Dem zur Seite gekippten Tisch fehlten einige Beine. Hummerscheren und Kerzenhalter lagen auf dem Boden.

Nichts rührte sich.

Schließlich nieste jemand, und Ruß rieselte durch den Schornstein. Nanny Ogg kletterte aus dem kalten Kamin, gefolgt von einem kleinen, schwarzen und verärgerten Casanunda.

»Meine Güte«, sagte Nanny, als sie sich umsah. »Die Burschen haben hier ganz schön gewütet.«

»Du hättest zulassen sollen, daß ich gegen sie kämpfe!«

»Es waren zu viele.«

Casanunda warf voller Abscheu sein Schwert zu Boden.

»Wir begannen gerade damit, uns besser kennenzulernen – und plötzlich stürmen fünfzig Elfen herein! Verdammt! So was passiert mir dauernd!«

»Das ist der Vorteil von schwarzer Kleidung – der Ruß fällt überhaupt nicht auf«, sagte Nanny Ogg geistesabwesend, als sie sich Schmutz von den Ärmeln klopfte. »Nun, sie sind tatsächlich in unsere Welt gewechselt. Esme hatte recht. Wo sie jetzt wohl sein mag? Komm.«

»Wohin gehen wir?« fragte der Zwerg.

»Zu meiner Hütte.«

»Ah!«

»Um meinen Besen zu holen«, betonte Nanny. »Ich lasse nicht zu, daß die Feenkönigin meine Kinder regiert. Wir sollten Hilfe suchen. Dieser Frau muß endlich ein Riegel vorgeschoben werden.«

»Wie wär’s mit einem Abstecher in die Berge?« schlug Casanunda vor, als sie die Treppe hinuntergingen. »Dort gibt’s Tausende von Zwergen.«

»Nein«, widersprach Nanny Ogg. »Esme dankt mir sicher nicht dafür, aber… Es ist meine Pflicht, ihr die notwendige Unterstützung zu gewähren, wenn sie sich übernimmt. Zufälligerweise kenne ich da jemanden, der die Königin wirklich haßt.«

»Bestimmt findest du niemanden, der die Feenkönigin ebenso hingebungsvoll haßt wie wir Zwerge«, behauptete Casanunda.

»Da irrst du dich«, entgegnete Nanny Ogg. »Es kommt nur darauf an, an der richtigen Stelle zu suchen.«

 

Die Elfen hatten auch Nanny Oggs Hütte heimgesucht und dort ein ebenso großes Chaos hinterlassen.

»Sie zerstören alles, was sie nicht stehlen«, sagte Nanny.

Mit dem Stiefel stieß sie einige Trümmerstücke an. Glas klirrte.

»Die Vase hat mir Esme geschenkt«, teilte sie dem herzlosen Kosmos mit. »Hat mir nie besonders gut gefallen.«

»Warum?« fragte Casanunda und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. »Warum machen die Elfen so etwas?«

»Oh, sie würden sogar die ganze Welt zerschmettern, wenn sie sicher sein könnten, daß dabei ein interessantes Geräusch erklingt«, antwortete Nanny. Sie trat wieder nach draußen, tastete unter den Vorsprung des niedrigen Dachs – und brummte triumphierend, als sie den Besen hervorholte.

»Ich verstaue ihn immer dort«, erklärte sie. »Damit die Kinder ihn nicht stibitzen und durch die Gegend fliegen. Du setzt dich hinter mich – aber stell bloß keine Dummheiten an.«

Casanunda schauderte. Die meisten Zwerge litten an Höhenangst, was anatomische Ursachen hatte.

Nanny kratzte sich am Kinn. Es hörte sich an, als riebe jemand Sandpapier aneinander.

»Und wir brauchen eine Brechstange«, sagte sie. »Bestimmt werden wir in Jasons Schmiede eine finden. Steig auf, Junge.«

»So etwas habe ich eigentlich nicht erwartet.« Mit geschlossenen Augen tastete sich Casanunda am Besen entlang. »Ich dachte an einen heiteren, unbeschwerten Abend. Nur du und ich…«

»Wir sind allein.«

»Nein. Ein Besen leistet uns Gesellschaft.«

Sie hoben ab, und Casanunda hielt sich verzweifelt an den Borsten fest.

»Wohin fliegen wir?« stöhnte er.

»Zu einem ganz bestimmten Ort weiter oben in den Bergen«, sagte Nanny. »Ist eine Ewigkeit her, seit ich zum letztenmal dort gewesen bin. Esme hält sich davon fern, und Magrat ist zu jung, um darüber Bescheid zu wissen. Früher war ich oft dort. Damals, in meiner Jugend. Junge Frauen gingen hin, wenn sie… Oh, Mist.«

»Was ist denn?«

»Etwas ist am Mond vorbeigeflogen, und ich bin ziemlich sicher, daß es nicht Esme war.«

Casanunda versuchte sich umzusehen, während er auch weiterhin die Augen geschlossen hielt.

»Elfen können nicht fliegen«, murmelte er.

»Von wegen«, erwiderte Nanny. »Sie lassen sich von Schafgarbenhalmen tragen.«

»Von Schafgarbenhalmen?«

»Ja. Hab’s selbst mal versucht. Man kann mit den Dingen aufsteigen, aber sie sind verdammt unbequem. Bekam davon immer einen wunden Hin… Allerwertesten. Wie dem auch sei.« Nanny stieß Casanunda an. »Eigentlich solltest du diese Sachen kennen. Magrat meint, Besen gehören zu den sexuellen Metaffern*, was auch immer sie damit meinen mag.«

Der Zwerg öffnete ein Auge gerade lange genug, um auf ein Dach hinabzublicken. Übelkeit stieg in ihm hoch.

»Der Unterschied besteht darin, daß ein Besen länger oben bleibt«, fuhr Nanny Ogg fort. »Und man kann ihn benutzen, um das Haus sauberzuhalten, im Gegensatz zu… Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Dies alles gefällt mir überhaupt nicht, Frau Ogg.«

»Ich wollte dich nur ein wenig aufmuntern, Herr Casanunda.«

»Gegen Munterkeit und dergleichen habe ich nichts«, erwiderte der Zwerg. »Aber derzeit bringe ich dem ›auf‹ gemischte Gefühle entgegen.«

»Bald geht’s wieder nach unten.«

»Das wäre mir sehr recht.«

Nanny Oggs Stiefelsohlen kratzten über den festgetretenen Boden vor der Schmiede.

»Ich lasse die Magie laufen, dauert nur einen Augenblick«, sagte sie, ignorierte den Hilferuf des Zwergs, sprang vom Besen und verschwand in der Schmiede.

Dort hatten sich die Elfen nicht ausgetobt. Wegen des Eisens. Nanny nahm eine Brechstange und eilte wieder nach draußen.

»Hier, nimm«, sagte sie zu Casanunda – und zögerte. »Nun, Glück kann man nie genug haben, oder?« Sie kehrte noch einmal in die Schmiede zurück, war schon nach wenigen Sekunden wieder draußen und schob sich etwas in die Tasche.

»Bist du soweit?« fragte sie.

»Nein.«

»Also los. Und halt gut Ausschau. Mit offenen Augen.«

»Nach Elfen?« erkundigte sich Casanunda, als der Besen im Mondschein abhob.

»Ich glaube schon. Sonst fliegt hier nur noch der Banshee Herr Ixolit, und der schiebt immer einen Zettel unter der Tür durch, bevor er startet. Damit’s keine Probleme mit dem Flugverkehr gibt.«

Dunkelheit umhüllte den größten Teil der Stadt. Das blasse Mondlicht schuf ein kariertes Muster auf der Landschaft. Nach einer Weile fühlte sich Casanunda etwas besser; die gleichmäßige Bewegung des Hexenbesens wirkte beruhigend.

»Ich nehme an, du hast schon viele Passagiere befördert, oder?« fragte er.

»Ab und zu, ja«, antwortete Nanny.

Casanunda gab sich den Anschein, über etwas nachzudenken. Als er weitersprach, klang wissenschaftliches Interesse in seiner Stimme mit. »Hast du jemals versucht, auf dem Besen…«

»Nein«, sagte Nanny fest. »Man würde herunterfallen.«

»Du weißt doch gar nicht, was ich fragen wollte.«

»Glaubst du? Wie wär’s mit einer Wette?«

Einige Minuten lang setzten sie den Flug schweigend fort, und dann klopfte Casanunda Nanny auf die Schulter.

»Elfen in drei Uhr!«

»Kein Problem. Bis dahin bleiben uns noch einige Stunden.«

»Ich meine, sie sind dort drüben!«

Nanny spähte zu den Sternen. Etwas bewegte sich in der Nacht.

»Mist.«

»Kannst du sie abhängen?«

»Unmöglich. Die Burschen sind imstande, der ganzen Welt in nur vierzig Minuten einen Gürtel anzulegen.«

»Warum denn?« fragte Casanunda verwirrt. »Sie trägt doch gar keine Hose.« Inzwischen war er in der richtigen Stimmung für einige getrocknete Froschpillen.

»Ich meine, die Elfen sind schnell. Wir können den Abstand zu ihnen nicht einmal dann vergrößern, wenn wir Ballast abwerfen.«

»Ich glaube, ich verliere gerade einiges an Ballaststoffen«, stöhnte Casanunda, als der Besen den Bäumen entgegenfiel.

Blätter strichen an Nanny Oggs Stiefeln entlang. Irgendwo weiter links spiegelte sich Mondschein kurz in blondem Haar wider.

»Mist, Mist, Mist

Die Elfen folgten dem Besen auch weiterhin und sorgten dafür, daß der Abstand konstant blieb. Typisch: Sie jagten, bis ihre Opfer vor Erschöpfung umfielen oder bis die Angst sie erstarren ließ. Zwerge machten das anders: Wenn sie es auf jemanden abgesehen hatten, so nutzten sie die erste Gelegenheit, um den Betreffenden mit ihren Äxten in Stücke zu schlagen. Nun, Zwerge waren eben viel netter als Elfen.

»Sie schließen zu uns auf!« entfuhr es Casanunda.

»Hast du die Brechstange?«

»Ja!«

Der Besen flog im Zickzack über den Wald. Einer der Elfen zog sein Schwert und sauste heran. Man muß die Verfolgten zum Absturz bringen; die Baumwipfel sind weich genug – immerhin sollen die Opfer nicht sofort sterben…

Von einem Augenblick zum anderen bewegte sich der Besen im Rückwärtsgang. Nanny Oggs Kopf und Beine ruckten nach vorn. Plötzlich saß sie nur noch auf ihren Händen – die wiederum auf nichts ruhten. Der Elf kam rasch näher und lachte…

Casanunda hob die Brechstange.

Ein Geräusch erklang, das sich am besten mit Doioing beschreiben läßt.

Der Besen raste nach vorn, und Nanny Ogg fand sich auf Casanundas Schoß wieder.

»Entschuldige.«

»Schon gut. So was kann ruhig häufiger passieren.«

»Hast du ihn erwischt?«

»Ja. Er dürfte ziemlich überrascht gewesen sein.«

»Wo sind die anderen?«

»Kann sie nirgends sehen.«

Casanunda grinste von einem Ohr zum anderen.

»Wir haben’s ihnen ordentlich gezeigt, nicht wahr?«

Irgend etwas zischte an ihm vorbei und bohrte sich in Nanny Oggs Hut.

»Sie wissen, daß wir Eisen haben«, sagte die Hexe. »Bestimmt wagen sie sich nicht noch einmal an uns heran. Brauchen sie auch gar nicht«, fügte Nanny hinzu.

Der Besen wich einem Baum aus, pflügte durch Adlerfarn und erreichte einen unkrautüberwucherten Weg.

»Die Elfen verfolgen uns nicht mehr«, sagte Casanunda nach einer Weile. »Vielleicht haben wir sie so sehr erschreckt, daß sie uns nun in Ruhe lassen.«

»Nein. Sie meiden nur die Nähe des Langen Manns. Es ist nicht ihr Revier. Meine Güte, sieh dir an, wie der Weg aussieht. Jetzt wachsen hier Bäume. In meiner Jugend konnte sich nicht einmal ein Grashalm auf dem Pfad halten.« Nanny Ogg lächelte und hing Erinnerungen nach. »In warmen Sommernächten war der Lange Mann ein beliebter Treffpunkt.«

Die Umgebung veränderte sich. Dieser Teil des Waldes fühlte sich alt an, selbst nach den Maßstäben des Lancrewalds. Moosfladen hingen von knorrigen Zweigen herab. Uralte Blätter knisterten, als Hexe und Zwerg zwischen den Bäumen hindurchflogen. Ein Geschöpf hörte sie und floh durchs Dickicht. Es klang nach etwas mit Hörnern.

Schließlich hielt Nanny den Besen an.

»Da«, sagte sie und schob einen Farnwedel beiseite. »Der Lange Mann.«

Casanunda duckte sich unter den Ellenbogen der Hexe und spähte in die entsprechende Richtung.

»Mehr steckt nicht dahinter? Es ist nur ein alter Grabhügel.«

»Es sind drei alte Grabhügel«, korrigierte Nanny.

Casanunda sah genauer hin.

»Ja, jetzt erkenne ich sie. Zwei runde und ein langer. Na und?«

»Als ich sie das erstemal aus der Luft sah, habe ich so sehr gelacht, daß ich fast vom Besen gefallen wäre«, meinte Nanny Ogg.

Stille herrschte, während der Zwerg versuchte, eine Vorstellung von der allgemeinen Topographie zu gewinnen.

Sein Kommentar lautete schließlich:

»Potzblitz. Ich habe die Konstrukteure von Grabhügeln und dergleichen immer für ernste Druiden gehalten, nicht für Leute, die gewissermaßen mit zweihunderttausend Tonnen Erde Toilettenwände beschmieren.«

»Es erstaunt mich, daß dich solche Dinge schockieren.«

Nanny hätte schwören können, daß der Zwerg unter seiner Perücke errötete.

»Nun, es gibt so etwas wie Stil«, betonte Casanunda. »Stil und Takt. Man ruft nicht einfach aus vollem Hals: He, ich habe eine große dicke Flöte.«

»Die Angelegenheit ist ein wenig komplizierter.« Nanny bahnte sich einen Weg durchs Gebüsch. »Hier ruft die Landschaft: Ich habe eine große dicke Flöte. Übrigens: Sprechen Zwerge in diesem Zusammenhang von ›Flöten‹?«

»Ja.«

»Klingt gut, wie Musik in den Ohren.«

Casanunda rang mit einem Dornbusch.

»Esme kommt nie hierher«, erklang Nanny Oggs Stimme weiter vorn. »Sie meint, es sei schon schlimm genug mit Volksliedern, Maibäumen und so. Sie findet es unerträglich, daß auch noch die Landschaft anzüglich wird. Nun, dies hier ist natürlich nie als ein Ort für Frauen geplant gewesen. Meine Urgroßmutter erzählte mir einmal, daß zu ihrer Zeit Männer hierherkamen – angeblich haben sie seltsame Rituale vollzogen, bei denen nie eine Frau zugesehen hat.«

»Abgesehen natürlich von deiner Urgroßmutter, die sich im Gebüsch versteckte«, warf Casanunda ein.

Nanny blieb abrupt stehen. »Woher weißt du das?«

»Ich beginne allmählich das Wesen der Ogg-Frauen zu verstehen«, antwortete der Zwerg. Mehrere besonders scharfe und spitze Dornen hatten ihm den Mantel aufgerissen.

»Nun, meine Urgroßmutter hat mir erzählt, daß die Männer nur kleine Schwitzhäuser bauten, ziemlich viel schwitzten, Knieweich tranken, mit Hörnern ums Feuer tanzten und gelegentlich an Bäume pinkelten«, sagte Nanny. »Sie bezeichnete das alles als ein wenig weibisch. Nun, ich habe immer den Standpunkt vertreten: Ein Mann muß ein Mann sein, auch wenn’s dabei ein wenig weibisch zugeht. Was ist mit deiner Perücke passiert?«

»Sie hängt an dem Baum da drüben.«

»Hast du die Brechstange noch?«

»Ja, Frau Ogg.«

»Also los.«

Sie hatten inzwischen den langen Hügel erreicht. Drei große, unregelmäßig geformte Steine bildeten dort eine niedrige Höhle. Nanny Ogg duckte sich unterm Sturz hinweg und betrat die muffige, ein wenig nach Ammoniak riechende Finsternis.

»Ich glaube, hier sind wir richtig«, sagte sie. »Hast du ein Streichholz?«

Der schweflige Glanz fiel auf einen flachen Stein mit einem primitiv anmutenden Bild, das zum größten Teil aus ockerfarbenen Rillen bestand. Es zeigte eine Gestalt mit Eulenaugen, die Felle und Hörner trug.

Im flackernden Licht schien sie zu tanzen.

Hinzu kamen einige Runen.

»Hat jemand herausgefunden, was sie bedeuten?« fragte Casanunda.

Nanny Ogg nickte.

»Es handelt sich um eine Variante von Oggisch«, erläuterte sie. »Frei übersetzt lautet der Text: ›Ich habe eine große dicke Flöte.‹«

»Oggisch?« wiederholte der Zwerg.

»Meine Familie lebt schon seit einer ganzen Weile in dieser, äh, Gegend.«

»Wenn man dich kennt, muß man mit allem rechnen«, sagte Casanunda.

»Das höre ich immer wieder. Schieb die Brechstange unter den Stein. Tja, ich habe immer nach einem Vorwand gesucht, mich mal da unten umzusehen.«

»Was befindet sich ›da unten‹?«

»Die Höhlen von Lancre. Sollen sich praktisch überallhin erstrecken, wie ich hörte. Bis nach Kupferkopf. Angeblich kann man durch sie auch das Schloß erreichen, aber ich habe nie den Eingang gefunden. Nun, in der Hauptsache führen die Kavernen zur Welt der Elfen.«

»Ich dachte, die Tänzer führen dorthin.«

»Dies ist die andere Welt der Elfen.«

»Haben sie mehr als nur eine?«

»Ja. Aber über diese sprechen sie nicht gern.«

»Und du willst ihr einen Besuch abstatten?«

»Ja.«

»Du willst zu den Elfen?«

»Ja. Nun, hast du vor, hier die ganze Nacht nur so herumzustehen? Oder bist du bereit, den Stein mit der Brechstange zur Seite zu hebeln?« Nanny stieß ihren Begleiter an. »Da unten gibt’s auch Gold

»O ja, herzlichen Dank«, erwiderte Casanunda mit unüberhörbarem Sarkasmus. »Jetzt kommst du mir mit Speziesismus. Nur weil ich… vertikal benachteiligt bin, glaubst du, mich mit Gold locken zu können. Deiner Meinung nach denken Zwerge dauernd an gelbes Metall und nichts anderes, wie? Ha!«

»Nun, ich weiß, daß du auch gewisse andere Dinge im Kopf hast«, entgegnete Nanny Ogg. Sie seufzte. »Na schön. Was hältst du von folgendem Angebot? Wenn wir heimkehren, backe ich richtiges Zwergenbrot für dich.«

Ein ungläubiges Lächeln wuchs in Casanundas Miene.

»Richtiges Zwergenbrot?«

»Ja. Ich glaube, ich habe das Rezept noch irgendwo. Außerdem ist es einige Wochen her, seit ich die Katzenkiste zum letztenmal geleert habe.«*

»Nun, wie du meinst…«

Casanunda rammte das eine Ende der Brechstange unter den Stein und zog mit Zwergenkraft. Der Felsen leistete nur kurzen Widerstand, gab dann auf und schwang nach oben.

Darunter kamen Stufen zum Vorschein. Erde bildete hier und dort eine dicke Schicht auf ihnen; an einigen Stellen ragten Wurzeln daraus hervor. Nanny begann sofort damit, die Treppe hinabzusteigen. Nach einigen Sekunden merkte sie, daß ihr der Zwerg nicht folgte.

»Was ist los?«

»Ich habe dunkle Orte, die nur wenig Platz bieten, immer gehaßt.«

»Wie bitte? Du bist doch ein Zwerg

»Ich bin als Zwerg geboren«, sagte Casanunda. »Ich werde schon nervös, wenn ich mich in Kleiderschränken verstecken muß. Das ist ein Nachteil bei meiner, äh, Tätigkeit.«

»Sei doch nicht dumm. Ich fürchte mich überhaupt nicht.«

»Du bist auch nicht ich.«

»Na schön: Ich backe das Zwergenbrot mit einer Extraportion Kies.«

»Oh… Du bist die Versuchung höchstpersönlich, Frau Ogg.«

»Und bring die Fackeln mit.«

Warm und trocken war es in den Höhlen. Casanunda folgte Nanny hastig und achtete darauf, im Bereich des Fackelscheins zu bleiben.

