Dadurch bemerkte Knuddel den Zwerg im Wasser.

Wenn man die Brühe »Wasser« nennen durfte.

Wenn man noch von einem »Zwerg« sprechen konnte.

Sie starrten darauf hinab.

»Das aussehen wie der Zwerg, der Waffen in der Rauhreifstraße herstellt«, sagte Detritus schließlich.

»Bjorn Hammerhock?« fragte Knuddel.

»Ja, so er heißen.«

»Es sieht ein bißchen danach aus«, meinte Knuddel. Seine Stimme klang kühl, fast monoton. »Aber nicht genau

»Wie meinst du das?« erkundigte sich Angua.

»Herr Hammerhock hatte kein so großes Loch in der Brust«, antwortete Knuddel.

 

Schläft er nie? dachte Mumm. Ruht der Kerl nie aus? Gibt es hier nirgendwo ein Zimmer, in dem ein schwarzes Nachthemd hängt?

Er klopfte an die Tür des Rechteckigen Büros.

»Ah, Hauptmann«, sagte der Patrizier und sah von einigen Unterlagen auf. »Du hast dich beeilt. Sehr lobenswert.«

»Wie bitte?«

»Meine Nachricht hat dich doch erreicht, oder?«

»Nein, Herr. Ich war… beschäftigt.«

»Ach. Und womit, wenn ich fragen darf?«

»Es geschah ein Mord, Herr. Das Opfer ist Herr Hammerhock, eine wichtige Persönlichkeit der hiesigen Zwergengemeinschaft. Man brachte ihn mit einer… speziellen Waffe um und warf ihn dann in den Fluß. Wir haben ihn vor kurzer Zeit aus dem… äh… Wasser geholt, und ich wollte seiner Frau Bescheid geben. Sie wohnt in der Sirupstraße, glaube ich. Und da ich hier vorbeikam…«

»Ein sehr bedauerlicher Zwischenfall.«

»Insbesondere für Herrn Hammerhock«, sagte Mumm.

Der Patrizier lehnte sich zurück und musterte den Hauptmann.

»Auf welche Weise kam er ums Leben?«

»Ich weiß es nicht genau. Nie zuvor habe ich etwas Derartiges gesehen. Er hatte ein großes Loch in der Brust. Wie dem auch sei: Ich werde herausfinden, was passiert ist.«

»Hmm. Habe ich erwähnt, daß ich heute morgen Besuch erhielt? Von Professor Kreuz?«

»Nein, Herr.«

»Er war sehr… besorgt.«

»Ja, Herr,«

»Ich glaube, du hast ihn beunruhigt.«

»Herr?«

Der Patrizier traf eine Entscheidung und beugte sich vor.

»Hauptmann Mumm…«

»Herr?«

»Ich weiß, daß du dich übermorgen in den Ruhestand zurückziehst und deshalb ein wenig… nervös bist. Aber solange du noch Verantwortung für die Nachtwache trägst, möchte ich dich bitten, zwei Anweisungen zu befolgen.«

»Herr?«

»Du wirst alle Ermittlungen wegen des Diebstahls bei der Assassinengilde einstellen. Hast du verstanden? Dafür ist allein die Gilde zuständig.«

»Herr.« Mumms Gesicht blieb völlig ausdruckslos.

»Ich nehme an, das unausgesprochene Wort in deinem Satz war ein Ja, Hauptmann.«

»Herr.«

»Genau wie in diesem Fall, hoffe ich. Was den beklagenswerten Tod des Herrn Hammerhock betrifft… Die Leiche wurde erst vor kurzer Zeit gefunden?«

»Ja, Herr.«

»Dann bist du dafür nicht zuständig, Hauptmann.«

»Herr?«

»Die Tagwache kümmert sich darum.«

»Wir haben nie die Zuständigkeiten bei Tag und Nacht unterschieden.«

»Trotzdem: Unter den gegenwärtigen Umständen beauftrage ich Hauptmann Schrulle, Nachforschungen anzustellen – falls welche notwendig sind.«

Falls welche notwendig sind, wiederholte Mumm in Gedanken. Jemand hat ein großes Loch in der Brust, aber das ist ganz normal. Stammt wahrscheinlich von einem Meteoriten oder so.

Er atmete tief durch und beugte sich ebenfalls vor.

»Mayonnaise Schrulle könnte nicht mal seinen eigenen Hintern mit Hilfe eines Atlanten finden! Und er hat keine Ahnung, wie man mit Zwergen redet! Er nennt sie Staubfresser! Meine Männer haben die Leiche gefunden! Und deshalb sind wir für den Fall zuständig!«

Der Blick des Patriziers glitt zu Mumms Händen auf dem Schreibtisch. Der Hauptmann zog sie schnell zurück, als wäre der Tisch plötzlich glühend heiß.

»Du leitest die Nachtwache, Hauptmann. Du bist allein für die dunklen Stunden zuständig.«

»Wir haben es hier mit Zwergen zu tun! Wenn wir die Sache nicht richtig anfassen, nehmen sie das Gesetz in die eigene Hand! Was in den meisten Fällen bedeutet, daß sie den nächsten Troll einen Kopf kürzer machen! Und du willst diese Angelegenheit Schrulle überlassen?«

»Ich habe dir einen Befehl gegeben, Hauptmann.«

»Aber…«

»Du darfst jetzt gehen.«

»Du kannst doch nicht…«

»Ich sagte, du darfst gehen, Hauptmann Mumm!«

»Herr.«

Mumm salutierte, drehte sich um und verließ den Raum. Er schloß die Tür so leise, daß sie kaum klickte.

Der Patrizier hörte, wie er draußen gegen die Wand schlug. Mumm wußte das nicht, aber die Wände außerhalb des Rechteckigen Büros hatten Dellen an mehreren Stellen – sie gaben Auskunft über seine Empfindungen zu dem betreffenden Zeitpunkt.

Diesmal klang es, als seien die Dienste eines Stukkateurs notwendig.

Lord Vetinari gestattete sich ein humorloses Lächeln.

Die Stadt funktionierte. Sie war ein sich selbst regulierender Mechanismus aus Gilden. Die unerbittlichen Gesetze des Eigeninteresses schufen feste Verbindungen. Und es klappte. Im großen und ganzen. Meistens. Für gewöhnlich.

Doch wenn ein Wächter seine Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen, bestand die Gefahr, daß alles aus den Fugen geriet.

Normalerweise.

Mumm schien derzeit in der richtigen Stimmung zu sein. Vielleicht führten die Anweisungen zum gewünschten Ergebnis…

 

Eine solche Kneipe gibt es in jeder Stadt. In ihr lassen sich Polizisten vollaufen.

In den fröhlicheren Tavernen von Ankh-Morpork tranken die Wächter nur selten, wenn sie nicht im Dienst waren. Zu leicht konnte dort etwas geschehen, das sie in den Dienst zurückbrachte9. Aus diesem Grund besuchten sie meistens den Eimer in der Schimmerstraße. Es war eine kleine Schenke mit niedriger Decke, und die Präsenz von Wächtern hielt andere Gäste fern. Doch deshalb machte sich der Wirt Herr Käse keine Sorgen. Niemand trinkt soviel wie ein Polizist, der zuviel gesehen hat.

Karotte zählte das Geld auf die Theke.

»Drei Bier, eine Milch, eine Schwefellimo mit Phosphorsäure…«

»Mit Papierschirm drin«, sagte Detritus.

»… und einen extra gewürzten Superbecher à la Zweideutigkeit mit Zitronensaft.«

»Mit Fruchtsalat«, fügte Nobbs hinzu.

»Wuff?«

»Und eine Schale mit Bier«, sagte Angua.

»Der kleine Hund scheint an dir zu hängen«, bemerkte Karotte.

»Ja«, erwiderte Angua. »Kann mir das gar nicht erklären.«

Der Wirt brachte die Getränke. Sie starrten auf die Gläser hinab. Sie tranken.

Herr Käse kannte sich mit Polizisten aus, schenkte stumm nach und füllte auch Detritus’ isolierten Becher.

Sie starrten auf die Gläser hinab. Sie tranken.

»Wißt ihr…«, sagte Colon nach einer Weile. »Was mich nervt – was mich wirklich nervt –, ist der Umstand, daß man ihn ins Wasser geworfen hat. Ich meine, ohne ihn zu beschweren. Einfach so. Als spielte es überhaupt keine Rolle, ob er gefunden wird oder nicht. Versteht ihr?«

»Mich nervt, daß ein Zwerg ermordet wurde«, grummelte Knuddel.

»Und mich nervt, daß ein Mord geschah«, ließ sich Karotte vernehmen.

Herr Käse brachte Nachschub. Sie starrten auf die Gläser hinab. Sie tranken.

Die gedrückte Stimmung hatte folgenden Grund: Allen gegenteiligen Indizien zum Trotz wurde in Ankh-Morpork nur selten jemand ermordet. Natürlich gingen die Assassinen ihrer Arbeit nach. Dazu kamen die verschiedenen unabsichtlichen Selbstmorde. Außerdem gab es den traditionellen Familienkrach am Samstagabend, die billige Alternative zu einer Scheidung. Das alles gehörte zur täglichen und nächtlichen Routine der Stadt, aber in allen Fällen gab es Gründe, so unvernünftig sie auch sein mochten.

»Herr Hammerhock war ein wichtiges Mitglied der Zwergengemeinschaft«, sagte Karotte. »Und ein guter Bürger. Er machte nicht dauernd Schwierigkeiten wie Herr Starkimarm.«

»Er hat eine Werkstatt in der Rauhreifstraße«, meinte Nobby.

»Er hatte eine«, verbesserte Feldwebel Colon.

Sie starrten auf die Gläser hinab. Sie tranken.

»Was ich gern wissen möchte…«, sagte Angua. »Wer hat ihm das Loch in der Brust beschert?«

»Hab’ so was nie zuvor gesehen«, murmelte Colon.

»Sollte nicht jemand Frau Hammerhock Bescheid geben?« fragte Angua.

»Das hat Hauptmann Mumm übernommen«, erwiderte Karotte. »Er wollte es von niemand anderem verlangen.«

»Besser er als ich«, sagte Colon mit Nachdruck. »Um nichts in der Welt möchte ich eine solche Pflicht übernehmen. Wenn die kleinen Mistkerle wütend sind, können sie verdammt unangenehm werden.«

Alle nickten, auch der kleine Mistkerl und der große, adoptierte kleine Mistkerl.

Sie starrten auf die Gläser hinab. Sie tranken.

»Sollten wir nicht versuchen, den Schuldigen zu finden?« fragte Angua.

»Warum?« erwiderte Nobby.

Anguas Mund klappte mehrmals auf und zu. Schließlich sagte sie: »Damit sich so etwas nicht wiederholt?«

»Ein Assassine steckt nicht dahinter, oder?« vermutete Knuddel.

»Nein«, antwortete Karotte. »Assassinen hinterlassen immer eine Nachricht. So will es das Gesetz.«

Sie starrten auf die Gläser hinab. Sie tranken.

»Was für eine Stadt«, kommentierte Angua.

»Und seltsamerweise funktioniert alles«, sagte Karotte. »Damals, als ich neu war in der Wache, war ich so dumm, das Oberhaupt der Diebesgilde wegen Diebstahls zu verhaften.«

»Warum auch nicht?« entgegnete Angua.

»Habe deshalb ganz schön Schwierigkeiten bekommen«, fügte Karotte hinzu.

»Hier in Ankh-Morpork sind Diebe organisiert«, erläuterte Colon. »Ich meine, dadurch wird alles offiziell. Den Dieben ist eine gewisse Anzahl an Diebstählen gestattet. Eigentlich stehlen sie gar nicht mehr viel. Wenn man ihnen eine jährliche Gebühr zahlt, bekommt man eine Quittung und wird in Ruhe gelassen. Das erspart beiden Seiten Mühe.«

»Und alle Diebe sind Mitglied der Gilde?« fragte Angua.

»Oh, ja«, bestätigte Karotte. »Ohne eine Gildengenehmigung kann in Ankh-Morpork nichts gestohlen werden. Es sei denn, man hat spezielles Talent.«

»Ach? Was für ein Talent?« erkundigte sich Angua neugierig.

»Nun, man müßte überleben können, mit dem Kopf nach unten an einem Tor hängend und die Ohren an den Knien festgenagelt«, sagte Karotte.

Einige Sekunden lang war es still.

»Das ist schrecklich«, erwiderte Angua.

»Ja, ich weiß. Es ist schrecklich – aber es funktioniert. Alles. Die Gilden, das organisierte Verbrechen und der ganze Rest. Es scheint tatsächlich zu funktionieren.«

»Herr Hammerhock dürfte da etwas anderer Ansicht sein«, warf Feldwebel Colon ein.

Sie starrten auf die Gläser hinab. Langsam wie eine große Eiche, die den ersten Schritt zur Wiederauferstehung in Form zahlreicher Rettet-die-Bäume-Flugblätter unternahm, neigte sich Detritus nach hinten und stürzte mit dem Becher in der Hand zu Boden. Seine Haltung veränderte sich um neunzig Grad, doch abgesehen davon, bewegte er sich nicht.

»Der Schwefel«, sagte Knuddel, ohne sich umzudrehen. »Steigt ihnen sofort zu Kopf.«

Karotte schlug mit der Faust auf die Theke. »Wir sollten etwas unternehmen!«

»Wir könnten uns seine Stiefel schnappen«, schlug Nobby vor.

»Ich spreche von Herrn Hammerhock.«

»Oh, ja«, sagte Nobbs. »Jetzt klingst du wie der alte Mummy. Wenn wir uns wegen jeder Leiche in dieser Stadt aufregen würden…«

»Diesmal liegt die Sache anders!« erwiderte Karotte scharf. »Normalerweise handelt es sich nur um… äh… um Selbstmord oder Auseinandersetzungen zwischen den Gilden oder so. Aber diesmal war das Opfer ein Zwerg. Eine Stütze der Gesellschaft! Er brachte den ganzen Tag damit zu, Schwerter, Äxte, Grabwaffen, Armbrüste und Folterinstrumente herzustellen. Und plötzlich liegt er im Fluß, mit einem großen Loch in der Brust! Es ist unsere Pflicht, etwas zu unternehmen.«

»Hast du dir was in die Milch geschüttet?« fragte Colon. »Sollen sich die Zwerge selbst darum kümmern. Es ist wie mit dem Steinbruchweg: Stecke deine Nase nicht dorthin, wo sie jemand abreißen und aufessen kann.«

»Wir sind die Stadtwache«, betonte Karotte. »Wir sind nicht nur für die Teile von Ankh-Morpork zuständig, die größer sind als hundertzwanzig Zentimeter und aus Fleisch bestehen!«

»Ein Zwerg kommt als Täter nicht in Frage.« Knuddel schwankte ein wenig. »Und auch kein Troll.« Er versuchte, sich an die Nase zu klopfen, verfehlte jedoch das Ziel. »Weil der Leiche weder Arme noch Beine fehlen.«

»Hauptmann Mumm verzichtet bestimmt nicht darauf, Ermittlungen anzustellen«, sagte Karotte.

»Hauptmann Mumm lernt gerade, bald ein Zivilist zu sein«, meinte Nobby.

»Nun, wenn ihr meine Ansicht hören wollt…«, begann Colon und stand auf.

Er hüpfte. Er sprang auf einem Bein umher. Seine Lippen bewegten sich, und schließlich gelang es ihm, zwei Wörter zu formulieren.

»Mein Fuß!«

»Was ist damit?«

»Etwas steckt darin!«

Colon hüpfte nach hinten, griff nach seiner Sandale und stolperte über Detritus.

»In dieser Stadt kann man auf die erstaunlichsten Dinge treten«, sagte Karotte.

»An deiner Sandalensohle hängt etwas«, bemerkte Angua. »Nun halt doch endlich still.«

Sie zog ihren Dolch.

»Ein Stück Pappe oder so. Mit einer Reißzwecke. Wer weiß, woher das Ding stammt. Wahrscheinlich hat es eine Weile gedauert, bis sich die Spitze der Reißzwecke ganz durch die Sohle gebohrt hat.«

»Ein Stück Pappe?« wiederholte Karotte.

»Und darauf steht etwas…« Mit dem Messer schabte Angua den Schmutz fort.

 

 

 

»Was bedeutet das?« fragte sie.

»Keine Ahnung«, sagte Nobby. »Vielleicht soll es darauf hinweisen, daß etwas gefährlich ist, zum Beispiel die Reißzwecke. Oder wir sehen hier die Visitenkarte von Herrn Gfähr. Was weiß ich? Ich schlage vor, wir genehmigen uns noch eine Runde…«

Karotte nahm das Stück Pappe und drehte es nachdenklich hin und her.

»Werft die Reißzwecke nicht weg«, erklang Knuddels Stimme. »Fünf von den Dingern kosten einen Groschen. Mein Vetter Gimick stellt sie her.«

»Dies hier ist wichtig«, sagte Karotte. »Der Hauptmann sollte davon erfahren. Ich glaube, er hat nach dieser Pappe gesucht.«

»Was soll daran wichtig sein?« fragte Feldwebel Colon. »Es ist nur ein Stück Pappe. Mit einer verdammten Reißzwecke, die mir in den Fuß gestochen hat.«

»Ich weiß nicht, welche Bedeutung sich dahinter verbirgt«, erwiderte Karotte. »Wie dem auch sei: Wir müssen den Hauptmann informieren.«

»Sag du’s ihm«, meinte Colon. »Sicher weilt er jetzt bei Ihrer Ladyschaft.«

»Um dort zu lernen, ein feiner Herr zu sein«, fügte Nobby hinzu.

»Na schön, ich teile es ihm mit.« Karotte schien ein wenig verärgert zu sein.

Angua sah durch das schmutzige Fenster. Bald ging der Mond auf. Das war das Problem mit Städten: Man mußte immer damit rechnen, daß der Mond hinter einem Turm oder so lauerte.

»Ich gehe jetzt besser heim«, sagte die junge Frau.

»Ich begleite dich«, bot sich Karotte an. »Ich muß ohnehin dem Hauptmann Bericht erstatten.«

»Ich möchte nicht, daß du wegen mir einen Umweg machen mußt.«

»Das würde mich sogar freuen.«

Angua sah den Ernst in Karottes Miene.

»Es liegt mir fern, dir Umstände zu machen«, sagte sie.

»Schon gut. Ich wandere gern. Das hilft mir beim Nachdenken.«

Angua lächelte trotz ihrer Verzweiflung.

Sie verließen die Taverne und traten in den nicht mehr ganz so heißen Abend. Karotte ging instinktiv im Patrouillenschritt.

»Dies ist eine sehr alte Straße«, sagte er. »Unter ihr soll ein Bach fließen. Das habe ich irgendwo gelesen.«

»Wanderst du wirklich gern?« fragte Angua, die neben Karotte ging.

»Ja. Hier gibt es viele interessante Gassen und historische Bauwerke. An meinen freien Tagen streife ich häufig umher.«

Angua musterte den jungen Mann. Lieber Himmel, dachte sie.

»Warum bist du zur Wache gegangen?« fragte sie.

»Mein Vater meinte, sie würde einen Mann aus mir machen.«

»Das scheint geklappt zu haben.«

»Ja. Es gibt keine bessere Arbeit.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Weißt du, was ›Polizist‹ bedeutet?«

Angua hob und senkte die Schultern. »Keine Ahnung.«

»Nun, polis ist ein altes Wort für Stadt, und deshalb bedeutet ›Polizist‹ in etwa ›Mann der Stadt‹.«

»Ja?«

»Ich hab’s in einem Buch gelesen. Mann der Stadt.«

Angua beobachtete Karotte von der Seite. Sein Gesicht schien im Schein der Fackel an der nächsten Straßenecke zu glühen. Aber dazu kam noch ein innerer Glanz.

Karotte war stolz. Angua erinnerte sich an den Eid.

Bei allen Göttern, er ist stolz darauf, ein Wächter zu sein…

»Und du?« fragte er. »Warum hast du dich der Wache angeschlossen?«

»Ich? Oh. Nun, ich mag es, mehr oder weniger regelmäßig zu essen und unter einem Dach zu schlafen. Außerdem hatte ich keine besonders große Auswahl. Entweder Wächterin oder – ha! – Näherin10

»Kannst du nicht gut nähen?«

Anguas argwöhnischer Blick ermittelte ehrliche Unschuld.

»Leider nein«, erwiderte sie. »Und dann sah ich das Plakat: ›Die Stadtwache brauchet Männer! Sei ein Manne in der Stadtwache!‹ Da dachte ich mir: Versuch’s einfach mal; du hast nichts zu verlieren.«

Angua wartete auf eine Reaktion, die auch prompt kam.

»Der Text stammt von Feldwebel Colon«, erklärte Karotte. »Er denkt immer sehr direkt.«

Er schnüffelte.

»Riechst du das?« fragte er. »Hier stinkt’s wie… wie ein alter Abortteppich.«

»Oh, herzlichen Dank«, erklang eine leise Stimme irgendwo in der Dunkelheit. »Danke vielmals. Das ist sehr Dingsbums… nett. Ein alter Abortteppich. O ja.«

»Ich rieche nichts«, log Angua.

»Lügnerin«, sagte die Stimme.

»Und ich höre auch nichts.«

 

Seine Stiefel teilten Hauptmann Mumm mit, daß er sich nun in der Teekuchenstraße befand. Er setzte automatisch einen Fuß vor den anderen, in Gedanken weilte er ganz woanders. Mindestens ein Teil seines Bewußtseins schwamm in Jimkin Bärdrückers bestem Nektar.

