Von einem Augenblick zum anderen dachte Angua nicht mehr mit dem Kopf und gab den Instinkten nach. Wolfsmuskeln beschleunigten sie, und sie sprang. Wassertropfen lösten sich aus ihre Mähne, und der Blick galt dem Hals des Assassinen.

Das Gfähr krachte viermal. Und kein Schuß ging daneben.

Angua prallte gegen den Mann und stieß ihn zurück.

Mumm stand schnaufend auf.

»Sechs Schüsse! Das waren sechs Schüsse, du Mistkerl! Jetzt bist du dran!«

Kreuz wirbelte herum, als Mumm auf ihn zustapfte. Er floh durch einen Tunnel, und bei jedem Schritt platschte es.

Mumm nahm Karottes Armbrust, zielte und zog den Abzug durch. Nichts geschah.

»Karotte! Du Idiot hast das Ding überhaupt nicht gespannt!«

Er drehte sich um.

»Komm! Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen!«

»Es ist Angua, Hauptmann.«

»Was?«

»Sie ist tot.«

»Karotte! Kannst du ihr jetzt noch helfen? Nein. Also komm mit!«

»Ich… wir dürfen sie nicht einfach hier liegenlassen…«

»Korporal Karotte! Komm mit!«

So schnell wie möglich watete Mumm durch das steigende Wasser und erreichte kurz darauf den Tunnel, in dem Kreuz verschwunden war. Offenbar führte er nach oben, denn der Wasserspiegel sank.

Man gebe dem Verfolgten nie eine Gelegenheit, eine Pause einzulegen und nach Luft zu schnappen. Das hatte Mumm schon am ersten Tag in der Wache gelernt. Wenn man schon jemanden verfolgen mußte, durfte man erst dann ruhen, wenn man das Ziel erreicht hatte. Wer dem Verfolgten die Möglichkeit gab, nachzudenken und sich etwas einfallen zu lassen, der lief Gefahr, daß ihm hinter der nächsten Ecke ein schwerer Sandsack entgegenkam.

Der Tunnel wurde immer kleiner.

Mumm bemerkte auch andere Passagen und Kanäle. Karotte hatte sicher recht. Hunderte von Arbeitern mußten jahrelang damit beschäftigt gewesen sein, diese Anlage zu bauen. Ankh-Morpork war auf Ankh-Morpork errichtet worden.

Der Hauptmann verharrte.

Nirgends platschte es. Mehrere Tunnelöffnungen waren in der Nähe.

Als er durch eine der Öffnungen spähte, sah er Licht in der Ferne.

Mumm wandte sich in die entsprechende Richtung, und wenig später fielen ihm zwei Beine auf, die aus einer offenen Falltür ragten.

Er sprang danach und packte einen Stiefel, als dieser im Raum darüber zu verschwinden drohte. Das Ding trat nach ihm, und er hörte, wie Kreuz fiel.

Mumm schloß die Hände um den oberen Rand der Falltür und zog sich hoch.

Er fand sich nicht etwa in einem weiteren Tunnel wieder, sondern in einem Keller. Ein Schritt… Er rutschte auf Schlamm aus und stieß an eine schleimbedeckte Wand. Worauf war Ankh-Morpork erbaut worden? Ja, genau…

Nur wenige Meter trennten ihn von Kreuz, der versuchte, eine glitschige Treppe hochzukommen. Einst mochte es oben eine Tür gegeben haben, aber ihr Holz war schon vor langer Zeit verfault.

Weitere Stufen und Kammern schlossen sich an. Brandkatastrophen und Überflutungen, Feuer und Wasser… Aus Zimmern wurden Keller, Keller verwandelten sich in Fundamente. Es war keine besonders elegante Verfolgung. Beide Männer rutschten immer wieder aus, fielen, standen auf, stolperten an schimmelbesetzten Wänden vorbei. Hier und dort hatte der Assassine Kerzen hinterlassen. Ihr Licht reichte gerade aus, daß Mumm sich Dunkelheit wünschte.

Und dann war plötzlich trockener Boden unter Mumms Füßen, und dies war keine Tür, sondern ein Loch in der Wand. Fässer standen hier neben alten Möbeln, die jemand abgestellt und vergessen hatte.

Kreuz lag keuchend zwei Meter entfernt und schob eine weitere Röhre in das Gfähr. Mumm kam halb in die Höhe und schnappte nach Luft. Auf einem kleinen Vorsprung in der nahen Mauer stand eine Kerze.

»Hab… dich«, brachte der Hauptmann hervor.

Kreuz versuchte aufzustehen und hielt dabei das Gfähr umklammert.

»Du bist… zu alt… fürs Laufen…«, fügte Mumm mühsam hinzu.

Der Professor taumelte fort. Mumm überlegte kurz. »Ich bin zu alt fürs Laufen«, sagte er dann und sprang.

Die beiden Männer rollten durch den Staub, das Gfähr zwischen ihnen. Später dachte Mumm, daß es kaum etwas Dümmeres gab, als gegen einen Assassinen zu kämpfen. Die Burschen hatten überall Waffen stecken. Aber Kreuz wollte das Gfähr einfach nicht loslassen. Seine Hände blieben darum geschlossen, und er trachtete danach, Lauf oder Kolben gegen Mumms Schädel zu rammen.

Seltsamerweise war kaum ein Assassine erfahren im unbewaffneten Kampf. Unter normalen Umständen brauchten sie solche Kenntnisse auch nicht, weil sie Meister des bewaffneten Kampfes waren. Feine Herren benutzten Waffen; nur der Pöbel kämpfte mit bloßen Händen.

»Ich habe dich erwischt«, schnaufte Mumm. »Du bist verhaftet! Hörst du? Finde dich endlich damit ab, verhaftet zu sein.«

Aber Kreuz ließ nicht los. Und Mumm wagte nicht, das Gfähr loszulassen, aus Furcht davor, daß es auf ihn zielte. Vier Arme zogen daran, zerrten es grimmig hin und her.

Es krachte.

Eine rote Flamme leckte aus dem Lauf. Etwas traf Mumms Helm, prallte ab und raste zur Decke.

Der Hauptmann starrte in die Grimasse des Professors, senkte den Kopf und zog mit aller Kraft am Gfähr.

Der Assassine stöhnte schmerzerfüllt, ließ los und tastete nach seiner blutenden Nase. Mit der Waffe in beiden Händen rollte Mumm nach hinten.

Das Gfähr bewegte sich. Plötzlich ruhte der Kolben an seiner Schulter, und der Zeigefinger berührte den Abzug.

Du gehörst mir.

Wir brauchen ihn nicht mehr.

Die Stimme ließ den Hauptmann unwillkürlich aufschreien.

Nachher schwor er, daß er den Abzug überhaupt nicht gezogen hatte. Er bewegte sich von ganz allein und nahm den Zeigefinger mit. Das Gfähr schlug ihm an die Schulter, und in der Wand über dem Kopf des Assassinen entstand ein fünfzehn Zentimeter großes Loch. Putz rieselte auf Kreuz hinunter.

Roter Dunst wallte vor Mumms Augen, und durch diesen Nebel beobachtete er, wie der Professor zur Tür taumelte und sie hinter sich zufallen ließ.

Alle Dinge, die du haßt und für falsch hältst – ich kann sie in Ordnung bringen.

Mumm erreichte die Tür und drehte den Knauf. Verriegelt.

Er richtete das Gfähr aus, ohne dabei zu denken, und einmal mehr bewegte der Abzug seinen Zeigefinger. Ein großer Teil der Tür und des Rahmens verwandelte sich in ein von Holzsplittern gesäumtes Loch.

Mumm trat den Rest fort und folgte dem Gfähr.

Er befand sich jetzt in einem Korridor. Zehn oder mehr junge Männer starrten verblüfft aus halbgeöffneten Pforten. Alle trugen schwarze Kleidung.