»Bist du noch nie zuvor hier unten gewesen?«

»Nein, aber ich kenne den Weg.«

Nach einer Weile legte sich Casanundas Unruhe. Höhlen waren doch besser als Kleiderschränke. Zum Beispiel stolperte man nicht dauernd über irgendwelche Schuhe, und man lief kaum Gefahr, irgendwelchen wütenden, mit Schwertern bewaffneten Ehemännern zu begegnen. Die Besorgnis wich Fröhlichkeit.

Von ganz allein schienen sich die Worte im Kopf des Zwergs zu formen – sie gediehen im Hinterhof der Gene.

»Haihi, haiho…«

Nanny Ogg schmunzelte.

Der Tunnel mündete in eine große Kammer, und im Schein der Fackel zeichneten sich vage ferne Wände ab.

»Sind wir schon am Ziel?« fragte Casanunda, und seine Hände schlossen sich fester um die Brechstange.

»Ich weiß nicht… Nein. Wir sind hier an einem… anderen Ort. Und wir kennen ihn. Er ist magischer Natur.«

»Bedeutet das, er existiert überhaupt nicht?«

»Es bedeutet, daß er existiert und magisch ist.«

Die Flamme züngelte am Kopf der Fackel. In ihrem Licht sahen Hexe und Zwerg Hunderte von staubbedeckten Steinplatten, die spiralförmig in der Höhle angeordnet waren. Im Zentrum dieser Spirale hing eine große Glocke an einem Seil, das in der Dunkelheit unter einer hohen Decke verschwand. Und unter der Glocke glänzten zwei Stapel Münzen: der eine aus Silber, der andere aus Gold.

»Rühr das Geld nicht an«, sagte Nanny. »Äh, sieh mir zu.«

Sie streckte die Hand aus und berührte die Glocke, woraufhin ein leises Ting erklang.

Staub rieselte von der nächststehenden Steinplatte. Was Casanunda bisher für eine liegende Statue gehalten hatte, setzte sich nun langsam auf und knarrte dabei. Die Gestalt erwies sich als bewaffneter Krieger. Da er sich bewegte, mußte er wohl am Leben sein. Allerdings: Er sah aus, als hätte er den Weg vom Leben zur Leichenstarre ohne die Zwischenstation des Todes hinter sich gebracht.

Er sah Nanny Ogg aus tief in den Höhlen liegenden Augen an.

»Isset es jetzt soweit?«

»Nein, noch nicht ganz«, erwiderte Nanny.

»Warum bisset du dann so frech, zu läutigen die Glocke? Kanne nicht mal zweihundert Jahre langig durchschlafen. Immer gebet es einen Narren, der läutigt die Glocke. Hinfort mit dir.«

Der Krieger streckte sich wieder auf der Platte aus.

»Hier ruht ein alter König mit seinen Soldaten«, flüsterte Nanny, als sie den Weg fortsetzten. »In einem magischen Schlaf, wie ich gehört habe. Ein Zauberer ist dafür verantwortlich. Sie sollen erst erwachen, wenn eine letzte Schlacht beginnt. Zuvor muß ein Wolf die Sonne fressen oder so.«

»Typisch Zauberer«, brummte Casanunda. »Rauchen dauernd zuviel von irgendwelchem Gras.«

»Ja, mag sein. Hier rechts. Von jetzt an immer rechts.«

»Gehen wir im Kreis?«

»In einer Spirale. Wir sind nun direkt im Inneren des Langen Mannes.«

»Unmöglich«, widersprach Casanunda. »Wir sind durch ein Loch geklettert, das in einen Tunnel unterm Langen Mann führte, und… Moment mal. Soll das heißen, wir sind wieder am Ausgangspunkt – und gleichzeitig ganz woanders?«

»Offenbar verstehst du allmählich.«

Sie folgten dem Verlauf der Spirale.

Die schließlich endete.

Hier unten war es wärmer; hier und dort drang rötliches Glühen aus Tunneln.

Zwei große Steine lehnten an einer Felsenwand, und quer auf ihnen lag ein dritter. Vor dem Portal hingen Felle als Vorhang. Dampf wallte an ihnen vorbei.

»Sie wurden zur gleichen Zeit in Position gebracht wie die Tänzer«, sagte Nanny im Plauderton. »Mit einem Unterschied: Hier ist das Loch vertikal, und deshalb sind nur drei Steine nötig. Laß die Brechstange hier. Und zieh die Stiefel aus, wenn sie Nägel aus Eisen enthalten.«

»Diese Stiefel wurden vom besten Schuhmacher in Ankh-Morpork angefertigt«, meinte Casanunda. »Eines Tages bezahle ich ihn dafür.«

Nanny zog die Felle beiseite.

Noch mehr Dampfwolken wogten.

Dunkelheit herrschte hinter dem Raum jenseits der drei Steine, zäh und heiß wie Sirup. Außerdem roch es wie in der Umkleidekabine eines Fuchses. Als Casanunda der Hexe folgte, spürte er in der Finsternis die Gegenwart verborgener Geschöpfe. Er hörte die Stille gemurmelter Gespräche, die ein jähes Ende fanden. Einmal glaubte er, eine Schüssel mit glühenden Steinen zu erkennen: Eine schattenhafte Hand streckte sich ihr entgegen und drehte eine Kelle, woraufhin es zischte – Dampf verhüllte alles.

Wir können hier nicht im oder unter dem Langen Mann sein, dachte der Zwerg. Das ist doch nur ein Hügel aus angehäufter Erde. Hier hingegen sind wir in einem großen Zelt, dessen Planen aus Tierhäuten bestehen.

Sowohl das eine als auch das andere ist nicht möglich.

Er bekam einen Schweißausbruch.

Als die Dampfwolken wogten, wurden zwei Fackeln sichtbar. Ihr Licht war kaum mehr als ein Hauch von dunklem Rot in der Finsternis, aber es genügte, um eine große Gestalt zu beleuchten, die neben einer weiteren Schüssel mit heißen Steinen lag.

Die große Gestalt sah auf. In der feuchten, schweißtreibenden Hitze bewegte sich ein Geweih.

»Ah, Frau Ogg.«

Die Stimme stellte das akustische Äquivalent von Schokolade dar.

»Euer Exzellenz…«, erwiderte Nanny.

»Ich nehme an, es ist zuviel erwartet, daß du vor mir kniest, oder?«

»In der Tat, Euer Hochwohlgeboren«, sagte Nanny und lächelte.

»Weißt du, Frau Ogg… Du zeigst deinem Gott gegenüber auf eine Weise Respekt, die jeden Atheisten vor Neid erblassen ließe.« Die dunkle Gestalt gähnte.

»Danke, Euer Durchlaucht.«

»Es tanzt niemand mehr für mich. Ist das etwa zuviel verlangt?«

»Wie du meinst, Euer Gnaden.«

»Ihr Hexen glaubt nicht mehr an mich.«

»Stimmt haargenau, Euer Gehörnte Pracht.«

»Ach, kleine Frau Ogg… Hast du dir überlegt, wie du diesen Ort wieder verlassen willst?« fragte die liegende Gestalt.

»Das dürfte kein Problem sein.« Eine gewisse Schärfe erklang nun in Nannys Stimme. »Ich habe Eisen dabei.«

»Das ist völlig unmöglich. Kein Eisen kann in dieses Reich eindringen.«

»Ich habe jenes Eisen, das an jeden Ort gelangen kann«, sagte Nanny.

Sie zog die Hand aus der Schürzentasche und hob ein Hufeisen in die Höhe.

Casanunda hörte, wie es raschelte und leise polterte, als verborgene Elfen flohen. Eine pfannenartige Vorrichtung mit heißen Steinen kippte, und daraufhin verdichteten sich die Dampfschwaden wieder.

»Nimm es weg!«

»Ich nehme es weg, wenn ich gehe«, sagte Nanny. »Hör mir jetzt zu. Sie stiftet schon wieder Unruhe. Mach etwas, damit sie aufhört. Wir wollen doch fair bleiben, oder? Die Schwierigkeiten von damals dürfen sich nicht wiederholen.«

»Warum sollte ich dir helfen?«

»Wäre dir daran gelegen, daß sie zu mächtig wird?«

Es schnaufte in der Finsternis.

»Du kannst nicht noch einmal über die Welt herrschen«, sagte Nanny. »Dort gibt es zuviel Musik. Und zuviel Eisen.«

»Eisen rostet.«

»Nicht das Eisen im Kopf.«

Der König schnaufte erneut.

»Trotzdem… eines Tages…«

»Eines Tages.« Nanny nickte. »Ja. Darauf können wir einen trinken. Eines Tages. Wer weiß? Eines Tages. Jeder braucht ein ›eines Tages‹. Aber nicht heute. Verstehst du? Geh nach oben und stell das Gleichgewicht wieder her. Andernfalls veranlasse ich, daß folgendes geschieht: Menschen werden sich mit eisernen Schaufeln ein Loch in den Langen Mann graben. Ich höre schon, was sie sagen. Ach, dies ist ja nur ein alter Erdhaufen, sagen sie. Und dann kommen pensionierte Zauberer und Priester, die nichts Besseres zu tun haben, als alles zu untersuchen und langweilige Bücher über Begräbnisrituale und dergleichen zu schreiben. Und das ist dann ein weiterer Eisennagel in deinem Sarg. Was mir leid tun wird, denn ich hatte immer eine Schwäche für dich. Aber ich habe auch Kinder, weißt du. Sie verstecken sich nicht unter der Treppe, weil sie den Donner fürchten. Und sie stellen keine Milch für Elfen vor die Tür. Und sie eilen nicht heim, nur weil’s dunkel wird. Bevor die dunkle Zeit zurückkehrt, sorge ich dafür, daß man dich drankriegt.«

Die Worte schnitten wie Messer durch die Luft.

Die Gehörnte stand auf und fing an zu schweben. Das Geweih berührte die Decke.

Casanundas Kinnlade klappte nach unten.

»Nicht heute.« Nannys Stimme klang nun wieder normal. »Eines Tages, vielleicht. Bleib hier unten und schwitz schön, bis es soweit ist. Wie gesagt: Heute ist es noch nicht soweit.«

»Ich… werde eine Entscheidung treffen.«

»Ausgezeichnet. Entscheide. Und ich gehe jetzt.«

Der Gehörnte blickte auf Casanunda hinab.

»Was starrst du mich so an, Zwerg?«

Nanny Ogg stieß ihren Begleiter an.

»Na los. Antworte dem netten Herrn.«

Casanunda schluckte.

»Meine Güte«, sagte er. »In Wirklichkeit bist du noch viel beeindruckender als auf dem Bild.«

 

Mehrere Kilometer entfernt, in einem schmalen, kleinen Tal, hatten einige Elfen einen Kaninchenbau entdeckt. Die Jungtiere darin sowie ein Ameisenhaufen in der Nähe hielten sie eine Zeitlang beschäftigt.

Selbst die Sanften, Blinden und Stummen haben Götter.

Hern der Gejagte, Gott der Verfolgten, kroch durchs Gebüsch und bedauerte sehr, daß Götter nicht ihrerseits Götter haben konnten.

Die Elfen kehrten ihm den Rücken zu, als sie sich bückten, um genauer hinzusehen.

Hern der Gejagte schob sich an einem Dornenbusch vorbei, spannte die Muskeln und sprang.

Er bohrte die Zähne so tief in eine Elfenwade, daß sich Oberkiefer und Unterkiefer in der Mitte trafen. Eine Sekunde später wurde er zur Seite geschleudert, als das betroffene Wesen schrie und sich jäh umdrehte.

Hern lief los.

Darin bestand das Problem. Er war einfach nicht für den Kampf bestimmt. In ihm steckte keine dauerhafte Aggressivität. Angreifen und wegrennen, angreifen und wegrennen – mehr kam für ihn nicht in Frage.

Elfen konnten schneller laufen.

Er sauste über umgestürzte Bäume hinweg und rutschte durch Laubansammlungen. Aus den Augenwinkeln sah er dabei, daß ihn die Elfen zu beiden Seiten überholten und ihre Geschwindigkeit der seinen anpaßten. Sie warteten darauf, daß er…

Der Wald weiter vorn schien regelrecht zu explodieren. Die kleine göttliche Entität nahm eine Gestalt wahr, die praktisch nur aus Zähnen und Armen bestand. Hinzu kamen zwei zerzaust aussehende Menschen, von denen einer eine Eisenstange schwang.

Hern wartete nicht, um zu sehen, was als nächstes geschah. Er raste zwischen den Beinen der großen Gestalt hindurch, und kurz darauf tönte ein Schlachtruf an seine langen Schlappohren:

»Natürlich, ich nehme die Schnecke! Wie machen wir das? Lautstärke

 

Nanny Ogg und Casanunda schritten stumm zum Höhleneingang und zur Treppe. Als sie in die Nacht traten, sagte der Zwerg: »Donnerwetter!«

»Selbst hier oben spürt man es noch«, verkündete Nanny. »Ist sehr Matscho, dieser Ort.«

»Aber ich meine, lieber Himmel…«

»Er ist intelligenter als sie – oder fauler«, fuhr Nanny fort. »Er wird’s einfach abwarten.«

»Aber er…«

»Sie können sich uns in jedem beliebigen Erscheinungsbild zeigen«, erklärte Nanny. »Wir sehen die Gestalt, die wir ihnen selbst geben.« Sie ließ den Stein fallen und klopfte sich Schmutz von den Händen.

»Warum sollte ihm etwas daran gelegen sein, sie aufzuhalten?«

»Immerhin ist er ihr Mann. Er kann sie nicht ausstehen. Führen eine Art offene Ehe.«

»Was will er abwarten?« fragte Casanunda und sah sich nach weiteren Elfen um.

»Oh, du weißt schon.« Nanny winkte. »Eisen, Bücher, Mechanismen, Universitäten, Bildung und so. Er glaubt, es geht früher oder später vorbei. Ja, er ist davon überzeugt, daß das alles eines Tages vorbei sein wird – daß die Leute eines Tages bei Sonnenuntergang zum Horizont blicken werden und ihn dort sehen.«

Casanunda sah zum Horizont jenseits des Erdhügels und rechnete fast damit, dort die Konturen einer riesigen Gestalt zu erkennen.

»Eines Tages wird er zurückkehren«, sagte Nanny leise. »Wenn auch das Eisen im Kopf rostig geworden ist.«

Casanunda musterte die Hexe. Man verbrachte nicht den größten Teil seines Lebens bei einem anderen Volk, ohne zu lernen, dessen Körpersprache zu verstehen – in diesem Fall benutzte sie unübersehbar Blockbuchstaben.

»Das tut dir nicht unbedingt leid, oder?« fragte er.

»Wie? Oh, ich will auf keinen Fall, daß sie zurückkehren! Es sind hinterlistige, gemeine und arrogante Parasiten, die wir hier ganz sicher nicht brauchen.«

»Bist du wirklich davon überzeugt? Wie wär’s mit einer Wette?«

Nanny schien nervös zu werden.

»Sieh mich nicht so an! Esme hat recht. Ja, natürlich hat sie recht. Wir wollen keine Elfen in dieser Welt. Hier gibt’s keinen Platz mehr für sie.«

»Esme ist die Kleine, nicht wahr?«

»Ha! Nein, Esme ist die Große mit der krummen Nase. Du erinnerst dich bestimmt an sie.«

»Oh, ja.«

»Die Kleine heißt Magrat. Ist gutmütig und sentimental. Trägt Blumen im Haar und glaubt an Lieder. Wäre dazu imstande, einfach so mit den Elfen zu tanzen.«

 

Weitere Zweifel machten sich in Magrat breit. Sie betrafen zum Beispiel Armbrüste. Nun, Armbrüste sind sehr nützliche und brauchbare Waffen; sie eignen sich gut, um gerade vom Unerfahrenen mit einiger Aussicht auf Erfolg verwendet zu werden – immerhin braucht man nur in die richtige Richtung zu zielen und den Finger zu krümmen. Andererseits: Derartige Waffen können nur jeweils einmal benutzt werden. Anschließend sollte der Schütze irgendwo in Deckung gehen und möglichst rasch nachladen. Falls er diesen Rat nicht beherzigt, hat er nur ein Ding in der Hand, das aus Metall, Holz und einer Sehne besteht.

Und dann das Schwert. Rein theoretisch wußte Magrat genau, was man mit einem Schwert anstellte. Man schwang es zunächst hin und her, um dann zu versuchen, das spitze Ende in den Gegner zu stechen – der bemüht war, das zu verhindern. Was nach dieser ersten Phase geschah, wußte Magrat nicht genau. Sie hoffte, daß man einen zweiten Versuch hatte.

Zweifel in Hinsicht auf die Rüstung gesellten sich hinzu. Mit Helm und Brustharnisch war soweit alles in Ordnung, aber der Rest bestand aus dem gleichen Material wie ein Kettenhemd. Shawn Ogg wußte: Wenn man es aus der Perspektive eines Pfeils sah, bestanden Kettenhemden zum größten Teil aus lose miteinander verbundenen Löchern.

Der Ärger war noch da – ein Zorn, der im Kern von Magrats Ich brodelte. Was jedoch nichts daran änderte, daß die ehemalige Hexe nicht nur aus einem Kern bestand. Am Rest von Magrat Knoblauch – bisher (und wahrscheinlich auch in Zukunft) Jungfer von Lancre – änderte sich nichts.

In der Stadt zeigten sich keine Elfen, aber sie hatten unübersehbare Spuren hinterlassen. Türen hingen schief in den Angeln. Viele Häuser erweckten den Eindruck, von Dschingis Cohen besucht worden zu sein.*

Magrat folgte nun dem Verlauf des Pfads, der zu den Steinen führte. Er war breiter als früher: Pferde und Wagen hatten den Boden auf dem Weg aufgewühlt, und die Füße der Fliehenden hatten ihn später in Schlamm verwandelt.

Sie wußte, daß man sie beobachtete. Deshalb empfand sie es fast als Erleichterung, als vor ihr drei Elfen aus den Bäumen traten, noch bevor das Schloß außer Sicht geriet.

Der mittlere lächelte.

»Guten Abend, junge Frau«, sagte er. »Ich bin Lord Lankin, und du wirst dich verneigen, bevor du zu mir sprichst.«

Der Tonfall wies darauf hin, daß die Wahrscheinlichkeit von Ungehorsam genau Null betrug. Magrat spürte, wie es in ihren Muskeln vibrierte: Etwas in ihr wollte der Aufforderung des Elfen nachkommen.

Ynci hätte bestimmt nicht gehorcht…

»Zufälligerweise bin ich praktisch die Königin«, sagte sie.

Zum erstenmal bekam sie nun Gelegenheit, Einzelheiten im allgemeinen Erscheinungsbild eines Elfen zu erkennen. Bei diesem Exemplar sah Magrat hohe Wangenknochen und zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenes Haar. Die Kleidung… Sie bestand aus Lumpen, Spitze und Fellstreifen. Elfen gingen davon aus, daß ihnen alles stand.

Die Gestalt rümpfte eine perfekte Nase.

»Es gibt nur eine Königin in Lancre«, sagte sie. »Und die bist gewiß nicht du.«

Magrat versuchte, sich zu konzentrieren.

»Wo ist sie denn?« fragte sie.

Die beiden anderen Elfen hoben ihre Bögen.

»Du suchst die Königin?« erwiderte Lankin. »Wir bringen dich zu ihr. Übrigens, junge Frau: Falls du mit dem Gedanken spielen solltest, von der Waffe mit dem häßlichen Eisen Gebrauch zu machen – im Wald dort stehen weitere Bogenschützen.«

Auf der einen Seite des Pfades raschelte es, doch unmittelbar darauf pochte es an der gleichen Stelle. Die Elfen wirkten verwirrt.

»Aus dem Weg«, sagte Magrat.

»Ich glaube, du gibst dich da völlig falschen Vorstellungen hin«, sagte der Elf. Sein Lächeln wuchs in die Breite – und verschwand, als sich das seltsame Rascheln und Pochen auf der anderen Seite des Waldwegs wiederholte.

»Wir haben dich schon von weitem gespürt«, fuhr der Elf fort. »Ein tapferes Mädchen, das versucht, den zukünftigen Gemahl zu retten! Oh, wie romantisch! Packt sie.«

Hinter den beiden bewaffneten Elfen wuchs ein Schatten in die Höhe, wölbte eine Hand um jeden Kopf und knallte die beiden Schädel aneinander.

Der Schemen trat vor, holte lässig aus…

Lankin drehte sich um – und wurde von einem Hieb getroffen, der ihn an den nächsten Baum schleuderte.

Magrat zog das Schwert.