Wenn sie nur nicht so höflich gewesen wären! In seinem Leben hatte er mehrere Dinge gesehen, die seitdem einen festen Platz in seinem Gedächtnis behaupteten, obgleich er sie vergessen wollte. Ganz oben auf der Liste hatte bisher der Anblick von Mandeln im Maul eines riesigen Drachen gestanden, der tief Luft holte, um einen bestimmten Wächter in einen kleinen Haufen unreiner Holzkohle zu verwandeln. Manchmal, in gräßlichen Alpträumen, sah er das Licht der Flamme tief im Rachen… Doch jene Bilder wurden jetzt von Erinnerungen an unbewegte Zwergenmienen verdrängt, die ihn höflich ansahen. Seine Lippen hatten sich bewegt und Worte geformt, doch er hatte gespürt, wie sie in eine unauslotbar tiefe Grube fielen.

Was konnte er schon sagen? »Tut mir leid, er ist tot – daran läßt sich leider nichts ändern. Unsere schlechtesten Leute arbeiten an dem Fall.« Etwas in der Art?

Das Haus des verstorbenen Bjorn Hammerhock war voller Zwerge gewesen – voller schweigender, stumm starrender und höflicher Zwerge. Es hatte sich bereits herumgesprochen. Mit welchen Neuigkeiten Mumm auch kam, seine Zuhörer wußten längst Bescheid. Viele Zwerge führten Waffen mit sich. Der Hauptmann erkannte Herrn Starkimarm, der oft und gerne Reden über sein Lieblingsthema hielt: Immer wieder regte er an, alle Trolle in kleine Stücke zu schlagen und diese anschließend für den Straßenbau zu verwenden. Diesmal aber blieb er stumm. Gab nicht einen einzigen Ton von sich, der Bursche. Saß nur da, in eine Aura der Selbstgefälligkeit gehüllt. Die allgemeine Atmosphäre kam einer höflichen Drohung gleich: Wir hören dir zu. Und dann entscheiden wir so, wie wir es für richtig halten.

Mumm war nicht einmal sicher gewesen, wer von ihnen Frau Hammerhock war. Für ihn sahen alle Zwerge gleich aus. Als man ihm die Witwe vorstellte – mit Helm und Bart –, bekam er von ihr einige unverbindliche Antworten. Nein, sie hatte die Werkstatt abgeschlossen und den Schlüssel verlegt. Danke.

Er wollte möglichst diskret darauf hinweisen, daß die Wache einen Marsch zum Steinbruchweg mißbilligen würde (vermutlich aus sicherer Entfernung). Doch er brachte es einfach nicht fertig, eine solche Mahnung zu formulieren. Deshalb blieben folgende Worte unausgesprochen: »Nehmt das Gesetz nicht in eure eigenen Hände. Die Wache ist dem Verbrecher dicht auf den Fersen.« Die bittere Wahrheit war, daß es nicht den geringsten Hinweis auf die Identität des Übeltäters gab. Mumm fragte auch nicht: »Hatte dein Mann Feinde, Frau Hammerhock? Sicher, jemand hat ein ziemlich großes Loch in seiner Brust hinterlassen. Aber hatte er sonst noch Feinde?«

Mit möglichst viel Würde (davon war nicht viel übrig) verabschiedete er sich schließlich und führte dann einen kurzen inneren Kampf, den sein Gewissen verlor: Er nahm die Flasche mit Bärdrückers Leckertropfen und wanderte durch die Nacht.

 

Karotte und Angua erreichten das Ende der Schimmerstraße.

»Wo wohnst du?« fragte der junge Mann.

»Dort drüben.« Angua streckte kurz den Arm aus.

»In der Ulmenstraße? Etwa bei Frau Kuchen

»Ich habe ein sauberes Zimmer gesucht, das nur wenig Miete kostet. Ist mit Frau Kuchens Pension irgend etwas nicht in Ordnung?«

»Nun, ich meine, Frau Kuchen ist… eine liebenswürdige Frau, gegen die niemand etwas haben kann, aber… nun, dir ist sicher aufgefallen…«

»Was?«

»Nun, sie ist… äh… nicht sehr… wählerisch…«

»Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Ich nehme an, du bist den anderen Mietern begegnet. Wohnt Reg Schuh noch bei Frau Kuchen?«

»Oh«, sagte Angua. »Du meinst den Zombie.«

»Und auf dem Dachboden haust ein Banshee.«

»Herr Ixolit. Ja.«

»Dann wäre da noch Frau Drull.«

»Die Ghulin. Aber sie ist inzwischen im Ruhestand. Sie sorgt jetzt bei Kindergeburtstagen für Speisen und Getränke.«

»Ich meine, erscheint dir die Pension nicht ein wenig seltsam?«

»Die Miete ist nicht zu hoch, und es ist kein Ungeziefer in den Betten.«

»Weil nie jemand in ihnen schläft.«

»Ich mußte nehmen, was ich kriegen konnte!«

»Entschuldigung. Ich weiß, wie das ist. Mir ging’s ähnlich, als ich nach Ankh-Morpork kam. Nun, ich rate dir, möglichst bald nach einer Unterkunft zu suchen, die… äh… für eine junge Frau wie dich besser geeignet ist. Wenn du verstehst, was ich meine.«

»Nein, ich verstehe nicht, was du meinst. Herr Schuh wollte sogar mein Gepäck nach oben tragen. Wenig später mußte ich ihm seine Arme bringen. Der arme Kerl: Dauernd fällt irgend etwas von ihm ab.«

»Aber Herr Schuh und die anderen… Sie sind nicht wie wir«, sagte Karotte verzweifelt. »Versteh mich nicht falsch. Ich meine… Zwerge? Einige meiner besten Freunde sind Zwerge. Sogar meine Eltern sind Zwerge. Und Trolle? Ich habe überhaupt keine Probleme mit Trollen. Sie sind das Salz der Erde, im wahrsten Sinne des Wortes. Wundervolle Burschen unter ihrer dicken Kruste. Aber Untote… Ich wünsche mir nur, daß sie dorthin zurückkehren, woher sie kommen, das ist alles.«

»Die meisten kamen von hier.«

»Sie gefallen mir einfach nicht. Tut mir leid.«

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Angua kühl. Sie verharrte im dunklen Zugang zu einer Gasse.

»Äh, ja, gut«, erwiderte Karotte. »Wann sehen wir uns wieder?«

»Morgen. Wir sind beide bei der Wache, erinnerst du dich?«

»Und wenn wir dienstfrei haben? Vielleicht könnten wir dann…«

»Es wird jetzt höchste Zeit für mich!«

Angua drehte sich um und lief. Der Hof des Monds zeichnete sich bereits über den Dächern der Unsichtbaren Universität ab.

»Na schön, gut, bis morgen also!« rief Karotte ihr nach.

 

Angua fühlte, wie die Welt um sie herum erbebte, als sie durch die Schatten wankte. Sie hätte nicht so lange warten dürfen!

Sie stolperte auf eine Querstraße, begegnete dort mehreren erstaunten Passanten und setzte ihren Weg zur nächsten dunklen Gasse fort. Instinktiv tastete sie nach ihrer Kleidung, die sich immer mehr wie ein Fremdkörper anfühlte.

Ein gewisser Bundo Prung sah sie. Er war erst vor kurzer Zeit aus der Diebesgilde verstoßen worden, weil er zuviel Begeisterung gezeigt und sich für Straßenräuber ungebührlich verhalten hatte. Eine hilflose Frau, allein in einer dunklen Gasse… davon fühlte er sich nicht überfordert.

Er sah sich um und folgte ihr.

Daran schloß sich für fünf Sekunden Stille an. Dann verließ Bundo die Gasse ziemlich schnell. Er rannte bis zum Kai, wo gerade ein Schiff ablegte. Bundo sprintete über die Laufplanke, während diese an Bord gezogen wurde. Er wurde zu einem Seemann und starb drei Jahre später, als ihm in einem fernen Land ein Gürteltier auf den Kopf fiel. Nie erzählte er jemandem, was er in der Gasse gesehen hatte. Aber gelegentlich schrie er, wenn er einen Hund sah.

Angua kam kurze Zeit später zum Vorschein und lief auf vier Beinen fort.

 

Lady Sybil Käsedick öffnete die Tür und schnupperte.

»Samuel Mumm! Du bist betrunken!«

»Noch nicht, aber hoffentlich bald«, erwiderte Mumm fröhlich.

»Und du hast noch immer deine Uniform an!«

Mumm sah an sich hinunter und hob dann wieder den Kopf.

»Stimmt!« sagte er gutgelaunt.

»Die ersten Gäste können jeden Augenblick eintreffen. Geh in dein Zimmer. Willikins hat ein Bad vorbereitet und einen Anzug für dich bereitgelegt. Na los…«

»Ausgezeichnet!«

Mumm badete in lauwarmem Wasser und blieb dabei in rosaroten alkoholischen Dunst gehüllt. Nach einer Weile trocknete er sich so gut wie möglich ab und betrachtete den Anzug auf dem Bett.

Der beste Schneider in der ganzen Stadt hatte ihn angefertigt. Es mangelte Sybil Käsedick nicht an Großzügigkeit; sie war stets bestrebt, alles zu geben.

Der Anzug war in blauen und violetten Farbtönen gehalten, Spitzen zierten Ärmel und Kragen. Er war der letzte Schrei der aktuellen Mode. Sybil Käsedick wollte, daß Mumm einen Platz in der feinen Gesellschaft von Ankh-Morpork bekam. Sie hatte es nie gesagt, aber Mumm vermutete folgendes: Wahrscheinlich glaubte sie, er sei zu schade für den Wachdienst.

Mit einer Mischung aus Benommenheit und Verwirrung starrte er auf das Kleidungsstück. Er hatte nie einen Anzug getragen. Als Kind wurden Lumpen irgendwie an ihm befestigt, und später gab es die aus Leder und Kettenhemd bestehende Uniform der Wache: bequeme und praktische Kleidung.

Zu dem Anzug gehörte auch ein Hut. Mit Perlen dran.

Mumm hatte nie eine Kopfbedeckung benutzt, die nicht aus Metall bestand.

Die Schuhe waren lang und spitz.

Im Sommer hatte er immer Sandalen getragen, im Winter die traditionellen billigen Stiefel.

Hauptmann Mumm schaffte es gerade so, ein Offizier zu sein. Er wußte nicht, wie man zu einem feinen Herrn wurde. Nun, der Anzug schien der erste Schritt zu sein…

Die Gäste trafen ein. Er hörte das Knirschen von Kutschenrädern auf dem Kies, gelegentlich auch ein rhythmisches Klatschen von den Füßen der Sänftenträger.

Er sah aus dem Fenster. Die Teekuchenstraße lag höher als der größte Teil von Morpork und bot ein prächtiges Panorama – wenn man an solchen Dingen Gefallen fand. Der Palast des Patriziers war ein dunkler Schemen inmitten von Schatten; ganz oben schimmerte Licht in einem Fenster. Wenn er dort zuerst hinsah und dann den Blick nach unten und gleichzeitig in die Breite gleiten ließ, offenbarte sich ihm eine Finsternis, die immer schwärzer zu werden schien – besonders in den Teilen der Stadt, wo man keine Kerzen anzündete, weil man dadurch gute Nahrung vergeudet hätte. Im Bereich des Steinbruchwegs glühte rötlicher Fackelschein. Das war verständlich: Immerhin feierten die Trolle Neujahr. Ein vager Glanz hing über der Unsichtbaren Universität, genauer: über den Dächern des Forschungstrakts für hochenergetische Magie. Mumm hätte am liebsten alle Zauberer verhaftet, allein aufgrund des Verdachts, daß sie zu schlau waren. Weitere Lichter zeigten sich bei der Ankertaugasse und in der Glatten Straße. Leute wie Hauptmann Schrulle nannten diese Gegend das Vergnügungsviertel

»Samuel!«

Mumm versuchte, die Krawatte zurechtzurücken.

Er war mit Trollen, Zwergen und Drachen fertig geworden, doch jetzt bekam er es mit einer neuen Spezies zu tun: mit den Reichen.

 

Nachher fiel es Angua immer schwer, sich zu erinnern, wie sie die Welt »in jenem anderen Zustand« wahrnahm – so hatte es ihre Mutter immer ausgedrückt.

Zum Beispiel entsann sie sich daran, Gerüche zu sehen. Die Straßen und Gebäude… natürlich existierten sie nach wie vor, aber hauptsächlich als grauer Hintergrund, vor dem sich Geräusche und Gerüche in Linien aus… buntem Feuer und in Wolken aus… aus farbigem Rauch abzeichneten.

Genau das war das Problem. Es gab keine geeigneten Worte, mit denen Angua nachher beschreiben konnte, was sie gehört und gerochen hatte. Wenn man eine Zeitlang eine völlig neue, achte Farbe betrachtet hatte und man danach einer auf sieben Farben beschränkten Welt ihre Beschaffenheit schildern sollte… dann konnte man nur von einem »grünlichen Purpur« oder dergleichen sprechen. Erfahrungen sind für jede Spezies individuell. Wenn man sie zwischen den Gattungen austauscht, verlieren sie an Bedeutung.

Manchmal (aber nicht sehr oft) hielt es Angua für einen glücklichen Umstand, daß sie beide Welten erleben konnte. Außerdem waren während der ersten zwanzig Minuten nach der Veränderung alle Sinne verstärkt, weshalb die Welt in jedem Wahrnehmungsspektrum wie ein Regenbogen schimmerte. Diese Phase entschädigte in gewisser Weise für den Rest.

Es gab verschiedene Werwölfe. Manche mußten sich nur einmal pro Stunde rasieren und die Ohren unter einem Hut verstecken. Sie blieben fast normale Leute.

Aber Angua konnte sie trotzdem erkennen. Werwölfe identifizierten andere Werwölfe selbst dann, wenn es in ihrer Nähe von Menschen und anderen Spezies wimmelte. Es lag vor allem an den Augen. Natürlich gab es noch andere Hinweise. Werwölfe lebten meist allein und scheuten den Kontakt mit Tieren. Sie benutzten viel Parfüm und Rasierwasser und waren sehr pingelig mit dem Essen. Darüber hinaus führten sie Tagebücher, in denen die Mondphasen rot markiert waren.

Die Werwölfe auf dem Land hatten es besonders schwer. Sie waren sofort schuld, wenn irgendwo ein Huhn fehlte. Das Leben in der Stadt sei viel besser, hieß es unter ihnen.

Es war zumindest… überwältigend.

Angua sah verschiedene Stunden der Ulmenstraße zur selben Zeit. Die Furcht des Straßenräubers war eine verblassende orangefarbene Linie, Karottes Fährte eine sich ausdehnende hellgrüne Wolke: Hier und dort deuteten besondere Schattierungen auf Besorgnis hin; andere Farbtöne kündeten von altem Leder und Brustharnischpolitur. Weitere Spuren führten kreuz und quer durch die Straße. Einige von ihnen waren ganz deutlich; andere lösten sich allmählich auf.

Eine roch wie ein alter Abortteppich.

»Yo, Bitch«, ertönte eine Stimme hinter Angua.

Sie drehte den Kopf. Auch mit Hundeaugen betrachtet, sah Gaspode nicht besser aus. Es gab nur einen nennenswerten Unterschied: Eine Wolke aus bunten Gerüchen umgab ihn.

»Oh. Du bist’s.«

»Genau«, sagte Gaspode und kratzte sich hingebungsvoll. Dann bedachte er Angua mit einem hoffnungsvollen Blick. »Wenn ich dich etwas fragen darf, ich meine, wir sollten’s gleich hinter uns bringen, es gehört einfach dazu, Hunde sind nun mal so… äh… dürfte ich vielleicht mal schnüffeln, du weißt schon, wo…«

»Nein.«

»Wie gesagt, war nur ‘ne Frage. Nichts für ungut.«

Angua rümpfte die Schnauze.

»Wie kommt es, daß du so riechst? Ich meine, du hast schon schlimm gerochen, als ich ein Mensch war, aber jetzt…«

Gaspode hob stolz den Kopf.

»Toll, nicht wahr?« erwiderte er. »Es kam nicht von selbst, weißt du. Ich mußte hart daran arbeiten. Wenn du ein richtiger Hund wärst… dann würde mein… äh… Duft dich wie ein besonders verlockendes Aftershave anziehen. Übrigens solltest du dir ein Halsband zulegen, Teuerste. Alle lassen dich in Ruhe, wenn du ein Halsband trägst.«

»Danke.«

Gaspode zögerte.

»Äh… du reißt doch keine Herzen aus, oder?«

»Nur, wenn ich will«, betonte Angua.

»Oh, gut, gut«, sagte Gaspode hastig. »Wohin gehst du?«

Er watschelte krummbeinig neben Angua her.

»Ich möchte ein bißchen bei Hammerhocks Werkstatt herumschnüffeln. Und ich habe dich nicht gebeten, mich zu begleiten.«

»Oh, keine Sorge, derzeit hab ich nichts anderes zu tun«, erwiderte Gaspode. »Die Abfälle von Hargas Rippenstube werden erst gegen Mitternacht nach draußen gebracht.«

»Hast du gar kein Zuhause?« fragte Angua, als sie an einer Imbißbude vorbeiliefen.

»Ein Zuhause? Ich? Ja. Natürlich. Lachende Kinder, große Küche, drei Mahlzeiten pro Tag, nebenan eine Katze zum Jagen, eigene Decke, warmer Platz am Kamin, ach, er ist einer von der sentimentalen Sorte, aber wir mögen ihn ettzehtra. Kein Problem. Weißt du, ich bin nur gern unterwegs«, sagte Gaspode.

»Wie ich sehe, trägst du kein Halsband.«

»Ist abgefallen.«

»Ach?«

»Wegen der vielen Rheinkiesel daran. Sie waren zu schwer.«

»Kann ich mir denken.«

»Ich habe jede Menge Freiheiten«, meinte Gaspode.

»Das sehe ich.«

»Manchmal kehre ich… äh… tagelang nicht heim.«

»Im Ernst?«

»Sogar wochenlang.«

»Natürlich.«

»Aber wenn ich dann heimkehre, freuen sich alle sehr«, brummte Gaspode.

»Du hast doch erzählt, daß du bei der Unsichtbaren Universität schläfst«, sagte Angua, als sie die Rauhreifstraße erreichten.

Ein oder zwei Sekunden lang wirkte Gaspode ratlos, doch er faßte sich schnell.

»Ja, genau«, entgegnete er. »Nu-un, du weißt ja, wie das ist mit Familien. Die Kinder wollen einen dauernd streicheln und hochheben. Geben einem ständig Kekse und was weiß ich. Das kann einem ganz schön auf die Nerven gehen. Deshalb ziehe ich mich oft zur Universität zurück, um dort in aller Ruhe zu schlummern.«

»Klar.«

»Sogar noch öfter als oft.«

»Ja?«

Gaspode jaulte leise.

»Du solltest vorsichtig sein. Eine junge Hündin wie du könnte in dieser Stadt erhebliche Probleme bekommen.«

Sie verharrten am hölzernen Pier hinter Hammerhocks Werkstatt.

»Wie…«, begann Angua unschlüssig.

Verschiedene Gerüche wehten ihr entgegen, doch einer davon war so scharf wie eine Säge.

»Feuerwerkskörper?«

»Und Furcht«, fügte Gaspode hinzu. »Jede Menge Furcht.«

Er beschnüffelte die Planken. »Menschliche Furcht, nicht die eines Zwergs. Zwergenfurcht kann man leicht erkennen. Es liegt an der Ernährung. Zuviel Rattenfleisch, weißt du. Puh! Es muß enorme Angst gewesen sein, wenn sie immer noch so stark riecht.«

»Ich wittere einen männlichen Menschen und einen Zwerg«, sagte Angua.

»Ja. Einen toten Zwerg.«

Gaspodes schrumpelige Schnauze strich an der Tür entlang; er schnüffelte lautstark.

»Hier ist noch mehr«, sagte er. »Aber durch den nahen Fluß lassen sich die Gerüche kaum auseinanderhalten. Öl und… Fett und… sonst noch was und… wohin gehst du?«

Gaspode lief hinter Angua her, die in Richtung Rauhreifstraße zurückging, die Schnauze dicht am Boden.

»Ich folge der Fährte.«

»Wieso denn? Er wird dir nicht dafür danken.«

»Wer?«

»Dein junger Mann.«

Angua blieb so plötzlich stehen, daß Gaspode gegen sie stieß.

»Meinst du Korporal Karotte? Er ist nicht mein junger Mann!«

»Ach, wirklich nicht? Ich bin ein Hund, erinnerst du dich? Mit einem guten Riecher. Und Gerüche lügen nicht. Es sind diese Pheromondinger. Die sexuelle Alchimie und so.«

»Ich kenne ihn doch erst seit ein paar Nächten.«

»Na bitte!«

»Was soll das heißen?«

»Oh, nichts, nichts. Alles in bester Ordnung. Äh…«

»Natürlich ist alles in bester Ordnung!«

»Ja, na schön. Es wäre selbst dann in Ordnung, wenn etwas nicht in Ordnung wäre. Ich meine, alle mögen Korporal Karotte.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Angua. Ihr Nackenfell glättete sich wieder. »Er ist sehr… nett.«

»Selbst der Große Fido hat Karotte nur dann in die Hand gebissen, als er versuchte, ihn zu streicheln.«

»Der Große Fido?«

»Chefbeller der Hundegilde.«

»Hunde haben eine Gilde? Hunde? Das glaubst du doch selbst nicht…«

»Im Ernst. Die Hundegilde bestimmt, wer an welchem Ort als erster Abfalleimer plündern darf. Sie verteilt Plätze zum Dösen im Sonnenschein, entscheidet über Bellpflichten, Paarungsrechte, Jaulquoten… die ganze Schose.«

»Hundegilde«, wiederholte Angua. Es klang skeptisch und sarkastisch. »Meine Güte.«

»Versuch mal, in der falschen Straße eine Ratte zu jagen… Anschließend kämst du bestimmt nicht mehr auf den Gedanken, mich Lügner zu nennen. Kannst von Glück sagen, daß ich in der Nähe bin. Erspart dir eine Menge Unannehmlichkeiten. Ein Hund, der nicht Mitglied der Hundegilde ist, könnte in dieser Stadt in erhebliche Schwierigkeiten geraten.« Gaspode holte tief Luft. »Du kannst froh sein, daß du mir begegnet bist.«

»Ich nehme an, du bist ein… hohes Tier in der Hundegilde.«

»Ich gehöre nicht zu den Mitgliedern«, erwiderte Gaspode selbstgefällig.