Dies war die Assassinengilde.

Ein Assassinenschüler musterte Mumm mit seinen Nasenlöchern.

»Wer bist du, wenn ich fragen darf?«

Das Gfähr schwang herum, und der Hauptmann riß es gerade noch rechtzeitig nach oben. Diesmal schlug der Bleiklumpen ein Stück aus der Decke.

»Ich bin das Gesetz, ihr verdammten Mistkerle!« rief Mumm.

Die jungen Assassinen starrten ihn groß an.

Erschieß sie alle. Säubere die Welt.

»Sei still!« Mumm trug eine ziemlich dicke Patina aus Staub und Schleim, und in seinen Augen glimmte es. Vielleicht hielten sie ihn für etwas aus den Kerkerdimensionen.

Der Schüler vor ihm zitterte.

»Wohin ist Kreuz gelaufen?« Rauch umwogte sein Haupt. Es kostete ihn große Mühe, nicht zu schießen.

Der junge Mann deutete zu einer Treppe. Er stand fast direkt unter dem Loch in der Decke. Mörtelstaub ruhte wie die Schuppen des Teufels auf seinen Schultern.

Erneut sauste das Gfähr los und zog Mumm mit sich, vorbei an dem Schüler und die Treppe hoch, auf deren Stufe kleine Schlammbrocken eine verräterische Spur bildeten. Er gelangte in einen anderen Flur.

Auch hier öffneten sich die Türen. Sie schlossen sich wieder, als das Gfähr donnernd einen Kronleuchter von der Decke holte.

Der Korridor endete an einer wesentlich breiteren Treppe. Oben ragte eine Tür aus massivem Eichenholz empor.

Ein Schuß erledigte das Schloß, und ein Stiefel trat die Tür auf. Unmittelbar darauf leistete Mumm dem Gfähr ausreichend Widerstand, um sich ducken zu können. Ein Armbrustbolzen raste über ihn hinweg und traf jemanden weiter hinten im Flur.

Erschieß ihn! ERSCHIESS IHN!

Kreuz stand an seinem Schreibtisch und bemühte sich fieberhaft, die Armbrust neu zu laden…

Mumm versuchte, die fremde Stimme zu ignorieren.

Doch warum sollte er nicht auf sie hören? Lohnte es sich etwa, diesen Mann zu schonen? Es war immer sein Wunsch gewesen, die Stadt in einen besseren Ort zu verwandeln, und hier bot sich ihm ein Anfang. Dann würden die Leute bald merken, was es mit dem Gesetz auf sich hatte.

Die Welt säubern…

 

Es wurde Mittag.

Die gesprungene Bronzeglocke der Lehrergilde begann zu läuten und hatte den Mittag sieben Schläge lang für sich allein, bevor die Uhr der Bäckergilde sie mit einem Spurt einholte.

Kreuz hob den Kopf und schob sich langsam zu einer der Steinsäulen, die Deckung und Schutz verhießen.

»Du kannst nicht auf mich schießen«, sagte er und beobachtete das Gfähr. »Ich kenne das Gesetz genausogut wie du. Du bist ein Wächter. Und Wächter dürfen niemanden kaltblütig erschießen.«

Mumm blickte über den Lauf.

Es war ganz einfach. Der Abzug kitzelte den Zeigefinger.

Eine dritte Glocke läutete.

»Du darfst mich nicht töten. Das Gesetz verbietet es. Und du bist ein Wächter«, betonte der Chefassassine noch einmal. Er befeuchtete seine trockenen Lippen.

Der Lauf sank ein wenig nach unten. Kreuz entspannte sich etwas.

»Ja, ich bin ein Wächter.«

Der Lauf kam wieder hoch und zielte auf die Stirn des Professors.

»Aber wenn die Glocken verstummen, bin ich kein Wächter mehr«, fügte Mumm hinzu.

Erschieß ihn! ERSCHIESS IHN!

Mumm schob sich den Kolben unter den Arm, damit er eine Hand frei hatte.

»Die Vorschriften müssen beachtet werden«, sagte er. »Das ist sehr wichtig. Ich möchte mir auf keinen Fall vorwerfen lassen, daß ich die Vorschriften mißachte.«

Er wandte den Blick nicht von Kreuz ab, als er die Dienstmarke von der Jacke löste. Sie glänzte noch immer, trotz des Schlamms. Er hatte sie häufig poliert. Als er sie jetzt drehte, reflektierte die Bronze das Licht.

Kreuz beobachtete das Objekt wie eine Katze.

Die Glocken läuteten inzwischen mit weniger Enthusiasmus. In den meisten Türmen war es bereits wieder still. Abgesehen vom Gong im Tempel der Geringen Götter bimmelte es nur noch in der Assassinengilde – deren Glocken waren traditionell spät dran.

Der Gong schwieg.

Der Professor legte die Armbrust langsam und vorsichtig auf den Schreibtisch.

»Siehst du? Ich bin nicht mehr bewaffnet!«

»Ja«, sagte Mumm. »Und ich möchte dafür sorgen, daß du dich nie wieder bewaffnen kannst.«

Die letzte schwarze Glocke der Assassinengilde läutete den Mittag ein.

Die anschließende Lautlosigkeit wirkte fast wie ein Donnerschlag.

Mumms Dienstmarke fiel auf den Boden und verursachte ein metallenes Scheppern, das die Stille bis zum Rand füllte.

Er hob das Gfähr und ließ zu, daß sich seine Hand langsam entspannte.

Erneut erklang eine Glocke.

Sie läutete eine leise, blecherne Melodie, die man nur deshalb hörte, weil keine anderen Geräusche die Aufmerksamkeit beanspruchten.

Kling, bing, a-bing, bong…

Das Läuten kam von einem Mechanismus, der die Zeit viel genauer anzeigte als Stundengläser, Wasseruhren und Pendel.

»Leg das Gfähr beiseite, Hauptmann«, sagte Karotte, die letzten Stufen der Treppe hinter sich bringend.

Er hielt das Schwert in der einen Hand und die Taschenuhr in der anderen.

bing, bing, a-bing, kling…

Mumm rührte sich nicht.

»Leg das Gfähr beiseite, Hauptmann«, wiederholte Karotte. »Leg es weg.«

»Ich habe genug Geduld, um abzuwarten, bis auch dieses Läuten verstummt ist«, erwiderte Mumm.

a-bing, a-bing…

»Ich kann es nicht zulassen, Hauptmann. Es wäre Mord.«

klong, a-bing

»Du willst mich daran hindern zu schießen?«

»Ja.«

bing… bing…

Mumm drehte den Kopf.

»Er hat Angua umgebracht. Bedeutet dir das überhaupt nichts?«

bing… bing… bing… bing…

Karotte nickte.

»Doch, Hauptmann. Aber zwischen ›persönlich‹ und ›wichtig‹ gibt es einen Unterschied.«

Mumm blickte an seinem Arm entlang. Das von Angst und Schrecken gezeichnete Gesicht des obersten Assassinen drehte sich vor dem Lauf des Gfährs.

bing… bing… bing… bing… bing…

»Hauptmann Mumm?«

bing…

»Hauptmann? Dienstmarke Nummer 177, Hauptmann. Sie wurde noch nie beschädigt.«

Die im Arm pulsierende Leidenschaft des Gfährs begegnete nun einem Heer aus sturen, eigensinnigen Mumms.

»Leg das Gfähr beiseite, Hauptmann«, sagte Karotte wie zu einem Kind. »Du brauchst es überhaupt nicht.«

Mumm starrte auf das Objekt in seinen Händen. Die fremde Stimme war jetzt viel leiser.

»Weg mit dem Ding, Wächter! Das ist ein Befehl!«

Das Gfähr fiel auf den Boden. Mumm salutierte – und wurde sich erst dann seiner Reaktion bewußt. Er sah Karotte an und blinzelte.