Worum auch immer es sich bei diesem Wesen handeln mochte – es schien schlimmer zu sein als Elfen. Es war schmutzig und haarig, ähnelte von der Statur her einem Troll. Es streckte die Hand – die Pranke – nach dem Zaumzeug aus, und dabei schien der Arm immer länger zu werden. Magrat hob das Schwert…

»Ugh?«

»Nimm das Schwert bitte runter.«

Die Stimme erklang irgendwo hinter ihr und hörte sich menschlich und besorgt an. Elfen hörten sich nie so an.

»Wer bist du?« fragte Magrat, ohne sich umzudrehen. Das Ungeheuer vor ihr grinste und zeigte dabei gelbe Zähne.

»Äh, ich bin Ponder Stibbons. Ein Zauberer. Ebenso wie er.«

»Er trägt keine Kleidung!«

»Vielleicht könnte ich ihn dazu bewegen, ein Bad zu nehmen«, erwiderte Stibbons nicht ohne eine gewisse Hysterie. »Wenn er gebadet hat, zieht er immer einen alten grünen Morgenmantel über.«

Magrat entspannte sich ein wenig. Wer so klang, stellte für niemanden eine Gefahr dar, höchstens für sich selbst.

»Auf welcher Seite stehst du, Zauberer?«

»Wie viele gibt es denn?«

»Ugh?«

»Wenn ich absteige, geht das Pferd durch«, sagte Magrat. »Vielleicht solltest du deinen… Freund bitten, das Zaumzeug loszulassen. Sonst wird er verletzt.«

»Ugh?«

»Äh. Das glaube ich eigentlich nicht.«

Magrat rutschte vom Rücken des Pferdes herunter. Das Pferd war erleichtert, als es kein Eisen mehr spürte. Es machte einen Satz.

Etwa zwei Meter weit.

»Ugh.«

Das Roß versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

Magrat blinzelte.

»Äh, derzeit ist er ein wenig verärgert«, erklärte Ponder. »Ein… Elf… hat mit einem Pfeil auf ihn geschossen.«

»Auf diese Weise versuchen sie, die Leute unter Kontrolle zu bringen!«

»Ähm. Nun, er gehört nicht zu uns Leuten.«

»Ugh!«

»In genetischer Hinsicht, meine ich.«

Es geschah nicht zum erstenmal, daß Magrat einem Zauberer begegnete. Manchmal kamen welche nach Lancre, aber sie blieben nie sehr lange. Irgendein Aspekt in der Gegenwart von Oma Wetterwachs veranlaßte sie, ihren Weg schon nach kurzer Zeit fortzusetzen.

Für gewöhnlich sahen Zauberer anders aus als Ponder Stibbons. Er hatte einen großen Teil seines Umhangs verloren, und nur die Krempe erinnerte an den Hut. Schlamm bedeckte die Wangen, und über einem Auge zeigte sich ein buntschillernder Bluterguß.

»Haben dich die Elfen so zugerichtet?«

»Nun, was den Schlamm und die zerrissene Kleidung betrifft… Dafür ist der Wald verantwortlich. Einige Male sind wir Elfen über den Weg gelaufen…«

»Ugh.«

»Ja, wir sind ihnen nicht nur über den Weg gelaufen, sondern auch über sie selbst. Und dann hat mich der Bibliothekar geschlagen.«

»Ugh.«

»Dem Himmel sei Dank dafür«, fügte Ponder hinzu. »Er schickte mich ins Reich der Träume. Wodurch ich wieder zu mir kam. Äh. Sonst würde es mir jetzt so wie den anderen ergehen.«

Dunkle Ahnungen regten sich in Magrat.

»Welche anderen meinst du?« fragte sie.

»Bist du allein?«

»Welche anderen?«

»Hast du überhaupt eine Ahnung, was passiert ist?«

Magrat dachte an das Schloß und die Stadt.

»Ich habe eine ungefähre Vorstellung davon«, sagte sie schließlich.

Ponder schüttelte den Kopf.

»Es ist schlimmer.«

»Welche anderen?« beharrte Magrat.

»Ich bin ziemlich sicher, daß es zu einem Interkontinuum-Durchbruch gekommen ist«, murmelte Ponder. »Vermutlich gibt es einen Unterschied in bezug aufs Energieniveau.«

»Welche anderen

Ponder Stibbons sah nervös zum Wald.

»Wir sollten nicht hier auf dem Weg stehenbleiben. Es sind noch mehr Elfen in der Nähe.«

Er trat ins Dickicht. Magrat folgte ihm, und kurz darauf sah sie einen zweiten Zauberer, der wie eine Leiter am Baum lehnte. Ein breites, verträumtes Lächeln zierte sein Gesicht.

»Der Quästor«, sagte Ponder. »Ich fürchte, wir haben es mit den getrockneten Froschpillen ein wenig übertrieben.« Er hob die Stimme. »Wie… geht… es… dir?«

»Nun, ich möchte eine Portion gebratenes Wiesel, wenn du nichts dagegen hast«, erwiderte der Quästor und strahlte.

»Warum ist er so steif?« erkundigte sich Magrat.

»Wir halten das für eine Art Nebenwirkung«, antwortete Ponder.

»Kannst du nichts dagegen unternehmen?«

»Warum sollte ich? So eignet er sich gut dafür, Bäche zu überqueren.«

»Komm morgen noch einmal vorbei, Bäcker, wenn du was Knuspriges willst«, sagte der Quästor.

»Außerdem scheint er glücklich zu sein«, meinte Ponder. »Äh, bist du eine Kriegerin?«

»Wie?« erwiderte Magrat.

»Nun, die Rüstung und so…«

Die ehemalige Hexe sah an sich herab. Sie hielt noch immer das Schwert in der Hand. Der Helm rutschte ihr dauernd über die Augen, doch das war jetzt nicht mehr so unangenehm wie vorher: Mit einem Fetzen des Hochzeitskleids hatte sie eine Art Polster geschaffen.

»Ich, äh, ja«, sagte sie. »Ja, das stimmt. Genau das bin ich. Du hast völlig recht.«

»Und vermutlich bist du wegen der Hochzeit gekommen. So wie wir.«

»Ja. Wegen der Hochzeit. Absolut richtig.« Magrats Hand schloß sich ein wenig fester um das Heft des Schwertes. »Sag mir jetzt, was passiert ist. Insbesondere in Hinsicht auf die anderen

»Nun…« Ponder tastete geistesabwesend nach einem Zipfel seines zerrissenen Mantels, um ihn dann hin und her zu drehen. »Wir sind alle zur Vorstellung gegangen. Ein Stück. Ich meine, ein Bühnenstück. Verstehst du? Mit Schauspielern und so. Und, und es war sehr lustig. Bauerntölpel traten auf, mit großen Stiefeln und so. Trugen Strohperücken und was weiß ich. Stapften ungeschickt umher und gaben vor, Herren und Herrinnen zu sein. Sah alles ziemlich komisch aus. Der Quästor fand sie sehr witzig und lachte dauernd. Nun, er findet auch Bäume und Felsen witzig. Alle haben sich amüsiert. Und dann… und dann…«

»Ich will alles wissen«, sagte Magrat.

»Nun, äh, dann kam’s zu einer Sache, an die ich mich kaum mehr erinnere. Hatte was mit den Schauspielern zu tun, glaube ich. Ich meine, plötzlich… schien alles Wirklichkeit zu werden. Verstehst du?«

»Nein.«

»Ein Bursche mit roter Nase und krummen Beinen spielte die Feenkönigin, und ganz plötzlich war er… noch immer er selbst, aber… Es fühlte sich irgendwie anders an. Alles um mich herum verschwand, und… Es gab nur noch die Darsteller und… und den Hügel. Ich meine, die Jungs auf der Bühne müssen sehr gut gewesen sein, denn sie kamen mir richtig echt vor… Wenn ich mich recht entsinne, forderte uns irgendwann jemand auf zu klatschen, und alles war sehr seltsam. Die Leute sahen irgendwie komisch aus, und wundervolle Gesänge erklangen, und, und…«

»Ugh.«

»Und dann schlug mich der Bibliothekar«, sagte Ponder schlicht.

»Warum?«

»Das sollte er dir besser mit seinen eigenen Worten erläutern«, meinte Stibbons.

»Ugh ugh iiek. Ugh! Ugh!«

»Gut gehustet, Julia!« proklamierte der Quästor. »Und hüpf durch den Ring!«

»Ich habe den Bibliothekar nicht verstanden«, sagte Magrat.

»Äh«, entgegnete Ponder. »Wir haben erlebt, wie sich ein hyperdimensionaler Riß bildete, verursacht vom Glauben. Das Theaterstück gab den Ausschlag. Offenbar befand sich eine Zone ausgeprägter Instabilität in unmittelbarer Nähe. Es ist schwer zu beschreiben. Wenn ich eine Gummifläche und einige Bleikugeln hätte, so könnte ich dir zeigen…«

»Soll das heißen, jene… Wesen existieren nur deshalb, weil jemand an sie glaubt?«

»Nein. Ich schätze, es gäbe sie in jedem Fall. Aber sie sind hier, weil die Leute hier an sie glauben.«

»Ugh.«

»Er lief mit uns fort. Aber ein Elfenpfeil traf ihn.«

»Iiek.«

»Hatte bei ihm nur ein leichtes Jucken zur Folge.«

»Ugh.«

»Normalerweise ist er so sanft wie ein Lamm. Im Ernst.«

»Ugh.«

»Aber Elfen kann er nicht ausstehen. Er mag ihren Geruch nicht.«

Der Bibliothekar schnüffelte demonstrativ.

Magrat wußte nicht viel von Dschungeln und so, aber sie stellte sich nun Affen vor, die in Bäumen hockten und einen Tiger witterten. Affen bewunderten das glatte Fell und das Funkeln in den Augen nicht, denn sie wußten um die Zähne im Maul.

»Ja«, sagte sie. »Kann ich mir denken. Zwerge und Trolle mögen sie auch nicht. Aber ich hasse sie noch mehr.«

»Du kannst nicht gegen sie alle kämpfen«, wandte Ponder ein. »Dort oben wimmelt’s regelrecht von ihnen. Einige von ihnen fliegen sogar. Der Bibliothekar meinte, sie hätten Leute veranlaßt, Baumstämme zu nehmen und die Steine umzustoßen. Du weißt schon, die Steine. Da oben? Die Elfen haben sie angegriffen. Aus welchem Grund auch immer.«

»Hast du Hexen bei der Vorstellung gesehen?« fragte Magrat.

»Hexen, Hexen…«, murmelte Ponder.

»Du hättest sie bestimmt bemerkt«, fügte Magrat hinzu. »Eine Dünne, die jeden anstarrt. Und eine kleine Dicke, die Nüsse knackt und viel lacht. Unterhalten sich immer ziemlich laut. Und tragen hohe, spitze Hüte.«

»Nein, sind mir nicht aufgefallen«, erwiderte Ponder.

»Dann dürften sie wohl kaum dagewesen sein. Eine Hexe, die etwas auf sich hält, wird nicht übersehen.« Magrat wollte darauf hinweisen, daß sie in diesem Zusammenhang nicht besonders talentiert gewesen war, aber statt dessen sagte sie: »Ich suche jenen Ort auf.«

»Du solltest besser ein Heer mitnehmen. Ich meine, wenn eben der Bibliothekar nicht eingegriffen hätte, wärst du jetzt ganz schön in Schwierigkeiten.«

»Leider habe ich kein Heer dabei. Also muß ich irgendwie allein zurechtkommen, nicht wahr?«

Diesmal gelang es Magrat, das Pferd zum Galopp anzutreiben.

Ponder sah ihr hinterher.

»Hätte nicht gedacht, daß Volkslieder und dergleichen eine so starke Wirkung entfalten können«, sagte er zur Nachtluft.

»Ugh.«

»Sie reitet in den sicheren Tod.«

»Ugh.«

»Hallo, Herr Blumentopf, bitte bring uns zwei Halbe mit Aalen.«

»Natürlich könnte es Schicksal oder etwas in der Art sein.«

»Ugh.«

»Jahrtausendhand und Garnelen.«

Ponder Stibbons neigte verlegen den Kopf.

»Möchte ihr vielleicht jemand folgen?«

»Ugh.«

»Juchhe, da geht er mit seiner großen Uhr.«

»Bedeutet das ›ja‹?«

»Ugh.«

»Ich meine nicht dich, sondern ihn.«

»Schwabbeldiwapp, hier kommt die Grütze.«

»Ja, ich schätze, man könnte das als Zustimmung interpretieren«, sagte Ponder widerstrebend.

»Ugh?«

»Ich habe eine prächtige neue Weste.«

»Hör mal…«, sagte Ponder. »Die Friedhöfe sind voller Leute, die unbesonnen und überstürzt gehandelt haben.«

»Ugh.«

»Was hat er gesagt?« fragte der Quästor. Bei seiner Reise durch den Irrsinn kam es zu einem kurzen Zwischenaufenthalt in der Realität.

»Ich glaube, der Bibliothekar wies darauf hin, daß wir früher oder später alle auf dem Friedhof enden«, sagte Ponder. »Mist. Na schön, kommt.«

»In der Tat«, intonierte der Quästor. »Rück mit den Boxhandschuhen raus, Herr Bootsmann!«

»Ach, sei still.«

 

Magrat stieg ab und ließ das Pferd laufen.

Sie wußte, daß sie sich nun in der Nähe der Tänzer befand. Buntes Licht flackerte am Himmel.

Sie wünschte sich, nach Hause zurückkehren zu können.

Die Luft hier war kühler, viel zu kühl für eine Sommernacht. Während Magrat einen Fuß vor den anderen setzte, wirbelten Schneeflocken im Wind und schmolzen zu Regen.

 

Ridcully materialisierte im Schloß und hielt sich an einer Säule fest, bis er wieder zu Atem gekommen war. Die Transmigration ließ immer blaue Punkte vor seinen Augen flimmern. Niemand schenkte ihm Beachtung. Im Schloß herrschte ein heilloses Durcheinander.

Nicht alle waren heimgekehrt. Während der letzten Jahrtausende hatten immer wieder irgendwelche Heere beschlossen, durch Lancre zu marschieren, was dazu führte, daß Erinnerungen an die sicheren Mauern des Schlosses einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Bürger fanden. In Notfällen lautete die Botschaft: Lauft zum Schloß. Derzeit hielt sich hier ein großer Teil der Bevölkerung von Lancre auf.

Ridcully blinzelte. Überall liefen Leute herum, und jemand redete auf sie ein: ein kleiner junger Mann, der ein ziemlich großzügig geschnittenes Kettenhemd und eine Armschlinge trug sowie weit und breit die einzige Person zu sein schien, die versuchte, alles in den Griff zu bekommen.

Als sich Ridcully wieder kräftig genug fühlte, ließ er die Säule los und trat dem jungen Burschen entgegen.

»Was ist hier lo…«, begann er und unterbrach sich abrupt, als Shawn Ogg den Kopf drehte.

»Die hinterlistige… Hexe!« stieß der Erzkanzler hervor. »Hat mich aufgefordert, die Armbrust zu holen – und ich bin glatt darauf hereingefallen! Selbst, wenn ich jetzt imstande wäre, sofort zurückzukehren – wohin? Ich weiß doch gar nicht, wo wir waren!«

»Wie bitte?« fragte Shawn.

Ridcully schüttelte sich. »Was geht hier vor?« fragte er.

»Keine Ahnung«, antwortete Shawn. Er schien den Tränen nahe zu sein. »Ich glaube, wir wurden von Elfen angegriffen! Aus den Leuten kriegt man kaum ein vernünftiges Wort heraus! Sie sollen während der Vorstellung erschienen sein! Oder was weiß ich!«

Ridcullys Blick glitt über die Menge der Verängstigten.

»Und Fräulein Magrat ist aufgebrochen, um ganz allein gegen die Angreifer zu kämpfen!«

Falten der Verwirrung bildeten sich auf der Stirn des Erzkanzlers.

»Wer ist Fräulein Magrat?«

»Die zukünftige Königin! Die Braut! Du weißt schon? Fräulein Magrat?«

Ridcullys mentaler Magen konnte nur jeweils eine Sache verdauen.

»Warum ist sie aufgebrochen?«

»Die Elfen haben den König verschleppt!«

»Esme Wetterwachs dürfte sich jetzt ebenfalls in ihrer Gewalt befinden.«

»Was, Oma Wetterwachs?«

»Ich bin hierher zurückgekehrt, um sie zu retten«, sagte Ridcully. Eine Sekunde später wurde ihm klar: Es klang entweder nach Unsinn oder nach Feigheit.

Shawn war viel zu aufgeregt, um darauf zu achten. »Ich hoffe nur, daß die Elfen keine Hexen sammeln. Dann hätten sie’s auch auf unsere Mama abgesehen.«

»Mich haben sie noch nicht erwischt«, ertönte Nanny Oggs Stimme.

Shawn drehte sich um.

»Mama! Wie bist du hereingekommen?«

»Mit dem Besen. Du solltest einige Bogenschützen nach oben schicken, um zu verhindern, daß Elfen übers Dach reinkommen können.«

»Was sollen wir jetzt machen, Mama?«

»Sie treiben sich überall herum«, sagte Nanny. »Und über den Tänzern glüht es…«

»Wir müssen sofort angreifen und sie kalten Stahl schmecken lassen!« rief Casanunda.

»Guter Mann, der Zwerg«, lobte Ridcully. »Er hat recht! Ich hole nur schnell eine Armbrust!«

»Es sind zu viele«, sagte Nanny schlicht.

»Oma und Fräulein Magrat sind da draußen, Mama«, gab Shawn zu bedenken. »Fräulein Magrat wurde auf einmal ganz seltsam, legte eine Rüstung an und brach auf, um gegen sie alle zu kämpfen!«

»Aber im Wald und am Hügel wimmelt’s von ihnen«, erwiderte Nanny Ogg. »Es ist eine doppelte Portion Hölle mit zusätzlichen Teufeln. Dort droht jedem der sichere Tod.«

»Der sichere Tod droht überall«, warf Ridcully ein. »Darin besteht eine der wichtigsten Eigenschaften des Todes: Man kann ihm nicht auf Dauer entkommen.«

»Gegen eine solche Übermacht hätten wir überhaupt keine Chance«, meinte Nanny.

»Das stimmt nicht ganz«, widersprach Ridcully. »Wir hätten eine Chance. Der Kontinuinuinuum-Kram bleibt mir auch weiterhin schleierhaft, aber nach Ansicht des jungen Stibbons bedeutet er folgendes: Irgendwo geschieht alles. Das bedeutet, es könnte auch hier geschehen, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit nur eins zu einer Million beträgt.«

»Klingt ganz gut«, räumte Nanny ein. »Allerdings läuft es auf folgendes hinaus: Für jeden Ridcully, der heute nacht überlebt, müssen 999999 sterben.«

»Und wenn schon«, brummte der Erzkanzler. »Die anderen sind mir gleich. Geschieht ihnen ganz recht, weil sie mich nicht zu ihrer Hochzeit einladen.«

»Wie?«

»Schon gut.«

Shawn hüpfte von einem Bein aufs andere.

»Wir sollten gegen die Elfen kämpfen, Mama!«

»Seht euch nur die Leute an!« Nanny winkte. »Sind hundemüde und naß und verwirrt! Das ist doch kein Heer.«

»Mama, Mama, Mama!«

»Ja?«

»Man muß die Leute anfeuern, Mama! Das ist so üblich, bevor Truppen in den Kampf ziehen, Mama! Ich hab’ in Büchern davon gelesen! Man tritt vor die Leute, hält eine Rede, feuert sie ordentlich an und verwandelt die Menge in eine schreckliche Kampftruppe, Mama!«

»Sie sehen schon jetzt schrecklich aus.«

»Ich meine schrecklich wie grimmig, Mama!«

Nanny Oggs Blick galt den gut hundert Bürgern von Lancre. Die Vorstellung, daß sie gegen irgend etwas kämpfen sollen, fiel ihr nicht leicht.

»Kennst du dich damit aus, Shawn?« fragte sie.

»Ich habe alle Ausgaben von Bögen und Bolzen der letzten fünf Jahre, Mama«, sagte Shawn vorwurfsvoll.

»Na schön. Versuch’s, wenn du glaubst, daß es was bringt.«

Shawn zitterte vor Aufregung, als er auf einen Tisch kletterte, mit der Hand des unverletzten Arms das Schwert zog und mit dessen Griff aufs Holz pochte, bis Ruhe herrschte.

Er hielt eine Rede.