»Und wie überlebst du?«

»Bin flink auf den Pfoten. Außerdem läßt mich der Große Fido in Ruhe, weil ich die Macht habe.«

»Welche Macht?«

»Nun, begnügen wir uns mit folgender Feststellung: Der Große Fido ist ein Freund von mir.«

»In die Hand eines Mannes zu beißen, der einen streicheln möchte… Das ist nicht sehr freundlich.«

»Ach, glaubst du? Vom letzten Burschen, der das versucht hat, haben wir nur den Gürtel wiedergefunden.«

»Tatsächlich?«

»Und zwar in einem Baum.«

»Wo sind wir jetzt?«

»Hier sind überhaupt keine Bäume in der Nähe. Äh, wie bitte?«

Gaspode schnüffelte. Seine Nase hatte einen ähnlichen Orientierungssinn entwickelt wie Hauptmann Mumms Stiefel.

»Wir sind hier in der Nähe der Teekuchenstraße«, sagte er.

»Die Fährte wird immer undeutlicher. Sie verliert sich in zu vielen anderen Dingen.«

Angua schnupperte eine Zeitlang. Jemand hatte diesen Ort aufgesucht, aber auch andere Personen. Der scharfe Geruch war zwar noch da, aber nur noch ein Hauch in einem Durcheinander aus zahllosen Düften.

Nach einer Weile empfing sie eine Aromabotschaft, die andeutete, daß sich ihr ein ganzer Berg Seife näherte. Als Frau hatte sie diesen Geruch eher unterbewußt zur Kenntnis genommen. Jetzt schien er ihre ganze Wahrnehmungswelt zu füllen.

Korporal Karotte wanderte nachdenklich über die Straße. Er achtete nicht darauf, wohin er ging; das brauchte er auch gar nicht: Die Leute wichen beiseite, wenn er sich näherte.

Zum erstenmal sah ihn Angua mit diesen Augen. Bei allen Göttern! Wieso merkten es die Menschen nicht? Er schritt durch Ankh-Morpork wie ein Tiger durch hohes Gras, wie ein mittländischer Bär durch hohen Schnee. Er trug die Umgebung wie eine zweite Haut…

Gaspode sah zur Seite. Angua saß auf den Hinterläufen und starrte.

»Dir hängt die Zunge raus«, sagte er.

»Was? Wie? Na und? Ist doch ganz normal. Ich hechele.«

»Har, har.«

Karotte bemerkte sie und blieb stehen.

»Ach, das ist doch die kleine Promenadenmischung«, sagte er.

»Wuff, wuff«, erwiderte Gaspode, und sein verräterischer Schwanz schwang von einer Seite zur anderen.

»Wie ich sehe, hast du eine Freundin gefunden.« Karotte klopfte ihm auf den Kopf und wischte sich dann instinktiv die Hand ab.

»Oh, und was für eine prächtige Hündin, jawohl«, fuhr er fort. »Ein Wolfshund aus den Spitzhornbergen, wenn ich mich nicht irre.« Er streichelte Angua geistesabwesend freundlich. »Aber ich muß jetzt weiter.«

»Wuff, jaul, gib dem Hündchen einen Keks«, sagte Gaspode.

Karotte richtete sich auf und suchte in seinen Taschen. »Ich glaube, ich habe irgendwo einen Keks. Seltsam, man könnte meinen, du verstehst jedes Wort…«

Gaspode machte Männchen und fing den Keks mühelos.

»Wuff, wuff.« Wedel, wedel.

Karotte runzelte die Stirn und sah mit der gleichen Verwirrung auf Gaspode hinunter wie die meisten Leute, die ein »Wuff« von ihm hörten und kein richtiges Bellen. Einige Sekunden später nickte er Angua zu, setzte den Weg über die Teekuchenstraße fort und ging in Richtung Lady Käsedicks Haus.

Gaspode ließ sich den Keks geräuschvoll schmecken. »Da geht ein sehr netter Junge. Er mag einfach und schlicht sein, aber er ist sehr sympathisch.«

»Einfach und schlicht, ja«, sagte Angua. »Das fiel mir sofort auf. Er ist einfach. Und alles andere hier ist sehr kompliziert.«

»Vor einer Weile hat er dir schöne Augen gemacht«, erwiderte Gaspode. »Was nicht heißen soll, daß ich was gegen schöne Augen habe. Ich mag sie sogar sehr gern, wenn sie frisch sind.«

»Du bist abscheulich.«

»Ja, aber wenigstens habe ich den ganzen Monat über die gleiche Gestalt, wenn du mir diese Bemerkung gestattest.«

»Du forderst einen ordentlichen Biß heraus.«

»Oh, ja«, stöhnte Gaspode. »Ja, beiß mich. Oooh. Jetzt krieg ich’s wirklich mit der Angst zu tun. Ich meine, denk mal darüber nach. Ich habe so viele Hundekrankheiten, daß ich nur deshalb noch lebe, weil die verschiedenen Bakterien dauernd gegeneinander kämpfen. Ich leide sogar an der Wollfäule, die sonst nur schwangere Schafe heimsucht. Na los. Beiß mich. Verändere mein Leben. Dann muß ich demnächst bei Vollmond damit rechnen, daß mir Haare und gelbe Zähne wachsen und ich auf allen vieren durch die Gegend laufe. Das wäre eine völlig neue und ungewohnte Situation für mich. Da fällt mir ein… Das mit den Haaren hat einen gewissen Reiz. Habe in der letzten Zeit die eine oder andere lichte Stelle bekommen. Wenn du dort nicht richtig zubeißen, sondern nur ein wenig knabbern würdest…«

»Sei still. Karotte meinte, daß du eine Freundin gefunden hast. Das klang so, als…«

»Schon ein kurzes Lecken würde mir genügen.«

»Klappe.«

 

»Die allgemeine Unzufriedenheit ist allein Lord Vetinaris Schuld«, sagte der Herzog von Eorle. »Der Mann hat keinen Stil! Wegen ihm leben wir nun in einer Stadt, in der Kaufleute ebensoviel Einfluß haben wie Barone. Er hat sogar zugelassen, daß sich die Klempner in einer Gilde zusammenschließen! Meiner bescheidenen Meinung nach ist das gegen die Natur.«

»Es wäre nicht so schlimm, wenn er ein gesellschaftliches Beispiel gäbe«, verkündete Lady Omnius.

»Oder wenn er endlich beschlösse, richtig zu regieren«, fügte Lady Selachii hinzu. »Aber er läßt den Leuten praktisch alles durchgehen.«

»Ich gebe zu, die alten Könige entsprachen nicht unbedingt unseren Vorstellungen, zumindest nicht die letzten«, sagte der Herzog von Eorle. »Aber meiner bescheidenen Meinung nach symbolisierten sie wenigstens etwas. Damals hatten wir eine anständige Stadt. Die Leute waren respektvoll und kannten ihren Platz in der Gesellschaft. Sie arbeiteten, anstatt dauernd auf der faulen Haut zu liegen. Wir öffneten die Tore nicht jedem Pöbel. Und wir hatten das Gesetz. Das stimmt doch, Hauptmann?«

Hauptmann Samuel Mumm blickte aus gläsernen Augen am linken Ohr des Sprechers vorbei.

Zigarrenrauch hing dick und fast reglos in der Luft. Mumm wurde sich vage bewußt, daß er mehrere Stunden damit verbracht hatte, zuviel zu essen, noch dazu in der Gesellschaft von Leuten, die er nicht mochte.

Er sehnte sich nach dem Geruch feuchter Straßen und dem Gefühl von Kopfsteinen unter dünnen Sohlen. Ein Tablett voll mit der Verdauung förderlichen Getränken schwebte um den Tisch herum, doch Mumm hatte bisher darauf verzichtet, nach einem der Gläser zu greifen – um Sybil nicht zu verärgern. Sie war bemüht, ihren Unwillen nicht zu zeigen, womit sie die latente Gereiztheit des Hauptmanns stimulierte.

Die Wirkung von Bärdrückers Leckertropfen ließ immer mehr nach, und Mumm verabscheute es, nüchtern zu sein – dann wurde er nachdenklich. Einer der ihn bedrängenden Gedanken teilte folgendes mit: Es gibt überhaupt keine »bescheidene Meinung«.

Er hatte kaum Erfahrung mit den Reichen und Mächtigen. Das galt auch für seine Kollegen. Nicht, daß die Reichen und Mächtigen etwa weniger dazu neigten, die Gesetze zu brechen. Von Reichen und Mächtigen verübte Verbrechen befanden sich vielmehr so weit über dem normalen Niveau der Kriminalität, daß Männer mit billigen Stiefeln und rostenden Kettenhemden nichts damit zu tun bekamen. Zum Beispiel war es völlig legal, hundert Baracken in den Slums zu besitzen; doch wer in ihnen wohnte, machte sich dadurch fast strafbar. Es verstieß nicht gegen das Gesetz, ein Assassine zu sein – die Gilde ließ darüber nichts verlauten, aber ein wichtiger Qualifikationsfaktor für die Mitgliedschaft war die Abstammung, aus einer »feinen Familie«. Wenn man genug Geld hatte, verübte man keine Verbrechen mehr, höchstens amüsante kleine »Jugendsünden«.

»Ganz gleich, wohin man schaut: Überall hochnäsige Zwerge, arrogante Trolle und respektlose Bürger«, sagte Lady Selachii. »Inzwischen leben in Ankh-Morpork mehr Zwerge als in manchen ihrer eigenen Städte – oder wie sie ihre Löcher nennen.«

»Was meinst du, Hauptmann?« fragte der Herzog von Eorle.

»Hmm?« Mumm nahm eine Weintraube und drehte sie langsam hin und her.

»Was hältst du von dem gegenwärtigen ethnischen Problem in der Stadt?«

»Haben wir eins?«

»Nun… denk nur an den Steinbruchweg! Dort wird jeden Abend gekämpft!«

»Und die Kerle haben überhaupt keinen Sinn für Religion!«

Mumm betrachtete die Weintraube. Am liebsten hätte er folgende Antwort gegeben: Natürlich kämpfen sie. Schließlich sind es Trolle. Sie hauen sich gegenseitig Knüppel auf den Schädel – weil sich Trolle vor allem mit Körpersprache verständigen und… äh… gern brüllen. Nur der Mistkerl Chrysopras macht manchmal Probleme, indem er Menschen nachäfft und zu schnell lernt. Und was die Religion betrifft: Trollgötter schwangen bereits ihre Keulen, als wir erst noch lernen mußten, daß man Steine nicht essen kann.

Dies alles wollte Mumm sagen, doch die Erinnerung an den toten Zwerg weckte etwas Gemeines in ihm.

Er legte die Traube auf das Tablett zurück.

»Stimmt haargenau«, schwadronierte er. »Meiner Ansicht nach sollte man die gottlosen Mistkerle aus der Stadt verjagen.«

Es wurde still.

»Sie haben es nicht anders verdient«, bekräftigte Mumm.

»Genau!« entfuhr es Lady Omnius. Mumm vermutete, daß ihr Vorname Sara lautete. »Es sind kaum mehr als Tiere.«

»Ist euch aufgefallen, wie groß ihre Köpfe sind?« fragte Mumm. »Sie bestehen fast nur aus Fels. Das Gehirn ist lächerlich winzig.«

»Und dann die Moral«, meinte der Herzog von Eorle.

Zustimmendes Murmeln erhob sich. Mumm griff nach seinem Glas.

»Willikins, ich glaube nicht, daß Hauptmann Mumm Wein möchte«, sagte Lady Käsedick.

»Falsch!« rief Mumm fröhlich. »Da wir gerade beim Thema sind… Was ist mit den Zwergen?«

»Ich weiß nicht, ob es sonst jemandem aufgefallen ist…«, begann Lord Eorle. »Aber mir scheint, heute gibt es nicht mehr so viele Hunde wie früher.«

Mumm starrte stumm. Das stimmte. Es trieben sich tatsächlich nicht mehr so viele Hunde in der Stadt herum. Zusammen mit Karotte hatte er einige Zwergentavernen besucht und wußte daher, daß Zwerge tatsächlich Hunde aßen – aber nur, wenn sie keine Ratten bekommen konnten. Und selbst wenn zehntausend Zwerge rund um die Uhr Messer und Gabel schwangen: Das in Ankh-Morpork ansässige Rattenvolk wurde dadurch kaum dezimiert. Dieses Thema sprachen die Zwerge häufig in Briefen an ihre Verwandten daheim an: Kommt alle und bringt den Ketchup mit.

»Habt ihr bemerkt, wie klein ihre Köpfe sind?« brachte Mumm hervor. »Eine sehr geringe kopfliche Kapazität. Das ist meßbar.«

»Und nie sieht man die Frauen der Zwerge«, sagte Lady Omnius. »Ich finde das sehr… verdächtig. Ihr wißt ja, was man über Zwerge munkelt«, fügte sie düster hinzu.

Mumm seufzte. Zwergenfrauen sah man praktisch die ganze Zeit über – sie sahen nur genauso aus wie Zwergenmänner. Gab es tatsächlich jemanden, der das nicht wußte?

»Schlaue kleine Mistkerle«, kommentierte Lady Selachii. »Raffinierte Burschen.«

Mumm schüttelte den Kopf. »Was ich so erstaunlich finde: Wie können Zwerge einerseits dumm sein – und andererseits so schlau und raffiniert?«

Nur der Hauptmann sah den bösen Blick, den ihm Lady Käsedick zuwarf. Lord Eorle drückte seine Zigarre aus.

»Sie kommen einfach hierher und übernehmen alles. Sie schuften selbst dann, wenn ehrliche Leute im Bett liegen sollten. Das ist einfach nicht normal.«

Mumm verglich diese Bemerkung mit der anderen über Arbeit und »auf der faulen Haut liegen«.

»Nun, einer von ihnen schuftet jetzt nicht mehr«, sagte Lady Omnius. »Meine Magd hat mir erzählt, daß man heute morgen einen Zwerg im Fluß gefunden hat. Wahrscheinlich das Opfer eines Stammeskriegs oder so.«

»Na, das ist wenigstens ein Anfang.« Lord Eorle lachte. »Obwohl ein Zwerg mehr oder weniger sicher gar nicht auffällt.«

Mumm lächelte strahlend. Eine Weinflasche stand in unmittelbarer Nähe, trotz Willikins’ taktvoller Versuche, sie zu entfernen. Ihr Hals schien ihn zu bitten, seine Hand darum zu schließen…

Er fühlte einen Blick auf sich ruhen und sah über den Tisch. Ihm gegenüber saß jemand, der ihn aufmerksam beobachtet und dessen letzter Diskussionsbeitrag gelautet hatte: »Würdest du mir bitte das Salz reichen, Hauptmann?« Sein Gesicht wies keine besonderen Merkmale auf, nur der Glanz in seinen Augen verriet amüsierte Gelassenheit. Es war Professor Kreuz. Mumm hatte den unangenehmen Eindruck, daß er seine Gedanken las.

»Samuel!«

Mumms Hand zögerte auf halbem Weg zur Weinflasche. Willikins stand neben ihrer Ladyschaft.

»Ein junger Mann hat an die Tür geklopft und nach dir gefragt«, sagte Lady Käsedick. »Korporal Karotte.«

»Oh, wie aufregend!« platzte Lord Eorle heraus. »Ist er gekommen, um dich zu verhaften? Hahaha.«

»Ha«, antwortete Mumm.

Lord Eorle stieß den neben ihm sitzenden Mann an.

»Vermutlich wurde irgendwo ein Verbrechen begangen«, sagte er.

»Ja«, pflichtete ihm Mumm bei. »Und zwar ganz in der Nähe.«

Man führte Karotte herein. Er hatte respektvoll den Helm abgenommen und ihn unter den Arm geklemmt.

Er sah die versammelten Gäste Ihrer Ladyschaft, befeuchtete sich nervös die Lippen und salutierte. Alle sahen ihn an. Es war schwierig, Karotte keine Beachtung zu schenken, wenn er in einem Zimmer stand. Es gab größere Leute in der Stadt. Er ragte nicht in dem Sinne auf. Aber er wirkte wie ein besonderer Magnet, der nicht Eisen anzog, sondern die allgemeine Aufmerksamkeit. Korporal Karottes Präsenz drängte alles andere in den Hintergrund.

»Rühren, Korporal«, sagte Mumm. »Was liegt an?« Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, daß Karotte mit Metaphern und gewissen umgangssprachlichen Ausdrücken Probleme hatte. »Ich meine: Aus welchem Grund bist du hier?«

»Ich möchte dir etwas zeigen, Hauptmann. Ich glaube, es stammt von der Assass…«

»Wir besprechen die Angelegenheiten besser draußen«, warf Mumm hastig ein. Professor Kreuz zuckte nicht einmal mit der Wimper.

Lord Eorle hob den Kopf. »Nun, ich bin beeindruckt. Bisher habe ich euch Wächter nicht für besonders tüchtig gehalten, aber jetzt sehe ich, daß ihr dauernd im Dienst seid. Ihr haltet ständig nach verbrecherischen Seelen Ausschau, wie?«

»Ja«, erwiderte Mumm. »Und manchmal braucht man gar nicht lange zu suchen.«

Die kühlere Luft im rustikalen Flur empfand er als große Erleichterung. Er lehnte sich an die Wand und las, was auf dem Stück Pappe geschrieben stand.

»›Gfähr‹?«

»Du hast doch etwas auf dem Hof gesehen…«, begann Karotte.

»Was soll das bedeuten?«

»Vielleicht gab es bei den Assassinen etwas Gefährliches«, spekulierte Karotte. »Es würde mich nicht wundern. Ich meine, immerhin ist es die Assassinengilde. Möglicherweise haben sie irgend etwas mit diesem Hinweis markiert: ›Nicht berühren – gefährlich‹. Solche Schilder hängen manchmal in Museen.«

»Nein, das kann ich mir kaum vorst… Was weißt du von Museen?«

»Oh, gelegentlich besuche ich welche an meinem freien Tag«, sagte Karotte. »Die in der Universität. Und einmal hat mir Lord Vetinari erlaubt, mich im Palast umzusehen. Und die Ausstellungsräume der Gilden darf ich betreten, wenn ich freundlich darum bitte. Und dann das Zwergenmuseum in der Rauhreifstraße…«

»Ein Zwergenmuseum?« wiederholte Mumm erstaunt. Er war mindestens tausendmal durch die Rauhreifstraße gegangen, ohne so etwas zu bemerken.

»Ja, Hauptmann. Unweit der Kreiselgasse.«

»Ach? Und was kann man dort bewundern?«

»Viele interessante Beispiele von Zwergenbrot, Hauptmann.«

Mumm dachte einige Sekunden darüber nach. »Das ist derzeit nicht wichtig«, entschied er schließlich. »Ich glaube, dies hier ist falsch geschrieben.«

»Ich weiß nicht…« Karotte warf einen Blick auf die Pappe. »Da steht ›Gfähr‹, und zwar genau richtig geschrieben.«

»Ich meine, normalerweise schreibt man das Wort anders.«

Mumm drehte die Pappe hin und her.

»Nur ein Narr käme auf den Gedanken, bei der Assassinengilde einzubrechen«, sagte er.

»Ja, Hauptmann.«

Der Zorn in Mumm löste sich immer mehr auf und wich… nein, nicht Aufregung. Er suchte nach einem besseren Wort, und kurze Zeit später fiel es ihm ein: Sinn. Er erkannte jetzt wieder einen Sinn. Er wußte noch immer nicht, worum es ging, aber es war in Reichweite. Wenn er die Hand danach ausstreckte…

»Samuel Mumm, was geht hier vor?«

Lady Käsedick schloß die Tür des Speisesaals.

»Ich habe dich beobachtet«, sagte sie. »Du bist sehr unhöflich gewesen, Sam.«

»Ich habe versucht, freundlich zu sein.«

»Lord Eorle ist ein alter Freund.«

»Tatsächlich?«

»Nun, ich kenne ihn schon seit langer Zeit. Und eigentlich kann ich ihn nicht ausstehen. Aber du hast ihn ziemlich albern und dumm aussehen lassen.«

»Er hat sich selbst lächerlich gemacht. Ich bin ihm nur dabei behilflich gewesen.«

»Ich habe von dir unhöfliche Bemerkungen über Zwerge und Trolle gehört.«

»Das ist etwas anderes. Dazu bin ich berechtigt. Aber dieser Idiot würde einen Troll nicht einmal dann erkennen, wenn er diesem unter die Füße gerät.«

»Oh, er müßte eigentlich einen Troll erkennen, der über ihn hinwegmarschiert«, meinte Karotte. »Einige Trolle wiegen bis zu…«

»Was ist überhaupt so wichtig?« fragte Lady Käsedick.

»Wir… suchen nach dem Mörder von Chubby«, antwortete Mumm.

Sofort hellte sich Lady Käsedicks Gesichtausdruck auf.

