Hammerhock hatte als wahrer Könner in mechanischen Dingen gegolten. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Ansicht war das keineswegs eine für Zwerge typische Eigenschaft. Sie verstanden sich auf den Umgang mit Metall, und sie stellten gute Schwerter und Schmuck her, aber wenn’s um Zahnräder und Federn ging, zeichnete sich nicht jeder von ihnen durch technischen Sachverstand aus. Anders ausgedrückt: Hammerhock war die Ausnahme von der Regel.

Also…

Angenommen, es gab eine Waffe. Angenommen, sie unterschied sich von den herkömmlichen Waffen. Angenommen, sie war etwas Neues, etwas Erschreckendes…

Nein, ausgeschlossen. Entweder gab es sie bald überall, oder sie wurde zerstört. Sie endete bestimmt nicht im Museum der Assassinen. Was brachte man in Museen unter? Dinge, die nicht funktionierten, die aus der Vergangenheit stammten und nicht vergessen werden sollten. Hatte es einen Sinn, spezielle Feuerwerkskörper in einer Vitrine aufzubewahren, damit man sie ansehen und bestaunen konnte?

Die Tür war mit mehreren Schlössern gesichert gewesen. Das war kein Museum, das man einfach so betrat. Vielleicht mußte man ein hochrangiger Assassine sein. Vielleicht wurde man irgendwann vom Gildenoberhaupt in diese Kammer geführt, mitten in der Nacht. Vielleicht hielt er dort eine kurze Ansprache und…

Aus irgendeinem Grund schob sich an dieser Stelle das Gesicht des Patriziers vor Mumms inneres Auge.

Erneut hatte er das Gefühl, daß er ganz dicht vor einer wichtigen, fundamentalen Erkenntnis stand…

 

»Wohin jetzt? Wohin?«

Ein Durcheinander aus Gassen umgab sie. Knuddel lehnte an einer Wand und schnappte nach Luft.

»Dorthin!« rief Detritus. »Zum Fischbeinweg!«

Er wankte wieder los und setzte die Verfolgung fort.

 

Mumm stellte den Kaffeebecher ab.

Wer auch immer mit Bleiklumpen auf ihn geschossen hatte, hatte trotz einer Entfernung von mehr als zweihundert Metern sehr genau zielen können. Außerdem waren die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Schüssen zu kurz gewesen, als daß ein Bogenschütze Gelegenheit gehabt hätte, einen neuen Pfeil auf die Sehne zu setzen.

Mumm griff nach einer Flöte, die mit ziemlicher Sicherheit nicht musikalischen Zwecken diente. Sechs kleine Röhren, sechs Schüsse. Man konnte sich die Taschen damit vollpacken. Man konnte damit schneller und über eine größere Entfernung hinweg schießen…

Eine neue Waffe. Eine neue Art von Waffe. Viel schneller als ein Bogen. Das würde den Assassinen nicht gefallen. Bestimmt nicht. Selbst den Bogen lehnten sie ab. Assassinen zogen es vor, aus nächster Nähe zu töten.

Und deshalb… verstauten sie das Gfähr an einem sicheren Ort. Allein die Götter wußten, wie sie überhaupt in den Besitz des Apparats gelangt waren. Nur einige wenige Assassinen mit sehr hohem Rang wußten Bescheid und gaben das Geheimnis weiter: Hütet euch vor solchen Geräten…

 

»Da unten! Er ist gelaufen in Tastgasse!«

»Nicht so schnell! Langsamer!«

»Wieso?« fragte Detritus.

»Es ist eine Sackgasse.«

Die beiden Wächter blieben dankbar stehen.

Knuddel wußte, daß er gewissermaßen das Gehirn des Teams darstellte – auch wenn Detritus gerade die Ziegelsteine in der Mauer neben ihnen zählte und stolz strahlte.