Er wies darauf hin, daß der König verschleppt und die zukünftige Königin losgeritten war, um ihn zu befreien. Er betonte die Pflichten treuer Untertanen. Er erklärte: Wer jetzt nicht hier sei und sich daheim unter dem Bett versteckte, würde es nach dem glorreichen Sieg sehr bedauern, nicht dabeigewesen zu sein und sich unter dem eben erwähnten Bett versteckt zu haben, ihr wißt schon, das Bett von vorhin. Eigentlich war es sogar besser, daß sie nur so vergleichsweise wenige waren, denn auf diese Weise durften die Überlebenden prozentual mit mehr Ehre pro Kopf rechnen. Dreimal verwendete Shawn das Wort »Ruhm«. Er meinte, noch in vielen Jahren würden sich die Leute an den heutigen Tag – beziehungsweise die Nacht – erinnern, stolz ihre Narben zeigen (was natürlich nur für die Überlebenden galt) und spendierte Getränke trinken. Er empfahl den Zuhörern, sich am Verhalten des Schwingenden Fuchses von Lancre ein Beispiel zu nehmen, Kraft zu sammeln sowie Sehnen und Muskeln mit einigen Übungen auf erhebliche Anstrengungen vorzubereiten, wobei das Training natürlich nicht übertrieben werden sollte, immerhin durfte niemand müde und erschöpft sein, wenn die Schlacht begann, denn sonst verlangte der Sieg noch mehr Opfer. Shawn erinnerte alle Bürger von Lancre daran, wie wichtig es sei, die Pflicht zu erfüllen. Und äh. Und ähm. Bitte?

Stille folgte.

Nach einer Weile räusperte sich Nanny Ogg und sagte: »Die Leute denken darüber nach, Shawn. Warum führst du den Herrn Zauberer nicht zu seinem Zimmer und hilfst ihm bei der Suche nach seiner Armbrust?«

Sie nickte bedeutungsvoll in Richtung Treppe.

Shawn zögerte, aber nur kurz. Er hatte das Funkeln in den Augen seiner Mutter gesehen.

Als er gegangen war, kletterte Nanny auf den gleichen Tisch wie zuvor ihr Sohn.

»Nun«, begann sie, »die Sache sieht folgendermaßen aus. Wenn ihr das Schloß verlaßt, müßt ihr vielleicht den Elfen gegenübertreten. Aber wenn ihr hierbleibt, bekommt ihr es ganz gewiß mit mir zu tun. Elfen sind schlimmer als ich, zugegeben. Aber ich bin sehr beharrlich.«

Weber hob unsicher die Hand.

»Äh, Frau Ogg?«

»Ja, Weber?«

»Was hat es mit dem Schwingenden Fuchs von Lancre auf sich?«

Nanny kratzte sich am Ohr.

»Nun, ich glaube, er bewegt die Vorderbeine so und die Hinterläufe so

»Nein, nein, nein«, ließ sich Quarney der Ladenbesitzer vernehmen. »Der Schwanz neigt sich in diese Richtung. Die Beine bewegten sich so

»Das sind keine richtigen Schwingungen, sondern nur Oszillationen«, behauptete jemand. »Du denkst dabei an den Ringelschwänzigen Ozelot.«

Nanny nickte.

»Das wäre also geklärt.«

»Einen Augenblick. Ich bin nicht sicher, ob…«

»Ja, Herr Quarney?«

»Oh, äh…«

»Gut, gut«, sagte Nanny, als ihr Sohn zurückkehrte. »Die Leute haben mir gerade mitgeteilt, wie gut ihnen deine Rede gefallen hat, Shawn. Sie fühlen sich richtig angefeuert.«

»Donnerwetter!«

»Bestimmt sind sie jetzt bereit, dir bis in die Hölle zu folgen«, fügte Nanny hinzu.

Jemand hob die Hand.

»Kommst du auch mit, Frau Ogg?«

»Ich schlendere hinter euch her«, lautete die Antwort.

»Oh. Na schön. Bis in die Hölle, einverstanden. Aber weiter nicht.«

»Erstaunlich«, sagte Casanunda zu Nanny, als die Menge widerstrebend in Richtung Arsenal stapfte.

»Man muß nur richtig mit den Leuten umgehen können.«

»Sind sie immer bereit, sich von einem Ogg anführen zu lassen?«

»Nein, nicht unbedingt«, erwiderte Nanny. »Aber wenn sie vernünftig sind, gehen sie dorthin, wohin eine Ogg ihnen folgt.«

 

Magrat trat aus dem Wald, und vor ihr erstreckte sich das Moor.

Wolken wirbelten über den Tänzern. Besser gesagt: Sie wirbelten dort, wo sich die Tänzer einst befunden hatten. Im flackernden Licht sah Magrat einige umgestürzte und über den Hang gerollte Steine.

Der Hügel glühte, und mit der Landschaft schien irgend etwas nicht zu stimmen. Sie wölbte sich dort, wo sich eigentlich gar nichts wölben sollte. Entfernungen boten sich nicht mehr auf die gewohnte Weise dar. Magrat erinnerte sich an einen Holzschnitt, der als Lesezeichen in einem alten Buch gedient hatte. Er zeigte das Gesicht einer Greisin, doch wenn man genauer hinsah, wurde daraus die Miene einer jungen Frau. Die Nase metamorphierte zu einem Hals, und eine Braue verwandelte sich in eine hübsche Kette. Die Bilder schaukelten hin und her. Wie viele andere Betrachter hatte Magrat geschielt, um alle Einzelheiten gleichzeitig zu erkennen.

Mit der Landschaft verhielt es sich ähnlich. Was sich als Hügel präsentierte, war gleichzeitig eine weite, schneebedeckte Ebene. Lancre und das Land der Elfen rangen um den gleichen Platz.

Das fremde Land hatte es nicht leicht. Lancre setzte sich zur Wehr.

An der Grenzfläche zwischen den beiden Landschaften zeichneten sich einige Zelte ab und wirkten wie ein Brückenkopf an feindlichen Gestaden. Sie glänzten bunt. Jeder wußte: Alles Elfische war wunderhübsch – bis das Bild kippte und man es von der anderen Seite sah…

Irgend etwas ging da vor sich. Mehrere Elfen saßen auf Pferden, und zwischen den Zelten führte man weitere Rösser herbei.

Offenbar brach man gerade das Lager ab.

 

Die Königin saß auf einem provisorischen Thron in ihrem Zelt. Der Ellenbogen ruhte auf einer Armlehne, und Finger wölbten sich am Mund – die Haltung deutete auf Nachdenklichkeit hin.

In einem Halbkreis vor dem Thron saßen einige andere Elfen. Obwohl: Das Wort »sitzen« vermittelt keine klare Vorstellung. Sie rekelten sich. Elfen konnten es sich sogar auf einem Draht bequem machen. Hier gab es viel Spitze und Samt, dafür weniger Federn. Vielleicht ein Zeichen von elfischer Aristokratie, vielleicht auch nicht. Elfen trugen, was ihnen gefiel, in der unerschütterlichen Überzeugung, immer atemberaubend auszusehen.*

Sie alle beobachteten die Königin und spiegelten ihre Stimmungen wider. Wenn die Herrin lächelte, so lächelten sie ebenfalls. Wenn die Herrin etwas sagte, das sie für amüsant hielt, so lachten die Zuhörer.

Derzeit konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf Oma Wetterwachs.

»Was geschieht, Alte?« fragte sie.

»Es ist nicht leicht, oder?« erwiderte Oma. »Obwohl du geglaubt hast, alles sei ganz einfach, nicht wahr?«

»Vermutlich steckt irgendeine Art von Magie dahinter. Du hast etwas beschworen, das nun Widerstand leistet.«

»Nein, mit Magie hat das nichts zu tun«, sagte Oma. »Überhaupt nichts. Du bist nur zu lange fort gewesen. Die Dinge verändern sich. Das Land gehört jetzt den Menschen.«

»Ausgeschlossen«, entgegnete die Königin. »Menschen nehmen einfach. Sie pflügen das Land mit Eisen. Sie verwüsten es.«

»Gelegentlich ist das der Fall, zugegeben. Doch es kommt auch vor, daß mehr gegeben als genommen wird. Manchmal bezahlen Menschen mit Liebe. Sie haben Humus in den Knochen und sagen dem Land, was es ist. Dazu sind Menschen da. Ohne sie wäre Lancre nur ein Stück Boden mit grünen Dingen drauf. Und die grünen Dinge wüßten nicht einmal, daß sie Bäume sind. Hier gehören wir zusammen – die Menschen und das Land. Es ist einfach nicht mehr nur Land, sondern ein Land. Denk an ein zugerittenes und mit Hufeisen ausgestattetes Pferd. Denk an einen gezähmten Hund. Jedesmal dann, wenn der Boden gepflügt oder etwas gepflanzt wird, wächst der Abstand zwischen dir und dem Land«, betonte Oma. »Die Dinge verändern sich.«

Verence saß neben der Königin. Seine Pupillen waren winzige Punkte. Ein gedankenloses Lächeln lag auf seinen Lippen, und dadurch wies er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Quästor auf.

»Aber wenn wir verheiratet sind, muß mich das Land akzeptieren«, sagte die Königin. »Deine eigenen Regeln verlangen es so. Ich weiß, wie es funktioniert. Der König trägt nicht nur eine Krone. König und Land sind eins. Ebenso wie König und Königin. Und die Königin bin ich.«

Sie sah Oma Wetterwachs an und schmunzelte. Zwei Elfen standen rechts und links von ihr bereit, und hinzu kam mindestens ein weiterer hinter ihr. Sie neigten sicher nicht zur Introspektion. Mit anderen Worten: Wenn sich Oma ohne Erlaubnis bewegte, war ihr Tod eine besiegelte Sache.

»Was aus dir wird, hängt ganz von meiner Entscheidung ab.« Die Königin hob eine sehr elegante, dünne Hand, formte aus Daumen und Zeigefinger einen Ring, den sie ans Auge setzte.

»Oh, da kommt eine«, sagte sie. »Mit einer Rüstung, die ihr nicht richtig paßt. Mit einem Schwert, das ihr fremd ist. Mit einer Streitaxt, die sie kaum heben kann. Sie kommt, weil sie es für romantisch hält. Wie heißt sie?«

»Magrat Knoblauch«, antwortete Oma.

»Eine mächtige Zauberin, nehme ich an.«

»Sie kennt sich mit Kräutern aus.«

Die Königin lachte.

»Ich könnte sie von hier aus töten.«

»Ja«, sagte Oma. »Aber das macht nicht viel Spaß, oder? Die Demütigung des Opfers fehlt.«

Die Königin nickte.

»Du hörst dich fast wie eine Elfe an.«

»Es dauert nicht mehr lange, bis die Nacht zu Ende geht«, sagte Oma. »Dann beginnt wieder ein neuer Tag. Mit hellem Sonnenschein.«

»Bis dahin dauert es noch etwas.« Die Königin stand auf, sah kurz zu Verence und… zog sich um. Aus dem roten Gewand wurde eins, das silbrig glänzte, den Schein der Fackeln so reflektierte, als bestünde es aus Myriaden von winzigen Schuppen. Das Haar glitt auseinander, gewann eine neue Struktur und wurde kornblond. Einige subtile Veränderungen erfaßten das Gesicht, und dann sagte sie: »Na, was hältst du davon?«

Sie sah wie Magrat aus. Das heißt: Sie sah so aus, wie Magrat gern aussehen wollte und wie Verence sie sich vielleicht vorstellte. Oma Wetterwachs nickte. Sie erkannte eine gelungene Gemeinheit – davon verstand sie etwas.

»Und du willst ihr so gegenübertreten«, sagte sie.

»Ja, natürlich. Wenn es soweit ist. Zum Schluß. Aber sie braucht dir nicht leid zu tun. Immerhin stirbt sie nur. Soll ich dir zeigen, wie du hättest sein können?«

»Nein.«

»Es ließe sich ganz leicht bewerkstelligen. Es gibt nicht nur diese Zeitlinie, sondern auch noch andere. Möchtest du Großmutter Wetterwachs sehen?«

»Nein.«

»Es muß schrecklich für dich sein, zu wissen, daß du keine Freunde hast, daß niemand um dich weint, wenn du stirbst. Daß du nie ein Herz berührt hast.«

»Ja.«

»Bestimmt denkst du daran – an langen Abenden, wenn dir nur das Ticken der Uhr und die Kühle des Zimmers Gesellschaft leisten, wenn du die Schachtel öffnest und…«

Die Königin winkte, als sich Oma loszureißen versuchte.

»Tötet sie nicht«, sagte sie. »Lebend bereitet sie mir viel mehr Vergnügen.«

 

Magrat rammte das Schwert in den Schlamm und griff nach der Streitaxt.

Zu beiden Seiten erstreckte sich dunkler Wald. Die Elfen mußten aus dieser Richtung kommen. Hunderte mochten es sein, und es gab nur eine Magrat Knoblauch.

Bisher hatte sie geglaubt, daß die Wahrscheinlichkeit bei Heldentum keine große Rolle spielte. Lieder, Balladen und Geschichten berichteten immer wieder von einer einzigen Person, die ganz allein den übermächtigen Feind besiegte.

Jetzt ahnte sie, daß es in diesem Zusammenhang ein Problem gab. Lieder, Balladen und Geschichten brauchten es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. Besser gesagt: Sie logen oft.

Sie dachte darüber nach, doch es fiel ihr nicht ein einziges historisches Beispiel für derartige Heldenhaftigkeit ein.

Im Wald auf der einen Seite hob ein Elf seinen Bogen und zielte.

Hinter dem Wesen knackte ein Zweig. Es drehte sich um.

Der Quästor lächelte.

»Heda, Kerlchen, bei mir sind die Bohnen verschmort.«

Der Elf schwang den Bogen herum.

Zwei Füße streckten sich ihm aus dem Grün entgegen, und erstaunlicherweise waren sie ebenso greiffähig wie Hände. Sie packten das Geschöpf an den Schultern und zerrten es mit einem Ruck nach oben. Es knackte, als der Kopf an die Unterseite eines Asts stieß.

»Ugh.«

»Geh weiter!«

Auf der gegenüberliegenden Seite des Pfads zielte ein anderer Elf auf Magrat. Und dann floß die Welt von ihm fort…

So sieht das Innere eines Elfenbewußtseins aus:

Hier sind die normalen fünf Sinne, doch sie alle sind dem sechsten untergeordnet. Es gibt kein Wort dafür, denn auf der Scheibenwelt ist die entsprechende Kraft so schwach, daß sie nur von aufmerksamen Schmieden bemerkt wird, die sie »Eisenliebe« nennen. Die Steuerleute von Schiffen hätten sie vielleicht entdeckt, wenn das magische Feld der Scheibenwelt nicht weitaus zuverlässiger gewesen wäre. Bienen spüren die Eisenliebe, denn Bienen spüren alles. Tauben orientieren sich mit ihrer Hilfe. Und sie teilt den Elfen überall im Multiversum mit, wo genau sie sich befinden.

Für Menschen ist alles viel schwieriger. Dauernd stolpern sie durch unübersichtliche Geographie. Immer sind sie zumindest ein wenig verirrt. Das ist ein elementarer Aspekt ihres Wesens. Er erklärt eine Menge.

Elfen haben die absolute Position. Sie sehen einen matten, silbrigen Glanz, der die Landschaft erhellt. Auch Lebewesen erzeugen die Kraft, und dadurch zeichnen sie sich deutlich ab. Sie knistert in ihren Muskeln, summt im Denken und Fühlen. Wer sich damit auskennt, kann durch winzige Veränderungen im Fluß der Eisenliebe selbst Gedanken identifizieren.

Für Elfen stellt die Welt etwas dar, das man sich nehmen kann. Die einzige Ausnahme bildet jenes schreckliche Metall, das die Kraft trinkt und ihren Fluß so verformt wie schwere Gewichte eine Gummifläche. Es macht die Elfen blind und taub. Es nimmt ihnen die Gewißheit des Wo. Es beschert ihnen ein Gefühl der Einsamkeit, wie es nie ein Mensch erfahren hat…

Der Elf kippte nach vorn.

Ponder Stibbons ließ das Schwert sinken.

Alle anderen hätten kaum darüber nachgedacht, doch Ponders unglückliches Schicksal bestand darin, in einer gleichgültigen Welt nach Erklärungen zu suchen.

»Ich habe ihn kaum berührt«, sagte er zu sich selbst.

 

»Und ich habe sie im Gebüsch geküßt, wo die Nachtigallen… Singt mit, verdammt! Zwei, drei…«

Sie wußten nicht, wo sie sich jetzt befanden und wo sie gewesen waren. Selbst in Hinsicht auf die eigene Identität entstanden erste Zweifel. Die Moriskentänzer von Lancre hatten inzwischen ein Stadium erreicht, in dem es leichter erschien, Tanz und Gesang einfach fortzusetzen als ganz plötzlich damit aufzuhören. Das Singen lockte Elfen an, und gleichzeitig waren sie davon fasziniert…

Die Tänzer folgten dem Verlauf der Pfade, hüpften und sprangen und drehten sich. Sie kamen durch kleine Dörfer, und dort wandten sich die Elfen von Menschen ab, die sie bis eben gequält hatten. Im flackernden Schein brennender Häuser traten sie näher…

»Und dann ZACK fiedelbumm, singt endlich trallala…«

Sechs Stöcke knallten einander.

»Wohin sind wir unterwegs, Jason?«

»Ich schätze, wir haben jetzt fast das Schlüpfrige Loch erreicht und kehren in Richtung Stadt zurück«, erwiderte Jason Ogg und tanzte an Bäcker vorbei. »Nicht aus dem Takt geraten, Fuhrmann!«

»Der Regen kommt in die Tasten, Jason!«

»Und wenn schon! Hauptsache, es erklingen auch weiterhin Töne! Für Volksmusik ist es gut genug!«

»Ich glaube, mein Stock ist durchgebrochen, Jason!«

»Tanz weiter, Kesselflicker! Und nun, Jungs… Wie wär’s mit Erbsenschoten sammeln? Wir könnten ruhig ein bißchen üben, da wir schon einmal dabei sind…«

»Jemand kommt uns entgegen«, sagte Schneider, als er vorbeihüpfte. »Ich sehe Fackeln.«

»Menschen oder – zwei, drei – noch mehr Elfen?«

»Keine Ahnung!«

Jason wandte sich um und tanzte zurück.

»Bist du das, unser Jason?«

Jason lachte, als die vertraute Stimme zwischen den Bäumen erklang.

»Unsere Mama! Und unser Shawn. Und…, viele Leute! Wir haben es geschafft, Jungs!«

»Jason…«, sagte Fuhrmann.

»Ja?«

»Ich bin nicht sicher, ob ich aufhören kann!«

 

Die Königin betrachtete sich im Spiegel an der Zeltstange.

»Nun?« fragte Oma. »Was siehst du

»Was immer ich sehen möchte«, antwortete die Königin. »Das weißt du doch. Und nun… Reiten wir zum Schloß. Fesselt ihre Hände. Aber nicht die Beine.«

 

Es regnete wieder, und bei den Steinen kam Graupel hinzu. Wasser tropfte von Magrats Haar und machte es vorübergehend glatt.

Dunstwolken bildeten sich zwischen den Bäumen, dort, wo Sommer und Winter miteinander rangen.

Magrat beobachtete, wie die Elfen des Zeltlagers aufbrachen. Sie sah Verence, der sich steifbeinig bewegte, wie eine Marionette. Sie bemerkte auch Oma Wetterwachs: Ihre Hände waren gefesselt, und ein langes Seil reichte von ihnen bis zum Pferd der Königin.

Hufe platschten durch den Schlamm. Silberne Glöckchen am Zaumzeug bimmelten.

Die Elfen im Schloß, eine Nacht voller Phantome und Schatten – das alles bildete nur einen Knoten in Magrats Gedächtnis. Doch das fröhliche Läuten der kleinen Glocken kam einer Nagelfeile gleich, die über ihre Zähne schabte.

Die Königin hielt ihre Prozession einige Meter entfernt an.

»Ah, die tapfere junge Frau«, sagte sie. »Machte sich ganz allein auf den Weg, um ihren Verlobten zu befreien. Wie edel. Tötet sie.«

Ein Elf trieb sein Pferd an und hob das Schwert. Magrat griff nach der Streitaxt.

Irgendwo hinter ihr schlug eine Sehne an Holz. Der Elf zuckte zusammen. Ebenso der hinter ihm. Der Bolzen raste weiter und kam ein wenig von der bis dahin geraden Flugbahn ab, als er über einen der gefallenen Tänzer hinwegsauste.

Dann trat Shawn Oggs bunt zusammengewürfelte Streitmacht zwischen den Bäumen hervor. Ridcully verharrte zunächst hinter einem Stamm, um seine Armbrust neu zu laden.

Die Königin wirkte nicht sonderlich überrascht.

