aber auch die anderen Oberen sowie Commander Ferguson und seine beiden Lieutenants beeilten sich, wieder ihre Plätze einzunehmen.
Schnell bog Templeton das Pultmikro wieder vor seinen Mund und übertönte mit seiner Lautsprecherstimme das von Angst und Abscheu erfüllte Geschrei. »Beruhigt euch! Euch wird nichts geschehen!«
Nicht von allen Gesichtern wich die Angst. Doch das schrille Stimmengewirr fiel in sich zusammen und viele setzen sich wieder. »Heute Morgen werdet ihr die Wahrheit erfahren, das habe ich mir geschworen!«, versprach Templeton. »Die abscheuliche Wahrheit darüber, welche Verbrechen hier im Namen der Erhabenen Macht Jahr für Jahr an Generationen von Servanten und Electoren begangen worden sind – und was eure tatsächliche Berufung ist! Wir haben euch in dem Glauben erzogen, Auserwählte zu sein. Und auserwählt seid ihr, aber nicht für einen hochwürdigen Dienst, sondern für eine Arbeit, die sonst niemand machen will, weil sie innerhalb weniger Monate den sicheren Tod bringt!«