Warum hatten sie jemanden durch die halbe Stadt gejagt? Weil er weglief. Niemand lief vor der Wache weg. Diebe zeigten einfach ihre Lizenzen. Ein Dieb ohne Lizenz fürchtete sich nicht vor der Wache, weil er seine ganze Furcht für die Diebesgilde brauchte. Assassinen achteten das Gesetz. Und ehrliche Bürger hatten keinen Grund, vor der Wache zu fliehen19 – so etwas war im höchsten Maße verdächtig.

Der Ursprung des Namens »Tastgasse« verlor sich glücklicherweise im Nebel der Zeit, aber er konnte kaum treffender sein. Im Laufe der Zeit hatte sich die Gasse in eine Art Tunnel verwandelt, als die Häuser rechts und links aufgestockt worden waren – bis nur noch ein schmaler, mehrere Zentimeter breiter Streifen Himmel zu sehen war.

Hier herrschte ewiges Zwielicht, durch das man sich vorsichtig einen Weg tasten mußte.

Knuddel blickte um die Ecke.

Klick. Klick.

Die Geräusche kamen aus der Dunkelheit.

»Detritus?«

»Ja?«

»Hat der Bursche eine Waffe?«

»Nur einen Stock. Einen

»Äh. Ich rieche Feuerwerkskörper.«

Knuddel zog sicherheitshalber seinen Kopf zurück.

Auch in Hammerhocks Werkstatt hatte es nach Feuerwerkskörpern gerochen. Und Herr Hammerhock war an einem großen Loch in der Brust gestorben. Namenvolles Entsetzen – das ist viel wirkungsvoller als namenloses – erfaßte Knuddel. Ein solches Gefühl stellt sich ein, wenn man um hohe Einsätze pokert und die Gestalt auf der anderen Seite des Tisches plötzlich grinst, was einen daran erinnert, daß man nicht alle Regeln des Spiels kennt. Plötzlich kommt man zu dem alles andere als angenehmen Schluß, daß man sich glücklich schätzen kann, wenn man wenigstens das Hemd behält.

Andererseits… Knuddel stellte sich Feldwebel Colons Gesichtsausdruck vor. Wir sind dem Mann bis zu einer Sackgasse gefolgt, Feldwebel, und dann haben wir seine Spur verloren…

Er zog sein Schwert.

»Obergefreiter Detritus?«

»Ja, Obergefreiter Knuddel?«

»Folge mir.«

 

Warum? Das verdammte Ding bestand aus Metall. Zehn Minuten in einem heißen Schmelztiegel lösten das Problem. Einen so gefährlichen Gegenstand… Warum ließ man ihn nicht einfach verschwinden? Aus welchem Grund sollte man ihn behalten?

Es widersprach wohl der menschlichen Natur, so etwas zu zerstören. Manche Dinge waren viel zu faszinierend, um sie zu vergessen.

Mumm betrachtete das Objekt, das er zunächst für eine besonders exotische Panflöte gehalten hatte. Sechs kurze Röhren, zuammengeschweißt und am einen Ende versiegelt. Oben hatte jede Röhre ein kleines Loch…

Der Hauptmann griff nach einem der Bleiklumpen…

 

Die Tastgasse wand sich hin und her, aber es zweigten keine anderen Wege ab. Es gab nur eine Tür am Ende der Gasse; sie war groß und massiv.

»Wo sind wir?« hauchte Knuddel.

»Keine Ahnung«, erwiderte Detritus. »Irgendwo im Bereich der Docks, ich nehmen an.«

Knuddel schob die Tür mit dem Schwert auf.

»Knuddel?«

»Ja?«

»Wir neun-und-siebzig Stufen hinter uns gebracht!«

»Schön.«

Kalte Luft strich an ihnen vorbei.

»Ein Fleischlager«, flüsterte Knuddel. »Jemand hat das Schloß geknackt.«

Er schlüpfte durch den Spalt und betrat einen hohen, düsteren Raum, der es nicht nur nach seinen Ausmaßen mit einem Tempel aufnehmen konnte. Hier und dort fiel mattes Licht durch hohe, eisverkrustete Fenster. Fleischkörper hingen an langen Gestellen, die bis zur Decke emporreichten.