»Es sind nur etwa hundert«, sagte sie. »Was meinst du dazu, Esme Wetterwachs? Eine Art letztes Aufgebot? Wegen der Romantik? Oh, ich liebe die Menschen. Sie denken wie Lieder.«

»Steig ab!« rief Magrat.

Die Königin wandte sich ihr zu und lächelte.

Shawn spürte es. Ebenso wie Ridcully und Ponder. Glamour glitt an ihnen vorbei.

Elfen fürchteten Eisen. Aber wenn sie einen sicheren Abstand wahrten…

Man konnte nicht gegen Elfen kämpfen, weil man im Vergleich zu ihnen Bedeutungslosigkeit verkörperte. Und das gehörte sich so. Sie präsentierten makellose Schönheit, wodurch einem die eigene Häßlichkeit klar wurde. Man selbst war nur – im übertragenen Sinne – jenes Kind, das immer als letztes für eine Gruppe ausgewählt wurde, nach dem dicken Jungen mit den Pickeln und der permanent laufenden Nase; man erfuhr immer erst dann die Regeln, wenn man verloren hatte, und anschließend weihte einen niemand in die neuen Regeln ein; und man wußte, daß die wirklich interessanten Dinge immer nur anderen Leuten passierten. Diese heißen, die letzten Reste von Selbstbewußtsein verbrennenden Empfindungen kamen nun zusammen. Nein, man konnte nicht gegen Elfen kämpfen. Wer so unwichtig, ungeschickt und menschlich war, hatte keine Chance, den Sieg zu erringen. So etwas ließ das Universum nicht zu…

Jäger berichten davon, daß manchmal ein Tier aus dem Gebüsch tritt, stehenbleibt und auf den Speer zu warten scheint…

Magrat brachte die Axt nur einige Zentimeter weit empor, bevor die Hand erschlaffte und sank. Sie neigte den Kopf. Für einen Menschen geziemte es sich, Elfen mit Demut zu begegnen. So herrliche Geschöpfe anzuschreien…

Die Königin stieg ab und trat näher.

»Füg ihr kein Leid zu«, sagte Oma Wetterwachs.

Die Königin nickte. »Du versuchst noch immer, Widerstand zu leisten«, sagte sie. »Aber eigentlich spielt das überhaupt keine Rolle. Wir können Lancre ohne Kampf übernehmen. Du kannst nichts daran ändern. Sieh dir nur die ›Streitmacht‹ an. Wie Schafe stehen die Leute herum. Ach, Menschen stecken so voller Enthusiasmus

Oma sah auf ihre Stiefel hinab.

»Du kannst nicht herrschen, solange ich lebe«, entgegnete sie.

»In diesem Fall gibt es keine Tricks«, betonte die Königin. »Keine närrischen Frauen mit Tüten voller Süßigkeiten.«

»Das ist deiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, wie?« erwiderte Oma. »Nun, Gytha hat’s vermutlich gut gemeint. Dummes Weib. Was dagegen, wenn ich mich setze?«

»Nimm ruhig Platz«, gestattete die Königin. »Immerhin bist du eine alte Frau.«

»Es hat mit der Hexerei zu tun«, sagte Oma. »Sie erhält die Jugend zwar nicht, sorgt allerdings dafür, daß man länger alt ist. Nun, du alterst natürlich überhaupt nicht«, fügte sie hinzu.

»Da hast du recht.«

»Aber vielleicht kannst du verkleinert werden, im übertragenen Sinne.«

Das Lächeln der Königin verschwand nicht, aber es gefror gewissermaßen – auf diese Weise lächeln Leute, die zwar die Worte, nicht jedoch ihren Sinn verstanden haben.

»Du hast dich in ein Theaterstück eingemischt«, fuhr Oma fort. »Vielleicht weißt du nicht, was es mit solchen Dingen auf sich hat. Theaterstücke und Bücher… Damit muß man sehr vorsichtig umgehen. Sonst wenden sie sich gegen einen. Genau das soll bei dir geschehen.« Freundlich nickte sie einem Elf zu, der Waid und schlecht gegerbtes Leder trug. »Was meinst du dazu, Elf Erbsenblüte?«

Die Königin runzelte die Stirn.

»So heißt er nicht«, sagte sie.

Oma Wetterwachs lächelte.

»Das wird sich zeigen«, lautete ihre Antwort. »Heute sind die Menschen anders als damals. Viele von ihnen leben in Städten und wissen praktisch nichts mehr von den Elfen. Außerdem haben sie Eisen im Kopf. Du bist zu spät zurückgekehrt.«

»Nein. Die Menschen brauchen uns immer.«

»Da irrst du dich. Manchmal wünschen sie sich eure Gegenwart, das ist etwas anderes. Und ihr könnt ihnen höchstens Gold geben, das am nächsten Morgen verschwindet.«

»Manche Leute geben sich mit Gold für eine Nacht zufrieden.«

»Nein.«

»Das ist besser als Eisen, du dumme alte Vettel, du dummes Kind, das alt geworden ist, ohne etwas geleistet zu haben, ohne etwas geworden zu sein.«

»Nein. Was hat es schon mit Gold auf sich? Es ist nur weich und glänzt. Es sieht gut aus – aber es erfüllt keinen Zweck.« Omas Stimme klang noch immer völlig ruhig. »Dies hier ist die Wirklichkeit, werte Dame. Das mußte ich lernen. Wirkliche Menschen leben in ihr. Du kannst bei ihnen keine Rechte irgendeiner Art geltend machen. Die Menschen haben schon genug damit zu tun, Menschen zu sein. Sie können darauf verzichten, daß du mit glänzendem Haar, glänzenden Augen und glänzendem Gold angibst, während du dich mit ewiger Jugend durchs Leben mogelst und immer nur singst, ohne jemals zu lernen

»So hast du nicht immer gedacht.«

»Ja, das stimmt. Früher einmal habe ich mich Illusionen hingegeben. Nun, werte Dame, inzwischen bin ich alt und vielleicht auch eine Vettel, aber dumm bin ich gewiß nicht. Du bist keine Göttin. Ich respektiere Götter und Göttinnen, solange sie wissen, wo ihr Platz ist. Und solange wir sie selbst schaffen. Es bedeutet, daß wir sie verkleinern können, indem wie nur die Teile von ihnen verwenden, die wir tatsächlich brauchen. Was die Elfen aus dem Märchenland betrifft… Vielleicht sind sie wichtig, um gut durch die Zeit des Eisens zu kommen. Vielleicht braucht man sie, um die Phantasie zu bewahren. Aber hier dulde ich sie nicht. Ihr weckt in uns Wünsche nach dem, das wir nicht haben können. Was ihr uns gebt, ist völlig wertlos, und dafür nehmt ihr alles. Schließlich bleibt uns nur der kalte Hügel und Leere und das Lachen der Elfen.«

Oma holte tief Luft. »Deshalb sage ich: Verschwindet!«

»Sorg doch dafür, daß wir verschwinden, Alte

»Mit einer solchen Antwort habe ich gerechnet.«

»Wir wollen nicht die ganze Welt. Dieses kleine Königreich genügt uns. Und wir nehmen es, ob es uns willkommen heißt oder nicht.«

»Nur über meine Leiche, werte Dame.«

»Wenn du dir so sehr den Tod herbeisehnst…«

Die Königin schlug mental zu, wie eine Katze.

Oma Wetterwachs zuckte zusammen und neigte sich ein wenig nach hinten.

»Werte Dame?«

»Ja?« fragte die Königin.

»Es gibt keine Regeln, oder?«

»Regeln?« wiederholte die Königin. »Was ist das?«

»Dachte ich mir«, murmelte Oma. Und lauter: »Gytha Ogg?«

Es gelang Nanny, den Kopf zu drehen.

»Ja, Esme?«

»Meine Schatulle. In der Schublade. Du weißt, was damit geschehen soll.«

Oma Wetterwachs lächelte. Die Königin schwankte zur Seite, als hätte ihr jemand eine wuchtige Ohrfeige versetzt.

»Du hast doch etwas gelernt«, sagte sie.

»Ja. Du erinnerst dich sicher daran, daß ich den Kreis nie betreten habe. Weil mir klar war, wohin er führte. Deshalb mußte ich lernen. Mein ganzes Leben lang. Mir blieb nichts anderes übrig, als diesen steinigen Weg zu beschreiten – der jedoch nicht ganz so schwer ist wie der leichte. Ja, ich habe gelernt. Von den Trollen, Zwergen und Menschen. Selbst von den Steinen.«

»Wir töten dich nicht.« Die Königin flüsterte nun. »Das verspreche ich dir. Du bleibst am Leben, um zu sabbern und zu geifern, um dich selbst zu beschmutzen, um von Haus zu Haus zu gehen und zu betteln. Und die Leute werden sagen: Seht nur, da kommt die alte Irre.«

»Das sagen sie jetzt schon«, erwiderte Oma Wetterwachs. »Sie glauben nur, daß ich es nicht höre.«

Die Königin schenkte diesem Hinweis keine Beachtung. »In meinem Innern behalte ich einen Teil von dir, der durch deine Augen blickt und weiß, was aus dir geworden ist.

Und erwarte keine Hilfe«, sagte die Königin. Sie kam näher, und Haß loderte in ihren Pupillen. »Es wird keine Barmherzigkeit geben für die alte Irre. Wenn du am Leben bleiben willst, mußt du auf jeden Bissen achten, den du ißt. Und immer sind wir bei dir, in deinem Kopf, um dich an dein Los zu erinnern. Du hättest mächtig sein und viel erreichen können. Tief in deinem Innern wirst du’s wissen und dir nichts mehr wünschen als Dunkelheit und das Schweigen der Elfen.«

Oma Wetterwachs hatte eine Überraschung für die Königin parat. Seilfasern der Fesseln fielen zu Boden, als sie plötzlich die Hand hob und zuschlug.

»Damit drohst du mir?« fragte die Hexe. »Wo ich schon weiß, was es bedeutet, alt zu sein?«

Die Königin fuhr sich mit den Fingern über das deutlich sichtbare Mal auf der Wange, während die Elfen ihre Bögen hoben und auf einen Befehl warteten.

»Kehr in deine Welt zurück«, sagte Oma Wetterwachs. »Du glaubst, eine Art Göttin zu sein, aber du hast nichts begriffen, überhaupt nichts. Was nicht stirbt, kann auch nicht leben. Was nicht lebt, kann sich nicht verändern. Was sich nicht verändert, kann nicht lernen. Das kleinste Geschöpf, das irgendwo im Gras stirbt, weiß mehr als du. Ja, es stimmt, ich bin alt. Ich bin älter als du. Du hast länger gelebt als ich, aber ich bin trotzdem älter. Und besser. Und das, werte Dame, ist gar nicht schwer.«

Die Königin öffnete ein Ventil für ihren Zorn.

Die Wucht des mentalen Hiebs veranlaßte Nanny Ogg, sich zusammenzukrümmen. Oma Wetterwachs blinzelte.

»Nicht schlecht«, krächzte sie. »Aber ich stehe noch immer. Ich sinke nicht auf die Knie. Und ich habe noch immer Kraft…«

Ein Elf verlor das Gleichgewicht. Die Königin schwankte.

»Ach, ich habe keine Zeit für solchen Unsinn«, sagte sie und schnippte mit den Fingern.

Einige Sekunden verstrichen, ohne daß etwas geschah. Die Königin sah sich um, blickte zu ihren Untertanen.

»Sie können ihre Waffen nicht einsetzen«, sagte Oma. »Und eigentlich entspricht das auch gar nicht deinen Wünschen, oder? Es wäre zu einfach.«

»Du bist nicht in der Lage, meine Krieger zu kontrollieren! Soviel Kraft hast du nicht!«

»Möchtest du herausfinden, wie groß meine Macht ist, werte Dame? Hier, auf dem Boden von Lancre?«

Sie trat vor. Magie knisterte in der Luft. Die Königin wich zurück.

»In meinem eigenen Revier?« fügte Oma hinzu.

Erneut ohrfeigte sie die Königin, fast sanft und zärtlich.

»Nun?« fragte sie. »Kannst du mir nicht widerstehen? Was ist mit deiner Macht, werte Dame? Fehlt sie dir jetzt?«

»Du dummes altes Weib!«

Alle lebenden Wesen in einem Umkreis von fast zwei Kilometern spürten es. Kleinere Geschöpfe starben. Vögel fielen tot vom Himmel. Elfen und Menschen sanken ins Gras und hielten sich den Kopf.

Im Oma Wetterwachs’ Garten starteten die Bienen.

Wie Dampf kamen sie aus den Stöcken heraus, hatten es dabei so eilig, daß sie gegeneinanderprallten. Dem dumpfen, kanonenbootartigen Brummen der Drohnen gesellte sich das hektische Sirren der Arbeiterinnen hinzu.

Noch lauter war das Pikkolopfeifen der Königinnen.

Die Schwärme stiegen in weiten Spiralen über der Lichtung auf, teilten sich und flogen los. Sie blieben nicht allein. Weitere Schwärme kamen, aus Weidenkörben in Hinterhöfen, aus hohlen Bäumen. Sie bildeten eine dunkle Wolke am Firmament.

Nach einer Weile bildete sich ein Muster in dieser Wolke. Die Drohnen flogen an den Flanken, brummten wie Bomber. Die Arbeiterinnen bildeten einen langen Kegel, der aus Tausenden von kleinen Körpern bestand. Ganz vorn, an der Spitze, flogen hundert Königinnen.

Stille senkte sich auf die Wiesen hinab, als die Schwärme fort waren.

Blumen neigten sich einsam im Wind hin und her. Nektar floß ungetrunken. Es blieb den Blüten überlassen, sich selbst zu befruchten.

Die Bienen waren zu den Tänzern unterwegs.

 

Oma Wetterwachs kniete und preßte beide Hände an die Schläfen.

»Nein…«

»O doch«, erwiderte die Königin.

Esme Wetterwachs hob die Arme. Anstrengung und Schmerz krümmten ihre Finger wie Krallen.

Magrat stellte fest, daß sie die Augen bewegen konnte. Der Rest ihres Körpers fühlte sich schwach und nutzlos an, trotz Kettenhemd und Brustharnisch. Jetzt war es also soweit. Mindestens tausend Jahre trennten sie von Ynci, aber trotzdem glaubte sie, das spöttische Lachen der Kriegerin zu hören. Sie hätte nicht einfach so aufgegeben. Magrat war nur eine weitere jener einfältigen und apathischen Frauen, die bloß lange Gewänder trugen und sich um die Sache mit der Thronfolge kümmerten…

Bienen strömten vom Himmel herab.

Oma Wetterwachs wandte sich an Magrat.

Ganz deutlich hörte die jüngere Frau eine Stimme hinter ihrer Stirn:

»Möchtest du Königin sein?«

Und dann war sie frei.

Die Müdigkeit fiel von ihr ab. Ynci schien aus dem Helm zu strömen, um die Leere in Magrat mit Kraft und Entschlossenheit zu füllen.

Es regnete noch mehr Bienen, und sie bedeckten die zusammengesunkene Gestalt der alten Hexe.

Die Königin drehte sich um, und das Lächeln in ihrem Gesicht erstarrte, als Magrat die Gestalt straffte und vortrat. Gedankenlos hob sie die Streitaxt und holte damit aus.

Die Königin bewegte sich noch schneller. Ihr Hand zuckte nach vorn und schloß sich um Magrats Unterarm.

»Hast du wirklich geglaubt, daß es so einfach ist?« fragte sie und lächelte.

Anschließend drückte sie noch etwas fester zu und verdrehte die Hand. Es bliebt Magrat nichts anderes übrig, als die Axt loszulassen.

»Und du willst eine Hexe sein?«

Die Bienen bildeten unterdessen einen braunen Nebel, hinter dem sich nur noch vage die Gestalten von Elfen abzeichneten. Mit Pfeilen ließ sich gegen die Insekten kaum etwas ausrichten – sie waren viel zu klein. Darüber hinaus kamen sie mit natürlicher Immunität Glamour gegenüber, und mit dem festen Willen zu töten.

Magrat spürte, wie es in ihren Knochen vibrierte.

»Die alte Hexe ist erledigt«, sagte die Königin und zwang Magrat nach unten. »Ich will keineswegs behaupten, sie sei nicht gut gewesen. Aber sie war eben nicht gut genug. Und du bist es ganz gewiß nicht.«

Magrat sank immer mehr dem Boden entgegen.

»Warum versuchst du nicht, ein wenig Magie gegen mich zu beschwören?« fragte die Königin spöttisch.

Die Frau in der Rüstung trat zu. Ihr Fuß traf die Königin am Knie, und ganz deutlich hörte sie, wie etwas knackte. Als die Elfe taumelte, warf sich Magrat nach vorn, stieß an die Hüfte der Gegnerin und riß sie mit sich ins Gras.

Die Zartheit der Königin verblüffte sie. Auch sie selbst war ziemlich dünn, doch dieses Geschöpf schien kaum etwas zu wiegen.

Sie zog sich nach oben, bis sich ihr Gesicht auf einer Höhe mit dem der Königin befand. »Du bist nichts«, brachte sie hervor. »Es spielt sich alles nur im Kopf ab, oder? Ohne den Glamour…«

Magrat sah ein fast dreieckiges Gesicht mit winzigem Mund, einer nur angedeuteten Nase und sehr großen Augen, in denen nun Entsetzen flackerte.

»Eisen«, hauchte die Königin. Ihre Hände griffen nach Magrats Armen, doch jetzt steckte keine Kraft mehr in ihnen. Die Stärke der Elfen lag darin, andere Leute von deren Schwäche zu überzeugen.

Magrat fühlte, wie das Wesen verzweifelt versuchte, einen Weg in ihr Bewußtsein zu finden. Aber es klappte nicht. Der Helm…

… lag knapp einen Meter entfernt im Schlamm.

Ihr blieb gerade noch Zeit genug zu bedauern, diesen Umstand zur Kenntnis genommen zu haben. Die Königin griff erneut an und bohrte ihr Selbst in eine sich rasch ausdehnende Unsicherheit.

Sie war nichts, noch weniger als bedeutungslos. Sie war so wert- und bedeutungslos, daß sogar ein absolut wert- und bedeutungsloses Geschöpf sie für unter seiner Würde gehalten hätte. Ihr Versuch, die Pläne der Königin zu vereiteln, verdiente es, mit ewiger Qual bestraft zu werden. Sie verlor die Kontrolle über ihren Körper, den sie gar nicht verdiente. Sie verdiente überhaupt nichts, abgesehen von der bereits erwähnten Strafe.

Verachtung kratzte und schabte über sie hinweg, zerfetzte das Ich namens Magrat Knoblauch.

Sie würde nie irgend etwas taugen, nie schön, intelligent oder stark sein. Eine in jeder Hinsicht graue Zukunft erwartete sie.

Selbstvertrauen? Vertrauen wozu? Und in was?

Die Welt schien nur noch aus den Augen der Königin zu bestehen. Alles in der ehemaligen Hexe drängte danach, sich in ihnen zu verlieren…

Doch ein Rest von Magrat Knoblauch begehrte auf, zerrte an den verschiedenen Schichten ihrer Seele…

… und legte den Kern frei.

Sie ballte die Faust, und ihr Hieb traf die Elfe zwischen den Augen.

Die Königin erlebte einen etwa zwei Sekunden langen Anfall akuter Verwirrungsagonie, bevor Magrats Faust erneut das Ziel traf, und dann noch einmal.

In einem Bienenstock konnte es nur eine Königin geben. Andernfalls… Zack! Bumm!

Sie rollten zur Seite und in den Schlamm. Magrat spürte einen Stich am Bein, doch darauf achtete sie ebensowenig wie auf die Geräusche um sie herum. Eine weitere Rolle, die diesmal in einer Pfütze endete. Etwas Hartes verlangte Magrats Aufmerksamkeit – die Streitaxt. Die Elfe zerrte an ihr, aber sie war viel zu schwach. Es gelang Magrat, sich aufzusetzen, die Axt zu heben…

Plötzlich bemerkte sie die Stille.

Lautlosigkeit wogte wie eine Welle über die Elfen der Königin und Shawn Oggs improvisiertes Heer hinweg, als der Glamour nachließ.

Vor dem untergehenden Mond zeichnete sich eine Gestalt ab.

Die Brise der Morgendämmerung trug einen seltsamen Geruch mit sich. Es roch nach Löwenkäfigen und Laubkompost.

»Er ist zurück«, sagte Nanny Ogg. Sie blickte zur Seite und sah Ridcully, dessen Gesicht glühte. Langsam hob er die Armbrust.

»Nimm das Ding runter«, forderte Nanny ihn auf.

»Seht euch das Geweih an…«, hauchte der Erzkanzler.