»Zwischen ›persönlich‹ und ›wichtig‹ gibt es einen Unterschied?« fragte er.

»Hört mal…«, begann Kreuz. »Das mit der… Bettlerin tut mir leid. Es war ein Unfall. Ich wollte nur… Es gibt Beweise! Eindeutige Beweise…«

Kreuz schenkte den beiden Wächtern kaum mehr Beachtung. Er nahm einen Lederbeutel vom Tisch und winkte damit.

»Hier drin! Es ist alles hier drin, Sire! Beweise! Der dumme Edward glaubte, es ginge nur um Kronen und Zeremonien. Er begriff überhaupt nicht, was er gefunden hatte! Und dann, in der vergangenen Nacht, wurde mir plötzlich klar…«

»Ich bin nicht interessiert«, murmelte Mumm.

»Die Stadt braucht einen König!«

»Sie braucht keine Mörder«, sagte Karotte.

»Aber…«

Kreuz sprang vor und griff nach dem Gfähr.

Mumm hatte versucht seine Gedanken zu ordnen, dann wieder flohen sie in einen entlegenen Winkel seines Bewußtseins. Er blickte in die Mündung des Gfährs. Das Ding schien zu grinsen.

Kreuz sackte an der Säule in sich zusammen, doch die Waffe blieb weiter auf den Hauptmann gerichtet. Sie zielte von ganz allein auf ihn.

»Die Beweise lassen nicht den geringsten Zweifel, Sire. Alles ist niedergeschrieben. Alles. Muttermale, Prophezeiungen, Abstammung und so weiter. Selbst das Schwert wird erwähnt. Dein Schwert!«

»Im Ernst?« entgegnete Karotte. »Darf ich mal sehen?«

Karotte ließ das Schwert sinken, und Mumm beobachtete entsetzt, wie er zum Schreibtisch ging und dort die Dokumente aus dem Beutel zog. Kreuz nickte anerkennend, als sei er zufrieden mit einem Schüler.

Karotte las die erste Seite und wandte sich der nächsten zu.

»Das ist wirklich interessant«, sagte er.

»Ja«, bestätigte Kreuz. »Und jetzt müssen wir diesen lästigen Wächter aus dem Weg schaffen.«

Mumm glaubte, bis zum Anfang des Laufs sehen zu können, bis zu dem Bleiklumpen, der ihm gleich entgegenspringen würde…

»Schade«, meinte Kreuz. »Wenn du doch nur…«

Karotte trat vor das Gfähr, und sein Arm bewegte sich so schnell, daß er kaum zu erkennen war. Es blieb fast völlig still.

Man sollte immer einem Bösen ausgeliefert sein, dachte Mumm. Denn der Gute tilgt das Leben, ohne ein Wort zu verlieren.

Kreuz sah nach unten. Blut zeigte sich auf seinem Hemd. Er tastete nach dem aus seiner Brust ragenden Schwertheft, hob dann den Kopf und blickte in Karottes Augen.

»Warum? Du hättest…«

Er starb. Das Gfähr rutschte ihm aus den Händen und schoß, doch das tödliche Metall bohrte sich in den Boden.

Es war still.

Karotte griff nach dem Schwert und zog die Klinge aus dem erschlafften Leib. Die Leiche sank zu Boden.

Mumm stützte sich am Tisch ab und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

»Verdammter… Mistkerl«, keuchte er. »Er hat dich… Sire genannt. Was ist in dem Beutel?«

»Du bist spät dran, Hauptmann«, sagte Karotte.

»Spät? Was soll das heißen?« Mumm mußte sich bemühen, sein Gehirn daran zu hindern, endgültig von der Realität Abschied zu nehmen.

»Die Trauung.« Karotte warf einen kurzen Blick auf die Taschenuhr, klappte sie zu und reichte sie Mumm. »Sie hätte vor zwei Minuten stattfinden sollen.«

»Ja, ja. Aber er hat dich Sire genannt. Ich hab’s deutlich gehört…«

»Vermutlich eine akustische Täuschung.«

Dem Hauptmann fiel etwas ein. Karottes Schwert maß mehr als sechzig Zentimeter. Es hatte Kreuz glatt durchstoßen, und hinter ihm…

Mumm betrachtete die Säule. Sie bestand aus Granit und war etwa dreißig Zentimeter dick. Es war kein Riß darin, nur ein klingenförmiges Loch.

»Karotte…«

»Du bist ziemlich schmutzig, Herr«, sagte der junge Korporal. »Du solltest dich waschen und die Kleidung wechseln.«

Karotte nahm den Lederbeutel und streifte sich den Riemen über die Schulter.

»Karotte…«

»Herr?«

»Ich befehle dir, mir den Beu…«

»Nein, Herr. Du kannst mir nichts befehlen. Nichts für ungut: Du bist jetzt Zivilist und kein Offizier der Wache mehr. Ein neues Leben hat für dich begonnen.«

»Ein Zivilist

Mumm rieb sich die Stirn. Dahinter traf jetzt alles zusammen: das Gfähr, die Kanalisation, Karotte und der Umstand, daß er nur mit Hilfe von Adrenalin durchgehalten hatte, wofür ihm nun die Rechnung präsentiert wurde (ohne daß er anschreiben lassen konnte). Er fühlte sich plötzlich wie ein Ballon, aus dem die Luft entwich.

»Dies ist mein Leben, Karotte! Ich bin immer Wächter gewesen!«

»Du brauchst ein heißes Bad und was zu trinken, Herr«, erwiderte der Korporal. »Anschließend fühlst du dich bestimmt besser. Komm.«

Mumm sah auf den Leichnam des Professors hinab, dann wanderte sein Blick zum Gfähr. Er bückte sich, um es aufzuheben…

Im letzten Augenblick zog er die Hand zurück.

Nicht einmal den Zauberern stand so ein Ding zur Verfügung. Nach einer thaumaturgischen Entladung des Zauberstabs mußten sie sich hinlegen und ausruhen.

Kein Wunder, daß es niemand fertiggebracht hatte, dieses Objekt zu zerstören. Es war einfach zu perfekt. Es berührte etwas in der Seele. Man brauchte es nur in die Hand zu nehmen, und schon besaß man Macht. Das Gfähr barg viel mehr Macht als ein Bogen oder Speer – diese Dinge erweiterten nur die Muskelkraft. Das Gfähr hingegen gab einem Macht von außen. Man benutzte es nicht; man wurde von ihm benutzt. Kreuz war vermutlich ein guter Mann gewesen. Wahrscheinlich hatte er Edward freundlich zugehört und anschließend das Gfähr genommen – dann hatte er dem Gfähr gehört.

»Hauptmann Mumm? Ich glaube, wir sollten jetzt besser gehen.« Karotte bückte sich.

»Rühr das Ding auf keinen Fall an!« warnte Mumm.

»Warum denn nicht? Es ist doch nur ein Objekt.« Karotte ergriff das Gfähr am Lauf, betrachtete es zwei oder drei Sekunden lang und schmetterte es dann an die Wand. Metallteile flogen davon.

»Das einzige Exemplar seiner Art«, murmelte er. »Wenn etwas einzigartig ist, stellt es immer etwas Besonderes dar – diesen Standpunkt vertritt mein Vater. Gehen wir.«

Er öffnete die Tür.

Er schloß sie wieder.

»Am Fußende der Treppe haben sich mindestens hundert Assassinen versammelt«, sagte Karotte.

»Wie viele Bolzen hast du noch für deine Armbrust?« fragte Mumm, der noch immer auf das inzwischen krumme Gfähr hinabstarrte.

»Einen.«

»Dann kann’s dich kaum stören, wenn du keine Gelegenheit zum Nachladen bekommst.«

Jemand klopfte höflich an die Tür.