Sie waren halb durchsichtig und so kalt, daß Knuddels Atem zu feinem Schnee kondensierte.

»Meine Güte«, sagte Detritus. »Ich glauben, dies das Zukunftsschweinlager in der Morporkstraße.«

»Was?«

»Ich hier mal gearbeitet«, erklärte Detritus. »Hab überall gearbeitet. Fort mit dir, du dummer Troll, du zu doof«, fügte er kummervoll hinzu.

»Gibt es einen anderen Ausgang?«

»Haupttor sich öffnen zur Morporkstraße. Aber monatelang niemand kommen hierher. Bis das Schweinefleisch existieren.«20

Knuddel schauderte.

»Du bist hier drin!« rief er. »Zeig dich! Hier ist die Wache!«

Eine dunkle Gestalt trat zwischen zwei Präschweinen hervor.

»Was wir jetzt machen?« fragte Detritus.

Der Fremde hob einen Stock und hielt ihn wie eine Armbrust.

Es knallte. Etwas prallte an Knuddels Helm ab.

Eine steinerne Hand griff nach dem Kopf des Zwergs – Detritus schob seinen kleinen Kollegen hinter sich.

Die Gestalt näherte sich schnell und schoß dabei.

Detritus blinzelte. In seinem Brustharnisch waren fünf Löcher.

Der Laufende erreichte die Tür und warf sie hinter sich zu.

 

»Hauptmann Mumm?«

Mumm sah auf. Hauptmann Schrulle und zwei andere Männer von der Tagwache standen vor ihm.

»Ja?«

»Komm mit uns. Und gib mir dein Schwert.«

»Was?«

»Du hast mich verstanden, Hauptmann.«

»Ich bin’s, Schrulle. Sam Mumm. Was soll der Unfug?«

»Das ist kein Unfug. Und meine Männer – Männer, hörst du? – sind mit Armbrüsten bewaffnet. Es wäre sehr dumm von dir, Widerstand zu leisten.«

»Oh. Bin ich verhaftet?«

»Wir verhaften dich nur dann, wenn du uns nicht begleitest…«

 

Der Patrizier saß im Rechteckigen Büro und blickte aus dem Fenster. Eine Kakophonie aus vielen Glocken hatte gerade darauf hingewiesen, daß es fünf Uhr geworden war, und nun verklang das Läuten.

Mumm salutierte. Von hinten betrachtet, sah Vetinari aus wie ein fleischfressender Flamingo.

»Oh, Mumm«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Bitte, komm hierher. Und sag mir, was du siehst.«

Mumm verabscheute Ratespiele, trotzdem trat er an die Seite des Patriziers.

Vom Rechteckigen Büro aus konnte man die halbe Stadt überblicken – zumindest die Dächer und Türme. Mumms Phantasie besetzte die Türme mit Männern, die Gfähre hatten. Vetinari wäre ein leichtes Ziel gewesen.

»Was siehst du, Hauptmann?«

»Die Stadt Ankh-Morpork, Herr«, erwiderte Mumm und achtete darauf, daß sein Gesicht ausdruckslos blieb.

»An was denkst du dabei, Hauptmann?«

Mumm kratzte sich am Kopf. Wenn der Patrizier unbedingt ein Spiel mit ihm spielen wollte…

»Nun, Herr, als ich noch ein Kind war, hatten wir eine Kuh, und eines Tages wurde sie krank, und ich sollte den Stall in Ordnung bringen…«

»Ich denke dabei an eine Uhr«, sagte der Patrizier. »Große Räder, kleine Räder. Alles tickt. Die kleinen Räder drehen sich, die großen ebenfalls. Sie drehen sich alle unterschiedlich schnell. Der Apparat funktioniert. Darauf kommt’s an. Denn wenn er plötzlich defekt wird…«

Abrupt drehte er sich um und kehrte mit raubtierartigem Gang zum Schreibtisch zurück.