»Weg damit

»Aber…«

»Der Bolzen flöge einfach hindurch, ohne Schaden anzurichten. Er ist transparent – man kann sogar die Bäume hinter ihm sehen. In Wirklichkeit befindet er sich gar nicht hier. Es bleibt ihm nach wie vor verwehrt, das Tor zu durchschreiten. Er kann jedoch seine Gedanken schicken.«

»Aber ich rieche…«

»Wenn er tatsächlich da wäre, so stünden wir jetzt nicht mehr hier.«

Die Elfen wichen zurück, als der König näher kam. Seine Hinterläufe waren nicht dafür geschaffen, wie die Beine von Zweifüßern benutzt zu werden. Die Knie zeigten in die falsche Richtung, und die Hufe waren viel zu groß.

Er ignorierte die übrigen Anwesenden und stapfte langsam zur Königin. Magrat erhob sich und hielt unsicher die Axt bereit.

Die Königin sprang auf und streckte wie abwehrend die Arme aus, als ihre Lippen die erste Silbe eines Fluchs formten…

Der König blickte auf sie hinab und sagte etwas.

Nur Magrat hörte die Worte.

Später meinte sie, es sei um eine Verabredung im Mondschein gegangen.

 

Und sie erwachten.

Die Sonne leuchtete schon ein ganzes Stück überm Rand. Männer und Frauen standen auf, starrten sich groß an.

Nirgends war ein Elf zu sehen.

Nanny Ogg sagte als erste etwas. Hexen fällt es leichter als anderen Leuten, sich an das zu gewöhnen, was ist. Sie vergeuden weniger Gedanken an Dinge, die sein sollten.

Sie sah übers Moor. »Die wichtigste Sache ist jetzt, so schnell wie möglich die Steine wieder aufzustellen.«

»Das ist die zweitwichtigste Sache«, berichtigte Magrat sie.

Sie wandten sich beide der reglosen Oma Wetterwachs zu. Einige Bienen summten unschlüssig um ihren Kopf herum.

Nanny Ogg zwinkerte Magrat zu.

»Gut gemacht, Mädchen. Wußte gar nicht, daß du das Zeug hast, einen solchen Angriff zu überleben. Ich hatte ganz schön die Buchse voll – und fast wäre dies keine Metaffer gewesen.«

»Ich bin an so was gewöhnt«, erwiderte Magrat dumpf.

Nanny Ogg zog eine Braue hoch, ging jedoch nicht darauf ein. Statt dessen stieß sie Oma mit dem Stiefel an.

»Wach auf, Esme. Gut gemacht. Wir haben gewonnen.«

»Esme?«

Ridcully ging in die Hocke und griff nach Omas Hand.

»Die Anstrengung hat sie sicher sehr erschöpft«, plapperte Nanny. »Magrat zu befreien und so…«

Ridcully sah auf.

»Sie ist tot«, sagte er.

Er schob beide Arme unter den Leib, hob ihn hoch und schwankte ein wenig.

»Oh, sie würde nicht einfach so sterben«, sagte Nanny. Aber sie klang jetzt wie jemand, dessen Mund auf Automatik läuft, weil sich das Gehirn ausgeschaltet hat.

»Sie atmet nicht, und es läßt sich kein Puls feststellen«, meinte der Zauberer.

»Wahrscheinlich ruht sie nur aus.«

»Ja.«

Bienen kreisten hoch am blauen Himmel.

 

Ponder Stibbons und der Bibliothekar halfen dabei, die Steine wieder an den richtigen Platz zu stellen. Gelegentlich benutzten sie den Quästor als Hebel – er erlebte gerade wieder die steife Phase.

Ponder stellte fest, daß es sich um ungewöhnliche Steine handelte. Sie waren hart und sahen aus, als seien sie vor langer Zeit einmal geschmolzen worden.

Jason Ogg beobachtete, wie Stibbons nachdenklich neben einem der sogenannten Tänzer stand. In der Hand hielt er einen Bindfaden mit einem Nagel dran. Doch der Nagel hing nicht etwa nach unten, sondern zeigte zum Stein und schien ihn unbedingt erreichen zu wollen. Der Bindfaden vibrierte so heftig, daß ein leises Brummen erklang. Ponder starrte wie hypnotisiert darauf hinab.

Jason zögerte. Er begegnete Zauberern nur sehr selten und wußte nicht recht, wie man sich ihnen gegenüber verhielt.

»Der Stein zieht den Nagel an«, sagte Ponder. »Aber warum

Jason schwieg.

Und er hörte, wie der Zauberer sagte: »Vielleicht gibt es Eisen und… und Eisen, das anderes Eisen liebt. Oder männliches und weibliches Eisen. Oder gewöhnliches und königliches Eisen. Oder gewisses Eisen enthält noch etwas anderes. Vielleicht existiert Eisen, das ein Gewicht in der Welt schafft, und anderes Eisen rollt dann über die gewölbte Gummifläche.«

Quästor und Bibliothekar kamen näher, und ihre Aufmerksamkeit galt ebenfalls dem zitternden Nagel.

»Verdammt!« meinte Ponder schließlich und ließ den Bindfaden los. Der Nagel sauste fort, haftete mit einem Plink am Stein fest.

Der Zauberer wandte sich den anderen zu und zeigte den gequälten Gesichtsausdruck eines Mannes, der die große, surrende Maschine des Universums auseinandernehmen will und dem dafür eine verbogene Büroklammer zur Verfügung steht.

»Heda, Herr Sonnenschein«, sagte der Quästor. Die frische Luft und das Fehlen von Geschrei stimmten ihn fast fröhlich.

»Steine!« brachte Ponder hervor. »Warum vergeude ich meine Zeit mit Steinen? Hat man von Steinen jemals etwas erfahren? Wißt ihr, manchmal glaube ich, daß sich dort draußen ein Ozean der Wahrheit erstreckt, und ich sitze am Strand und spiele mit… mit Steinen

Er trat nach dem Felsen.

»Aber eines Tages finden wir eine Möglichkeit, auf jenem Ozean zu segeln«, fügte er hinzu und seufzte. »Kommt. Wir sollten jetzt besser zum Schloß gehen.«

Der Bibliothekar sah zu, wie eine Prozession aus müden Leuten durchs Tal zog.

Er griff nach dem Nagel, zog ihn fort und beobachtete, wie er zum Stein zurückflog.

»Ugh.«

Er hob den Kopf und begegnete Jason Oggs Blick.

Zur großen Überraschung des Schmieds zwinkerte der Orang-Utan.

Manchmal, wenn man genau auf die Steine am Ufer achtet, kann man mehr über den Ozean herausfinden.

 

Die Uhr tickte.

Umgeben vom matten, kühlen Licht des Morgens saß Nanny Ogg in Oma Wetterwachs’ Hütte und öffnete die Schatulle.

In Lancre wußte man von der geheimnisvollen Schachtel. Angeblich beinhaltete sie Bücher mit Zauberformeln, ein kleines privates Universum, Heilmittel für alle Krankheiten, Tore zu verlorenen Reichen und mehrere Tonnen Gold – was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, daß die Schatulle kaum dreißig Zentimeter durchmaß. Oma hatte Nanny Ogg nie Einzelheiten bezüglich des Inhalts mitgeteilt, abgesehen vom Testament.

Nanny Ogg war nun ein wenig überrascht, als sie auf die Dinge in der Schachtel hinabblickte: einige große Umschläge, ein Bündel mit Briefen, und unten eine Ansammlung ganz gewöhnlicher Gegenstände.

Nanny griff nach den Umschlägen. Auf dem ersten stand geschrieben: An Gytha Ogg, Lies dies jetzt, ich meinige SOFORT.

Der zweite war ein wenig kleiner und zeigte folgende Aufschrift: Der letztige Wille vonne Esmeralda Wetterwachs, geschtorben in der Mittsommernacht.

Und dann das Bündel mit Briefen, von einem Bindfaden umschnürt. Sie schienen ziemlich alt zu sein. Kleine Stücke vergilbten Papiers brachen ab, als Magrat die Briefe aus der Schatulle zog.

»Sind alle an Esme adressiert«, murmelte sie.

»Eine ganz normale Sache«, erwiderte Nanny. »Jeder kann Briefe bekommen.«

»Und dann die Sachen ganz unten«, fuhr Magrat fort. »Sehen wie Kieselsteine aus.«

Sie nahm einen heraus.

»In diesem hier steckt eins der schnörkeligen Fossiliendinger«, sagte sie. »Und der dort… Sieht aus wie das rote Gestein, aus dem die Tänzer bestehen. Eine Nadel klebt daran fest. Seltsam.«

»Esme hat immer auf kleine Details geachtet. Ja, sie versuchte dauernd, irgendwelchen Sachen auf den Grund zu gehen.«

Sie schwiegen, und ihr Schweigen dehnte sich aus, füllte die Küche und wurde vom geduldigen Ticken der Uhr in kleine Scheiben geschnitten.

»Ich hätte nie gedacht, daß es dazu kommt«, meinte Magrat nach einer Weile. »Ich hätte nie gedacht, daß wir einmal ihr Testament lesen. Ich habe immer angenommen, der Tod beträfe nur andere Leute, nicht aber Oma Wetterwachs.«

»Tja, da hast du dich geirrt«, entgegnete Nanny. »Tempus fugit.«

»Nanny?«

»Ja, Magrat?«

»Ich verstehe das nicht. Oma war deine Freundin, aber du… du scheinst gar nicht traurig zu sein.«

»Nun, ich habe einige Ehemänner und Kinder begraben. Früher oder später gewöhnt man sich daran. Wie dem auch sei: Wenn sich Esme jetzt nicht an einem besseren Ort befindet, so beginnt sie sicher damit, ihn zu verbessern.«

»Nanny?«

»Ja, Magrat?«

»Wußtest du etwas von dem Brief?«

»Von welchem Brief?«

»Ich meine den an Verence.«

»Nein, von einem Brief an Verence weiß ich nichts.«

»Er muß ihn einige Wochen vor unserer Rückkehr bekommen haben. Vermutlich hat Oma ihn geschickt, noch bevor wir Ankh-Morpork erreicht haben.«

Magrat musterte Nanny und hielt vergeblich nach Anzeichen von Schuld Ausschau.

»Diesen Brief hier meine ich«, sagte sie und zog ihn unterm Brustharnisch hervor.

»Lies ihn ruhig.«

Nanny Ogg las:

»›Lieber Herre, ich schreibige dir um mitzuteilen dasse Magrat Knoblauch am Bildschweindienstag (plußminuß einige Tage) nach Lancre zurückkehrigen wird. Sie isset ein Küken aber auch sauber und sie habet gesunde Zähne. Wenn du sie heiraten möchtigst so beginn sofortig mit den Vorbereitungen denn wenn du ihr nur einen Antrag machigst so führet sie dich nur an der Nase herum weil sie sich nicht entscheidigen kann. Magrat verschteht es gut siche selbst Hindernisse in den Weg zu legen. Sie weis überhaupt nicht was sie wille. Du bist König und kannest tun und lassigen was dir gefällt. Du solltest Magrat vor vollendigte Tatsachen schtellen. Pehess: Man munkelt davon dasse Heksen bald Steuern bezahligen sollen. Schon seit fielen Jahren hat kein König von Lancre mehr versucht ein solches Gesetz zu erlassigen. Ich schlage vor du nimmst dir ein Beispiel daranne. Mit freundlichen Grüssen derzeit gehet es mir gute. EIN FREUND (ANONÜM).‹«

Das Ticken der Uhr nähte die Decke der Stille.

Nanny Ogg drehte sich zur Uhr um.

»Sie hat alles arrangiert!« entfuhr es Magrat. »Du weißt doch, wie Verence ist. Ich meine, man weiß doch sofort, von wem der Brief stammt, oder? Und als ich zurückkehrte, war alles vorbereitet…«

»Wie hättest du dich verhalten, wenn nichts vorbereitet gewesen wäre?« fragte Nanny.

Magrat blinzelte verwirrt.

»Nun, ich… Ich meine… Ich, äh…«

»Dann würdest du heute vermutlich nicht heiraten, oder?« fragte Nanny. Doch ihre Stimme kam aus der Ferne, als sei sie in Gedanken mit etwas ganz anderem beschäftigt.

»Nun, kommt darauf an…«

»Du möchtest doch heiraten, oder?«

»Äh, ja, natürlich, aber…«

»Dann ist ja alles klar«, sagte Nanny in mütterlichem Tonfall.

»Ja, aber sie hat mich einfach fortgeschickt und mich praktisch im Schloß eingesperrt, und deswegen bin ich so wütend geworden…«

»Du warst wütend genug, um der Königin die Stirn zu bieten«, unterbrach Nanny die jüngere Frau. »Du hast sie sogar angegriffen. Gut gemacht. Die alte Magrat hätte das nicht gekonnt, oder? Esme sah immer bis zum… Kern der Sache. Bitte sei jetzt so nett, geh in den Hof und sieh nach, wieviel Brennholz noch da ist.«

»Aber ich habe sie gehaßt und gehaßt, und jetzt ist sie tot!«

»Ja. Geh jetzt und sag Nanny, wie hoch der Stapel ist, in Ordnung?«

Magrat öffnete den Mund, um zu sagen: »Zufälligerweise bin ich fast die Königin.« Aber sie entschied sich dagegen. Statt dessen ging sie stumm nach draußen und sah hinterm Haus nach.

»Es ist noch ziemlich viel Brennholz da«, sagte sie, als sie zurückkehrte und sich die Nase putzte. »Und es scheint erst vor kurzem aufgeschichtet worden zu sein.«

»Außerdem hat Esme gestern die Uhr aufgezogen«, murmelte Nanny. »Und die Teebüchse ist halb voll – hab’ gerade einen Blick hineingeworfen.«

»Und?«

»Esme war nicht sicher«, sagte Nanny. »Hmm.«

Sie öffnete den an sie adressierten Umschlag. Er war größer und flacher als der mit dem Testament, enthielt nur ein Pappschild.

Nanny las es, ließ es dann auf den Tisch fallen.

»Komm!« stieß sie hervor. »Wir haben nicht viel Zeit.«

»Was ist denn?«

»Und nimm die Zuckerdose mit!«

Nanny riß die Tür auf und lief zu ihrem Besen.

»Komm!«

Magrat griff nach dem Schild. Die Handschrift wirkte vertraut, stammte eindeutig von Oma Wetterwachs.

Krakelige Buchstaben bildeten folgende Botschaft:

ICH BINNE NICH TOT.

 

»Halt! Wer da?«

»Warum hältst du mit einem Arm in der Schlinge Wache, Shawn?«

»Dienst ist Dienst, Mama.«

»Na schön. Laß uns eintreten.«

»Bist du Freund oder Feind, Mama?«

»Shawn, hier neben mir steht die Fast-Königin Magrat, hast du verstanden?«

»Ja, aber ihr müßt…«

»Öffne das Tor, und zwar sofort

»Aua – ja, Mama!«

 

Magrat bemühte sich, mit Nanny Schritt zu halten, als sie durchs Schloß eilte.

»Der Zauberer hatte recht«, sagte die jüngere Frau. »Oma ist tot. Ich finde es durchaus verständlich, daß du das Gegenteil hoffst, aber ich weiß, wann jemand tot ist.«

»Nein, weißt du nicht. Vor einigen Jahren bist du tränenüberströmt zu mir gekommen, und es stellte sich heraus, daß sie nur borgte. Sie nahm den Zwischenfall zum Anlaß, dieses Schild zu machen.«

»Aber…«

»Sie wußte nicht genau, was geschehen würde«, fuhr Nanny fort. »Und das genügt mir.«

»Nanny…«

»Man weiß nie genau Bescheid, wenn man nicht nachsieht«, sagte Nanny Ogg und legte damit ihre eigene Unschärferelation dar.

Sie schob schwungvoll die Tür des Großen Saals auf.

»Was geht hier vor?«

Ridcully stand auf und wirkte verlegen.

»Nun, es erschien mir nicht richtig, sie allein zu lassen…«

»Meine Güte!« Nanny beobachtete die Szene. »Kerzen und Lilien. Ich wette, du hast sie selbst gepflückt, im Garten. Und dann hast du Esme hier drin eingesperrt.«

»Nun…«

»Ohne ein einziges Fenster zu öffnen! Hörst du sie nicht?«

»Was soll ich hören?«

Nanny sah sich rasch um und griff nach einem silbernen Kerzenständer.

»Nein!«

Magrat nahm ihr den Gegenstand aus der Hand.

»Zufälligerweise…« Sie holte aus. »… ist dies…« Sie zielte. »… mein Schloß… fast…«

Der Kerzenständer sauste durch die Luft, drehte sich dabei um die eigene Achse und traf ein großes Fenster. Buntes Glas splitterte.

Sonnenschein strömte frisch und ungefiltert auf den Tisch – im langsamen magischen Feld der Scheibenwelt war die Bewegung deutlich zu erkennen. Bienen glitten durch die Lichtbalken wie Murmeln durch glänzende Röhren.

Der Schwarm senkte sich auf den Kopf der Hexe herab und sah aus wie eine gefährliche Perücke.

»Was…«, begann Ridcully.

»Bestimmt gibt sie wochenlang damit an«, sagte Nanny. »Mit Bienen hat es noch niemand geschafft. Weil ihr Selbst überall ist, weißt du. Das Ich beschränkt sich nicht auf ein Insekt, sondern verteilt sich auf den ganzen Schwarm.«

»Was soll…«

Oma Wetterwachs’ Finger zuckten.

Die Augen gingen auf.

Ganz langsam setzte sie sich auf, und offenbar fiel es ihr nicht leicht, den Blick auf Magrat und Nanny Ogg zu fixieren.

»Ich möchte einen Blumenstrausss, einen Topf mit Honig und jemanden, den ich ssstechen kann.«

»Wir haben die Zuckerdose mitgebracht, Esme«, sagte Nanny Ogg.

Oma warf einen hungrigen Blick darauf und sah dann zu den Bienen, die von ihrem Kopf starteten – wie Jagdmaschinen von einem zum Untergang verurteilten Flugzeugträger.

»Gib ein bißchen Wassser dassu und schütt den Zucker für sssie auf den Tisch.«

Oma Wetterwachs lächelte triumphierend, als Nanny Ogg davoneilte.

»Ich habe esss mit Bienen geschafft! Esss hiesss immer, niemand könnte esss mit Bienen schaffen, aber mir issst esss gelungen! Man hat dann ein Ssselbst, dasss in sssahllose verschiedene Richtungen fliegt! Man musss gut sssein, um esss mit Bienen zu schaffen!«

Nanny Ogg leerte die Schüssel mit improvisiertem Sirup auf dem Tisch. Der Schwarm landete darauf.

»Du lebst?« brachte Ridcully hervor.

»Dasss issst der Vorteil einer Universitätsssbildung«, kommentierte Oma und massierte sich die tauben Arme. »Man braucht sssich nur aufzusetzen und fünf Minuten lang sssu reden, um sssolchen Leuten zu zeigen, dasss man noch lebt.«

Nanny Ogg reicht ihr ein Glas Wasser. Es schwebte kurz in der Luft und fiel dann zu Boden – Oma hatte versucht, mit ihrem fünften Bein danach zu greifen.

»Entschuldigung.«

»Ich wußte, daß du nicht sicher warst!« freute sich Nanny.

»Sssicher? Natürlich war ich sssicher! Hatte nie auch nur den geringsten Sssweifel.«

Magrat erinnerte sich an das Testament.

»Du hattest überhaupt keinen Zweifel?«

Oma Wetterwachs war anständig genug, Blickkontakt zu vermeiden. Sie rieb sich die Hände.

»Was ist passiert, während ich fort gewesen bin?«

»Nun«, antwortete Nanny, »Magrat war mutig genug, um…«

»Oh, ich weiß. Du hast inzwischen geheiratet, nicht wahr?«

»Geheiratet?« entfuhr es den übrigen Anwesenden verblüfft.

»O nein!« klagte Magrat. »Pater Perdore von den Neun-Tage-Rätslern sollte die Trauung vornehmen, aber ein Elf hat ihn außer Gefecht gesetzt. Außerdem steht das Schloß inzwischen leer, und…«

»Keine faulen Ausreden«, warf Oma ein. »Zur Not kann sich auch ein Zauberer um das Trauungsritual kümmern, nicht wahr?«

»Ich, ich, ich glaube schon«, sagte Ridcully, der allmählich den Überblick verlor.

»Na bitte«, brummte Oma. »Ein Zauberer ist ein Priester ohne Gott und mit feuchtem Händedruck.«

»Aber die meisten Gäste sind weggelaufen!« rief Magrat.

»Wir besorgen dir andere«, versprach Oma.

»Frau Scorbic kann das Hochzeitsmahl unmöglich rechtzeitig zubereiten!«

»Du mußt es ihr befehlen!« schlug Oma Wetterwachs vor.