»Das ist natürlich etwas anderes. Diese Leute sollte man öffentlich auspeitschen.«

Warum habe ich das gesagt? überlegte Mumm. Vielleicht deshalb, weil es stimmt? Das… Gfähr… verschwindet, und kurz darauf stirbt ein Zwerg an einem ziemlich großen Loch in der Brust. Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Man muß nur die Verbindung finden…

»Begleitest du mich zu Hammerhocks Werkstatt, Karotte?«

»Ja, Hauptmann. Warum?«

»Ich möchte mich dort umsehen. Und diesmal in Begleitung eines Zwerges.«

Und damit nicht genug, fügte er in Gedanken hinzu. Mein Begleiter ist Korporal Karotte. Und den finden alle sympathisch.

 

Mumm lauschte stumm dem für ihn unverständlichen Gespräch auf zwergisch. Karotte schien sich allmählich durchzusetzen, aber es war knapp. Der Clan gab nicht etwa nach, weil er Vernunft annahm oder sich dem Gesetz beugte, sondern weil Karotte um einen Gefallen bat.

Schließlich wandte sich der Korporal halb um. Er saß auf einem Zwergenstuhl, was bedeutete, daß seine Knie den Kopf rahmten.

»Weißt du, die Werkstatt eines Zwergs ist sehr wichtig.«

»Ja«, sagte Mumm. »Ich verstehe.«

»Und… äh… du bist ein Großer.«

»Wie bitte?«

»Ein Großer. Du bist größer als ein Zwerg.«

»Oh.«

»Das Innere einer Zwergenwerkstatt ist wie… wie das Innere seiner Kleidung, wenn du verstehst, was ich meine. Die Zwerge hier… sie haben gesagt, daß du dich in der Werkstatt umsehen darfst, solange ich bei dir bin. Aber du sollst nichts anrühren. Sie sind nicht sehr glücklich darüber.«

Ein Zwerg – vielleicht Frau Hammerhock – holte ein Schlüsselbund hervor.

»Ich bin mit Zwergen immer gut zurechtgekommen«, sagte Mumm.

»Sie sind alles andere als begeistert, Hauptmann. Ähm. Sie glauben, wir bringen nichts zustande.«

»Wir geben uns alle Mühe!«

»Vielleicht hätte ich mich etwas klarer ausdrücken sollen. Sie halten uns nicht etwa für unfähig oder so. Derartige Annahmen liegen ihnen fern. Sie bezweifeln nur, daß unsere Ermittlungen Ergebnisse erzielen dürfen.«

 

»Au!«

»Tut mir leid, Hauptmann«, sagte Karotte, der wie ein umgedrehtes L ging. »Nach dir. Und stoß nicht mit dem Kopf an…«

»Au!«

»Du solltest dich besser setzen und es mir überlassen, mich hier umzusehen.«

Die Werkstatt war lang und niedrig und hatte am gegenüberliegenden Ende eine Tür. Eine große Werkbank stand unter einem Oberlicht… Hinzu kamen eine kleine Schmiede, ein Werkzeuggestell… und ein Loch.

Etwa einen halben Meter über dem Boden hatte sich ein Putzbrocken aus der Wand gelöst, und die Steine darunter waren gesplittert. Risse gingen wie Strahlen von dem Loch aus.

Mumm rieb sich den Nasenrücken. Er hatte heute keine Zeit gefunden, auszuruhen und zu schlafen. Das war ein weiteres seiner zukünftigen Probleme: Er mußte lernen, im Dunkeln zu schlafen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letztenmal des Nachts unter die Bettdecke gekrochen war.

Er schnupperte.

»Hier riecht’s nach Feuerwerkskörpern«, stellte er fest.

»Vielleicht liegt das an der Schmiede«, sagte Karotte. »Außerdem haben Trolle und Zwerge überall in der Stadt mit Böllern herumgespielt.«

Mumm nickte.

»Na schön«, brummte er. »Was sehen wir hier?«

»Jemand hat ziemlich fest an die Wand geklopft«, erwiderte Karotte.

»Das könnte zu jedem beliebigen Zeitpunkt geschehen sein«, meinte Mumm.

»Nein, Hauptmann. Der Putz liegt noch auf dem Boden, und Zwerge halten ihre Werkstätten immer sauber.«

»Tatsächlich?«

Mumm bemerkte einige Waffen auf der Werkbank, die meisten von ihnen erst halb fertiggestellt. Er griff nach einer Armbrust.

»Herr Hammerhock hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Offenbar kannte er sich gut mit Mechanismen und so aus.«

»Er genoß einen hervorragenden Ruf«, sagte Karotte. Vorsichtig betastete er die anderen Gegenstände auf der Werkbank. »Er galt als sehr geschickt. In seiner Freizeit konstruierte er Spieldosen. Er konnte einer mechanischen Herausforderung nie widerstehen. Äh. Wonach suchen wir hier eigentlich, Hauptmann?«

»Keine Ahnung. He, das ist wirklich beeindruckend…«

Mumm deutete auf eine Kriegsaxt, die so schwer war, daß er sie kaum heben konnte. Komplexe Muster schmückten die Klinge. Dieses Objekt war ganz offensichtlich das Ergebnis mehrerer Wochen Arbeit.

»Scheint nicht gerade für den alltäglichen Einsatz bestimmt zu sein.«

»O nein«, sagte Karotte. »Das ist eine Grabwaffe.«

»Damit kann man jemanden ohne Zweifel ins Grab bringen.«

»Ich meine, sie dient als Grabbeilage. Jeder Zwerg wird mit einer Waffe bestattet. Sie soll ihn in das… Leben nach dem Leben begleiten.«

»Diese Axt ist ein Kunstwerk! Ihre Schneide – aargh.« Mumm saugte an seinem Finger. »Rasiermesserscharf, die Schneide.«

Karotte wirkte überrascht. »Natürlich. Für den toten Zwerg wäre es kaum von Vorteil, wenn er ihnen mit einer schlechten Waffe gegenübertreten muß.«

»Wem gegenübertreten?«

»Irgendwelchen Halunken, denen er bei seinen Streifzügen im Jenseits begegnet«, entgegnete Karotte ein wenig unbeholfen.

»Ah.« Mumm zögerte. Dieses Thema bereitete ihm ein gewisses Unbehagen.

»Es ist eine uralte Tradition«, erklärte Karotte.

»Ich dachte, Zwerge glauben nicht an Teufel und Dämonen und so.«

»Stimmt. Aber wir sind nicht sicher, ob… sie davon wissen.«

»Oh.«

Mumm legte die Axt beiseite und griff nach einem etwa zwanzig Zentimeter großen Ritter. Ein Schlüssel steckte in seinem Rücken. Er drehte ihn – und ließ die Figur fast fallen, als sich ihre Beine plötzlich bewegten. Mumm stellte den kleinen Ritter auf den Boden, und der marschierte steifbeinig los und schwang dabei das Schwert.

»Bewegt sich wie Colon, nicht wahr?« bemerkte der Hauptmann. »Ein Aufziehmechanismus!«

»Das ist zur Zeit groß im Kommen«, sagte Karotte. »Mit solchen Dingen kannte sich Herr Hammerhock aus.«

Mumm nickte. »Nun, wir suchen etwas, das sich nicht an diesem Ort befinden sollte. Beziehungsweise nach etwas, das zwar hier sein sollte, aber durch Abwesenheit auffällt. Fehlt irgend etwas?«

»Schwer zu sagen. Es ist nicht hier.«

»Was?«

»Das Fehlende«, antwortete Karotte pflichtbewußt.

»Ich meine etwas, das sich nicht hier befindet, obgleich man es an einem solchen Ort erwartet«, sagte Mumm geduldig.

»Herr Hammerhock hat – hatte – die üblichen Werkzeuge. Erstklassige Qualität. Eigentlich schade.«

»Was ist schade?«

»Sie werden alle eingeschmolzen.«

Mumm starrte auf das Gestell mit den Hämmern und Feilen.

»Warum denn? Kann sie nicht jemand anders weiterverwenden?«

»Man soll die Werkzeuge eines anderen Zwergs benutzen?« Karottes Miene zeigte deutlichen Abscheu – ebensogut hätte man ihm anbieten können, Korporal Nobbs Unterwäsche zu tragen. »O nein, ausgeschlossen. Sie sind… ein Teil von ihm. Ich meine, wenn sie jemand anders verwendet, nachdem er jahrelang damit gearbeitet hat… bäh!«

»Im Ernst?«

Der mechanische Soldat marschierte unter die Werkbank.

»Es wäre falsch«, sagte Karotte. »Falsch und… eklig.«

»Oh.« Mumm richtete sich auf.

»Hauptmann…«

»Au!«

»… stoß nicht mit dem Kopf an. Tut mir leid.«

Mumm rieb sich die schmerzende Stelle, mit der anderen Hand befühlte er das Loch in der Wand.

»Da… steckt was drin«, sagte er. »Gib mir einen Meißel.«

Stille folgte.

»Ich brauche einen Meißel. Und wenn du dich dann besser fühlst: Wir versuchen herauszufinden, wer Herrn Hammerhock umgebracht hat. Nun?«

Widerstrebend nahm Karotte einen Gegenstand aus dem Werkzeuggestell.

»Das ist Herrn Hammerhocks Meißel«, sagte er vorwurfsvoll.

»Korporal Karotte, würdest du bitte für ein paar Sekunden aufhören, ein Zwerg zu sein? Du bist ein Wächter! Gib mir jetzt den verdammten Meißel! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit! Danke!«

Mumm bohrte in dem Loch. Kurze Zeit später fiel ihm eine kleine, unregelmäßig geformte Scheibe aus Blei in die Hand.

»Vielleicht ein Katapult?« vermutete Karotte.

»Dafür ist hier drin nicht genug Platz«, sagte Mumm. »Wie konnte sich das Ding nur so tief in die Wand hineinbohren?«

Er steckte die Scheibe in die Tasche.

»Ich schätze, das wär’s«, sagte er und richtete sich wieder auf. »Wir sollten… Au! Bitte hol den kleinen Ritter unter der Werkbank hervor. Ich möchte nicht, daß man uns später vorwirft, wir hätten hier Unordnung geschaffen.«

Karotte streckte den Arm unter die Werkbank. Es raschelte.

»Hier liegt Papier, Hauptmann.«

Karottes Arm kam wieder zum Vorschein, seine Hand hielt ein vergilbtes Blatt. Mumm betrachtete es.

»Seltsam«, sagte er schließlich. »Es ist kein Zwergisch, soviel steht fest. Aber die Symbole… Ich habe sie schon einmal gesehen. Oder etwas Ähnliches.« Er reichte das Blatt Karotte. »Was kannst du damit anfangen?«

Der Korporal runzelte die Stirn. »Nun, ich könnte das Blatt zu einem Hut falten. Oder zu einem Schiffchen. Oder zu einer hübschen Blume…«

»Ich meine die Symbole. Ergeben die Zeichen für dich einen Sinn?«

»Nein, eigentlich nicht, Hauptmann. Aber sie erscheinen mir vertraut. Vielleicht sind es… alchimistische Schriftzeichen?«

»O nein!« Mumm schlug die Hände vors Gesicht. »Wenn die verdammten Alchimisten was damit zu tun haben… O nein! Nicht die irren Chemikalienrührer! Assassinen kann ich gerade noch ertragen, aber diese Narren… Nein! Bitte! Wie spät ist es?«

Karotte sah auf die Sanduhr an seinem Gürtel. »Etwa halb zwölf, Hauptmann.«

»Höchste Zeit für mich, an der Matratze zu horchen. Sollen die alchimistischen Idioten bis morgen warten. Übrigens könntest du mich mit dem Hinweis glücklich machen, daß dieses Blatt Hammerhock gehörte.«

»Das bezweifle ich, Hauptmann.«

»Ich auch. Komm. Wir nehmen die Hintertür.«

Karotte zwängte sich hindurch.

»Gib auf deinen Kopf acht, Hauptmann.«

Mumm verharrte in geduckter Stellung und sah zum Türrahmen.

»Nun, Korporal«, sagte er nach einer Weile, »ein Troll kommt als Täter nicht in Frage. Aus zwei Gründen: Erstens könnte ein Troll diese Tür nicht passieren; sie ist für Zwerge bestimmt.«

»Und der andere Grund?«

Mumm löste etwas von einem Splitter am niedrigen Türsturz.

»Zweitens haben Trolle keine Haare.«

Einige lange, rote Strähnen hatten sich an dem Splitter verfangen. Sie konnten nur von jemandem stammen, der größer war als ein Zwerg.

Mumm betrachtete sie. Eigentlich sahen die Strähnen aus wie Zwirn. Aber eine Spur war eine Spur.

Er schlug sie in ein Stück Papier ein, das er sich aus Karottes Notizbuch lieh, und gab das Beweismaterial anschließend dem Korporal.

»Hier. Bewahr das auf.«

Dann traten sie in die Nacht. Ein schmaler, hölzerner Laufsteg führte an den Mauern entlang. Jenseits davon erstreckte sich der Fluß.

Mumm straffte dankbar Schultern und Rücken.

»Die Sache gefällt mir nicht«, sagte er. »Ich fürchte, Unheil bahnt sich an.«

»Wo?« fragte Karotte und sah sich um.

»Ich meine, es geschehen verborgene Dinge«, erklärte Mumm geduldig.

»Ja, Hauptmann.«

»Kehren wir zum Pseudopolisplatz zurück.«

Sie setzten den Weg zur Messingbrücke fort. Sie kamen nur langsam voran, weil Karotte unterwegs alle Passanten grüßte. Hartgesottene Rüpel, die von einem Wächter angesprochen wurden, antworteten meistens mit den Lauten für Symbole, die man in der obersten Reihe der Schreibmaschinentastatur findet. Doch auf Karotte reagierten sie nur mit einem harmlosen Murmeln, wenn er freundlich sagte: »Guten Abend, Quetscher! Heute abend schon jemanden durch die Mangel gedreht?«

Sie hatten die Hälfte der Brücke hinter sich gebracht, als Mumm stehenblieb und sich eine Zigarre zwischen die Lippen schob. Das Streichholz riß er an einem der dekorativen Nilpferde an.

»Karotte?«

»Ja, Hauptmann?«

»Glaubst du, es gibt so etwas wie eine verbrecherische Seele?«

Man konnte förmlich hören, wie Karotte versuchte, den Sinn dieser Frage zu erfassen.

»Meinst du vielleicht… so wie bei Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnapper, Hauptmann?«

»Er ist kein Verbrecher.«

»Hast du mal eine seiner Pasteten probiert?«

»Ja, aber bei ihm gibt es nur geographische Diskrepanzen in der finanziellen Hemisphäre.«

»Wie bitte?«

»Ich meine, er vertritt nur eine andere Ansicht über den Platz von bestimmten Dingen. Zum Beispiel Geld. Er glaubt, es gehöre in seine Tasche. Nein, ich meine…« Mumm schloß die Augen, dachte an Zigarrenrauch, Getränke und lakonische Stimmen. Es gab Leute, die anderer Leute Geld nahmen. Ein klarer Fall von Diebstahl, in Ordnung. Aber es gab auch Leute, die anderen Leuten mit einem leichthin gesagten Wort das Menschliche nahmen. Wie nannte man solche Personen?

Nun, Mumm mochte keine Zwerge und Trolle. Aber er mochte praktisch kaum jemanden. Er hatte fast jeden Tag in der Gesellschaft von Zwergen und Trollen verbracht und sich dadurch das Recht erworben, sie nicht zu mögen. Und irgendwelche dicken Idioten hatten nicht dieses Recht, abfällige Bemerkungen über Zwerge und Trolle zu machen.

Er starrte ins Wasser. Der Ankh gurgelte und saugte an einem Brückenpfeiler direkt unter ihm. Baumstümpfe, Äste und Abfälle bildeten eine kleine Insel, auf der sogar Pilze wuchsen.

Mumm sehnte sich nach einer Flasche von Bärdrückers Feinstem. Die Perspektive auf die Welt änderte sich, durch den Boden eines Glases betrachtet.

Er sah etwas anderes.

Signaturlehre, dachte Mumm. So nannten es die Naturheilkundigen. Die Götter schienen den Pflanzen ein »Benutz-mich«-Schild mitgegeben zu haben. Gewächse eignen sich bestens als Heilmittel für jenen Körperteil, dessen Form sie haben. Zahnwurz für die Zähne, Milzwurz für die… Milz und so weiter. Es gibt sogar einen Pilz namens Phallus impudicus, dachte Mumm. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was damit behandelt wird, aber Nobby ißt gern Pilzomelettes. Entweder ist der Pilz die ideale Medizin für Hände oder…

Mumm seufzte.

»Hol einen Bootshaken, Korporal.«

Karotte sah ebenfalls nach unten.

»Links vom Baumstumpf.«

»O nein!«

»O doch. Hol ihn raus und versuch, ihn zu identifizieren. Schreib anschließend einen Bericht für Feldwebel Colon.«

Es war die Leiche eines Clowns. Karotte kletterte hinunter und räumte den Schutt beiseite, woraufhin der ganze Körper zum Vorschein kam. Wasserfeste Schminke formte ein trauriges Lächeln auf seinem Gesicht.

»Er ist tot!«

»Erstaunlich, nicht wahr?«

Mumm sah auf den grinsenden Leichnam hinab. Keine Ermittlungen anstellen. Die Finger davon lassen. Sollen sich die Assassinen und der blöde Schrulle darum kümmern. So lautete die Anweisung des Patriziers.

»Korporal Karotte?«

»Hauptmann?«

Ich habe dir einen Befehl gegeben…

Na und? Für wen hält mich Vetinari eigentlich? Für eine Art… mechanischen Soldaten, den man aufzieht und der dann in eine ganz bestimmte Richtung läuft?

»Wir werden herausfinden, was sich hier abspielt!«

»Ja, Hauptmann!«

»Was auch immer geschieht: Wir finden es heraus.«

 

Der Ankh dürfte der einzige Fluß im ganzen Multiversum sein, auf dem Ermittler die Umrisse einer Leiche mit Kreide festhalten können.

 

»Lieber Feldw. Colon,

ich hoffe du bisset wohlauf. Das Wetter ist Gut. Dies ist eine Leiche die, wir gestern abend aus dem Fluß geholet haben wir, wissen nicht um wen es sich handelt abgesehen davon dasse er Beano heißt und Mitglied der Narrengilde ist. Man hat ihn sehr geschlagigt auf den Hinterkopf und, er hat eine Zeitlang unter der Brücke gelegen er keinen Hübschen Anblick bietet nein. Hauptmann Mumm meint wir sollten Dinge herausfinden. Er glaubt es, gebet einen Zusammenhang mit der Ermordung fon Herrn Hammerhock. Er möchte das du mit den Narren redigst. Er sagt Und Zwar Sofort. In der Anlage findest du ein Stücke Papier. Hauptmann Mumm beauftragt dich es bei den Alchimisten auszuprobieren…«

 

Feldwebel Colon unterbrach die Lektüre, um alle Alchimisten ausgiebig zu verfluchen.

 

»… denn es ist Rätselhaftiges Beweismaterial. Ich hoffe es, gehet dir wohl. Hochachtungsvoll und mit freundlichen Grüßen, Karotte Eisengießersohn, (Kpl.).«

 

Der Feldwebel kratzte sich am Kopf. Was bedeutete das alles?

Kurz nach dem Frühstück waren zwei ältere Witzbolde von der Narrengilde gekommen, um die Leiche zu holen. Leichen im Fluß… so etwas war nicht ganz und gar ungewöhnlich. Allerdings starben Narren gewöhnlich nicht auf diese Weise. Konnte ein Clown irgend etwas besitzen, das es zu stehlen lohnte? War ein Clown irgendeine Gefahr?

Und was die Alchimisten anging: Colon wollte verdammt sein, wenn er…

Doch er brauchte die Sache gar nicht selbst zu erledigen. Er musterte die Rekruten. Jetzt konnten sie sich endlich mal nützlich machen.

»Knuddel und Detritus – nicht salutieren! –, ich habe einen Auftrag für euch. Geht mit diesem Stück Papier zur Alchimistengilde. Fragt dort einen der Schwachköpfe, was er daraus machen kann.«

»Wo befindet sich die Alchimistengilde, Feldwebel?« erkundigte sich Knuddel.

»In der Straße der Alchimisten«, antwortete Colon. »Zumindest derzeit. An eurer Stelle würde ich mich beeilen.«

 

Die Alchimistengilde lag der Spielergilde genau gegenüber. Meistens jedenfalls. Gelegentlich befand sie sich auch darüber oder darunter. Oder auf allen Seiten, in Form qualmender Trümmer.

Wenn man die Spieler fragte, warum sie in unmittelbarer Nähe einer Gilde wohnten, die alle drei oder vier Monate ihre Laboratorien in die Luft jagte, so antworteten sie: »Hast du nicht das Schild über dem Eingang gelesen?«

Ein Troll und ein Zwerg stapften durch die Straße der Alchimisten. Beabsichtigte Zufälle ließen sie immer wieder gegeneinanderstoßen.

»Wenn du wirklich bist klug so sehr, warum du dann gegeben Papier mir

»Ha! Kannst du’s lesen? Na?«

»Nein, ich das Lesen überlasse dir. So was man nennt De-leh-gieh-ren.«

»Ha! Kannst nicht lesen! Kannst nicht zählen! Dummer Troll!«

»Ich nicht dumm!«

»Ha! Alle wissen, daß Trolle nicht bis vier zählen können!«11

»Rattenfresser!«

»Wie viele Finger zeige ich hier? Sag’s mir, Herr Ich-bin-ja-so-klug-Steine-im-Kopf!«

»Viele«, schätzte Detritus.