»Manchmal gerät das eine oder andere Sandkorn zwischen die Räder, dann drehen sie sich nicht mehr richtig. Ein Sandkorn genügt.«

Vetinari sah auf und bedachte Mumm mit einem kühlen Lächeln.

»Das lasse ich nicht zu.«

Mumm starrte an die Wand.

»Wenn ich mich recht entsinne, habe ich dich aufgefordert, gewisse Dinge zu vergessen, Hauptmann.«

»Herr.«

»Was soll ich mit dir anfangen?«

»Ich weiß es nicht, Herr.«

Mumm blickte weiterhin zur Wand. Er wünschte sich, Karotte wäre zugegen. Der Junge mochte einfach und simpel sein, doch ab und zu bemerkte er gerade dadurch Dinge, die andere Leute übersahen. Außerdem übten seine einfachen, simplen Ideen einen großen Reiz aus. Zum Beispiel das mit den Polizisten. Während sie einmal in der Straße der Geringen Götter patrouillierten, hatte Karotte gefragt: »Weißt du, woher das Wort Polizist stammt, Hauptmann?« Mumm verneinte, worauf Karotte erläuterte: »Früher gebrauchte man das Wort ›Polis‹ für ›Stadt‹, und daher bedeutet ›Polizist‹ in etwa ›Mann der Stadt‹. Nur wenige Leute wissen das. Darüber hinaus beschreibt der Begriff auch das angemessene Verhalten einer Person, die in einer Stadt lebt. Mit anderen Worten: Ein Polizist sollte höflich und zuvorkommend sein.«

Mann der Stadt… Karotte steckte voller solcher Informationen. Zum Beispiel hatte Mumm immer geglaubt, daß die Wächter Uniformen trugen, damit die Bürger die Wächter erkannten. Doch in Wirklichkeit wurden die Wächter von den Uniformen getragen. Wenn jemand die entsprechende Kleidung überstreifte, so wurde er jemand anders – ein Polizist.

In seiner Freizeit las Karotte Bücher. Das fiel ihm nicht unbedingt leicht. Hätte man ihm den Zeigefinger abgeschnitten, wäre er in echte Schwierigkeiten geraten. Er las langsam, aber ständig. Und an seinen freien Tagen wanderte er durch die Stadt.

»Hauptmann?«

Mumm blinzelte.

»Herr?«

»Du hast keine Ahnung von dem empfindlichen Gleichgewicht der Dinge in Ankh-Morpork. Die Sache mit den Assassinen und dem Zwerg und dem Clown… Du hörst sofort auf zu ermitteln.«

»Nein, Herr. Unmöglich.«

»Gib mir deine Dienstmarke.«

Eigentlich hatte Mumm nie richtig darüber nachgedacht. Die Marke war ein Teil von ihm geworden, etwas, das man einfach hatte und dem man kaum Beachtung schenkte.

»Meine Dienstmarke?«

»Und dein Schwert.«

Langsam löste Mumm den Schwertgürtel. Seine Finger fühlten sich wie Bananen an – noch dazu wie Bananen, die ihm gar nicht gehörten.

»Und die Dienstmarke?«

»Äh. Nein. Die behalte ich.«

»Und warum?«

»Weil es meine Dienstmarke ist.«

»Du ziehst dich ohnehin bald in den Ruhestand zurück. Wenn du heiratest.«

»Ja.«

Ihre Blicke trafen sich.

»Wieviel bedeutet sie dir?«

Mumm zögerte und suchte vergeblich nach den richtigen Worten. Er hatte immer eine Dienstmarke besessen; er wußte gar nicht, ob er ohne sie zurechtkam.