»Die Brautjungfern sind nicht da!«

»Es klappt auch ohne sie.«

»Ich habe nichts anzuziehen!«

»Ach? Und was hast du da an?«

Magrat blickte auf das rostige Kettenhemd, einen schmutzverkrusteten Brustharnisch und die wenigen feuchten Reste weißer Seide, die wie ein zerfetzter Heroldsrock an ihr hingen.

»Sieht doch ganz gut aus«, behauptete Oma. »Nanny kümmert sich um das Haar.«

Aus einem Reflex heraus hob Magrat die Hände, nahm den Helm ab und klopfte sich auf den Kopf. Von Zweigen stammende Holzschnipsel und Heidekraut steckten im Haar und bildeten eine feste Masse, die jedem Kamm widerstand. Schon unter günstigen Umständen blieb Magrats Haar höchstens fünf Minuten lang in einer einigermaßen ordentlichen Form. Derzeit ähnelte es einem Vogelnest.

»Ich glaube, ich lasse es so«, sagte die Fast-Königin.

Oma nickte anerkennend.

»Richtig so«, meinte sie. »Es kommt nicht darauf an, was du hast. Wichtig ist in erster Linie, wie du es bekommen hast. Nun, ich schätze, dann wäre wohl alles geregelt.«

Nanny beugte sich vor und flüsterte etwas.

»Was? Oh. Ja. Wo steckt der Bräutigam?«

»Er leidet noch immer an Verwirrung«, sagte Magrat. »Weiß nicht genau, was geschehen ist.«

»Das ist völlig normal nach dem letzten Junggesellenabend«, erwiderte Nanny.

 

Gewisse Probleme mußten gelöst werden:

 

»Wir brauchen einen Trauzeugen.«

»Ugh.«

»Na schön. Aber zieh was an.«

 

Die Köchin Frau Scorbic verschränkte die dicken rosaroten Arme.

»Unmöglich«, verkündete sie.

»Ich dachte dabei an Salate und ein wenig frisches Gemüse und so…«, sagte Magrat in einem flehentlichen Tonfall.

Die Köchin schob das keineswegs haarlose Kinn vor.

»Die Elfen haben in der Küche alles durcheinandergebracht. Es dauert Tage, um wieder Ordnung zu schaffen. Wie dem auch sei: Jeder weiß, daß frisches Gemüse der Gesundheit schadet, und Pasteten mit Eiern drin sind völlig ausgeschlossen.«

Magrat warf Nanny Ogg einen hilflosen Blick zu. Oma Wetterwachs war in den Garten gegangen und steckte dort ihre Nase in den einen oder anderen Blütenkelch.

»Mich geht das nichts an«, sagte Nanny. »Immerhin ist es nicht meine Küche.«

»Nein, es ist meine«, betonte Frau Scorbic. »Und ich weiß, wie man richtig kocht. Und ich lasse mich in meiner Küche nicht von einer Frau herumkommandieren, die kaum mehr ist als ein halbes Kind.«

Magrat ließ die Schultern sinken. Nanny berührte sie am Arm.

»Ich schätze, jetzt brauchst du das hier«, sagte sie und hielt den Flügelhelm hoch.

»Der König war immer zufrieden mit meinen…«, begann Frau Scorbic.

Es klickte. Die Köchin blickte über eine gespannte Armbrust und sah darüber Entschlossenheit in Magrats Gesicht.

»Ich rate dir dringend, deine Meinung in Hinsicht auf das frische Gemüse zu ändern«, sagte die Königin von Lancre.

 

Verence saß im Nachthemd und stützte den Kopf auf die Hände. Was die vergangenen Stunden betraf, erinnerte er sich an kaum etwas – abgesehen von Kälte. Und niemand schien bereit zu sein, mit ihm über die Ereignisse der Nacht zu sprechen.

Es knarrte leise, als sich die Tür öffnete.

Er sah auf.

»Freut mich, daß du auf den Beinen bist«, sagte Oma Wetterwachs. »Ich bin gekommen, um dir beim Anziehen zu helfen.«

»Ich habe im Kleiderschrank nachgesehen«, erwiderte Verence. »Die… Elfen stecken dahinter, nicht wahr? Haben alles geplündert. Meine ganze Kleidung ist weg.«

Oma sah sich um, trat an eine Truhe heran und öffnete sie. Glöckchen bimmelten; Stoff glänzte rot und gelb.

»Ich dachte mir schon, daß du es nicht fertiggebracht hast, dieses Kostüm wegzuwerfen. Und es müßte passen – immerhin bist du noch immer so dünn wie vorher. Kopf hoch! Es gefällt Magrat bestimmt.«

»O nein.« Verence schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich bin jetzt der König. Es wäre erniedrigend für Magrat, einen Narren zu heiraten. Ich, äh, habe einen Ruf zu wahren, um des Königreichs willen. Außerdem gibt es so etwas wie Stolz.«

Oma Wetterwachs’ durchdringender Blick ließ Unbehagen in ihm wachsen.

»Nun, es gibt ihn tatsächlich, den Stolz, meine ich«, fügte er kleinlaut hinzu.

Oma nickte und schritt zur Tür.

»Warum gehst du?« fragte Verence nervös.

»Ich gehe gar nicht«, sagte Oma ruhig. »Ich schließe nur die Tür.«

 

Und dann der Zwischenfall mit der Krone.

Eine hastig durchgeführte Suche in Verences Schlafzimmer förderte Zeremonien und Protokolle des Königreichs Lancre zutage. Es beschrieb den Vorgang auf eine recht klare Weise. Die neue Königin wurde vom König gekrönt – dieses Ritual gehörte zur Hochzeit. Normalerweise waren damit keine Probleme verbunden: Selbst durch generationenlange Inzucht hervorgegangene Könige schafften es spätestens beim zweiten Versuch, die richtige Stelle für die Krone zu finden. Doch in diesem besonderen Fall erfuhr das Ritual eine nicht im Buch beschriebene Erweiterung. Diesen Eindruck gewann zumindest Ponder Stibbons.

Als Verence Anstalten machte, Magrat die Krone aufs Haupt zu setzen, zögerte er kurz und sah durch den großen Saal zur alten Hexe. Fast alle Anwesenden folgten seinem Blick, auch die Braut.

Die alte Hexe deutete ein Nicken an.

Magrat wurde gekrönt.

Fiedelbumm trallala.

 

Braut und Bräutigam standen Seite an Seite und nahmen die guten Wünsche der Gäste, die eine lange Schlange bildeten, entgegen. Das frisch vermählte Paar wirkte ein wenig benommen – ein vollkommen normaler Zustand während dieser Phase der Zeremonie.

»Bestimmt werdet ihr sehr glücklich…«

»Danke.«

»Ugh!«

»Danke.«

»Nagel es an die Theke, Lord Ferguson, und zur Verdammnis mit den Käsehändlern!«

»Danke.«

»Darf ich die Braut küssen?«

Verence glaubte, von leerer Luft angesprochen worden zu sein. Nach zwei oder drei Sekunden senkte er den Kopf.

»Entschuldigung«, sagte er. »Du bist…«

»Meine Karte«, erwiderte Casanunda.

Verence las sie und wölbte die Brauen.

»Ah«, meinte er. »Oh, äh. Nun. Nun, nun. Der zweitbeste, wie?«

»Ich werde mir demnächst noch mehr Mühe geben«, versprach Casanunda.

Verence sah sich verlegen um, ging dann in die Hocke und flüsterte dem Zwerg ins Ohr:

»Könnten wir gelegentlich unter vier Augen miteinander reden?«

 

Die Moriskentänzer von Lancre trafen sich beim Empfang wieder. Es fiel ihnen schwer, miteinander zu sprechen. Einige von ihnen tänzelten manchmal.

»Na schön«, brummte Jason. »Erinnert sich jemand von euch? Ich meine, gibt es jemanden, der sich wirklich an etwas erinnert?«

»Ich erinnere mich an den Anfang«, sagte Schneider, der andere Weber. »Ja, genau an den Beginn. Und ans Tanzen im Wald. Doch die Vorstellung…«

»Elfen sind aufgetreten«, warf Kesselflicker, der Kesselflicker, ein.

»Darum ist es schiefgegangen«, sagte Dachdecker, der Fuhrmann. »Ich glaube, es wurde mächtig viel geschrien und so.«

»Ich habe jemanden mit Hörnern gesehen«, sagte Fuhrmann. »Und mit einem langen dicken…«

»Es war alles nur ein Traum«, spekulierte Jason.

»He, sieh nur dort drüben, Fuhrmann«, sagte Weber und zwinkerte den anderen zu. »Da ist der Affe. Du wolltest ihn doch etwas fragen, nicht wahr?«

Fuhrmann nickte. »Ja, genau.«

»Jetzt hast du die Möglichkeit dazu«, meinte Weber mit jener fröhlichen Boshaftigkeit, die intelligente Leute schlichten Gemütern gegenüber zur Schau stellen.

Der Bibliothekar unterhielt sich mit Ponder und dem Quästor. Er sah sich um, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.

»Du bist drüben in Schnitte gewesen, nicht wahr?« fragte Fuhrmann mit unschuldiger Offenheit.

Der Bibliothekar musterte ihn höflich verwirrt.

»Ugh!«

Fuhrmann runzelte die Stirn.

»Dorthin hast du deine Nuß gebracht, stimmt’s?«

Der Bibliothekar musterte den Moriskentänzer noch etwas länger und schüttelte dann den Kopf.

»Ugh.«

»Weber!« rief Fuhrmann. »Der Affe hier hat mir gerade mitgeteilt, daß er seine Nuß nicht dort verstaut, wo die Sonne nie scheint! Du hast das behauptet! Oder behauptest du jetzt, es nie behauptet zu haben?« Er wandte sich wieder an den Bibliothekar. »Er hat’s behauptet, Weber. Dachte mir schon, daß es nicht stimmt. So ein Unsinn. Es gibt überhaupt keine Affen in Lancre und auch keine in Schnitte. Außerdem: Affen sind blöd. Gehören ja zu den Tieren, nich’?«

Stille folgte, dehnte sich in konzentrischen Kreisen aus.

Ponder Stibbons hielt den Atem an.

»Dies ist eine nette Party«, sagte der Quästor zum Stuhl. »Ich wünschte, ich wäre hier.«

Der Bibliothekar nahm eine große Flasche vom nächsten Tisch. Er klopfte Fuhrmann auf die Schulter. Er schenkte ihm ein großes Glas voll ein und klopfte ihm auf den Kopf.

Die Anspannung wich von Ponder, und er konzentrierte sich wieder auf sein Experiment. Er hatte ein Messer an einen Bindfaden gebunden und beobachtete nun, wie es sich drehte und drehte…

Als Weber an jenem Abend nach Hause ging, wurde er von einem Unbekannten überfallen und in den Fluß geworfen. Niemand fand jemals den Grund dafür heraus.

Wer sich in die Angelegenheiten von Zauberern einmischt, muß mit sehr unangenehmen Konsequenzen rechnen, insbesondere dann, wenn sie Bananen mögen und ein langes rostbraunes Fell haben. Manchmal reißt ihnen der Geduldsfaden…

 

Auch andere gingen an jenem Abend nach Hause.

»Bestimmt denkt sie demnächst über sich, das Leben und ihre Stellung darin nach«, sagte Oma Wetterwachs, als die beiden Hexen durch aromatische Luft schlenderten.

»Sie ist jetzt Königin«, erwiderte Nanny Ogg. »Ein ziemlich hoher Posten. Fast so hoch wie der von Hexen.«

»Ja, aber… man sollte sich vor Protzerei hüten«, mahnte Oma Wetterwachs. »Wir sind Königinnen und anderen Leuten gegenüber im Vorteil, doch wir bleiben bescheiden und spielen uns nicht auf. Nimm mich als Beispiel. Bin mein ganzes Leben lang bescheiden gewesen.«

»Bei dir kann man schon fast von Schüchternheit reden«, warf Nanny Ogg ein. »Ich sage den Leuten dauernd: Wo auch immer ihr sucht – nirgends findet ihr eine Person, die demütiger und bescheidener ist als Esme Wetterwachs…«

»Kümmere mich immer um meine Angelegenheiten und mische mich nie in die von anderen Leuten ein…«

»Die meiste Zeit über bist du völlig unauffällig«, kommentierte Nanny. »Man muß genau hinsehen, um festzustellen, ob du einem überhaupt Gesellschaft leistest.«

»Unterbrich mich nicht dauernd, Gytha.«

»Entschuldigung.«

Eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter. Es war ein warmer, trockener Abend. Vögel zwitscherten in den Bäumen.

»Ich finde die Vorstellung komisch, daß Magrat jetzt verheiratet ist und so«, sagte Nanny schließlich.

»Wie meinst du das?«

»Nun, du weißt schon. Verheiratet sein und so.« Nanny seufzte. »Ich habe ihr einige Tips gegeben. Zum Beispiel: Trag immer etwas im Bett. Hält das Interesse im Mann wach.«

»Du hast immer deinen Hut getragen.«

»Genau.«

Nanny winkte mit einem aufgespießten Würstchen. Sie versäumte es nie, private Vorräte anzulegen, wenn es irgendwo umsonst etwas zu essen gab.

»Das Festmahl hat gut geschmeckt, nicht wahr? Und meiner Ansicht nach hat Magrat hervorragend ausgesehen. Hat die ganze Zeit über gestrahlt.«

»Meiner Ansicht nach haben ihre Wangen geglüht – vor Verlegenheit und Nervosität.«

»Typisch für eine strahlende Braut.«

»In einem Punkt hast du recht«, sagte Oma Wetterwachs, die einen Schritt vor Nanny ging. »Das Essen war gut. Ich habe noch nie ein so großes Angebot an frischem Gemüse gesehen.«

»Als ich Herrn Ogg heiratete, gab es bei unserer Hochzeit drei Dutzend Austern. Und sie haben überhaupt nicht gewirkt.«

»Außerdem finde ich es nett, daß wir eine Tüte mit einem Stück von der großen Torte bekommen haben«, meinte Oma.

»Ja, genau. Du weißt sicher, was man sagt. Wenn man ein bißchen davon unters Kopfkissen legt, so träumt man vom zukünftigen Ehem…« Nanny Oggs Zunge stolperte über sich selbst.

Sie schwieg und zeigte Anzeichen von Verlegenheit, was für ein Mitglied der Familie Ogg sehr ungewöhnlich war.

»Schon gut«, sagte Oma. »Ist nicht schlimm.«

»Entschuldige, Esme.«

»Alles geschieht irgendwo. Ich weiß es. Ich weiß es. Alles geschieht irgendwo. Was bedeutet: Letztendlich wird jeder Wunsch erfüllt.«

»Das ist gutes Kontinuinuinuum-Denken, Esme.«

»Der Kuchen schmeckt«, fuhr Oma Wetterwachs fort. »Aber im Augenblick… Tja, ich weiß nicht warum, aber… Ich glaube, ich… Was ich jetzt vertragen könnte, ist ein Bonbon.«

Das letzte Wort hing in der Abendluft, kam dem Echo eines Gewehrschusses gleich.

Nanny blieb stehen. Aus einem Reflex heraus tastete sie nach der Tasche, die für gewöhnlich eine Tüte mit staubigen Bonbons enthielt. Sie starrte auf Omas Hinterkopf, auf den Knoten aus grauem Haar unter dem Rand des hohen, spitzen Huts.

»Ein Bonbon?« wiederholte sie.

»Ich nehme an, du hast dir inzwischen eine neue Tüte besorgt«, sagte Oma, ohne sich umzudrehen.

»Esme…«

»Willst du mir vielleicht etwas sagen, Gytha? In Hinsicht auf Tüten mit Bonbons?«

Oma Wetterwachs kehrte Nanny noch immer den Rücken zu.

Nanny blickte auf ihre Stiefel.

»Nein, Esme«, sagte sie kleinlaut.

»Ich wußte, daß du zum Langen Mann gehen würdest. Wie hast du dir Zugang verschafft?«

»Ich habe ein besonderes Hufeisen benutzt.«

Oma nickte. »Du hättest ihn nicht an der Sache beteiligen sollen, Gytha.«

»Ja, Esme.«

»Er ist genauso hinterlistig wie sie.«

»Ja, Esme.«

»Du begegnest mir jetzt mit präventiver Unterwürfigkeit.«

»Ja, Esme.«

Sie gingen weiter.

»Welchen Tanz haben dein Jason und die Männer getanzt, als sie betrunken waren?« fragte Oma.

»Den Stock-und-Eimer-Tanz von Lancre, Esme.«

»Ist er erlaubt?«

»Nun, normalerweise sollten sie ihn nicht tanzen, wenn Frauen dabei sind«, sagte Nanny. »Sonst könnte man ihnen vielleicht sexuelle Belästigung vorwerfen. Obwohl: Ich habe mich von so etwas noch nie belästigt gefühlt.«

»Und dann dein Vers beim Empfang. Ich glaube, er hat Magrat ziemlich überrascht.«

»Vers?«

»Du hast ihn mit einigen Gesten untermalt.«

»Oh, der Vers.«

»Verence nahm ihn zum Anlaß, sich einige Notizen auf seiner Serviette zu machen.«

Nanny griff in die unergründlichen Tiefen ihrer Kleidung und holte eine Flasche Sekt hervor, für die es eigentlich gar keinen Platz geben konnte.

»Ich glaube, Magrat war wirklich glücklich«, meinte sie. »Wie sie dort stand, am Leib die Hälfte eines völlig verschmutzten Hochzeitskleids und darunter eine rostige Rüstung… Weißt du, was sie zu mir gesagt hat?«

»Nein. Was denn?«

»Kennst du das alte Gemälde von der Königin Ynci? Du weißt schon, die Frau mit dem Mieder aus Eisen. Mit einer Vorliebe für Spitzen, Messer und Streitwagen? Nun, Magrat ist davon überzeugt, daß ihr Yncis Geist geholfen hat. Als sie die Rüstung anlegte… Nur dadurch wäre sie so mutig gewesen.«

»Na so was«, entgegnete Oma unverbindlich.

»Kann schon seltsam sein, die Welt«, murmelte Nanny.

Eine Zeitlang schwiegen die beiden Hexen.

»Du hast ihr also nicht gesagt, daß es nie eine Königin namens Ynci gegeben hat?«

»Nein.«

»Der alte König Lully hat sie erfunden, um der Geschichte von Lancre einen romantischen Hauch beizufügen. Legte großen Wert darauf. Ließ sogar eine entsprechende Rüstung konstruieren.«

»Ich weiß. Schließlich hat der Mann meiner Urgroßmutter das Ding angefertigt. Er benutzte dazu eine alte Badewanne und mehrere Töpfe.«

»Hältst du es für besser, Magrat nichts davon zu sagen?«

»Ja.«

Oma Wetterwachs nickte.

»Komisch«, sagte sie. »Magrat bleibt immer gleich, selbst wenn sie völlig anders ist.«

Nanny Ogg griff unter ihre Schürze und holte einen Holzlöffel hervor. Anschließend hob sie den Hut und nahm eine Schüssel mit Creme, Sahne und Wackelpeter vom Kopf.*

»Ich weiß beim besten Willen nicht, warum du dauernd Essen stibitzt«, sagte Oma Wetterwachs. »Du brauchtest Verence doch nur zu bitten, dann bekommst du jede Menge davon. Du weißt doch, daß er nichts mit Sahne anrührt.«

»So macht’s mir aber mehr Spaß«, erwiderte Nanny. »Und ich habe ein wenig Spaß verdient.«

Es raschelte im Gebüsch, und das Einhorn trat auf den Weg.

Wahnsinn und Zorn brannten in ihm. Es befand sich in einer Welt, in der es keinen Platz für Geschöpfe seiner Art gab. Es suchte nach einer Möglichkeit, seiner Wut freien Lauf zu lassen. Etwa hundert Meter entfernt scharrte es mit den Hufen und senkte den Kopf.

»Hoppla«, sagte Nanny und ließ die Puddingschüssel fallen. »Komm. Zu dem Baum dort. Komm

Oma Wetterwachs schüttelte den Kopf.

»Nein. Diesmal laufe ich nicht weg. Vorher konnte sie nichts gegen mich ausrichten, und jetzt versucht sie’s mit einem Tier, wie?«

»Sieh dir nur das Horn an!«

»Ich sehe es ziemlich deutlich«, sagte Oma.

Das Einhorn schnaubte und stürmte los. Nanny Ogg eilte zum nächsten Baum mit niedrigen Ästen und sprang nach oben…

Oma Wetterwachs verschränkte die Arme.