»Har-har, nein, fünf. Am Zahltag erwarten dich große Schwierigkeiten. Feldwebel Colon denkt bestimmt: Der blöde Troll weiß ja gar nicht, wie viele Dollar ich ihm gebe! Ha! Woher wußtest du überhaupt, daß die Wache Rekruten suchte? Hat dir jemand das Plakat vorgelesen?«

»Und du? Dich jemand hat hochgehoben, damit du lesen konntest Plakat?«

Sie prallten gegen die Tür der Alchimistengilde.

»Ich anklopfe. Das meine Aufgabe!«

»Nein, ich klopfe an.«

Als Herr Sendivoge, Sekretär der Gilde, die Tür öffnete, sah er einen Zwerg, der am Klopfer hing und von einem Troll hin und her geschwungen wurde. Er rückte seinen Sturzhelm zurecht.

»Ja?« fragte er.

Knuddel ließ los.

Detritus runzelte seine sehr massive Stirn.

»Äh. Was du machen könntest daraus, du Schwachkopf?« fragte er.

Sendivoge starrte den Troll groß an und blickte dann auf den Zettel. Knuddel versuchte unterdessen, hinter den Troll zu gelangen, der den Eingang fast vollständig blockierte.

»Warum hast du ihn Schwachkopf genannt?«

»Feldwebel Colon gesagt haben…«

»Nun, ich könnte einen Hut daraus falten«, sagte Sendivoge. »Oder eine Figurenkette daraus schneiden, wenn ich eine Schere hätte…«

»Mein… äh… Kollege meinte folgendes«, begann Knuddel. »Kannst du uns bei den Ermittlungen helfen und die seltsamen Symbole auf diesem angeblichen Stück Papier entziffern? – Au, das tat weh!«

Sendivoge musterte die beiden Besucher.

»Seid ihr Wächter?« fragte er.

»Ich bin Obergefreiter Knuddel.« Knuddel deutete nach oben. »Und das ist Obergefreiter Detritus, der diesen Rang eigentlich gar… nicht salutier… Oh.«

Nach einem dumpfen Pochen kippte Detritus zur Seite.

»Gehört wohl zum Selbstmorddezernat, wie?« erkundigte sich der Alchimist.

»Er kommt gleich wieder zu sich«, sagte Knuddel. »Er kriegt’s einfach nicht richtig hin zu salutieren. Du weißt ja, wie Trolle sind.«

Sendivoge zuckte mit den Schultern und sah wieder auf den Zettel.

»Die Zeichen wirken… vertraut«, sagte er. »Hab’ sie schon mal irgendwo gesehen. Du bist ein Zwerg, nicht wahr?«

»Es ist die Nase, stimmt’s?« erwiderte Knuddel. »Sie verrät mich immer.«

»Nun, wir Alchimisten sind ständig bemüht, der Gemeinschaft einen Dienst zu erweisen«, meinte Sendivoge. »Komm herein.«

Knuddels mit stählernen Spitzen ausgestatteten Stiefel traten Detritus ins Hier und Heute. Der Troll folgte ihnen und schwankte dabei wie ein Baum im Sturm.

»Warum trägst du einen Sturzhelm?« fragte Knuddel, als sie durch den Flur schritten. Überall um sie herum hämmerte es – das Gildenhaus wurde praktisch permanent wieder aufgebaut.

Sendivoge rollte mit den Augen.

»Wegen der Kugeln«, entgegnete er. »Billardkugeln, um genau zu sein.«

»Ich kannte mal jemanden, der so unbeherrscht spielte«, kommentierte Knuddel.

»O nein. Herr Silberfisch spielt recht gut. Genau das ist das Problem.«

Knuddel sah erneut zum Sturzhelm hoch.

»Es liegt am Elfenbein, verstehst du?«

»Ah«, sagte Knuddel, der nicht verstand. »Elefanten?«

»Elfenbein ohne Elefanten. Umgewandeltes Elfenbein. Sehr vielversprechend. Könnte ein großer kommerzieller Erfolg werden.«

»Ich dachte, ihr arbeitet mit… äh… an Gold.«

»O ja«, sagte Sendivoge. »Mit Gold kennt sich dein Volk gut aus, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Knuddel und dachte über die tiefere Bedeutung der beiden Worte »dein Volk« nach.

»Das mit dem Gold ist schwieriger, als wir zunächst annahmen«, meinte Sendivoge.

»Wie lange versucht ihr es schon?«

»Seit dreihundert Jahren.«

»Das ist ziemlich lange.«

»Aber an dem Elfenbein arbeiten wir erst seit einer Woche, und es zeichnen sich bereits Erfolge ab!« versicherte der Alchimist rasch. »Eigentlich müssen wir nur noch einige unerwünschte Nebenwirkungen ausmerzen.«

Er öffnete eine Tür.

Dahinter erstreckte sich ein großer Raum, ausgestattet mit den üblichen schlecht gelüfteten Schmelzöfen, vielen blubbernden Tiegeln und einem ausgestopften Alligator. Dinge schwammen in Gläsern. Die Luft roch nach begrenzter Lebenserwartung.

Einige recht komplex anmutende Einrichtungsgegenstände waren beiseite gerückt worden, um Platz für einen Billardtisch zu schaffen. Sechs Alchimisten standen darum herum, und jeder von ihnen schien bereit für einen schnellen Sprint zu sein.

»Das ist der dritte in dieser Woche«, sagte Sendivoge kummervoll. Er nickte zu einer Gestalt hinüber, die sich über ein Queue beugte.

»Äh, Herr Silberfisch…«, begann er.

»Ruhe!« verkündete der Chefalchimist. »Es geht los!« Er spähte zur weißen Kugel.

Sendivoge blickte zur Spielstandanzeige.

»Eindundzwanzig Punkte«, stellte er fest. »Meine Güte. Vielleicht fügen wir der Nitrozellulose ja jetzt die richtige Menge Kampfer hinzu…«

Es klickte. Die Kugel rollte und prallte von der Bande ab…

… und beschleunigte. Weißer Dampf entfuhr ihr, als sie dem Haufen aus unschuldigen roten Kugeln entgegenraste.

Silberfisch schüttelte den Kopf.

»Instabil«, sagte er. »Alle Mann in Deckung

Die Anwesenden duckten sich, mit Ausnahme der beiden Wächter. Einer von ihnen brauchte sich nicht zu ducken, weil sein Abstand zum Boden ohnehin gering war, der andere hinkte (beziehungsweise wankte) den Ereignissen einige Minuten hinterher.

Die schwarze Kugel hob ab, sauste auf einer Flamme an Detritus’ Gesicht vorbei, hinterließ dabei eine schwarze Rauchwolke und zertrümmerte ein Fenster. Die grüne Kugel verharrte an ihrem Platz, drehte sich jedoch immer schneller um die eigene Achse. Die übrigen Kugeln rasten hin und her, explodierten oder knallten an die Wände.

Eine rote Kugel traf Detritus zwischen den Augen, sprang wieder auf den Tisch, verschwand dort im mittleren Loch und detonierte.

Einige Sekunden lang war es still. Dann hustete jemand, und Silberfisch erschien in ölig wirkendem Rauch. Mit zitternder Hand hob er den Billardstock – beziehungsweise die qualmenden Reste davon – und schob die Spielstandanzeige ein Stück weiter.

»Eins«, sagte er. »Na schön. Zurück zum Schmelztiegel. Jemand soll einen neuen Billardtisch bestellen…«

»Entschuldigung…« Knuddel klopfte dem Alchimisten ans Knie.

»Wer ist da?«

»Hier unten!«

Silberfisch senkte den Kopf.

»Oh. Bist du ein Zwerg?«

Knuddel versuchte, ruhig zu bleiben.

»Bist du ein Riese?« fragte er.

»Ich? Natürlich nicht!«

»Ah. Dann muß ich wohl ein Zwerg sein«, sagte Knuddel. »Und das hinter mir ist ein Troll.« Detritus versuchte, Haltung anzunehmen.

»Wir sind gekommen, um zu erfahren, was auf diesem Zettel geschrieben steht«, erklärte Knuddel.

»Ja«, fügte Detritus hinzu.

Silberfisch warf einen Blick auf das Papier.

»Oh«, sagte er sofort. »Das stammt offenbar von Leonard. Nun?«

»Leonard?« wiederholte Knuddel. Er sah zu Detritus. »Schreib alles auf.«

»Leonard da Quirm«, meinte der Alchimist.

Knuddels Verwirrung löste sich dadurch nicht auf.

»Nie von ihm gehört?« fragte Silberfisch.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Ich dachte, alle kennen Leonard da Quirm. Ein Spinner. Und ein Genie.«

»War er ein Alchimist?«

Aufschreiben, aufschreiben… Detritus sah sich nach einem rußigen Holzstück und einer geeigneten Wand um.

»Leonard? Nein. Er gehörte zu keiner Gilde. Vielleicht gehörte er auch zu allen. Er kam ziemlich viel herum. Er bastelte und pfuschte, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Nein, ich verstehe leider nicht.«

»Malte ein bißchen, baute Mechanismen und so. Beschäftigte sich gewissermaßen mit allen Dingen.«

Genügen auch würde Hammer und Meißel, dachte Detritus.

»Dies hier ist eine Formel für…« Silberfisch zögerte. »Nun, ich verrate damit kein Geheimnis. Es ist die Formel für etwas, das wir Pulver Nummer eins nennen. Schwefel, Salpeter und Holzkohle. Man benutzt es für Feuerwerkskörper. Jeder Narr könnte das Zeug mischen. Nur auf diesem Zettel sehen die Zeichen komisch aus, weil alles rückwärts geschrieben ist.«

»Das klingt wichtig«, flüsterte Knuddel dem Troll zu.

»So seltsam ist das auch wieder nicht«, sagte Silberfisch. »Zumindest nicht für Leonard. Er machte sich einen Spaß daraus, rückwärts zu schreiben. Ausgeklinkt, der Bursche. Und gleichzeitig clever. Habt ihr sein Porträt der Mona Ogg gesehen?«

»Ich glaube nicht.«

Silberfisch reichte den Zettel Detritus, der darauf hinabschielte, als wüßte er ganz genau, was dort geschrieben stand. Vielleicht ich kann benutzen das hier zum Schreiben, dachte er.

»Ihr Lächeln folgt einem durchs ganze Zimmer. Faszinierend. Manche Leute behaupten sogar, daß es sie bis nach draußen begleitete.«

»Ich glaube, wir sollten mit Herrn da Quirm reden«, sagte Knuddel.

»Ihr könnt durchaus mit ihm reden, oder es zumindest versuchen«, erwiderte Silberfisch. »Ich bezweifle allerdings, daß er imstande ist, euch zuzuhören. Er verschwand vor einigen Jahren.«

… und wenn ich dann entdecken etwas, mit dem ich kann schreiben, muß ich nur noch finden jemand, der mir beibringt das Schreiben, dachte Detritus.

»Er verschwand?« fragte Knuddel. »Wie?«

Silberfisch beugte sich ein wenig hinunter. »Wir glauben, daß er eine Möglichkeit fand, sich unsichtbar zu machen.«

»Im Ernst?«

»Weil ihn niemand mehr gesehen hat«, fügte Silberfisch in verschwörerischem Ton hinzu.

»Oh«, sagte Knuddel. »Nun, mit solchen Dingen kenne ich mich nicht besonders gut aus, aber wäre es nicht möglich, daß Herr da Quirm… einen Ort aufgesucht hat, wo ihn niemand sieht?«

»Das wäre untypisch für den alten Leonard. Er würde nicht einfach so weggehen. Aber er wäre imstande, plötzlich zu verschwinden.«

»Ah.«

»Er war nicht ganz dicht, wenn du verstehst, was ich meine. Hatte zuviel Gehirn im Kopf. Kam auf die sonderbarsten Gedanken. Einmal hatte er die Idee, Zitronen Blitze zu entlocken! He, Sendivoge, erinnerst du dich an Leonard und seine Blitz-Zitronen?«

Sendivoge tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Und ob. ›Wenn man Kupfer- und Zinkstangen in eine Zitrone steckt, bekommt man bald zahme Blitze.‹ Der Kerl war ein Idiot.«

»Nein, einen Idioten kann man ihn nicht nennen.« Silberfisch griff nach einer Billardkugel, die das Chaos wie durch ein Wunder überstanden hatte. »Seine Sinne waren nur so verdammt scharf, daß er sich dauernd daran schnitt. Blitze aus Zitronen! Welchen Sinn hat das? Und dann die ›Stimmen-am-Himmel-Maschine‹. Ich habe ihm gesagt: Leonard, wozu sind die Zauberer da, hm? Für solche Dinge haben wir die normale Magie. Blitz-Zitronen? Demnächst stehen wohl Leute mit Flügeln auf dem Programm. Und wißt ihr, was er geantwortet hat? Könnt ihr’s euch vorstellen? Er antwortete: Komisch, daß du es erwähnst; ich habe erste Zeichnungen für ein entsprechendes Projekt angefertigt… Armer Irrer.«

Selbst Knuddel stimmte in das Gelächter ein.

»Habt ihr es versucht?« fragte er anschließend.

»Was?« erwiderte Silberfisch.

»Har, har, har«, grollte Detritus, dessen Synchronisation auch diesmal nicht stimmte.

»Metallstäbe in Zitronen zu stecken.«

»Sei kein Narr.«

»Was dies hier sein?« fragte Detritus und hob den Zettel.

Sie betrachteten die seltsamen Zeichen.

»Die Symbole sind gar keine Symbole«, erklärte Silberfisch. »Leonard hatte eine Angewohnheit… Er kritzelte dauernd herum. Malte immer was an den Rand und so. Kritzel, kritzel, kritzel. Ich hab’ ihm mal gesagt: He, man sollte dich eigentlich Herr Kritzel nennen.«

»Ich dachte, es sei was Alchimistisches«, sagte Knuddel. »Sieht aus wie eine Armbrust ohne Sehne. Und dann das Wort ›Rhäfgsad‹. Was mag es bedeuten?«

»Keine Ahnung. Klingt barbarisch. Wenn das alles ist, Wächter… Wir haben hier wichtige Forschungsarbeiten zu leisten.« Silberfisch warf die Billardkugel aus umgewandeltem Elfenbein in die Luft und fing sie wieder auf. »Hier sind nicht alle solche Tagträumer wie der arme alte Leonard.«

»Rhäfgsad«, murmelte Knuddel. Er drehte den Zettel hin und her. »D-a-s-g-f-ä-h-r…«

Die Kugel verfehlte Silberfischs Hand, und Knuddel gelang es gerade noch rechtzeitig, hinter Detritus zu springen.

 

»Ich bin schon mal hiergewesen«, sagte Feldwebel Colon, als er sich zusammen mit Nobby dem Eingang der Narrengilde näherte. »Bleib dicht neben der Wand, wenn ich den Klopfer betätige, in Ordnung?« Das Ding war geformt wie zwei künstliche Brüste – amüsant fanden so etwas vor allem Rugbyspieler und andere Leute, deren Sinn für Humor man operativ entfernt hatte. Colon klopfte und sprang dann in Sicherheit.

Etwas pfiff und heulte. Es folgte lautes Hupen und eine klimpernde Melodie, die einmal sehr lustig gewesen sein mußte. Im Anschluß daran schwang über dem Klopfer eine Klappe auf, und am Ende eines hölzernen Armes glitt eine Sahnetorte nach draußen. Der Arm drehte sich, und die Torte klatschte neben Colons Füßen auf den Boden.

»Es ist traurig, nicht wahr?« bemerkte Nobby.

Die Tür öffnete sich etwa zwanzig Zentimeter weit. Ein kleiner Clown sah zum Feldwebel empor.

»Hallo, hallo, hallo«, sagte er. »Warum hat der Dicke an die Tür geklopft?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Colon automatisch. »Warum hat der Dicke an die Tür geklopft?«

Sie starrten sich an, in der Pointe verheddert.

»Das habe ich dich gefragt«, sagte der Clown vorwurfsvoll. Seine Stimme klang deprimiert und hoffnungslos.

Feldwebel Colon beschloß, in der Sphäre der Vernunft zu bleiben.

»Ich bin Feldwebel Colon von der Nachtwache«, sagte er. »Das hier ist Korporal Nobbs. Wir sind hier, um mit jemandem über den Mann zu sprechen, der… im Fluß gefunden wurde.«

»Oh«, sagte der Clown. »Ja. Der arme Bruder Beano. Bitte kommt herein.«

Nobby wollte die Tür ganz aufdrücken, doch Colon hinderte ihn daran und deutete nach oben.

»Für gewöhnlich lauert ein Eimer mit weißer Tünche über der Tür«, sagte er.

»Tatsächlich?« entgegnete der Clown. Er war klein und trug geradezu riesige Stiefel, die ihn wie ein großes L aussehen ließen. Auf seinem Gesicht klebte fleischfarbene Schminke, und über den Brauen bewirkten falsche Falten eine übertrieben gerunzelte Stirn. Sein rotgefärbtes Haar schien von einigen alten Mops zu stammen. Dick war der Clown nicht, aber Reifen in der weiten Hose sollten ihn auf eine humorvolle Art übergewichtig erscheinen lassen. Durch einen Hosenträger aus besonders elastischem Gummi hüpfte die Hose bei jedem Schritt auf und ab. Dies alles formte den Gesamteindruck eines bemitleidenswerten Hohlkopfes.

»Ja, tatsächlich«, sagte Colon.

»Bist du sicher?«

»Und ob.«

»Tut mir leid.« Der Clown seufzte. »Ich weiß, daß es dumm ist, aber die Tradition verlangt es so. Wartet einen Augenblick.«

Eine Trittleiter wurde in Position gebracht, anschließend ertönte ein von Flüchen untermaltes Klappern.

»Jetzt könnt ihr hereinkommen.«

Der Clown führte die beiden Wächter durchs Pförtnerhaus. Alles blieb still, abgesehen vom rhythmischen Klatschen der großen Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster. Nach einer Weile schien der junge Narr eine Idee zu haben.

»Ich weiß, es ist sehr unwahrscheinlich, aber möchte vielleicht jemand von euch an meinem Knopfloch schnuppern?«

»Nein.«

»Nein.«

»Dachte ich mir.« Der Clown seufzte erneut. »Es ist nicht leicht, wißt ihr. Das Leben eines Clowns, meine ich. Derzeit bin ich mit Pförtnerdienst bestraft.«

»Ach?«

»Ich hab’ immer wieder vergessen, ob man draußen weinen und drinnen lachen muß oder umgekehrt. Ich bring’s dauernd durcheinander.«

»Was Beano angeht…«, begann Colon.

»Wir bestatten ihn gerade«, sagte der kleine Clown. »Deshalb hängt meine Hose auf Halbmast.«

Sie traten wieder ins Tageslicht.

Clowns und Narren standen auf dem Innenhof. Glöckchen läuteten. Sonnenschein schimmerte auf roten Nasen, funkelte gelegentlich in einem nervösen Wasserstrahl, der aus einem falschen Knopfloch spritzte.

Der Clown geleitete die Wächter zu einigen Narren.

»Herr Weißgesicht empfängt euch bestimmt, sobald die Zeremonie zu Ende ist«, sagte er. »Ich heiße übrigens Boffo.« Hoffnungsvoll streckte er die Hand aus.

»Schüttel sie nicht«, warnte Colon.

Boffo war sehr enttäuscht.

Mit Musik kam eine Prozession von Gildenmitgliedern aus der nahen Kapelle. An der Spitze watschelte ein Clown mit einer Urne.

»Das ist alles sehr ergreifend«, behauptete Boffo.

Auf einem Podium an der gegenüberliegenden Seite des Platzes stand ein besonders dicker Clown. Seine Aufmachung bestand aus der obligatorischen weiten Hose, enormen Hosenträgern, einer Fliege, die sich im Wind drehte, und einem Zylinder. Auf sein Gesicht war eine Kummermiene geschminkt. In der einen Hand hielt er einen Stock, an dem eine Blase befestigt war.

Der Clown mit der Urne erreichte das Podium, stieg die Treppe hoch und wartete.

Die Musik verklang.

Der Zylinder-Clown holte aus und hämmerte die Blase auf den Kopf des Urnenträgers: einmal, zweimal, dreimal…

Der Urnenträger trat vor, winkte mit der Perücke und griff mit der freien Hand nach dem breiten Hosenbund des Zylinder-Clowns. Betont würdevoll schüttete er den Inhalt der Urne – die Asche des verstorbenen Beano – in die Hose des anderen Clowns.

Das Publikum seufzte kollektiv. Wieder ertönte Musik, diesmal der bekannte »Idiotenmarsch«. Das Ende einer Posaune sauste an den Hinterkopf eines Clowns. Der Betreffende drehte sich um und holte aus, doch der erste Clown duckte sich rechtzeitig. Die Gestalt hinter ihm erhielt eine saftige Ohrfeige und fiel in die große Trommel.

Colon und Nobby wechselten einen Blick und schüttelten den Kopf.

Boffo holte ein großes, rot-weiß gemustertes Taschentuch hervor und putzte sich die Nase, wobei er es angeblich sehr lustig tuten ließ.

»Das klassische Ritual«, meinte er. »Beano hätte es sich auf diese Weise gewünscht.«

»Hast du eine Ahnung, wie es geschehen ist?« fragte Colon.

»O ja. Bruder Grineldi hat die Urne mit dem alten Fußtrick…«

»Ich meine, wie kam Beano ums Leben?«

»Ähm«, sagte Boffo. »Wir glauben, es war ein Unfall.«

»Ein Unfall«, wiederholte Colon monoton.

»Das stimmt. Davon geht Herr Weißgesicht aus.« Boffo sah kurz nach oben, und die beiden Wächter folgten seinem Blick. Die Dächer der Assassinengilde reichten an die der Narrengilde. Solche Nachbarn verärgerte man nicht, solange als Waffen nur Sahnetorten mit Zuckerguß zur Verfügung standen.