Karotte sah Mumm an, der mit den Schultern zuckte. Er öffnete.

Witwenmacher stand im Flur und hob eine leere Hand.

»Ihr könnt eure Waffen einstecken. Ich versichere euch, daß ihr sie nicht brauchen werdet. Wo ist Professor Kreuz?«

Karotte deutete in die entsprechende Richtung.

»Ah.« Witwenmacher musterte die beiden Wächter nacheinander.

»Bitte, laßt die Leiche hier. Wir inhumieren den Professor in unserer Gruft.«

Mumm zeigte auf den toten Chefassassinen.

»Er hat mehrere Personen ermordet…«

»Und jetzt lebt er nicht mehr. Bitte, verlaßt das Gebäude.«

Witwenmacher zog die Tür weiter auf. Assassinen säumten die breite Treppe. Nirgends war eine Waffe zu sehen. Was bei Assassinen allerdings nicht viel zu bedeuten hatte.

Ganz unten lag Anguas Leichnam. Karotte hob ihn hoch, als Mumm und er das Ende der Treppe erreichten.

Er nickte Witwenmacher zu. »Wir schicken jemanden, der die sterblichen Überreste des Gildenoberhaupts holt«, sagte er.

»Wir haben doch vereinbart…«

»Nein. Die Leute sollen sehen, daß Kreuz tot ist. Alle sollen sich davon überzeugen können. Die Dinge dürfen nicht länger im Dunkeln hinter geschlossenen Türen passieren.«

»Ich fürchte, ich kann nicht auf deine Bitte eingehen«, erwiderte Witwenmacher fest.

»Es war auch keine Bitte.«

Dutzende von Assassinen beobachteten, wie die beiden Wächter über den Hof schritten.

Das schwarze Tor blieb geschlossen.

Niemand schien es öffnen zu wollen.

»Ich bin ganz deiner Meinung, aber vielleicht wären taktvollere, diplomatischere Worte angebrachter gewesen«, sagte Mumm. »Diese Leute wirken nicht sehr fröhlich…«

Das Tor zerbarst. Ein fast zwei Meter langer Bolzen aus Eisen raste an Karotte und Mumm vorbei und zerschmetterte eine Mauer auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes.

Zwei wuchtige Hiebe erledigten den Rest des Portals, und Detritus stapfte über die Trümmer hinweg. Mit einem roten Glühen in den Augen sah er zu den in Schwarz gekleideten Gestalten und grollte.

Die klügeren Assassinen dachten daran, daß es in ihrem Waffenarsenal nichts gab, das einen Troll töten konnte. Sie verfügten über erlesene Stilette, doch in diesem Fall benötigten sie Vorschlaghämmer. Sie besaßen Pfeile mit exotischen Giften, aber keins davon wirkte bei einem Troll. Niemand hatte es für möglich gehalten, daß Trolle jemals wichtig genug werden konnten, um sie töten zu müssen. Detritus gewann gerade enorm an Bedeutung. In der einen Hand hielt er Knuddels Axt, in der anderen eine gewaltige Armbrust.

Einige der gescheiteren Assassinen drehten sich um und ergriffen die Flucht. Nicht alle erwiesen sich als so intelligent. Mehrere Pfeile prallten von Detritus ab. Ihre Eigentümer sahen das Gesicht des Trolls, als er sich zu ihnen umdrehte. Sie ließen ihre Bögen fallen.

Detritus holte aus…

»Oberobergefreiter Detritus!«

Die beiden Worte hallten über den Hof.

»Oberobergefreiter Detritus! Stillgestanden!«

Ganz langsam hob der Troll die Hand.

Boing.

»Hör mir gut zu, Oberobergefreiter Detritus«, sagte Karotte. »Wenn es einen Himmel für Wächter gibt – und bei den Göttern, ich hoffe, das ist der Fall –, so befindet sich Oberobergefreiter Knuddel jetzt dort, genießt ein leckeres Rattensteak und trinkt dazu Bärdrückers Leckertropfen. Und er sieht zu uns auf29 und sagt: Mein Freund Oberobergefreiter Detritus vergißt bestimmt nicht, daß er ein Wächter ist. Nein, auf Detritus ist Verlaß.«

Einige gefährliche Sekunden verstrichen, dann erklang ein weiteres Boing.

»Danke, Oberobergefreiter. Bring Herrn Mumm zur Universität.« Karotte wandte sich an die Assassinen. »Guten Tag, meine Herren. Vielleicht sehen wir uns bald wieder.«

Die drei Wächter traten durch das zerstörte Tor.

Mumm schwieg, bis sie etwa hundert Meter zurückgelegt hatten. Dann sah er Karotte an.

»Warum hat er dich auf diese Weise angesprochen?« fragte er. »Ich meine…«

»Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest… Ich bringe sie zum Wachhaus.«

Mumms Blick fiel auf Anguas Leiche, und etwas in ihm zerfaserte. Über manche Dinge konnte man kaum nachdenken. Er wünschte sich eine ruhige Stunde in einer stillen Ecke, um das Durcheinander zwischen seinen Schläfen zu ordnen. Zwischen ›persönlich‹ und ›wichtig‹ gibt es einen Unterschied. Was für ein Mensch dachte auf diese Weise? Etwas anderes kam dem – ehemaligen – Hauptmann in den Sinn. In der Geschichte von Ankh-Morpork war sicher kein Mangel an bösen Herrschern, aber bisher hatte die Stadt noch nie einen guten bekommen. Mumm schauderte innerlich, als er sich die Konsequenzen vorstellte.

»Herr?« fragte Karotte höflich.

»Äh«, sagte Mumm. »Wir bestatten sie beim Tempel der Geringen Götter. Was hältst du davon? Es ist eine Tradition der Wache…«

»Ja, Herr. Geh du mit Detritus zur Universität. Es ist alles in Ordnung mit ihm, solange er Befehle bekommt. Entschuldige bitte, aber ich möchte lieber nicht an der Hochzeitsfeier teilnehmen. Dafür bitte ich dich um Verständnis.«

»Ja, natürlich. Äh. Karotte?« Mumm blinzelte, als wollte er auf diese Weise einen Verdacht verscheuchen, der hartnäckig Aufmerksamkeit verlangte. »Was Kreuz betrifft, sollten wir nicht zu streng sein. Ich habe den verdammten Burschen gehaßt, und gerade deshalb fühle ich mich nun verpflichtet, fair zu sein. Ich weiß, was das Gfähr anrichten kann. Für das Gfähr sind wir alle gleich. Ich bin wie Kreuz gewesen.«

»Nein, das stimmt nicht, Hauptmann. Du hast das Gfähr aus der Hand gelegt.«

Mumm lächelte schief.

»Ich bin jetzt nicht mehr Hauptmann, sondern Zivilist«, erwiderte er.

 

Karotte kehrte zum Wachhaus zurück und legte Angua auf eine Steinplatte in der improvisierten Leichenkammer. Ihr Körper wurde bereits steif.

Er holte Wasser und reinigte ihr Fell, so gut es ging.

Anschließend tat er etwas, das Trolle, Zwerge und alle anderen Leute, die sich nicht mit menschlichen Reaktionen auf Streß auskannten, überrascht hätte.

Karotte schrieb seinen Bericht. Er wischte den Boden des Hauptraums – diesmal war er dran. Er wusch sich. Er behandelte seine Schulterwunde, wechselte das Hemd und reinigte die Uniform. Den Brustharnisch putzte er mit Stahlwolle und verschiedenen Tüchern, bis er wieder sein Spiegelbild zeigte.