»Na schön«, sagte Lord Vetinari schließlich. »Wenn ich mich recht entsinne, findet deine Hochzeit morgen mittag statt.« Seine langen Finger griffen nach der Einladungskarte mit Goldrand auf dem Schreibtisch. »Ja. Behalt die Dienstmarke. Ich erlaube dir, dich ehrenvoll in den Ruhestand zurückzuziehen. Doch das Schwert behalte ich. Außerdem wird die Tagwache bald im Wachhaus eintreffen, um deine Leute zu entwaffnen. Die Nachtwache wird hiermit aufgelöst, Hauptmann Mumm. Vielleicht darf sie irgendwann in den Dienst zurückkehren, unter dem Befehl eines anderen Kommandanten – wenn und wann ich es für richtig halte. Bis dahin sind deine Männer beurlaubt.«

»Du willst die Tagwache schicken? Einen Haufen von…«

»Was hast du gesagt?«

»Nichts, Herr.«

»Und solltest du es noch einmal wagen, meine Anweisungen zu ignorieren… dann gehört deine Dienstmarke mir, klar?«

 

Knuddel öffnete die Augen. – »Lebst du?« fragte Detritus.

Der Zwerg nahm vorsichtig den Helm ab. Auf der einen Seite zeigte sich eine Rille, und er hatte Kopfschmerzen.

»Alles deutet auf eine geringfügige Hautabschürfung hin«, sagte Detritus.

»Eine was? Ooooh.« Knuddel verzog das Gesicht. »Was ist mit dir?« Der Troll wirkte irgendwie seltsam. Er schien sich verändert zu haben – nicht nur wegen der Löcher.

»Nun, der Brustharnisch hat mir zumindest etwas genützt«, erwiderte Detritus. Er zog an den Riemen, und im Bereich des Gürtels kamen fünf Metallscheiben zum Vorschein. »Hätte er nicht einen Teil der Aufprallwucht absorbiert, hätte ich sicher tiefere Kratzer abbekommen.«

»Was ist mit dir geschehen? Warum sprichst du so?«

»Was meinst du?«

»Wo hast du das Ich-großer-Troll-Gerede versteckt?«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht…«

Knuddel fröstelte und stampfte mit den Füßen.

»Laß uns von hier verschwinden.«

Sie eilten zur Tür. Sie war verschlossen.

»Kannst du sie aufbrechen?« fragte der Zwerg.

»Nein. Hätte man dieses Lager nicht trollsicher gemacht, wäre es längst leer. Tut mir leid.«

»Detritus?«

»Ja?«

»Stimmt was nicht? Dein Kopf dampft.«

»Ich fühle mich… äh…«

Detritus blinzelte. Eis klirrte leise. Seltsame Dinge geschahen hinter seiner Stirn.

Gedanken, die normalerweise ganz langsam durch sein Gehirn krochen, entfalteten plötzlich vibrierende Vitalität. Und es schienen immer mehr zu werden.

»Meine Güte«, sagte Detritus schließlich.

Diese Bemerkung war für einen Troll so untypisch, daß Knuddel die Kälte zumindest für einige Sekunden vergaß und seinen Kollegen groß anstarrte.

»Ich glaube, ich lerne gerade das Phänomen des Nachdenkens kennen«, sagte Detritus. »Und ich finde es sehr interessant.«

»Was bedeutet das alles?«

Mehr Eis knisterte und fiel zu Boden, als sich Detritus den Kopf rieb.

»Natürlich!« entfuhr es ihm. Er hob einen ziemlich großen Zeigefinger. »Supraleitfähigkeit!«

»Wie bitte?«

»Mein Gehirn besteht aus unreinem Silizium, das Wärme schlecht ableitet. Die normalen Tagestemperaturen sind zu hoch, dadurch sinkt die mentale Elaborationsgeschwindigkeit. Wenn es noch heißer wird, schaltet sich das Hirn ganz ab, und der betreffende Troll erstarrt bis zum Einbruch der Nacht, doch wenn die Temperatur unter eine kritische Schwelle sinkt, nimmt die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehirns zu, und der Troll denkt immer schneller und…«

»Ich glaube, ich erfriere bald«, sagte Knuddel.

Detritus sah sich um.