»Ja, davon geht Herr Weißgesicht aus«, sagte Boffo noch einmal und starrte auf seine großen Schuhe hinab.

Feldwebel Colon bevorzugte ein friedliches Leben, und die Stadt konnte durchaus auf den einen oder anderen Clown verzichten. Seiner Ansicht nach wurde Ankh-Morpork zu einem wesentlich besseren Ort, wenn die ganze Sippschaft von heute auf morgen verschwand. Und doch… und doch… Er wußte gar nicht, was seit einiger Zeit mit der Wache geschah. Vermutlich lag’s an Karotte. Selbst der alte Mumm hatte sich an ihm angesteckt. Wir kümmern uns um alles, dachte Colon betrübt. Wir lassen überhaupt nichts mehr ruhen…

»Vielleicht hat er einen Knüppel gereinigt, und dabei ging das Ding auf einmal los«, sagte Nobby. Er hatte sich ebenfalls infiziert.

»Niemand hatte etwas davon, Beano umzubringen«, erwiderte der Clown leise. »Er war immer freundlich und hatte keine Feinde.«

»Fast keine«, korrigierte Colon.

Die Bestattungszeremonie ging zu Ende. Die Narren, Witzbolde und Spaßvögel kehrten ins Gebäude zurück. In den Zugängen kam es zu erheblichem Gedränge. Es tutete immer wieder, und dauernd stolperten die Trottel. Der Anblick hätte einen glücklichen Mann an einem schönen Morgen im Frühling dazu bringen können, sich die Pulsadern aufzuschneiden.

»Ich weiß nur eins.« Boffo sprach jetzt noch leiser. »Als ich ihm gestern begegnete, sah er… seltsam aus. Ich rief seinen Namen, als er durchs Tor ging, und…«

»Was soll das heißen, seltsam?« fragte Colon. Ich ermittle, dachte er in einem Anflug von Stolz. Die Leute helfen mir bei den Nachforschungen. Erstaunlich.

»Ich weiß nicht recht. Er wirkte irgendwie komisch. Nicht ganz wie er selbst…«

»Und das war gestern?«

»Ja. Morgens. Ich bin mir deshalb so sicher, weil die Torwache…«

»Gestern morgen?«

»Das habe ich gesagt. Nun, wir waren alle ein wenig nervös nach dem Knall…«

»Bruder Boffo!«

»O nein…«, stöhnte der Clown.

Eine Gestalt schritt ihnen entgegen. Eine schreckliche Gestalt.

Es gab keine lustigen Clowns – sie sollten überhaupt nicht lustig sein. Die Leute lachten über Clowns, aber nur aus Nervosität. Wenn man Clowns beobachtet hatte, erschien einem anschließend alles besser. Genau darum ging’s: Es war angenehm zu wissen, daß jemand noch ärmer dran war als man selbst. Es muß jemanden geben, dem es von allen am schlechtesten geht.

Aber selbst Clowns haben vor etwas Angst: vor dem Clown mit dem weißen Gesicht. Er wird nie von irgendwelchen Sahnetorten getroffen. Er trägt glänzend weiße Kleidung, und seine kalkweiße Miene bleibt immer völlig unbewegt. Er hat einen spitzen Hut, dünne Lippen und noch dünnere Brauen.

Herr Weißgesicht.

»Wer sind diese Herren?« fragte er.

»Äh…«, begann Boffo.

»Wir sind von der Nachtwache«, stellte sich Colon vor und salutierte.

»Und warum seid ihr hier?«

»Wir ermitteln wegen des fatalen Todes des Clowns Beano«, sagte Colon.

»Ich glaube, dafür ist die Gilde zuständig, Feldwebel. Findest du nicht auch?«

»Nun, man fand ihn im…«

»Ich bin sicher, daß wir die Wache nicht damit belästigen müssen«, meinte Herr Weißgesicht.

Colon zögerte. Er hätte sogar eine Begegnung mit Professor Kreuz vorgezogen. Von den Assassinen erwartete man wenigstens, daß sie unangenehm waren. Außerdem unterschieden sich Clowns kaum von Pantomimen.

»Nun, es war ganz offensichtlich ein Unfall, nicht wahr?« sagte er.

»In der Tat«, bestätigte der oberste Clown. »Bruder Boffo führt euch jetzt zur Tür. Und dann wird er sich bei mir melden. Hat er verstanden?«

»Ja, Herr Weißgesicht«, sagte Boffo.

»Was stellt er mit dir an?« fragte Nobby, als sie zum Tor gingen.

»Wahrscheinlich hält er einen Hut mit weißer Tünche für mich bereit«, antwortete Boffo. »Und mit ein wenig Glück bekomme ich eine Torte ins Gesicht.«

Er öffnete die Tür.

»Viele von uns sind sehr verärgert«, flüsterte er. »Ich weiß gar nicht, warum die Mistkerle ungeschoren davonkommen sollen. Wir sollten zu den Assassinen gehen und es ihnen ordentlich zeigen.«

»Warum die Assassinen?« fragte Colon. »Warum sollten sie einen Clown umbringen?«

Boffo schnitt eine schuldbewußte Miene. »Ich habe nichts gesagt.«

Colon sah ihn durchdringend an. »Eins steht fest, Herr Boffo: Hier tragen sich seltsame Dinge zu.«

Der Clown sah sich um, als rechnete er jeden Augenblick mit einer strafenden Sahnetorte.

»Seine Nase«, sagte er rasch. »Sucht seine Nase. Ach, seine arme Nase!«

Damit schloß sich die Tür.

Feldwebel Colon wandte sich an Nobbs.

»Hatte Beweisstück A eine Nase, Nobby?«

»Ja, Fred.«

»Was bedeuten dann die letzten Worte des Clowns?«

»Keine Ahnung.« Nobby kratzte sich an einem vielversprechenden Furunkel. »Vielleicht meinte er eine falsche Nase. Wie diese roten an Gummibändern, die so lustig sein sollen.« Nobby schnitt eine Grimasse. »Beano hatte keine.«

Colon klopfte noch einmal an die Tür und trat beiseite, um lustige Überraschungen zu vermeiden.

Die Klappe schwang auf.

»Ja?« fragte Boffo leise.

»Meinst du seine falsche Nase?« fragte Colon.

»Nein, seine richtige! Und jetzt verschwindet!«

Die Klappe schwang zu.

 

»Übergeschnappt«, sagte Nobby fest.

»Beano hatte eine richtige Nase«, entgegnete Colon. »Sah sie irgendwie falsch aus?«

»Nein. Sie hatte zwei Löcher an den richtigen Stellen.«

»Ich weiß nicht, was es mit den Nasen auf sich hat«, brummte Colon. »Aber entweder irrt sich Bruder Boffo, oder an dieser Geschichte ist irgendwas faul.«

»Zum Beispiel?«

»Du bist doch ein Berufssoldat, stimmt’s, Nobby?«

»Ja, Fred.«

»Wie viele unehrenhafte Entlassungen hast du hinter dir?«

»Eine Menge«, antwortete Nobby stolz. »Ich bin jedoch immer wieder durch die Hintertür zurückgekommen.«

»Du bist auf vielen Schlachtfeldern gewesen, oder?«

»Auf Dutzenden.«

Feldwebel Colon nickte.

»Also hast du zahlreiche Leichen gesehen, wenn du dich… äh… um die Gefallenen gekümmert hast…«

Korporal Nobbs nickte ebenfalls. »Um die Gefallenen gekümmert« bedeutete, sie von Schmuck, Wertgegenständen und Stiefeln zu befreien. Auf so manchem fernen Schlachtfeld hatte ein tödlich verwundeter Gegner als letztes gesehen, wie sich Korporal Nobbs mit Sack, Messer und Entschlossenheit näherte.

»Es wäre eine Schande, brauchbare Dinge einfach verkommen zu lassen«, sagte Nobby.

»Dir ist also aufgefallen, daß Tote im Lauf der Zeit… äh… toter werden«, sagte Feldwebel Colon.

»Toter als tot?«

»Du weißt schon, leichenartiger«, erklärte der gerichtsmedizinische Experte Colon.

»Meinst du steif und purpurn und so?«

»Genau.«

»Und dann weich und schleimig?«

»Ja, das genügt…«

»Das hat einen Vorteil: Man kriegt die Ringe leichter ab.«

»Ich möchte auf folgendes hinaus, Nobby: Man kann feststellen, wie alt eine Leiche ist. Zum Beispiel der Clown. Wir haben ihn beide gesehen. Wie lang?«

»Oh, etwa eins siebzig, schätze ich. Mit den Schuhen läßt sich leider nichts anfangen. Zu weich.«

»Ich meine, wie lange ist er schon tot?«

»Zwei Tage. Das läßt sich ziemlich genau feststellen, weil…«

»Wie ist es dann möglich, daß Boffo ihn gestern morgen gesehen hat?«

Die beiden Wächter schlenderten weiter.

»Wirklich, sonderbar«, sagte Nobby nach einer Weile.

»Ja. Ich schätze, das wird den Hauptmann interessieren.«

»War Beano vielleicht ein Zombie?«

»Das glaube ich kaum.«

»Konnte Zombies noch nie ausstehen«, brummte Nobby.

»Ach?«

»Es ist sehr schwierig, ihnen die Stiefel zu klauen.«

Feldwebel Colon nickte einem vorbeikommenden Bettler zu.

»Gehst du an deinen freien Abenden noch immer zum Volkstanz, Nobby?«

»Ja, Fred. In dieser Woche üben wir ›Süßen Flieder Sammeln‹. Dabei gibt’s einen sehr schwierigen, doppelten Kreuzschritt.«

»Du bist ein vielseitiges Talent, Nobby.«

»Ja«, bestätigte Nobby. »Und ich habe Phantasie. Mir fallen immer neue Möglichkeiten ein, Ringe von widerspenstigen Fingern zu lösen.«

»Ich meine, du bist eine bemerkenswerte Dichotomie.«

Nobby trat nach einem verwahrlosten Hund.

»Hast du wieder Bücher gelesen, Fred?«

»Ich muß meinen Geist auf Vordermann bringen, Nobby. Wegen der neuen Rekruten. Karottes Nase steckt dauernd in irgendwelchen Büchern, sobald sie Zeit dazu findet. Angua kennt Wörter, die ich im Lexikon nachschlagen muß. Und selbst der Winzling weiß mehr als ich. Das geht mir echt auf die Nerven. Leider muß ich zugeben, daß ich wirklich ein wenig unterbelichtet bin.«

»Du bist intelligenter als Detritus«, meinte Nobby.

»Das habe ich mir auch schon gesagt. Immer wieder erinnere ich mich daran: ›Fred, was auch passiert, du bist gescheiter als Detritus.‹ Doch dann füge ich hinzu: ›Fred, das gilt auch für Hefe.‹«

 

Er wandte sich vom Fenster ab.

Die verdammte Wache!

Der verfluchte Mumm! Genau der falsche Mann am falschen Ort. Warum lernten die Leute nicht aus der Geschichte! Der Verrat war praktisch in Mumms Genen verankert! Wie konnte eine Stadt richtig funktionieren, solange ein derartiger Mann herumschnüffelte? Er mißbrauchte sein Amt. Die Aufgabe der Wächter war es, Anweisungen zu befolgen – und dafür zu sorgen, daß auch die Bürger gehorchten.

Jemand wie Mumm konnte die Dinge aus dem Gleichgewicht bringen. Nicht etwa, weil er über zuviel Intelligenz verfügte. Es gab keinen intelligenten Wächter. Intelligenz und Mitgliedschaft in der Wache schlossen sich gegenseitig aus. Aber der Zufall konnte Probleme verursachen.

Das Gfähr lag auf dem Tisch.

»Was soll ich mit Mumm machen?«

Töte ihn.

 

Angua erwachte. Es war fast Mittag, und sie lag in ihrem Bett in Frau Kuchens Pension. Jemand klopfte an die Tür.

»Mhm?« fragte sie.

»Isch weiß nicht«, erklang eine Stimme in Höhe des Schlüssellochs. »Soll ich ihn fortschicken?«

Angua überlegte rasch. Die anderen Mieter hatten sie darauf hingewiesen. Sie wartete auf einen Hinweis.

»Oh, danke, Teuerste«, fügte die Stimme hinzu. »Isch hab’s vergessen.«

Gespräche mit Frau Kuchen erforderten ein besonders hohes Maß an Aufmerksamkeit. Ihr Bewußtsein war nur nominell mit dem Gegenwärtigen verbunden.

Anders ausgedrückt: Frau Evadne Kuchen war ein Medium.

»Du hast wieder die Vorahnung eingeschaltet, Frau Kuchen«, sagte Angua. Sie schwang die Beine aus dem Bett und griff nach ihren Kleidungsstücken auf dem Stuhl.

»Wie bitte?« fragte Frau Kuchen von der anderen Seite der Tür.

»Du hast gerade gesagt: ›Ich weiß nicht. Soll ich ihn fortschicken?‹, Frau Kuchen«, sagte Angua. Kleidung war eins der Probleme. Ein männlicher Werwolf brauchte nur eine kurze Hose und konnte dann behaupten, er hätte gerade sein Lauftraining absolviert.

»Na schön.« Frau Kuchen hüstelte. »Unten wartet ein junger Mann. Er möchte dich sprechen«, erklärte sie.

»Wer ist es?« erkundigte sich Angua.

Einige Sekunden lang war es still.

»Ja, isch glaube, jetzt haben wir alles«, erwiderte Frau Kuchen. »Entschuldige bitte. Isch bekomme schreckliche Kopfschmerzen, wenn jemand die Konversationslücken nicht richtig füllt. Bist du schon menschlich, Teuerste?«12

»Du kannst hereinkommen, Frau Kuchen.«

Das Zimmer bot nicht viel, von braunen Farbtönen abgesehen: brauner Wachstuchboden, braune Wände, über dem braunen Bett das Bild eines braunen Hirschs, der in einer braunen Moorlandschaft von braunen Hunden gejagt wurde, vor dem Hintergrund eines ungeachtet meteorologischer Fakten braunen Himmels. Hinzu kam ein brauner Kleiderschrank. Wenn man sich einen Weg durch die vielen mysteriösen Mäntel13 darin bahnte, gelangte man vielleicht in ein magisches Reich mit sprechenden Tieren und Kobolden und dergleichen. Aber vermutlich war es die Mühe nicht wert.

Frau Kuchen trat ein. Sie war klein und dick, glich ihren Mangel an Größe jedoch durch einen gewaltigen schwarzen Hut aus. Er lief nicht etwa spitz zu wie bei Hexen, sondern trug mehrere ausgestopfte Vögel, Wachsobst und andere dekorative Objekte, die alle schwarz waren. Angua mochte die Vermieterin. Die Zimmer waren sauber14 und kosteten nicht viel Miete. Außerdem hatte Frau Kuchen Verständnis für Leute, die ein ungewöhnliches Leben lebten und keinen Knoblauch mochten. Ihre Tochter war ein Werwolf, und deshalb wußte sie um den Nutzen von Erdgeschoßfenstern und langen Türklinken, die auch Pfoten handhaben konnten.

»Er trägt ein Kettenhemd«, sagte Frau Kuchen. In einer Hand hielt sie einen Eimer mit Kies. »Und er hat Seife in den Ohren.«

»Oh. Äh. Gut.«

»Isch schicke ihn weg, wenn du möchtest«, bot sich Frau Kuchen an. »Das mache isch immer, wenn hier die falschen Leute aufkreuzen. Damit meine ich insbesondere Burschen mit Pflöcken. Kann sie nicht ausstehen. Und ich mag’s nicht, wenn Besucher mit brennenden Fackeln und Kruzifixen durch die Flure stapfen.«

»Ich glaube, ich weiß, wer es ist«, sagte Angua. »Ich kümmere mich um ihn.«

Sie knöpfte ihr Hemd zu.

»Schließ die Tür, wenn du das Haus verläßt!« rief ihr Frau Kuchen nach, als Angua durch den Korridor eilte. »Isch wechsle jetzt die Erde in Herrn Winkings’ Sarg. Leidet wieder an Rückenschmerzen, der arme Kerl.«

»Erde?« wiederholte Angua. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. »Sieht wie Kies aus.«

»Hat orthopädische Wirkung.«

Karotte stand respektvoll in der Tür, den Helm unterm Arm und Verlegenheit im Gesicht.

»Nun?« fragte Angua nicht unhöflich.

»Äh. Guten Morgen. Ich dachte, du weißt schon, vielleicht, du hast noch nicht viel von der Stadt gesehen, ich meine. Ich könnte, wenn du möchtest, wenn du nichts dagegen hast, ich meine, wir haben beide dienstfrei, und… ich könnte dir Ankh-Morpork zeigen…«

Einige Sekunden lang glaubte Angua, etwas von Frau Kuchens Vorahnung habe auf sie abgefärbt. Verschiedene Zukunftsalternativen zeichneten sich vor ihrem inneren Auge ab.

»Ich habe noch nicht gefrühstückt«, sagte sie.

»Ich kenne ein Lokal, wo man ausgezeichnet frühstücken kann«, erwiderte Karotte sofort. »Gimlets Feinkostbude in der Ankertaugasse.«

»Es ist Mittag.«

»Für Mitglieder der Nachtwache genau die richtige Zeit zum Frühstücken.«

»Ich bin praktisch Vegetarierin.«

»Gimlet bietet auch Sojaratte an.«

Angua gab nach. »Ich hole meine Jacke.«

»Har, har«, erklang eine zynische Stimme.15

Sie senkte den Kopf. Gaspode saß hinter Karotte und versuchte, spöttisch zu blicken, während er sich nahezu verzweifelt kratzte.

»In der vergangenen Nacht haben wir Katzen gejagt«, sagte Gaspode. »Du und ich. Verstehste? Das Schicksal hat uns zusammengeführt.«

»Geh weg

»Wie bitte?« fragte Karotte.

»Ich meine den Hund.«

Karotte drehte sich um.

»Stört er dich? Ist doch ein lieber Kerl.«

»Wuff, wuff. Keks.«

Karotte klopfte automatisch auf seine Taschen.

»Siehst du?« ließ sich Gaspode vernehmen. »Herr Simpel, stimmt’s?«

»Sind Hunde in Zwergenlokalen erlaubt?« fragte Angua.

»Nein«, sagte Karotte.

»Nur im Backofen«, meinte Gaspode.

»Ach?« erwiderte Angua. »Klingt gut. Gehen wir.«

»Vegetarierin, wie?« grummelte Gaspode und watschelte hinter ihnen her. »Meine Güte…«

»Sei still.«

»Was?« fragte Karotte erstaunt.

»Ich habe nur laut gedacht.«

 

Mumms Kissen war kalt und hart. Er befühlte es vorsichtig. Das Kissen war kalt und hart, weil es ein Tisch war. Seine Wange schien daran festzukleben, und Mumm wollte gar nicht wissen, was dafür verantwortlich war. Er trug noch immer die Uniform.

Nach einer Weile gelang es ihm, ein Auge zu öffnen.

Er hatte in sein Notizbuch geschrieben und versucht, einen Sinn in den jüngsten Ereignissen zu erkennen. Dann war er eingeschlafen.

Wie spät mochte es sein? Er fand nicht die Kraft, einen Blick auf die Sanduhr am Gürtel zu werfen.

Gekritzelte Buchstaben weckten seine Aufmerksamkeit.

 

Von der Assassinengilde geschtolen: Gefähr. > Hammerhock ermordet. Geruch von Foierwerkskörpern. Bleiklumpen. Alchemische Symbole. 2te Leiche in Fluß. Ein Clown. Wo war seine rote Nase? Weg.

 

Mumm starrte auf seine eigene Handschrift.

Ich bin auf dem richtigen Weg, dachte er. Ich brauche mir keine Gedanken darüber zu machen, wohin der Weg führt; ich muß nur seinem Verlauf folgen. Es gibt immer ein Verbrechen, wenn man nur sorgfältig genug nachforscht. Und die Assassinen stecken irgendwie in dieser Sache drin.

Man gehe allen Hinweisen nach. Man überprüfe jedes Detail. Man sammle Indizien wie Mosaiksteine, um sie nach und nach zu einem einheitlichen Bild zusammenzusetzen.

Ich habe Hunger.

Mumm stand auf, wankte zum Waschbecken und betrachtete sich in dem gesprungenen Spiegel darüber.

Erinnerungen an die Ereignisse des vergangenen Tages tropften durch die klebrige Gaze seines Gedächtnisses. Einen zentralen Platz nahm Lord Vetinaris Gesicht ein. Zorn erwachte in Mumm, als er sich entsann. An die kühlen Worte des Patriziers, mit denen er den Hauptmann aufforderte, sich nicht um den Diebstahl bei der Assassinengilde…

Mumm beobachtete sein Spiegelbild…

Etwas streifte sein Ohr und zertrümmerte das Glas.

Der Hauptmann starrte auf das Loch im Putz, begrenzt von den Resten des Spiegelrahmens. Um ihn herum rieselten Glassplitter zu Boden.

Ein oder zwei Sekunden lang stand Mumm stocksteif.

Dann erkannten seine Beine, daß sich das Gehirn bereits an einem anderen Ort befand, woraufhin sie einknickten und den Körper zu Boden warfen.

Erneut klirrte es, und auf dem Schreibtisch platzte eine halb gefüllte Bärdrücker-Flasche. Mumm konnte sich nicht erinnern, sie gekauft zu haben.

Auf Händen und Knien kroch er zum Fenster und zog sich daneben hoch.