In der Ferne hörte er Fondels »Hochzeitsmarsch«, gespielt auf einer monströsen Orgel, die das Ohr des Zuhörers außer mit der Lautstärke auch noch mit diversen akustischen Spezialeffekten beanspruchte – die meisten schienen von Bauernhöfen zu stammen. Er holte eine noch halbvolle Flasche Rum aus dem Fach, das Feldwebel Colon für ein absolut sicheres Versteck hielt, ließ einige Tropfen davon in ein Glas fallen und hob es zu einem Trinkspruch, den außer ihm niemand hörte: »Auf Herrn Mumm und Lady Käsedick!« Seine Stimme klang dabei so klar und aufrichtig, daß er eventuelle Zuhörer in Verlegenheit gebracht hätte.

Es kratzte an der Tür, und Gaspode kam herein. Der kleine Hund kroch unter den Tisch und blieb still.

Nach einer Weile begab sich Karotte in sein Zimmer, nahm dort Platz und sah aus dem Fenster.

Die Zeit verstrich. Am späten Nachmittag hörte es auf zu regnen.

Bald leuchteten die ersten Lichter in der Stadt.

Wenig später glitt der Mond am Firmament empor.

Die Tür öffnete sich. Angua kam mit leisen, geschmeidigen Schritten herein.

Karotte drehte sich um und lächelte.

»Ich war mir nicht sicher«, sagte er. »Aber ich habe gehofft. Immerhin heißt es, daß man Werwölfe nur mit Silberkugeln töten kann.«

 

Zwei Tage später. Es regnete, und zwar richtig. Jemand schien himmlische Schleusentore geöffnet zu haben. Im Schlamm bildeten sich Bäche, und der Ankh kehrte in sein unterirdisches Reich zurück. Wasser strömte aus den Mäulern der urbanen Trolle. Die Tropfen fielen mit solcher Wucht auf den Boden, daß sie abprallten und einen dichten, feuchten Dunst bildeten.

Die Regentropfen trommelten auch auf die Grabsteine des Friedhofs, der sich hinter dem Tempel der Geringen Götter erstreckte. Anschwellende Pfützen standen in der kleinen Grube, die dem Oberobergefreiten Knuddel als letzte Ruhestätte dienen sollte.

An der Bestattung eines Wächters nahmen immer nur Wächter teil, erinnerte sich Mumm. Manchmal kamen auch Verwandte, wie in diesem Fall Lady Käsedick und Detritus’ Freundin Rubin. Aber weitere Trauergäste gab es nicht; es fand sich nie eine Menge ein. Vielleicht hatte Karotte recht: Wenn man Wächter wurde, hörte man auf, etwas anderes zu sein.

Heute allerdings waren mehr Personen zugegen. Ganz gewöhnliche Bürger standen am Rand des Friedhofs und betrachteten von dort aus das Geschehen.

Ein kleiner Priester führte ein Man-trage-hier-den-Namen-des-Verstorbenen-ein-Ritual durch – es sollte in erster Linie eventuell zuhörende Götter zufriedenstellen. Im Anschluß daran ließ Detritus den Sarg ins Grab hinab, und der Priester warf eine zeremonielle Handvoll Erde darauf. Allerdings ertönte nicht das übliche dumpfe Prasseln – es platschte.

Karotte überraschte Mumm, indem er eine Rede hielt. Seine Worte hallten über den nassen Boden bis zu den nassen Bäumen. Der Text beschränkte sich im großen und ganzen auf folgendes: Er war mein Freund und ein guter Wächter; er gehörte zu uns.

Er war ein guter Wächter. So hieß es immer, wenn ein Wächter beerdigt wurde. Vermutlich würde man das auch bei Korporal Nobbs Bestattung behaupten, obgleich alle Zuhörer heimlich die Finger kreuzen würden. Man mußte es einfach sagen.

Mumm starrte auf den Sarg hinab. Nach einigen Sekunden regte sich ein seltsames Gefühl in ihm und entfaltete die gleiche Beharrlichkeit wie der Regen, der ihm unablässig über den Nacken rann. Es war nicht in dem Sinne ein Verdacht. Wenn das Empfinden lange genug in Mumm blieb, um dort Wurzeln zu schlagen, mochte es zu einem Verdacht werden, aber derzeit war es eine vage Ahnung.

Er mußte sich danach erkundigen. Wenn er ganz auf Fragen verzichtete, dachte er vielleicht für den Rest seines Lebens darüber nach.

Als sie vom Grab fortgingen, beschloß Mumm, doch etwas deutlicher zu werden. »Korporal?«

»Ja?«

»Niemand hat das Gfähr gefunden, oder?«

»Nein.«

»Wie ich hörte, hattest du es als letzter.«

»Ich muß es irgendwo hingelegt haben. Du weißt ja, wie hektisch es zuging.«

»Ja. O ja. Wenn ich mich recht entsinne, hast du die wichtigsten Teile des Gfährs aus dem Gildengebäude mitgenommen…«

»Das stimmt.«

»Ja. Hoffentlich hast du sie an einen sicheren Ort gebracht. Was meinst du? Befindet sich das Gfähr an einem sicheren Ort?«

Hinter ihnen begann der Totengräber damit, nassen Ankh-Morpork-Lehm ins Grab zu schaufeln.

»Ich denke schon«, erwiderte Karotte. »Zweifelst du daran? Bisher hat es niemand gefunden. Ich meine, bestimmt erfahren wir sofort davon, wenn es jemand entdeckt.«

»Vielleicht ist alles besser so, Korporal Karotte.«

»Ich hoffe es.«

»Knuddel war ein guter Wächter.«

»Ja.«

Mumm wagte sich noch weiter aufs rhetorische Glatteis.

»Sein Sarg… schien ungewöhnlich schwer gewesen zu sein.«

»Tatsächlich? Mir ist nichts aufgefallen.«

»Nun, wenigstens hat er ein richtiges Zwergenbegräbnis.«

»O ja«, bestätigte Karotte. »Dafür habe ich gesorgt.«

 

Regen strömte über die Dächer des Palastes. Steinerne Figuren ragten an allen Ecken auf; Mücken und Fliegen flohen aus ihren Ohren.

Korporal Karotte schüttelte die Tropfen von seinem ledernen Umhang ab und erwiderte den Gruß des Trollwächters. Anschließend schritt er an den Bediensteten in mehreren Vorzimmern vorbei und klopfte an die Tür des Rechteckigen Büros.

»Herein.«

Karotte trat ein, ging zum Schreibtisch, salutierte dort und stand dann bequem.

Lord Vetinari versteifte sich ein wenig.

»Oh«, sagte er. »Korporal Karotte. Ich habe mit… deinem Besuch gerechnet. Bestimmt bist du gekommen, um mir das eine oder andere Anliegen vorzutragen, nicht wahr?«

Karotte entfaltete ein fleckiges Blatt Papier und räusperte sich.

»Nun, Herr, wir könnten eine neue Holzscheibe brauchen. Für das Spiel mit den Pfeilen. In unserer Freizeit.«

Der Patrizier blinzelte. Das geschah nicht sehr oft.

»Wie bitte?«

»Eine neue Holzscheibe für das Pfeilwurfspiel, Herr. Das hilft den Männern, sich nach dem Dienst zu entspannen.«

Vetinari erholte sich ein wenig von der Überraschung.

»Noch eine? Ihr habt doch erst im letzten Jahr eine bekommen!«

»Es liegt am Bibliothekar, Herr! Nobby läßt ihn mitspielen, und er mogelt, indem er sich ein wenig vorbeugt und die Pfeile in die Scheibe hineinhämmert. Darunter leidet das Holz. Außerdem hat Detritus einen Pfeil hindurchgeworfen… auch durch die Wand dahinter.«

»Na schön. Und weiter?«

»Man sollte nicht verlangen, daß Oberobergefreiter Detritus für die fünf Löcher in seinem Brustharnisch bezahlen muß.«

»In Ordnung. Richte ihm folgendes aus: Ich erwarte von ihm, daß er in Zukunft besser aufpaßt.«

»Ja, Herr. Ich glaube, das wär’s. Abgesehen von einem neuen Kessel.«

Der Patrizier hob die Hand vor den Mund. Er versuchte, nicht zu lächeln.