»Komm endlich, Esme!«

»Nein. Vorher habe ich nicht klar gedacht, aber jetzt ist das der Fall. Es gibt einige Dinge, vor denen ich nicht weglaufen muß.«

Das weiße Wesen sauste über den vom Wald gesäumten Weg: tausend Pfund Muskeln hinter einem dreißig Zentimeter langen Horn. Ein Schweif aus Dampf folgte ihm.

»Esme

Die Kreis-Zeit ging zu Ende. Außerdem wußte Oma nun, warum es ihr zuvor so schwergefallen war, konzentriert zu denken. Jetzt hörte sie nicht mehr jenes Flüstern, das von den Überlegungen vieler anderer Esme Wetterwachses in alternativen Universen stammte.

Einige von ihnen lebten vielleicht in Welten, in denen Elfen herrschten. Oder sie waren vor langer Zeit gestorben. Oder sie führten ein ihrer Meinung nach glückliches Leben. Oma Wetterwachs wünschte sich selten etwas, da sie Wünsche für sentimental hielt. Aber sie empfand nun vages Bedauern angesichts der Tatsache, daß sie ihre Selbst-Schwestern nie kennenlernen konnte.

Möglicherweise drohte manchen von ihnen der Tod, hier auf diesem Weg. Wie auch immer man handelte: Es bedeutete, daß Millionen von Ich-Äquivalenten in alternativen Kosmen anders agierten. Ja, einige von ihnen mochten sterben. Oma spürte ihr Ende – den Tod von Personen namens Esme Wetterwachs. Sie konnte ihre Schwestern nicht retten; so etwas ließen Schicksal und Zufall nicht zu.

Über eine Million Hügelhänge lief das Mädchen; auf einer Million Brücken traf die junge Frau eine Entscheidung; auf einer Million Wegen stand die alte Hexe…

Sie alle unterschieden sich voneinander. Und sie alle waren eins.

Oma sah ihre Pflicht darin, hier und jetzt sie selbst zu sein, und zwar mit ihrer ganzen Kraft.

Sie hob die Hand.

Einige Meter entfernt prallte das Einhorn an eine unsichtbare Wand. Es streckte die Beine, um zu bremsen, und Schmerzen ließen den Leib zucken, als das Geschöpf auf dem Rücken zu Oma rutschte.

»Gytha…«, sagte sie, während sich das Einhorn aufzurichten versuchte, »zieh die Strümpfe aus und knüpf sie für mich zu einem Halfter zusammen.«

»Esme…«

»Ja?«

»Ich habe gar keine Strümpfe an, Esme.«

»Was ist mit dem hübschen rotweißen Paar, das du am letzten Silvester von mir bekommen hast? Ich habe sie selbst gestrickt. Und du weißt doch, wie sehr ich das Stricken verabscheue.«

»Nun, es ist ein warmer Abend. Und ich mag es, wenn die Luft, äh, frei zirkulieren kann.«

»Die Fersen waren wirklich schwierig zu stricken.«

»Tut mir leid, Esme.«

»Nun, sei wenigstens so gut, zu meiner Hütte zu laufen und jene Dinge zu holen, die sich in der untersten Kommodenschublade befinden.«

»Ja, Esme.«

»Sprich vorher mit deinem Jason und sag ihm, er soll in der Schmiede alles vorbereiten.«

Nanny Ogg starrte das Einhorn an, das mit den Beinen zappelte. Es steckte ganz offensichtlich in der Klemme: Es fürchtete sich vor Oma Wetterwachs, konnte jedoch nicht fliehen.

»Oh, Esme, du willst unseren Jason doch nicht etwa bitten…«

»Ich habe keineswegs vor, ihn um etwas zu bitten. Und auch an dich habe ich keine Bitte gerichtet.«

Oma Wetterwachs zog sich den Hut vom Kopf und warf ihn fort. Sie wandte den Blick nicht vom Einhorn ab, als sie nach dem eisengrauen Haarknoten tastete und einige ganz bestimmte Nadeln daraus löste.

Der Knoten verwandelte sich in eine silbrige Haarschlange, die bis zur Hüfte hinabreichte. Oma schüttelte einige Male den Kopf.

Nanny war vor Faszination wie gelähmt, als ihre alte Freundin einmal mehr die Hand hob und sich ein einzelnes Haar ausriß.

Oma Wetterwachs vollführte eine kompliziert anmutende Geste und formte eine Schlinge aus einem nahezu unsichtbaren Etwas. Sie ignorierte das hierhin und dorthin stoßende Horn, stülpte die Schlaufe über den Schädel des Wesens und zog.

Schlamm spritzte unter den unbeschlagenen Hufen des Einhorns, als es auf die Beine kam.

»Es wird sich losreißen«, prophezeite Nanny und trat so unauffällig wie möglich zum nächsten Baum.

»Ich könnte das Tier mit einer Spinnwebe halten, Gytha Ogg. Mit einer Spinnwebe. Geh jetzt. Du weißt, was du zu tun hast.«

»Ja, Esme.«

Das Einhorn warf den Kopf zurück und wieherte heulend.

 

Die halbe Stadt wartete, als Oma das Geschöpf nach Lancre führte – wenn man Nanny Ogg etwas erzählte, so war es nur eine Frage der Zeit, bis auch alle anderen es wußten.

Die Hufe des Tiers kratzten übers Kopfsteinpflaster, als es sich am Ende der unglaublich dünnen Leine hin und her wand, ohne sich befreien zu können.

Ab und zu trat es nach hoffnungslos Unvorsichtigen, die ihm zu nahe kamen.

Jason Ogg trug noch immer seine gute Kleidung und stand nervös in der offenen Tür seiner Schmiede. Heiße Luft flirrte überm Schornstein.

»Herr Schmied…«, sagte Oma Wetterwachs. »Ich habe Arbeit für dich.«

»Äh«, erwiderte Jason. »Das ist ein Einhorn. Äh.«

»Stimmt.«

Das Einhorn heulte, sah Jason an und rollte mit roten Augen, in denen Irrsinn loderte.

»Niemand hat jemals ein Einhorn beschlagen«, meinte Jason.

»Du solltest darin deine große Chance sehen«, sagte Oma.

Die Menge drängte näher, um alles zu sehen und zu hören. Gleichzeitig versuchten die Leute, einen sicheren Abstand zu den Hufen zu wahren.

Jason hob den Hammer und rieb sich damit das Kinn.

»Ich weiß nicht…«

»Hör mir gut zu, Jason Ogg.« Oma zog an dem Haar, als das Einhorn im Kreis schlitterte. »Du kannst alles beschlagen, ganz gleich, was man dir auch bringt. Aber diese Fähigkeit hat einen Preis, nicht wahr?«

Jason warf seiner Mutter einen panikerfüllten Blick zu. Nanny Ogg war anständig genug, zumindest verlegen zu wirken.

»Sie hat mir nichts davon erzählt«, sagte Oma, womit sie bewies: Sie konnte Nannys Gesichtsausdruck durch den eigenen Hinterkopf erkennen.

Sie beugte sich zu Jason vor, während hinter ihr das Einhorn trat und keuchte. »Der Preis für die Fähigkeit, alles beschlagen zu können… Er besteht darin, daß du alles beschlagen mußt, was man dir bringt. Um der Beste zu sein, muß man sich immer bemühen, Bestes zu leisten. Du zahlst diesen Preis, ebenso wie ich.«

Das Einhorn trat mehrere Zentimeter Holz aus dem Türrahmen.

»Aber Eisen…«, murmelte Jason. »Und Nägel…«

»Ja?«

»Eisen tötet das Geschöpf. Wenn ich das Einhorn mit Eisen beschlage, bringe ich es um. Und das Auslöschen von Leben gehört nicht dazu. Ich habe nie etwas getötet. Bei der Ameise dauerte die Arbeit viele Stunden lang, und sie hat nichts gespürt. Ich möchte einem Geschöpf, das mir nichts getan hat, keine Schmerzen zufügen.«

»Hast du die Sachen aus der Kommode geholt, Gytha?«

»Ja, Esme.«

»Bring sie her. Und du, Jason… Schür das Feuer in der Esse.«

»Aber wenn ich das Einhorn mit Eisen beschlage…«

»Habe ich von Eisen gesprochen?«

Dreißig Zentimeter neben Jasons Kopf schlug das Horn ein Loch in die Wand.

Der Schmied gab nach.

»Du mußt mit hereinkommen, um das Tier ruhig zu halten«, sagte er. »Ich habe noch nie einen solchen Hengst beschlagen, ohne daß sich mindestens zwei Männer und ein Junge daran festklammerten.«

»Das Einhorn wird keinen Widerstand leisten«, stellte Oma Wetterwachs fest. »Es muß mir gehorchen.«

»Es hat den alten Pirsch ermordet«, ließ sich Nanny Ogg vernehmen. »Ich hätte keine Bedenken, es dafür zu töten.«

»Schäm dich«, sagte Oma. »Es ist ein Tier. Tiere können niemanden ermorden. Dazu sind nur höher entwickelte Lebensformen imstande. Die Befähigung zum Mord unterscheidet uns von den Tieren. Gib mir den Sack.«

Sie zog das schnaubende Wesen in die Schmiede, und einige Bürger beeilten sich, das große Tor zu schließen. Wenige Sekunden später bohrte sich ein Huf durchs Holz.

Ridcully eilte herbei, den Riemen einer großen Armbrust um die Schulter geschlungen.

»Angeblich hat man hier das Einhorn gesehen.«

Ein weiterer Teil der Tür zersplitterte.

»Befindet es sich da drin?«

Nanny nickte.

»Esme hat es vom Wald bis hierher gezogen«, sagte sie.

»Aber es ist ein gefährliches wildes Tier!«

Nanny Ogg rieb sich die Nase. »Ja, stimmt. Wie dem auch sei: Esme weist alle notwendigen Qualifikationen auf. Wenn’s darum geht, Einhörner zu zähmen, meine ich. Mit Hexerei hat das nichts zu tun.«

»Wie meinst du das?«

»Ich dachte, gewisse Dinge in Hinsicht auf das Einfangen von Einhörnern seien allen Leuten bekannt«, sagte Nanny in einem bedeutungsvollen Tonfall. »Es müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, wenn du mir diesen diskreten Hinweis gestattest. Esme konnte damals schneller laufen als du, nicht wahr? Ließ sich nie von einem Mann einholen.«

Ridcully starrte Nanny mit offenem Mund an.

»Ich hingegen…«, fuhr Jasons Mutter fort. »Falle dauernd über die erste Baumwurzel. Selbst dort, wo’s überhaupt keine gibt.«

»Soll das heißen, sie hat nie… Ich meine, nachdem ich Lancre verließ…«

»Du brauchst deshalb kein Mitleid mit ihr zu haben«, sagte Nanny. »In unserem Alter spielen solche Dinge ohnehin keine Rolle mehr. Vermutlich hätte Esme überhaupt keinen Gedanken daran vergeudet, wenn du nicht zurückgekehrt wärst.« Ihr fiel plötzlich etwas ein. »Hast du Casanunda irgendwo gesehen?«

»Hallo, meine kleine Rosenknospe«, erklang eine fröhliche und hoffnungsvolle Stimme.

Nanny drehte sich nicht um.

»Du erscheinst immer dort, wo man nicht hinsieht«, kommentierte sie.

»Bin dafür berühmt, Frau Ogg.«

In der Schmiede herrschte Stille. Nach einer Weile ertönte ein Hämmern, das nur von Jasons Hammer stammen konnte.

»Was machen sie da drin?« fragte Ridcully.

»Etwas, das ein Einhorn veranlaßt, nicht mehr auszuschlagen«, antwortete Nanny.

»Was war in dem Sack, Frau Ogg?« erkundigte sich Casanunda.

»Das, was ich holen sollte«, entgegnete Nanny. »Das alte Teeservice aus Silber. Ein Erbstück der Familie. Ich habe es nur zweimal gesehen – das zweite Mal vorhin, als ich es im Sack verstaute. Ich schätze, Esme hat es nie benutzt. Das Milchkännchen ist wie eine seltsame Kuh geformt.«

Inzwischen hatten sich noch mehr Leute vor der Schmiede eingefunden. Die Menge füllte den ganzen Platz.

Das Hämmern hörte auf. Jasons ruhige Stimme erklang:

»Wir kommen jetzt raus.«

»Sie kommen jetzt raus«, sagte Nanny.

»Was hat sie gesagt?«

»Sie meinte, sie kommen jetzt raus.«

»Sie kommen jetzt raus

Die Menge wich zurück. Und die Tür schwang auf.

Oma Wetterwachs trat nach draußen und führte das Einhorn. Das Tier ging ruhig und sanft; die Muskeln unter dem weißen Fell bewegten sich wie Frösche in Öl. Die Hufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Ridcully bemerkte, daß sie glänzten.

Gehorsam folgte das Geschöpf der Hexe zur Mitte des Platzes. Dort gab Oma es frei und klopfte ihm auf die Hinterbacke.

Das Einhorn wieherte leise, drehte sich um und galoppierte über die Straße in Richtung Wald…

Nanny Ogg erschien hinter Oma Wetterwachs und sah dem Tier ebenfalls hinterher.

»Silberne Hufeisen?« murmelte sie. »Halten bestimmt nicht sehr lange.«

»Und silberne Nägel. Halten lange genug.« Oma sprach zur Welt im großen und ganzen. »Sie bekommt das Einhorn nie zurück, selbst wenn sie tausend Jahre lang ruft.«

»Ein Einhorn zu beschlagen…« Nanny schüttelte den Kopf. »Auf so eine Idee konntest nur du kommen, Esme.«

»Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht«, sagte Oma.

Inzwischen war das Einhorn nur noch ein weißer Fleck in der Heidelandschaft. Schließlich verschwand es im Zwielicht des Abends.

Nanny Ogg seufzte und brach damit einen subtilen Bann.

»Das wär’s also.«

»Ja.«

»Gehst du zum Tanz im Schloß?«

»Was ist mit dir?«

»Nun… Herr Casanunda hat mich gebeten, ihm den Langen Mann zu zeigen. Du weißt schon. Mit allem Drum und Dran. Wahrscheinlich liegt’s an seiner Zwergennatur. Leute wie er sind immer sehr an Erdarbeiten und dergleichen interessiert.«

»Ich kann einfach nicht genug davon bekommen«, bestätigte Casanunda.

Oma verdrehte die Augen.

»Denk daran, wie alt du bist, Gytha«, mahnte Oma Wetterwachs.

»Oh, das ist ganz einfach«, erwiderte Nanny. »Das eigentliche Problem besteht darin, vorübergehend zu vergessen, wie alt ich bin. Übrigens: Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«

Zur großen Überraschung von Nanny Ogg, Ridcully und vermutlich auch aller anderen hakte sich Oma Wetterwachs beim Erzkanzler ein.

»Herr Ridcully und ich machen einen Spaziergang zur Brücke.«

»Tatsächlich?« brachte Ridcully verblüfft hervor.

»Oh, wie nett

»Gytha Ogg, wenn du mich auch weiterhin so ansiehst, verpasse ich dir eine Ohrfeige, die du so schnell nicht vergißt.«

»Entschuldige, Esme«, sagte Nanny.

»Na schön.«

»Ich nehme an, ihr wollt über die alten Zeiten sprechen«, meinte Nanny Ogg.

»Vielleicht über die alten Zeiten. Vielleicht auch über andere.«

Das Einhorn erreichte den Wald und lief weiter.

 

Unten floß der Lancrefluß vorbei. Niemand überquerte das gleiche Wasser zweimal, nicht einmal auf einer Brücke.

Ridcully ließ einen Stein fallen. Mit einem leisen Plop verschwand er im Fluß.

»Es klappt immer«, sagte Oma Wetterwachs. »Irgendwo. Dein junger Zauberer weiß das – er versteckt sein Wissen nur hinter komischen Worten. Er könnte sehr klug sein, wenn er endlich das sähe, was sich direkt vor seinen Augen befindet.«

»Er möchte eine Zeitlang hierbleiben«, brummte Ridcully bedrückt. »Offenbar faszinieren ihn die Steine. Kann ihn wohl kaum zur Rückkehr nach Ankh-Morpork zwingen, oder? Außerdem genießt er das besondere Wohlwollen des Königs. Verence meinte, andere Könige vor ihm hätten auf die Dienste von Narren zurückgegriffen. Er will es mit einem Gelehrten versuchen und feststellen, ob das besser funktioniert.«

Oma lachte. »Und es dauerte nicht mehr lange, bis sich die junge Diamanda erholt hat«, sagte sie.

»Was soll das heißen?«

»Oh, nichts weiter. Das hat die Zukunft eben so an sich: Sie könnte alles mögliche bringen.«

Oma Wetterwachs griff nach einem kleinen Stein und warf ihn in den Fluß. Er plumpste zusammen mit einem von Ridcully ausgewählten Exemplar ins Wasser. Ein dumpfes Plopplop ertönte.

Der Erzkanzler räusperte sich. »Glaubst du, daß sich irgendwo alles… richtig entwickelt hat?«

»Ja. Hier!«

Oma sah, wie Ridcully traurig die Schultern hängen ließ.

»Und auch dort«, fügte sie sanfter hinzu.

»Wie bitte?«

»Ich meine: In irgendeiner anderen Welt heiratete Mustrum Ridcully eine gewisse Esmeralda Wetterwachs, und sie lebten…« Oma biß die Zähne zusammen. »…glücklich und zufrieden. Mehr oder weniger. Soweit das möglich ist.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich habe die Erinnerungen der anderen Esme empfangen. Sie schien ihre Lebensumstände nicht zu bedauern. Und das ist um so bemerkenswerter, weil ich nicht leicht zufriedenzustellen bin.«

»Wie bringst du so etwas fertig?«

»Ich gebe mir immer Mühe, ganz gleich, womit ich mich beschäftige.«

»Erwähnte jene andere Esmeralda zufälligerweise…«

»Sie hat nichts erwähnt! Sie hat keine Ahnung von unserer Existenz! Hör auf zu fragen! Es genügt zu wissen, daß alles irgendwo geschieht, oder?«

Ridcully rang sich ein Lächeln ab.

»Ist das der einzige Trost, den du mir anzubieten hast?«

»Es ist der einzige existierende Trost. Er muß genügen.«

 

Wo endet die Geschichte?*

An einem Sommerabend: Paare schlendern hier und dort; purpurnes, seidenartiges Zwielicht verdichtet sich zwischen den Bäumen. Im Schloß ist das Fest beendet; dort hört man nur noch leises Lachen sowie das Bimmeln silberner Glöckchen. Und im Wald herrscht das Schweigen der Elfen.

Lords und Ladies
titlepage.xhtml
Lords_und_Ladies_split_000.html
Lords_und_Ladies_split_001.html
Lords_und_Ladies_split_002.html
Lords_und_Ladies_split_003.html
Lords_und_Ladies_split_004.html
Lords_und_Ladies_split_005.html
Lords_und_Ladies_split_006.html
Lords_und_Ladies_split_007.html
Lords_und_Ladies_split_008.html
Lords_und_Ladies_split_009.html
Lords_und_Ladies_split_010.html
Lords_und_Ladies_split_011.html
Lords_und_Ladies_split_012.html
Lords_und_Ladies_split_013.html
Lords_und_Ladies_split_014.html
Lords_und_Ladies_split_015.html
Lords_und_Ladies_split_016.html
Lords_und_Ladies_split_017.html
Lords_und_Ladies_split_018.html
Lords_und_Ladies_split_019.html
Lords_und_Ladies_split_020.html
Lords_und_Ladies_split_021.html
Lords_und_Ladies_split_022.html
Lords_und_Ladies_split_023.html
Lords_und_Ladies_split_024.html
Lords_und_Ladies_split_025.html
Lords_und_Ladies_split_026.html
Lords_und_Ladies_split_027.html
Lords_und_Ladies_split_028.html
Lords_und_Ladies_split_029.html
Lords_und_Ladies_split_030.html
Lords_und_Ladies_split_031.html
Lords_und_Ladies_split_032.html
Lords_und_Ladies_split_033.html
Lords_und_Ladies_split_034.html
Lords_und_Ladies_split_035.html
Lords_und_Ladies_split_036.html
Lords_und_Ladies_split_037.html
Lords_und_Ladies_split_038.html
Lords_und_Ladies_split_039.html
Lords_und_Ladies_split_040.html
Lords_und_Ladies_split_041.html
Lords_und_Ladies_split_042.html
Lords_und_Ladies_split_043.html
Lords_und_Ladies_split_044.html
Lords_und_Ladies_split_045.html
Lords_und_Ladies_split_046.html
Lords_und_Ladies_split_047.html
Lords_und_Ladies_split_048.html
Lords_und_Ladies_split_049.html
Lords_und_Ladies_split_050.html
Lords_und_Ladies_split_051.html