Bilder huschten durch seinen Geist: der tote Zwerg, das Loch in der Wand…

Ein Gedanke entstand im verlängerten Rücken und wuchs von dort ins Gehirn. Die Wände bestanden aus Latten und Gips und waren außerdem ziemlich alt. Wenn man sich ein wenig anstrengte, konnte man sie mit dem Finger durchstoßen. Ein Klumpen Metall…

Er ließ sich im selben Augenblick fallen, als es Plock machte und neben dem Fenster ein Loch in der Wand erschien. Eine Wolke aus Gipsstaub löste sich nur widerstrebend auf.

Mumms Armbrust lag in der Nähe. Er war kein Meisterschütze, aber wer konnte das schon von sich behaupten? Man zielte und drückte ab. Er griff nach der Waffe, rollte sich auf den Rücken, stemmte den Fuß gegen den Bügel und zog an der Sehne, bis der Spannmechanismus mit einem deutlich hörbaren Klicken einrastete.

Dann rollte er sich erneut herum, kam auf die Knie und schob einen Bolzen in die Rille.

Ein Katapult. Es gab keine andere Erklärung. Vielleicht so groß wie ein Troll. Der Schütze befand sich möglicherweise auf dem Dach des Opernhauses oder an einem anderen hohen Ort…

Vielleicht ließ er sich provozieren und ablenken… Mumm nahm den Helm ab und balancierte ihn auf einem zweiten Bolzen. Wenn er sich jetzt tief unters Fenster duckte und…

Er überlegte kurz und robbte dann in die hintere Zimmerecke. Dort lehnte eine Stange mit einem Haken am Ende. Einst hatte man mit ihr die längst festgerosteten oberen Fenster geöffnet.

Er hängte den Helm an das Hakenende der Stange, drückte sich so weit wie möglich vom Fenster entfernt an die Wand und hob dann die Stange, so daß der Helm einige Zentimeter über den Fenstersims ragte…

Plock.

Holzsplitter stoben dort vom Boden hoch, wo jemand gelegen hätte, der seinen Helm mit Hilfe eines relativ kurzen Bolzens gehoben hätte, um damit einen Schützen zu provozieren.

Mumm lächelte. Jemand versuchte, ihn umzubringen. Dadurch fühlte er sich so lebendig wie schon seit langem nicht mehr.

Der Unbekannte schien zudem nicht ganz so intelligent zu sein wie er. Eine wünschenswerte Eigenschaft für jeden Mörder.

Mumm ließ die Stange sinken, griff die Armbrust, sprang am Fenster vorbei und schoß dabei auf eine schemenhafte Gestalt auf dem Dach des Opernhauses – obgleich der Bolzen gar nicht so weit fliegen konnte. Er sprintete zur Tür und zerrte an der Klinke…

Etwas bohrte sich in den Rahmen, als die Tür endlich aufschwang.

Die Hintertreppe runter, durch den rückwärtigen Ausgang, übers Dach des Aborts, zum Hachsenweg, über die Stufen bei Zorgo dem Retrophrenologen16, in Zorgos Operationssaal und zum Fenster.

Zorgo und sein gegenwärtiger Patient musterten den Hauptmann neugierig.

Pugnants Dach war leer. Mumm drehte sich um und begegnete zwei verwirrten Blicken.

Mumm lächelte wie ein Irrer.

»Ich dachte…«, begann er und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Auf dem Dach dort drüben habe ich einen interessanten Schmetterling gesehen.«

Troll und Patient sahen höflich an ihm vorbei.

»Aber ich habe mich geirrt«, sagte Mumm.

Er ging zur Tür.

»Entschuldigt bitte die Störung«, fügte er hinzu und verließ den Raum.

Zorgos Patient sah ihm interessiert nach.

»Hatte er nicht eine Armbrust?« fragte er. »Ich wußte gar nicht, daß man Schmetterlinge auch mit Armbrüsten fangen kann.«

Zorgo rückte das Gitter auf dem kahlen Schädel des Patienten zurecht.

»Weiß nicht«, sagte er. »Vielleicht will er all die Stürme und so verhindern.« Er griff nach dem Holzhammer. »Nun, was soll es heute sein? Entschlossenheit?«

»Ja. Äh, nein. Vielleicht.«

»In Ordnung.« Zorgo zielte. »Es tut überhaupt nicht weh«, sagte er, und es klang wie die absolute Wahrheit.

 

Das Lokal war eine Art Gemeindezentrum und ein Treffpunkt für die Zwerge. Das Stimmengewirr verklang abrupt, als eine tief gebückte Angua eintrat. Karotte folgte ihr, woraufhin sich die vorherige Geräuschkulisse wieder erhob, begleitet von einem gelegentlichen Lachen. Karotte winkte den Versammelten fröhlich zu.

Anschließend schob er vorsichtig zwei Stühle beiseite. Man konnte aufrecht sitzen, wenn man auf dem Boden Platz nahm.

»Sehr… nett hier«, sagte Angua. »Ausgesprochen ethnisch.«

»Ich komme oft hierher«, sagte Karotte. »Das Essen ist gut, und es zahlt sich aus, sich umzuhören. Zwerge nennen es, das ›Ohr am Boden‹ haben.«

»Oh, das dürfte hier recht einfach sein«, entgegnete Angua und lachte.

»Wie bitte?«

»Ich meine, hier ist der Boden… viel… näher…«

Sie spürte, wie sich eine Grube öffnete, die mit jedem Wort größer wurde. Der akustische Pegel sank wieder.

»Äh.« Karotte sah die junge Frau ernst an. »Wie soll ich es dir erklären… Die hier anwesenden Personen sprechen zwar Zwergisch, aber sie verstehen auch die Sprache der Menschen.«

»Entschuldigung.«

Karotte lächelte, nickte dem Koch am Tresen zu und räusperte sich laut.

»Vielleicht habe ich irgendwo ein Hustenbonbon…«, begann Angua.

»Ich habe gerade das Frühstück bestellt«, erklärte Karotte.

»Kennst du die Speisekarte auswendig?«

»Ja. Sie ist auch an die Wand geschrieben.«

Angua drehte den Kopf und betrachtete etwas, das sie bisher für Kratzer gehalten hatte.

»Es ist Ogghamisch«, erklärte Karotte. »Eine uralte und poetische Runenschrift, deren Ursprünge sich im Dunst der Zeit verlieren. Angeblich wurde sie noch vor den Göttern erfunden.«

»Potzblitz. Und was bedeuten die Zeichen?«

Diesmal räusperte sich Karotte wirklich.

 

Sohse, Eier, Bohnen und Ratte: 12 c

Sohse, Ratte und gebackene Scheiben: 10 c

Frischkäse und Ratte: 9 c

Ratte mit Bohnen: 8 c

Ratte mit Ketchup: 7 c

Ratte: 4 c

 

»Warum kostet Ketchup fast soviel wie eine Portion Rattenfleisch?« fragte Angua.

»Hast du mal versucht, Rattenfleisch ohne Ketchup zu essen?« erwiderte Karotte. »Ich habe dir Zwergenbrot bestellt. Hast du das jemals probiert?«

»Nein.«

»Jeder sollte es zumindest ein einziges Mal versuchen«, sagte Karotte. Er dachte kurz nach. »Die meisten Leute tun es«, fügte er hinzu17.

 

Dreieinhalb Minuten nachdem er erwacht war, brachte Hauptmann Samuel Mumm von der Nachtwache die letzten Stufen zum Dach des Opernhauses hinter sich, schnappte hingebungsvoll nach Luft und trennte sich anschließend von seinem Mageninhalt.

Dann lehnte er sich an die Wand und winkte vage mit der Armbrust.

Außer ihm befand sich niemand auf dem Dach. Er sah nur Bleiplatten, die das Licht der Morgensonne tranken. Es war fast zu heiß, um sich zu bewegen.

Als es Mumm ein wenig besser ging, sah er sich bei den Schornsteinen und Oberlichtern um. Dutzende von Wegen führten nach unten, und es gab Hunderte von Versteckmöglichkeiten.

Von diesem Dach aus konnte er direkt in sein Zimmer sehen. Und auch in viele andere.

Ein Katapult? Nein…

Nun, wenigstens gab es Zeugen.

Er schritt zum Rand des Daches und beugte sich vor.

»Hallo, da unten«, sagte er und blinzelte. Das Opernhaus war sechs Stockwerke hoch – mindestens fünf Etagen zuviel für einen gerade entleerten Magen.

»Äh… könntest du bitte nach oben kommen?« fragte er freundlich.

»Ie u ünschst.«

Mumm wich zurück. Es knirschte, und kurz darauf schob sich eine Steinfigur über die Brüstung. Sie bewegte sich wie eine schlechte Spezialeffekt-Animation.

Der Hauptmann wußte nicht viel über diese Geschöpfe. Karotte hatte einmal voller Begeisterung darüber gesprochen: Es war eine Spezies von urbanen Trollen, die in einer symbiotischen Beziehung mit Dachrinnen lebten. Mit fast kindlichem Staunen wies der junge Mann bei jener Gelegenheit darauf hin, daß diese Trolle im Verlauf ihrer besonderen Evolution gelernt hatten, Regenwasser durch die Ohren aufzunehmen und es durch feine Siebe im Mund wieder abzugeben. Vermutlich waren sie die seltsamsten Wesen auf der ganzen Scheibenwelt18. Es gab kaum Vogelnester auf Gebäuden, die den urbanen Trollen als Lebensraum dienten, und Fledermäuse flogen in einem weiten Bogen um sie herum.

»Wie heißt du, Freund?«

»Arnies üer en Eien-Eg.«

Mumms Lippen bewegten sich stumm, als er die Laute hinzufügte, die ein permanent geöffneter Mund nicht formulierten konnte: Karnies-über-dem-Breiten-Weg. Die Identität einer solchen Steinfigur stand in Verbindung mit seinem üblichen Aufenthaltsort, so wie bei einer Napfschnecke.

»Na schön, Karnies«, sagte der Hauptmann. »Weißt du, wer ich bin?«

»Nee«, erwiderte der urbane Troll verdrießlich.

Mumm nickte verständnisvoll. Dieses Wesen hockt dauernd hier oben, bei jedem Wetter, nimmt Regenwasser durch die Ohren auf und läßt es durch den Mund entweichen. Solche Leute haben kein prall gefülltes Adreßbuch. Selbst Wellhornschnecken kommen mehr herum.

»Ich bin Hauptmann Mumm von der Wache.«

Die Steinfigur neigte ihre Ohren nach oben.

»Oh. O ie Err Arotte?«

Mumm übersetzte mühsam und blinzelte.

»Du kennst Korporal Karotte?«

»Oh, a. Alle ennen Arotte.«

Mumm schnaubte leise. Ich bin hier aufgewachsen, dachte er. Aber wenn ich durch die Straßen gehe, fragen sich die Leute: »He, wer ist das?« Karotte ist erst seit ein paar Monaten hier, und alle kennen ihn. Und er kennt alle. Und alle mögen ihn. Ich könnte mich über ihn ärgern, wenn er nicht so sympathisch wäre.

»Du bist dauernd hier oben«, sagte Mumm. Diese Sache interessierte ihn, obgleich er sich lieber auf wichtigere Dinge besinnen sollte. »Wieso kennst du Arotte, ich meine: Karotte?«

»Anchal onnt er ierer un edet it ir.«

»Atächlich?«

»A.«

»Kam sonst noch jemand hier aufs Dach? Vor kurzer Zeit?«

»A.«

»Hast du ihn erkannt?«

»Oh. Keie Ahug er er ar. Ielte it Oierrerk. Ih ehe’e erunden is i O’oer-a’e.«

Er ist in Richtung Holofernesstraße verschwunden, dachte Mumm. Wer auch immer es gewesen sein mag: Ich kann ihn nicht mehr einholen.

»Er atte eie Ock«, fügte Karnies hinzu. »Eie Ock.«

»Einen was?«

»Oiererk. Oo oh! Ung! Ack? Unken! Oiererk!«

»Du meinst Feuerwerk

»A. As eie ich.«

»Der Bursche hatte also einen Feuerwerksstab? Wie… eine Art Rakete?«

»Nee-eh! Keie Ake’e! Ei Ock, un er achte UNN!«

»Ein Feuerwerkstab, und er machte ›Bumm‹?«

»A.«

Mumm kratzte sich am Kopf. Klang ganz nach einem Zauberstab. Aber die knallten nicht – oder zumindest nur sehr selten.

»Nun… äh… danke«, sagte er. »Du bist sehr… ett un ilreich ge’esen.«

Er kehrte zur Treppe zurück.

Jemand hatte versucht, ihn umzubringen.

Und vom Patrizier war er angewiesen worden, alle Ermittlungen wegen des Diebstahls bei der Assassinengilde einzustellen. Diebstahl – dieses Wort hatte Lord Vetinari benutzt.

Obwohl Kreuz bestritten hat, daß etwas gestohlen wurde, dachte Mumm.

Und dann gibt es natürlich das Gesetz des Zufalls. Bei den polizeilichen Ermittlungen spielt es eine weitaus größere Rolle, als man aufgrund der narrativen Kausalität annehmen möchte. Auf jeden Mord, der aufgrund eines Fußabdrucks oder eines unachtsam weggeworfenen Zigarettenstummels aufgeklärt wird, kommen hundert Fälle, bei denen der Wind einige Blätter an die falsche Stelle wehte oder es in der Nacht zuvor nicht regnete. Viele Verbrechen werden nur deshalb nicht als ungelöst zu den Akten gelegt, weil genau zum richtigen Zeitpunkt ein Wagen anhält, weil jemand zu laut spricht und jemand anders genau hinhört. Oder weil jemand mit der richtigen Nationalität sich ohne Alibi nicht weiter als acht Kilometer vom Tatort entfernt aufhält…

Selbst Mumm wußte um die Macht des Zufalls.

Seine Sandale stieß gegen ein Objekt aus Metall.

 

»Und dies«, sagte Karotte, »ist der berühmte Triumphbogen, der an die Schlacht von Bröselhorn erinnert. Die haben wir gewonnen, glaube ich. Zu dem Bogen gehören über neunzig Statuen berühmter Soldaten. Er ist ein Wahrzeichen.«

»Man hätte den Buchhaltern ein Denkmal setzen sollen«, sagte eine Hundestimme. »Es war die erste Schlacht im Multiversum, bei der der Feind seine Waffen verkaufte.«

»Und wo ist der Bogen?« fragte Angua. Sie ignorierte Gaspode nach wie vor.

»Äh, ja, da liegt das Problem«, erwiderte Karotte. »Entschuldige bitte, Herr Spärlich. Das ist Herr Spärlich, offizieller Hüter der Monumente. Nach einer überlieferten Tradition bekommt er einen Ankh-Morpork-Dollar pro Jahr und zu Silvester eine neue Weste.«

Er meinte offenbar einen Alten, der unmittelbar neben der Straßenkreuzung auf einem Stuhl saß. Seine Augen verbargen sich unter einem tief in die Stirn gezogenen Hut, den er nun nach oben schob.

»Guten Tag, Herr Karotte. Bestimmt möchtest du den Triumphbogen sehen.«

»Ja, bitte.« Karotte wandte sich an Angua. »Leider überließ man es dem Absolut Bekloppten Johnson, den Bogen zu entwerfen.«

Der Alte holte eine kleine Pappschachtel hervor und öffnete sie respektvoll.

»Wo ist er?«

»Hier«, sagte Karotte. »Hinter dem Stück Baumwolle.«

»Oh.«

»Ich fürchte, Herr Johnson hielt genaue Berechnungen für etwas, das anderen Leuten zustieß.«

Herr Spärlich schloß die Schachtel.

»Er schuf auch das Denkmal von Quirm, die Hängenden Gärten von Ankh und den Koloß von Morpork«, verkündete Karotte.

»Den Koloß von Morpork?« wiederholte Angua.

Herr Spärlich hob einen dünnen Finger. »Warte«, sagte er. »Geh nicht weg.« Er beklopfte seine Taschen. »Ich habe ihn hier irgendwo.«

»Hat Johnson nie etwas Nützliches geschaffen?«

»Er hat einen Gewürzständer für den Verrückten Lord Schnappüber entworfen«, sagte Karotte, als sie fortschlenderten.

»Hat er’s hingekriegt?«

»Nicht unbedingt. Aber es ist interessant: Vier Familien wohnen im Salzstreuer, und im Pfeffertopf wird Getreide aufbewahrt.«

Angua lächelte. Karotte wußte wirklich viele interessante Dinge über Ankh-Morpork zu erzählen. Die junge Frau spürte, wie die Fakten um sie herum immer mehr anschwollen und sie fast erdrückten. Mit Karotte durch eine Straße zu wandern, war so, als nähme man an drei Führungen gleichzeitig teil.

»Das hier ist die Bettlergilde«, sagte er. »Sie ist die älteste aller Gilden. Nur wenige Leute wissen das.«

»Tatsächlich?«

»Die meisten glauben, die Gilden der Narren und Assassinen seien älter. Aber das stimmt nicht. Die Institute der Narren und Assassinen gibt’s erst seit recht kurzer Zeit. Doch die Bettlergilde ist bereits viele Jahrhunderte alt.«

»Im Ernst?« erwiderte Angua müde. In der letzten Stunde hatte sie mehr über Ankh-Morpork erfahren, als eine normale, vernünftige Person wissen wollte. Sie ahnte, daß Karotte ihr den Hof machte. Doch er brachte ihr keine Blumen oder Pralinen; er bot ihr eine ganze Stadt als Geschenk dar.

Sie spürte sogar Eifersucht in ihr erwachen. Eifersucht auf eine Stadt! Bei den Göttern! dachte sie. Ich kenne ihn doch erst seit einigen Tagen.

Ankh-Morpork schien ein Teil von ihm zu sein. Sie rechnete fast damit, daß er jeden Augenblick ein Lied mit verdächtigen Reimen und Textpassagen singen würde wie zum Beispiel: »Meine Art von Stadt« oder »Ich möchte dazugehören«. Lieder, die Leute dazu veranlassen, spontan in den Straßen zu tanzen, mit einzustimmen und dem Sänger Äpfel zu reichen. In solchen Fällen zeigen gewöhnliche Mädchen plötzlich erstaunliches choreographisches Geschick. Alle sind fröhlich und vergessen, daß die Natur sie in Wirklichkeit mit einem bösen, gemeinen, egoistischen, hinterhältigen und rücksichtslosen Wesen ausgestattet hat. Wenn Karotte allerdings hier ein Lied gesungen hätte, wären die Leute tatsächlich bereit gewesen, mit einzustimmen. Selbst sonst völlig phlegmatische Markierungssteine hätten sich von Karotte dazu bewegen lassen, eine Rumba zu tanzen.

»Auf dem Haupthof gibt es einige sehr interessante Statuen«, sagte er. »Darunter ein Bildnis des Bettlergottes Jimi. Ich zeig’s dir. Die Bettler haben bestimmt nichts dagegen.«

Er klopfte an die Tür.

»Das ist nicht nötig«, sagte Angua.

»Es macht mir keine Mühe…«

Die Tür öffnete sich.

Angua erzitterte innerlich, als ihr ein sonderbarer Geruch in die Nase stieg…

Ein Bettler musterte Karotte und riß die Augen auf.

»Du bist der Gebeugte Michael, nicht wahr?« fragte Karotte freundlich. Die Tür fiel wieder zu.

»Das war nicht sehr höflich«, stellte Karotte fest.

»Es stinkt, nich’ wahr?« erklang eine leise, spöttische Stimme hinter Angua. Zwar lag ihr immer noch nichts daran, Gaspode Aufmerksamkeit zu schenken, trotzdem nickte sie. Die Bettler verströmten eine Vielzahl verschiedener Gerüche, und der zweitstärkste kündete von Furcht. Der stärkste stammte von Blut. Bei diesem Geruch hätte Angua am liebsten geheult.

Stimmen murmelten hinter der Tür. Kurze Zeit später öffnete sie sich erneut.

Eine ganze Gruppe aus Bettlern stand auf der anderen Seite. Alle starrten Karotte an.

»Na schön«, sagte der Gebeugte Michael. »Wir geben auf. Wie hast du’s herausgefunden?«

»Wie haben wir was herausge…«, begann Karotte. Anguas Ellenbogen traf seine Rippen.

»Hier wurde jemand getötet«, stellte sie fest.

»Wer ist das?« fragte Gebeugter Michael.

»Obergefreite Angua gehört zur Wache«, sagte Karotte.

»Har, har«, kommentierte Gaspode.

»Eins muß ich zugeben«, brummte Gebeugter Michael. »Ihr werdet immer besser. Wir haben die Leiche erst vor wenigen Minuten entdeckt.«

Angua spürte, daß Karotte den Mund öffnen wollte, um zu fragen: »Welche Leiche.« Sie stieß ihn wieder an.

»Bringt uns zum Ermordeten«, sagte sie.

Wie sich herausstellte…

… war es eine Ermordete. Sie lag auf dem Boden eines Zimmers im obersten Stock, umgeben von Lumpen.

Angua kniete sich neben die Leiche. Diese Bezeichnung erschien ihr angemessen. Es war ein Leichnam, keine Person mehr. Eine Person hatte normalerweise mehr Kopf auf den Schultern.

»Warum?« fragte sie. »Warum sollte jemand so etwas tun?«

Karotte sah zu den Bettlern, die sich in der Tür drängten.

»Wie heißt das Opfer?«

»Nimmer Niedlich«, antwortete Gebeugter Michael. »Sie war nur die Zofe der Königin Molly.«

Angua blickte zu Karotte.

»Königin?«

»Das Oberhaupt einer Bettlergemeinschaft wird manchmal König oder Königin genannt«, erklärte der junge Mann. Er atmete schwer.

Angua bedeckte die Leiche mit dem Samtmantel der Zofe.

»Nur die Zofe«, murmelte sie.

Mitten auf dem Boden lag der Rahmen eines großen Spiegels. Überall waren Glassplitter wie Pailletten verstreut.