»Meine Güte. Auch noch ein Kessel? Was ist denn mit dem alten passiert?«

»Oh, den benutzen wir noch immer. Aber den zweiten Kessel brauchen wir wegen der neuen Regelungen.«

»Welche neuen Regelungen meinst du?«

Karotte entfaltete ein zweites, wesentlich größeres Blatt Papier.

»Die Wache wird auf einen Personalbestand von sechsundfünfzig Mann erweitert. Die alten Wachhäuser am Flußtor, am Deosiltor und dem Mittwärtigen Tor werden wieder geöffnet; rund um die Uhr sollen dort Repräsentanten der Wache anzutreffen sein…«

Das Lächeln verharrte auf den Lippen des Patriziers, doch sein Gesicht wich zurück, ließ es ganz allein in der weiten Welt zurück.

»… eine Abteilung für… nun, uns ist noch kein geeigneter Name eingefallen, aber die Aufgabe der betreffenden Leute wäre es, nach Spuren und Dingen wie zum Beispiel Leichen zu suchen und festzustellen, wie lange sie schon tot sind. Und um damit zu beginnen, benötigen wir einen Alchimisten und vielleicht auch einen Ghul, der natürlich versprechen muß, nichts einzustecken, um es später zu essen. Eine weitere Abteilung setzt Hunde ein, die sehr nützlich sein können. Darum soll sich Obergefreite Angua kümmern, da sie große Erfahrung mit… äh… Hunden und so hat. Außerdem habe ich hier noch eine Anfrage von Korporal Nobbs. Er bittet darum, daß man den Wächtern alle Waffen erlaubt, die sie tragen können. Ich wäre dir dankbar, wenn du diesen Antrag ablehnen würdest. Hinzu kommt…«

Lord Vetinari hob die Hand. »Schon gut, schon gut«, sagte er. »Ich weiß jetzt, wohin das führt. Und wenn ich nein sage?«

Es folgte eine jener stillen Phasen, die verschiedene Zukünfte in sich bergen.

»Seltsam, Herr: Diese Möglichkeit habe ich nicht einmal in Erwägung gezogen.«

»Tatsächlich nicht?«

»Nein.«

»Faszinierend. Was ist wohl der Grund dafür?«

»Es dient alles dem Wohl der Stadt, Herr. Kennst du den Ursprung des Wortes ›Polizist‹, Herr? Es geht auf den alten Ausdruck ›Polis‹ zurück und bedeutet soviel wie ›Mann der Stadt‹.«

»Ja, ich weiß.«

Der Patrizier musterte Karotte und schien die verschiedenen Zukünfte gegeneinander abzuwägen.

»Na schön«, sagte er schließlich. »Ich bin mit allen Punkten einverstanden. Korporal Nobbs Antrag bildet die einzige Ausnahme. Und ich glaube, du solltest zum Hauptmann befördert werden.«

»J-ja. Da stimme ich dir zu. Auch das dürfte im Interesse von Ankh-Morpork liegen. Aber um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich möchte nicht Befehlshaber der Wache sein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich die Wache befehligen könnte. Die Wächter sollten Anweisungen ausführen, weil sie von einem Vorgesetzten kommen – und nicht deswegen, weil sie von Korporal Karotte gegeben werden. Es… scheint sehr leicht für sie zu sein, Karotte zu gehorchen.« Bei diesen Worten blieb das Gesicht des jungen Mannes maskenhaft starr.

»Ein interessanter Hinweis.«

»Vor einiger Zeit gab es den Rang des Kommandeurs der Wache. Ich schlage dafür Samuel Mumm vor.«

Der Patrizier lehnte sich zurück. »Oh, ja«, sagte er. »Kommandeur der Wache. Nach der Sache mit Lorenzo dem Netten verlor dieses Amt an Popularität. Ein Mumm bekleidete es damals. Habe nie danach gefragt, ob es ein Ahne von ihm war.«

»Das war der Fall. Ich habe Nachforschungen angestellt.«

»Wäre er bereit, ein solches Angebot anzunehmen?«

»Ist der Hohepriester ein Offlianer? Explodiert ein Drache im Wald?«

Der Patrizier preßte die Fingerspitzen gegeneinander und sah darüber hinweg – mit diesem Gebaren hatte er schon viele Leute in Panik versetzt.

»Weißt du, Hauptmann… Das Problem mit Samuel Mumm ist, daß er viele wichtige, einflußreiche Personen verärgert hat. Und ich glaube, ein Kommandeur der Wache muß Beziehungen zu hohen gesellschaftlichen Kreisen pflegen und an Gildenversammlungen teilnehmen…«

Die Männer wechselten einen Blick. Der Patrizier hatte mehr davon, denn Karottes Gesicht war ein ganzes Stück größer. Beide Männer versuchten, nicht zu schmunzeln.

»Eine vortreffliche Wahl«, sagte Lord Vetinari.

»Ich habe mir erlaubt, in deinem Namen einen Brief an den Haupt… an Herrn Mumm aufzusetzen. Um dir Mühe zu ersparen. Möchtest du ihn lesen?«

»Du denkst an alles, nicht wahr?«

»Ich hoffe es, Herr.«

Der Patrizier überflog den Brief. Ein- oder zweimal lächelte er, griff dann nach einem Stift, unterschrieb und reichte den Brief zurück.

»Hast du mir nun alle deine For… Wünsche vorgetragen?«

Karotte kratzte sich am Ohr.

»Da ist noch eine letzte Sache. Ich brauche ein Zuhause für einen kleinen Hund. Nötig sind: ein großer Garten, ein warmer Platz am Kamin und glücklich lachende Kinder.«

»Lieber Himmel! Ist das dein Ernst! Na ja, so etwas müßte sich eigentlich finden lassen.«

»Danke, Herr. Das wär’s dann, glaube ich.«

Der Patrizier stand auf und hinkte zum Fenster. Der Abend begann. In der Stadt leuchteten die ersten Lichter.

»Mir fällt da gerade etwas ein, Hauptmann«, sagte er und kehrte Karotte den Rücken zu. »Die Sache mit dem Thronfolger… Was hältst du davon?«

»Ich verschwende keinen Gedanken daran, Herr. Das ist doch nur der übliche Schwert-im-Stein-Unsinn. Könige kommen nicht einfach aus dem Nichts, winken mit dem Schwert und bringen alles in Ordnung. Es wäre töricht, etwas anderes anzunehmen.«

»Ich glaube, es wurden… Beweise erwähnt.«

»Niemand scheint zu wissen, wo die sich befinden, Herr.«

»Als ich mit Hauptmann… mit Kommandeur Mumm sprach, wies er darauf hin, daß du die Unterlagen hast.«

»Offenbar habe ich sie irgendwo hingelegt und dann vergessen.«

»Erstaunlich. Nun, hoffentlich hast du sie geistesabwesend an einem sicheren Ort untergebracht.«

»Sie sind bestimmt gut… gehütet, Herr.«

»Allem Anschein nach hast du viel von Hau… von Kommandeur Mumm gelernt, Hauptmann.«

»Mein Vater hat mich immer gelobt, weil ich so schnell lerne, Herr.«

»Vielleicht braucht die Stadt einen König. Hast du an diese Möglichkeit gedacht?«

»Ankh-Morpork braucht einen König ebenso wie ein Fisch… äh… etwas, das unter Wasser nicht funktioniert.«

»Ein König kann an die Gefühle seiner Untertanen appellieren, Hauptmann. Du hast dieses Mittel einem Troll gegenüber eingesetzt, wie ich erfahren habe.«