Auch eine Fensterscheibe war zerbrochen. In einer kleinen Mulde am Boden lag ein Gegenstand aus Metall.

»Gebeugter Michael, ich brauche einen Nagel und eine Schnur«, sagte Karotte langsam und betonte jede einzelne Silbe. Sein Blick blieb dabei auf das Stück Metall gerichtet – er schien zu befürchten, daß es sich bewegte.

»Ich glaube nicht…«, begann der Bettler.

Karotte sah weiter zu Boden, als er den Arm ausstreckte, Gebeugter Michael am Kragen packte und den Mann ohne sichtliche Mühe hochhob.

»Eine Schnur«, wiederholte er. »Und einen Nagel.«

»Ja, Korporal Karotte.«

»Die anderen können gehen«, fügte Angua hinzu.

Die Bettler sahen sie groß an.

»Ihr sollt gehen!« rief Angua. Sie ballte die Fäuste. »Und starrt nicht so!«

Die Bettler eilten fort.

»Sie werden eine Weile brauchen, um den Faden zu besorgen«, sagte Karotte und strich einige Glassplitter beiseite. »Weil sie ihn sich erst erbetteln müssen.«

Er holte sein Messer hervor und bohrte vorsichtig im hölzernen Boden. Schließlich gelang es ihm, das Stück Metall aus der Diele zu lösen. Es war geplättet von seinem Flug durchs Fenster, den Spiegel und ins Holz des Bodens – ganz zu schweigen von Körperteilen der Verstorbenen, die nie dazu bestimmt gewesen waren, das Tageslicht zu sehen.

Er betrachtete das Metallstück von allen Seiten.

»Angua?«

»Ja?«

»Woher wußtest du, daß hier jemand getötet worden ist?«

»Ich… hatte so eine Ahnung.«

Die Bettler kehrten zurück und waren so entnervt, daß gleich mehrere von ihnen die Schnur tragen wollten.

Karotte hämmerte den Nagel in den Fensterrahmen unter der zerbrochenen Scheibe und knotete den Faden daran. Dann stach er das Messer in die Mulde und band das andere Ende der Schnur daran fest.

Am Anschluß daran streckte er sich auf dem Boden aus und spähte an dem gespannten Faden entlang.

»Meine Güte.«

»Was ist?«

»Der Schütze muß auf dem Dach des Opernhauses gestanden haben.«

»Und?«

»Die Entfernung beträgt mindestens zweihundert Meter.«

»Ja?«

»Das Metallstück hat sich fast einen Zoll tief ins Eichenholz gebohrt.«

»Kanntest du die Zofe?« erkundigte sich Angua. Ein Teil von ihr nahm diese Frage mit Verlegenheit zur Kenntnis.

»Nein, eigentlich nicht.«

»Ich dachte, du kennst alle Leute in dieser Stadt.«

»Ich habe Nimmer Niedlich nur hin und wieder gesehen. Ankh-Morpork ist voller Leute, die man hin und wieder sieht.«

»Warum brauchen Bettler Bedienstete?«

»Glaubst du etwa, mein Haar bringt sich von allein in diese Form?«

Eine Erscheinung zeigte sich in der Tür. Ihr Gesicht schien nur aus wunden Stellen zu bestehen. Und aus Warzen, die ihrerseits Warzen hatten, und darauf wuchsen Haare. Die Gestalt mochte weiblichen Geschlechts sein, aber angesichts der vielen Schichten aus Lumpen ließ sich das kaum feststellen. Das bereits erwähnte Haar schien seine Dauerwelle von einem Orkan erhalten zu haben – mit Sirup an den Fingern.

Die Erscheinung richtete sich auf.

»Oh. Korporal Karotte. Ich wußte nicht, daß du es bist.«

Ihre Stimme klang jetzt völlig normal, weder jammernd noch einschmeichlerisch. Die Gestalt drehte sich um, holte mit ihrem Stock aus und traf etwas im Flur.

»Unartiger Sabbernder Siegfried! Du hättest mir sagen sollen, daß es Korporal Karotte ist!«

»Arrgh!«

Die Gestalt kam herein.

»Und wer ist deine Freundin, Herr Karotte?«

»Wenn ich vorstellen darf… Obergefreite Angua – Molly, Königin der Bettler.«

Diesmal erlebte Angua keine Überraschung, weil sie zur Wache gehörte. Königin Molly nickte ihr nur zu, grüßte sie wie eine arbeitende Frau eine andere. Die Gilde der Bettler war ein Arbeitgeber, der allen Angestellten die gleichen Chancen bot.

»Guten Tag. Du hast nicht zufällig zehntausend Dollar für eine kleine Villa übrig?«

»Nein.«

»Dachte ich mir.«

Königin Molly deutete auf die Leiche.

»Was ist dafür verantwortlich, Korporal?«

»Ich glaube, es steckt eine neue Art von Waffe dahinter.«

»Wir hörten, wie das Glas splitterte, und dann lag sie dort«, sagte Molly. »Warum sollte jemand meine Zofe umbringen?«

Karotte betrachtete den Samtmantel.

»Wessen Zimmer ist dies?« fragte er.

»Meins. Hier kleide ich mich an.«

»Dann hatte es der Mörder nicht auf Nimmer Niedlich abgesehen, sondern auf dich, Molly. ›Einige in Lumpen, andere in Fetzen, und eine im samtenen Gewand.‹ So steht’s in eurer Satzung. Die offizielle Garderobe des Oberhauptes der Bettlergilde. Vermutlich konnte deine Zofe der Versuchung nicht widerstehen – Nimmer Niedlich wollte sehen, wie sie mit dem Gewand aussieht. Die richtige Kleidung, aber die falsche Person.«

Molly hob die Hand zum Mund und riskierte damit eine mittelschwere Vergiftung.

»Die Assassinen?«

Karotte schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Sie töten gern aus der Nähe. Sie legen großen Wert auf engen Kontakt zu ihren Kunden«, fügte er hinzu.

»Was soll ich jetzt machen?«

»Zunächst solltest du dafür sorgen, daß deine Zofe bestattet wird.« Erneut drehte Karotte das Stück Metall. Anschließend roch er daran.

»Feuerwerkskörper«, sagte er.

»Ja«, bestätigte Angua.

»Und was wollt ihr machen?« fragte Königin Molly. »Ihr seid doch Wächter! Was geht hier vor? Und was gedenkt ihr dagegen zu unternehmen?«

 

Knuddel und Detritus patrouillierten durch die Fleißige Straße. Dort gab es viele Gerbereien, Ziegelöfen und Holzlager. Dieser Teil von Ankh-Morpork hatte nicht den Ruf, besonders schön oder interessant zu sein, und Knuddel argwöhnte, daß man sie gerade deshalb hierhergeschickt hatte, »um die Stadt besser kennenzulernen«. Feldwebel Colon wollte sie aus dem Weg haben. Für ihn sah in ihrer Gegenwart alles unordentlich aus.

Stiefel klickten. Detritus’ Knöchel knirschten über den Boden. Ansonsten blieb alles still.

Schließlich sagte Knuddel: »Ich möchte, daß du folgendes weißt: Mir gefällt’s ebensowenig wie dir, daß ausgerechnet wir beide ein Streifenteam bilden.«

»Genau!«

»Aber wenn wir das Beste daraus machen wollen, müssen sich einige Dinge ändern, klar?«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel ist es lächerlich, daß du nicht einmal zählen kannst. Ich weiß, daß Trolle zählen können. Warum du nicht?«

»Kann zählen!«

»Wie viele Finger zeige ich dir?«

Detritus schielte auf Knuddels Hand.

»Zwei?«

»Na schön. Und wie viele sind es jetzt?«.

»Zwei. Und noch einer.«

»Zwei und noch einer ergibt…?«

Panik erschien auf Detritus’ Miene. Er wähnte sich plötzlich im Labyrinth der höheren Mathematik.

»Zwei und noch einer ergibt drei.«

»Zwei und noch einer ergibt drei.«

»Und jetzt?«

»Zwei und zwei.«

»Das sind vier

»V-vier.«

»Wie viele Finger sind’s diesmal

Knuddel zeigte acht.

»Zweivier.«

Der Zwerg runzelte überrascht die Stirn. Er hatte eine andere Antwort erwartet, wie »viele« oder »eine Menge«.

»Was meinst du mit ›zweivier‹?«

»Zwei und zwei und zwei und zwei.«

Knuddel neigte den Kopf zur Seite.

»Hmm«, sagte er. »Na schön. Normalerweise nennt man zweivier acht

»Ackt.«

Knuddel bedachte Detritus mit einem kritischen Blick. »Weißt du… vielleicht bist du gar nicht so dumm, wie du aussiehst. Was ohnehin kaum möglich sein dürfte. Laß uns darüber nachdenken. Besser gesagt: Ich denke darüber nach, und du hilfst mir dabei, wenn du die richtig Worte gelernt hast.«

 

Mumm knallte die Tür des Wachhauses hinter sich zu. Feldwebel Colon sah vom Schreibtisch auf und wirkte recht zufrieden.

»Was ist geschehen, Fred?«

Colon holte tief Luft.

»Interessante Dinge haben sich zugetragen, Hauptmann. Nobby und ich… wir haben ermittelt. Bei der Narrengilde. Es ist alles notiert. Ich meine, ich hab’ alles aufgeschrieben. Hier. Ein richtiger Bericht.«

»Gut.«

»Ich meine, ich hab’s aufgeschrieben. Mit Satzzeichen und allem.«

»Ausgezeichnet.«

»Kommas und Punkte und so.«

»Es wird mir bestimmt gefallen, Fred.«

»Und die… und Knuddel und Detritus haben ebenfalls Dinge herausgefunden. Auch Knuddel hat einen Bericht geschrieben. Er enthält allerdings nicht so viele Satzzeichen wie meiner.«

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Sechs Stunden.«

Mumm versuchte, in seinem Denken Platz für Neues zu schaffen. Es wollte ihm nicht recht gelingen.

»Ich muß mir den Magen füllen«, sagte er. »Mit Kaffee oder so. Dann sieht die Welt hoffentlich etwas besser aus.«

 

Wenn jemand in der Fleißigen Straße unterwegs gewesen wäre, hätte er einen Zwerg und einen Troll gesehen, die sich aufgeregt anschrien.

»Zwei-zweiunddreißig, und acht, und eins!«

»Na bitte! Aus wie vielen Ziegeln besteht der Stapel dort?«

Kurze Stille.

»Sechzehn, acht, vier und eins!«

»Denk daran, was ich dir über das Teilen durch acht-und-zwei gesagt habe.«

Diesmal längere Stille.

»Zwan-zig-neun?«

»Genau!«

»Genau!«

»Du schaffst es!«

»Ich es schaffen!«

»Es fällt dir nicht schwer, bis zwei zu zählen!«

»Es mir nicht fallen schwer, zu zählen bis zwei!«

»Und wenn du bis zwei zählen kannst, rückt jede Zahl in deine Reichweite!«

»Wenn ich kann bis zwei zählen, jede Zahl sein in meiner Reichweite!«

»Und dann liegt dir die Welt zu Füßen!«

»Und dann… da ich muß aufpassen, daß ich nicht treten auf Welt.«

 

Angua mußte sich beeilen, um mit Karotte Schritt zu halten.

»Sollten wir uns nicht das Opernhaus vornehmen?« fragte sie.

»Später. Wer auch immer auf dem Dach gewesen ist… Inzwischen hat er sich bestimmt aus dem Staub gemacht. Nein, wir müssen erst dem Hauptmann Bescheid geben.«

»Glaubst du, Nimmer Niedlich wurde von demselben Mörder umgebracht wie Herr Hammerhock?«

»Ja.«

 

»Das sein… neun Vögel.«

»Stimmt!«

»Und… eine Brücke.«

»Ja.«

»Und… vier-zehn Boote.«

»Genau.«

»Das sein… ein-tausend, drei-hundert, sech-zig, vier Ziegel.«

»Ja.«

»Das sein…«

»Ich schlage vor, du ruhst deinen Intellekt jetzt ein wenig aus. Wir sollten ihn nicht mit zuviel Zählen abnutzen…«

»Das sein… ein laufender Mann…«

»Was? Wo?«

 

Sham Hargas Kaffee war wie geschmolzenes Blei, aber eins mußte man ihm zugestehen: Wenn man ihn getrunken hatte, erfüllte einen mit tiefer Erleichterung, daß der Becher endlich leer war.

»Der Kaffee hat scheußlich geschmeckt, Sham«, sagte Mumm.

»Gut«, erwiderte Harga.

»Ich meine, ich trinke nicht zum erstenmal scheußlichen Kaffee, aber dieses Zeug schabt einem über die Zunge wie eine Säge. Wie lange hast du ihn gekocht?«

»Welches Datum haben wir heute?« fragte Harga und putzte ein Glas. Er putzte dauernd Gläser. Niemand hatte je herausgefunden, was mit den sauberen Exemplaren passierte.

»Heute ist der fünfzehnte August.«

»Und welches Jahr?«

Sham Harga lächelte. Das heißt, er bewegte einige Muskeln im Bereich des Mundes. Schon seit vielen Jahren führte er erfolgreich ein Eßlokal, indem er immer lächelte, nie Kredit gewährte und wußte, daß seine Gäste hauptsächlich zwischen vier Nahrungsgruppen wählen wollten: Zucker, Stärke, Fett und halb Verkohltes, das angenehm knirschte, wenn man darauf kaute.

»Ich möchte zwei Eier«, sagte Mumm. »Das Eigelb richtig hart, und das Weiße so zähflüssig wie Schleim. Und ich möchte Schinken mit viel Knorpel und hängenden Fettstreifen. Und gebratenes Brot, dessen Anblick schon die Arterien verstopft.«

»Schwierige Bestellung«, sagte Harga.

»Gestern hast du’s hingekriegt. Und ich möchte noch mehr Kaffee. So schwarz wie eine mondlose Nacht.«

Harga hob überrascht die Brauen. Das sah dem Mumm, den er kannte, gar nicht ähnlich.

»Wie schwarz soll das sein?« fragte er.

»Oh, hübsch ordentlich schwarz, denke ich.«

»Nicht unbedingt.«

»Wie?«

»In einer mondlosen Nacht leuchten mehr Sterne am Himmel, weil sie nicht vom Mond überstrahlt werden. Woraus folgt: Eine mondlose Nacht kann recht hell sein.«

Mumm seufzte.

»Wie wär’s mit einer bewölkten mondlosen Nacht?«

Harga sah nachdenklich zur Kaffeekanne.

»Cumulus oder Cirronimbus?«

»Was? Ich verstehe nicht…«

»Cumuluswolken hängen tief und reflektieren die Lichter einer Stadt. Hinzu kommen eventuelle Eiskristalle, die in großen Höhen…«

»Eine mondlose Nacht«, sagte Mumm mit hohler Stimme. »Eine mondlose Nacht, die so schwarz ist wie der Kaffee dort drüben.«

»In Ordnung!«

»Und ein gefülltes Gebäckstück.« Mumm griff nach Hargas fleckiger Weste und zog ihn so nah zu sich heran, daß ihre Nasen fast aneinanderstießen. »Ich meine Gebäck, das aus Mehl, Wasser, einem großen Ei, Zucker, etwas Hefe und Zimt besteht und mit Marmelade, Gelee oder Rattenfleisch gefüllt ist, je nach Spezies und persönlichem Geschmack. Hast du verstanden? Ich meine Gebäck und keine verdammte Metapher, ist das klar? So groß sind meine Ansprüche gar nicht. Ein ganz normales Stück Gebäck reicht mir, kapiert?«

»Ein Gebäckstück. Mit Füllung.«

»Ja.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

Harga strich seine Weste glatt, warf Mumm einen beleidigten Blick zu und verschwand in der Küche.

 

»Halt! Im Namen des Gesetzes!«

»Wie Gesetz heißen?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Warum wir verfolgen Mann?«

»Weil er wegläuft!«

Knuddel war erst seit wenigen Tagen bei der Wache, doch er hatte bereits ein wichtiges Prinzip erkannt: Wer sich auf der Straße befand, brach praktisch automatisch das eine oder andere Gesetz. Ein Polizist, der sich mit einem Zivilisten die Zeit vertreiben möchte, kann ihm zahlreiche Delikte zur Last legen: von »verdächtiges Verhalten« über »Behinderung« bis zu »unbefugter Aufenthalt und falsche(s) Farbe/Form/Spezies/Geschlecht«. Wer nicht floh, obgleich sich Detritus mit ziemlich hoher Geschwindigkeit näherte, konnte aufgrund der Dummheitsverordnung von 1581 zur Rechenschaft gezogen werden, überlegte Knuddel. Doch die beiden Wächter verfolgten den Mann, weil er floh, und der Mann floh, weil ihn zwei Wächter verfolgten.

 

Mumm trank Kaffee und betrachtete das Objekt, das er auf dem Dach gefunden hatte.

Es sah aus wie eine kurze Panflöte mit sechs Noten, zwischen denen es überhaupt keinen Unterschied gab. Die einzelnen kurzen Röhren bestanden aus Stahl, und sie waren zusammengeschweißt. An der Seite befand sich ein Streifen aus gezacktem Metall wie ein flaches, glatt gehämmertes Zahnrad. Das ganze Ding roch nach Feuerwerkskörpern.

Mumm legte es behutsam neben den Teller.

Er las Feldwebel Colons Bericht. Offenbar hatte sich Fred Colon viel Zeit dafür genommen und häufig in einem Wörterbuch nachgesehen. Der Text lautete:

»Bericht von Fwbl. F. Colon. Ungef. 10 Uhr morgens, heute, 15. August, habige ich in Begleitung von Korporal, C. W. St. J. Nobbs, die Gilde der Narren und Witzbolde in der Gottesstraße besuchet, wo wir sprachen mit dem Clown Boffo, der meinte, Clown Beano, der corpus derelicti, sei definitief von ihm, Clown Boffo, gesehen worden, und zwar am vorherigen Morgen kurz nach der Explosion. (Das ist meiner Meinung nach völlig irre, weil der Bursche zum gefraglichen Zeitpunkt schon seit zwei Tagen tot war, Kpl. C. W. St. J. Nobbs stimmet mir dazu, woraus folgt, hier erzählt jemand Kwatsch, man traue nie jemandem, der sich seinen Lebensunterhalt verdienet, indem er dauernd auf den eigenen Arsch fällt.) Im Anschlusse daran sprachen wir mit Herrn Weißgesicht und er gab uns fast das derriere velocite. Wir gewwannen den Eindruck, damit meine ich mich selbst und Kpl. C. W. St. J. Nobbs, daß die Narren glauben, die Assassinen steckigen dahinter, aber den Grund kennen wir nicht. Außerdem hat uns der Clown Boffo aufgefordert, nach Beanos Nase zu suchen, aber er hatte eine Nase, als wir ihn hier sahen, und deshalb fragten wir Clown Boffo, meinst du eine falsche Nase aus Pappe oder so, und er antwortete, nein, ich meine eine richtige, und jetzt haut ab. Woraufhin wir hierher zurückkehrten.«

 

Nicht ohne Mühe fand Mumm heraus, was derriere velocite bedeutete. Die Sache mit der Nase erschien ihm wie ein Rätsel, das in einem Geheimnis oder in Colons Handschrift verborgen war, was auf dasselbe hinauslief. Warum sollten sie nach einer Nase suchen, die überhaupt nicht fehlte?

Der Hauptmann nahm sich Knuddels Bericht vor. Der Zwerg hatte die Buchstaben eher gemalt als geschrieben. Er schien eher an Runen gewöhnt zu sein. Und an Epen.

»Hauptmann Mumm, hiermit soll erzählt werden die Chronik von mir, Obergefreiter Knvddel. Strahlend war der Morgen und leicht vnsere Herzen, als wir vns begaben zvr Alchimistengilde, wo sich die Ereignisse so zvtrvgen, wie ich sie nvn besingen werde. Dazv gehören avch explodierende Kvgeln. Was betreffet die Mission, mit der wir beavftragt wvrden: Man teilte vns mit, daß der beiliegende Zettel (beiliegend) avfweist die Handschrift von Leonard da Qvirm, der vnter mysteriösen Vmständen verschwand. Die Schriftzeichen geben Avskvnft, wie man das sogenannte Pvlver Nvmmer Eins herstellt, das man bei Feverwerkskörpern verwendet. Der Alchimist Herr Silberfisch gab zvr Avskvnft, daß alle Alchimisten über besagtes Pulver Bescheid wissen. Am Rande isset darüber hinavs eine Zeichnvng vom Gfähr, ich habe meinen Vetter Schnapptopf nach Leonard gefragt, er kennt ihn, weil er ihm Farbe verkavfte, vnd er – mein Vetter – erkannte die Handschrift ebenfalls vnd meinte, Leonard schrieb immer rückwärts, weil er ein Dschenie war. Ich habe selbiges hiermit kopiert.«

 

Mumm ließ die Blätter sinken und legte das Objekt aus Metall darauf.

Dann griff er in die Tasche und holte zwei Bleiklumpen hervor.

Der urbane Troll auf dem Dach hatte von einem Stock gesprochen.

Mumm betrachtete die Skizze. Sie zeigte etwas, das aussah wie der Schaft einer Armbrust mit einem Rohr darauf. Weitere Linien deuteten seltsame Mechanismen an. Hinzu kamen zwei der flötenartigen Gegenstände. Auf den ersten Blick wirkte alles wie sinnloses Gekritzel. Jemand – wahrscheinlich Leonard – hatte ein Buch über Feuerwerkskörper gelesen und dies an den Rand gemalt.

Feuerwerkskörper.

Feuerwerkskörper waren keine Waffen. Böller machten Bumm. Raketen stiegen auf – mehr oder weniger – und bohrten sich in den Himmel.