»Ja, Herr. Aber was stellt Detritus morgen an? Ich meine, man kann die Leute nicht wie Marionetten behandeln. Das geht nicht. Herr Mumm betonte häufig, daß man seine Grenzen kennen muß. Wenn es wirklich einen König gäbe, dann könnte er sich am besten dadurch nützlich machen, indem er anständige Arbeit leistet…«

»Eine interessante Ansicht.«

»Doch wenn es mal zu einem Notfall kommen sollte… könnte er jederzeit eingreifen.« Karottes Miene hellte sich auf. »So ähnlich ist es auch mit Wächtern. Wenn man uns braucht, dann braucht man uns. Und wenn nicht… wandern wir durch die Straßen und rufen ›Alles ist gut‹ – falls tatsächlich alles gut ist.«

»Hauptmann Karotte«, sagte Lord Vetinari, »ich glaube, wir verstehen uns jetzt sehr gut, und deshalb möchte ich dir etwas zeigen. Bitte, begleite mich.«

Sie gingen zum Thronsaal, in dem sich um diese Tageszeit niemand aufhielt. Der Patrizier humpelte durch den großen Raum und streckte die Hand aus. »Ich nehme an, du weißt, was das ist, Hauptmann.«

»Oh, ja. Der goldene Thron von Ankh-Morpork.«

»Seit Hunderten von Jahren hat dort niemand mehr gesessen. Hast du jemals darüber nachgedacht?«

»Was meinst du, Herr?«

»Hast du dich nie gefragt, wieso es hier soviel Gold gibt, obwohl selbst das Messing von der Messingbrücke gestohlen wurde? Wirf einen Blick hinter den Thron.«

Karotte trat die Stufen hoch.

»Meine Güte!«

Der Patrizier sah ihm über die Schulter.

»Es ist nichts weiter als Goldfolie auf Holz…«

»In der Tat.«

Eigentlich war das Holz kaum mehr Holz. Fäulnis und Würmer hatten bereits um den letzten biologisch abbaubaren Brocken gerungen. Karotte stieß mit dem Schwert dagegen, und Staub rieselte herunter.

»Was hältst du davon, Hauptmann?«

Karotte richtete sich auf.

»Nun, es dürfte besser sein, wenn die Leute nichts davon wissen.«

»Genau das dachte ich auch. Nun will ich dich nicht länger aufhalten. Bestimmt mußt du viel organisieren.«

Karotte salutierte.

»Danke, Herr.«

»Du und Obergefreiter Angua… Ich nehme an, ihr kommt gut zurecht, oder?«

»Wir verstehen uns, Herr, und zwar ziemlich gut«, antwortete Karotte. »Natürlich wird es die eine oder andere Schwierigkeit geben, aber ich sehe die Sache von der positiven Seite: Wenigstens habe ich jetzt jemanden, der jederzeit bereit ist, mir bei einem Streifzug durch die Stadt Gesellschaft zu leisten.«

Als Karotte die Hand nach der Türklinke ausstreckte, rief der Patrizier noch einmal seinen Namen.

»Ja, Herr?«

Er sah zu dem hochgewachsenen, dürren Mann zurück, der in dem großen, leeren Saal neben einem vom Zerfall heimgesuchten Thron stand.

»Du interessierst dich für Wörter, Hauptmann. Daher bitte ich dich, über etwas nachzudenken, das dein Vorgänger nie ganz verstanden hat.«

»Herr?«

Der Patrizier zögerte kurz. »Hast du dich jemals gefragt, woher das Wort ›Politiker‹ kommt?«

 

»Und dann das Komitee des Sonnenscheinheims«, sagte Lady Käsedick auf ihrer Seite des Eßtisches. »Du mußt dort unbedingt Mitglied werden. Und dann die GGG, die Gruppe der Großen Grundbesitzer. Und die Liga der Freundlichen Feuerspucker. Kopf hoch. Es fällt dir bestimmt leicht, dir die Zeit zu vertreiben.«

»Ja, Schatz«, erwiderte Mumm. Er sah Tage mit Komiteeversammlungen, Ausschußsitzungen und Wohltätigkeitsveranstaltungen (insbesondere zugunsten von Sumpfdrachen) vor sich. Vielleicht war das besser, als in den Straßen der Stadt zu patrouillieren, Lady Sybil und Herr Mumm.

Er seufzte.

Sybil Mumm, geborene Käsedick, musterte ihn nicht ohne Besorgnis. Sie hatte Sam Mumm immer als jemanden gekannt, der voller Kraft steckte, in dem das Feuer des gerechten Zorns brannte, der am liebsten die Götter verhaftet hätte, weil sie immer wieder ihre Inkompetenz bewiesen. Doch dann gab er seine Dienstmarke ab und… war einfach nicht mehr er selbst.

Die Uhr in der Ecke schlug achtmal. Mumm holte seine Taschenuhr hervor und öffnete sie.

»Geht fünf Minuten vor«, stellte er fest, während das melodische Läuten verhallte. Er schloß den Deckel wieder und las die eingravierten Worte: »Eine Uhr von deinigen alten Froinden in der Wache – damit du immer weißt, was die Stunde geschlagen habet.«

Zweifellos steckte Karotte dahinter. Mumm kannte inzwischen seinen unverwechselbaren Schreibstil.

Sie verabschiedeten einen. Sie schickten einen fort, in das unbekannte Leben als Zivilist. Und man bekam eine Uhr von ihnen…

»Entschuldigung, gnä’ Frau…«

»Ja, Willikins?«

»Ein Wächter steht vor der Tür, gnä’ Frau. Ich meine die Tür des Dienstboteneingangs.«

»Du hast einen Wächter zum Dienstboteneingang geschickt?« fragte Lady Sybil.

»Nein, gnä’ Frau. Er kam von ganz allein dorthin. Es ist Hauptmann Karotte.«

Mumm hob die Hand vor die Augen. »Man hat ihn zum Hauptmann befördert, und er kommt zum Dienstboteneingang«, sagte er. »Typisch Karotte. Führ ihn herein.«

Außer Mumm hätte kaum jemand bemerkt, daß der Diener Lady Käsedick einen fragenden Blick zuwarf.

»Du hast den Lord gehört«, meinte Sybil.

»Ich bin kein Lo…«, begann Mumm.

»Bitte, Sam«, unterbrach ihn die Lady.

»Ich bin wirklich keiner«, grummelte der frühere Wächter.

Kurz darauf kam Karotte herein und nahm Haltung an. Wie üblich wurde die Umgebung zum Hintergrund.

»Schon gut«, sagte Mumm und versuchte, nicht zerknirscht zu klingen. »Du brauchst nicht zu salutieren.«

»Doch, das muß ich«, erwiderte Karotte und reichte Mumm einen Umschlag, der das Siegel des Patriziers trug.

»Wahrscheinlich stellt mir Lord Vetinari fünf Dollar für übermäßige Abnutzung des Kettenhemds in Rechnung«, vermutete Mumm.

Seine Lippen bewegten sich lautlos, als er las.

»Meine Güte«, entfuhr es ihm. »Sechsundfünfzig?«

»Ja, Herr. Detritus freut sich schon darauf, die Neuen auszubilden.«

»Und es sollen auch Untote dazugehören? Hier steht, daß Spezies und biologischer Status überhaupt keine Rolle spielen…«

»Ja, Herr«, bestätigte Karotte mit fester Stimme. »Es sind alles Bürger.«

»Soll das heißen, bald könnte es auch Vampire in der Wache geben?«

»Sie leisten beim Nachtdienst ausgezeichnete Arbeit, Herr. Und sie lassen sich auch für die Luftaufklärung einsetzen.«

»Außerdem könnten wir sie verwenden, um Blut zu untersuchen.«

»Herr?«

Mumm beobachtete, wie der – zugegebenermaßen nicht besonders gute – Witz Karottes Kopf passierte, ohne im Gehirn eine Reaktion zu bewirken. Er wandte sich wieder dem Dokument zu.

»Hmm. Wie ich sehe, ist jetzt auch eine Pension für Witwen vorgesehen.«

»Ja, Herr.«

»Und die alten Wachhäuser sollen wieder in Dienst gestellt werden?«

»Das sehen die neuen Regelungen vor, Herr.«

Mumm las weiter:

 

Wir sind darüber hinaus der Meinung diesiger daß, die größere Wache einen erfahrenen Mann brauchet der, in allen Teilen der Gesellschaft hohes Ansehen genießigt und wir sind davon überzeugt daß, du für diesen Posten geeignet bisset. Deshalb wirst du mit sofortiger Wirkung deinen Dienst als Kommandeur der Stadtwache von Ankh-Morpork beginnen. Dieses Amt bringet automatisch den Schtatus des Ritters mit sich den wir hiermit wiedereinführigen.

Ich hoffe es geht dir gut, mit freundlichen Grüßen und sehr

hochachtungsvoll

Havelock Vetinari (Patrizier)

 

Mumm las den Text noch einmal.

Seine Finger trommelten auf den Tisch. Es bestand kein Zweifel, daß die Unterschrift von Lord Vetinari stammte, aber…

»Kor… Hauptmann Karotte?«

»Herr!« Karotte stand stramm. Er strahlte nicht nur Pflichtbewußtsein und Diensteifer aus, sondern auch die unerschütterliche Entschlossenheit, allen direkten Fragen auszuweichen.

»Ich…« Mumm griff nach dem Blatt Papier, legte es wieder auf den Tisch, nahm es erneut… und reichte es schließlich Sybil.

»Potzblitz!« kommentierte sie. »Man hat dich in den Ritterstand erhoben? Genau zum richtigen Zeitpunkt!«

»Aber… ausgerechnet ich? Du weißt doch, was ich von den Aristokraten in dieser Stadt halte. Womit ich natürlich nicht dich meine.«

»Vielleicht wird’s Zeit, den alten Adel mit neuem zu verbessern«, sagte Lady Käsedick.

»Seine Exzellenz wies darauf hin, daß über die einzelnen Punkte nicht verhandelt werden kann«, betonte Karotte. »Entweder alles oder nichts. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Alles…«

»Ja, Herr.«

»… oder nichts.«

»Ja, Herr.«

Erneut trommelten Mumms Finger auf den Tisch.

»Du hast gewonnen, nicht wahr?« fragte er. »Du hast gewonnen

»Ich verstehe nicht, Herr«, entgegnete Karotte und hüllte sich in eine Aura ehrlicher Unschuld.

Eine gefährliche Stille folgte.

»Nun, es gibt praktisch keine Möglichkeit, so etwas zu beaufsichtigen«, sagte Mumm nach einer Weile.

»Wie meinst du das, Herr?«

Mumm zog den Kerzenständer näher und deutete auf das Dokument.

»Sieh nur, was hier geschrieben steht. Die alten Wachhäuser sollen wieder benutzt werden? An den Toren? Was hat das für einen Sinn? Sie liegen am Rand der Stadt.«

»Ich bin sicher, daß gewisse organisatorische Details geändert werden können, Herr«, sagte Karotte.

»Ich habe nichts dagegen, die Tore bewachen zu lassen, aber wenn die Ereignisse in Ankh und Morpork unter Kontrolle gehalten werden sollen, brauchen wir einen Stützpunkt an der Ulmenstraße, einen unweit der Schatten und des Hafens, einen weiteren an der Kurzen Straße und vielleicht einen kleinen an der Königsstraße. Ja, irgendwo dort. Man muß die einzelnen Bevölkerungszentren berücksichtigen. An wie viele Männer je Wachhaus hast du gedacht?«

»An zehn, Herr. Eingeteilt in Schichten.«

»Nein, ausgeschlossen. Es dürfen höchstens sechs sein. Ein Korporal. Und noch einer pro Schicht. Der Rest wird für einen monatlichen Turnus eingeteilt. Du möchtest, daß die Burschen auf Zack sind, nicht wahr? Gib jedem von ihnen Gelegenheit, in allen Straßen der Stadt zu patrouillieren. Das ist sehr wichtig. Und… wenn ich doch nur eine Karte hätte… Oh, danke, Schatz. Sehen wir uns die Sache mal genauer an. Es sind also insgesamt sechsundfünfzig. Allerdings übernimmst du auch die Tagwache. Außerdem kommt es sicher zu Ausfällen; rechne jährlich mit zwei Großmütterbeerdigungen pro Mann. Tja, ich frage mich, wie die Untoten das hinkriegen, vielleicht bekommen sie Freizeit für ihre eigenen Bestattungen. Denk auch an Krankheiten und so. Sinnvoll wären also vier Einsatzgruppen, über die ganze Stadt verteilt. Hast du Feuer? Danke. Der Schichtwechsel sollte nicht bei allen gleichzeitig stattfinden. Andererseits muß jedem Wachhausoffizier genug Spielraum für Eigeninitiative gegeben werden. Für den Notfall hält sich ein Trupp auf dem Pseudopolisplatz in Bereitschaft… Gib mir mal den Stift. Und auch das Notizbuch. Wir schreiben’s besser auf…«

Zigarrenrauch wehte über den Tisch. Die Taschenuhr ließ nach jeder Viertelstunde eine kurze Melodie erklingen, aber niemand achtete darauf.

Lady Sybil lächelte, schloß die Tür und ging, um die Drachen zu füttern.

 

»Liebe Muther und lieber Fater,

hoite habe ich eine noch größere Überraschung denn man hat mich zum Hauptmann befördert! Eine sehr ereignis- und abwekslungsreiche Woche lieget hinter uns wie, ich nun erzählen werde…«

 

Und dann noch dies…

Das Haus stand in einem der besseren Viertel von Ankh-Morpork. Ein großer Garten gehörte zu dem Anwesen, und es gab sogar eine Baumhütte für die Kinder. Vermutlich existierte auch ein warmes Plätzchen am Kamin.

Eine Fensterscheibe zerbrach…

Gaspode landete auf dem Rasen und raste wie von Dämonen gehetzt zum Zaun. Nach Blumen duftende Seifenblasen lösten sich von seinem Fell. Er trug ein Halsband mit Schleife, und in seinen Maul steckte ein Napf mit der Aufschrift: UNSER LIEBER SCHNUFFI.

Hastig grub er ein Loch, das es ihm erlaubte, sich unter dem Zaun hindurchzuzwängen und die Straße dahinter zu erreichen.

Einige Pferdeäpfel befreiten ihn vom Blumenduft, und hingebungsvolles, fünfminütiges Kratzen beseitigte die Schleife.

»Nicht ein einziger verdammter Floh ist übriggeblieben«, stöhnte Gaspode und ließ den Napf fallen. »Und ich hatte praktisch alle, die man haben kann. Lieber Himmel! Wer hätte das gedacht!«

Unmittelbar darauf verbesserte sich seine Stimmung. Heute war Dienstag, und bei der Diebesgilde gab es Steaks und Pastete-mit-verdächtiger-Füllung. Der Chefkoch ignorierte fast nie einen wedelnden Stummelschwanz, und bei Gaspode kam ein durchdringender Blick hinzu. Wenn er noch mit einem Freßnapf aufkreuzte und einen mitleiderregenden Eindruck erweckte… dann stand einer leckeren Mahlzeit nichts mehr im Wege. Es würde nicht lange dauern, UNSER LIEBER SCHNUFFI abzukratzen.

Vielleicht wäre es anders besser gewesen. Aber die Wirklichkeit sah nun einmal so aus.

Und eigentlich, fand Gaspode, hätte es viel schlimmer sein können.