»Dort oben sind verglaste Öffnungen in der Mauer«, stellte er fest.

»Zu hoch«, murmelte Knuddel, der immer mehr Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. »Ich könnte sie nicht einmal dann erreichen, wenn… wenn ich auf deine… Schultern klettere…«

»Oh, nach meinem Plan müssen wir etwas durch eine der Öffnungen werfen und auf diese Weise dafür sorgen, daß man uns hilft«, erwiderte der Troll.

»Welcher… Plan?«

»Ich habe insgesamt dreiundzwanzig Pläne entwickelt, aber dieser führt mit einer Wahrscheinlichkeit von siebenundneunzig Prozent zum Erfolg«, sagte Detritus und strahlte.

»Du… hast doch gar nichts… zum Werfen«, wandte Knuddel ein.

»O doch.« Detritus hob den Zwerg hoch. »Keine Sorge. Ich kann die richtige Flugbahn genau berechnen. Wenn du draußen bist, brauchst du nur Hauptmann Mumm oder Karotte zu holen.«

Knuddels mühsam hervorgebrachte Proteste verklangen, als er durch die eiskalte Luft flog und zusammen mit der Fensterscheibe verschwand.

Detritus setzte sich. Das Leben war so einfach, wenn man genau darüber nachdachte. Und jetzt dachte er nach.

Er kalkulierte eine Wahrscheinlichkeit von sechsundsiebzig Prozent, daß seine Temperatur um mindestens sieben Grad sinken würde.

 

Herr Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnapper, Händler, Kaufmann, Spekulant und Allesverkäufer, hatte lange über ethnische Nahrungsmittel nachgedacht. Sie könnten eine natürliche Erweiterung seiner bisherigen Geschäfte sein. Der Verkauf von Würstchen-in-Brötchen lief nicht mehr, doch es gab Trolle und Zwerge mit Taschen voller Geld – oder wo auch immer Trolle ihre Münzen aufbewahrten. Geld im Besitz anderer Leute widersprach nach Schnappers Ansicht der natürlichen Ordnung der Dinge.

Die kulinarischen Bedürfnisse der Zwerge konnten relativ leicht befriedigt werden. Ratte-am-Stiel stellte Schnapper kaum vor Probleme, auch wenn es bedeutete, daß er den allgemeinen Qualitätsstandard seiner Lebensmittel anheben mußte.

Was die Trolle betraf, suchte er Rat bei Chrysopras, der noch immer ein Troll war, aber kaum mehr als solcher zu erkennen war. Er lebte schon so lange in der Gesellschaft von Menschen, daß er einen Anzug trug und den zivilisierten Umgang gelernt hatte, zum Beispiel Erpressung und Geldverleih mit 300 Prozent Zinsen im Monat. Chrysopras mochte in einer Höhle über der Schneegrenze geboren sein, aber ihm genügten fünf Minuten in Ankh-Morpork, um sich anzupassen. Schnapper hielt Chrysopras für seinen Freund; niemand stellte ihn sich gern als Feind vor.

Heute wollte Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin den ersten Schritt auf geschäftliches Neuland wagen. Er schob seinen Imbißkarren durch schmale und breite Straßen und rief dabei immer wieder:

»Würstchen! Heiße Würstchen! Im Brötchen! Fleischpasteten! Holt sie euch, solange sie noch warm sind!«

Damit wollte er sich nur in Stimmung bringen. Menschen wären höchstens nach einer zweiwöchigen Zwangsdiät bereit gewesen, etwas aus Schnappers Topf zu kaufen. Und selbst dann hätten sie es nur mit verbundenen Augen und verstopfter Nase hinuntergewürgt.

Er sah sich verschwörerisch um – es arbeiteten immer einige Trolle im Bereich der Docks – und nahm den Deckel von einem neuen Behälter.

Wie hieß das Zeug? Oh, ja…

»Dolomitische Konglomerate! Leckere dolomitische Konglomerate! Manganputzen! Holt sie euch, solange… äh… es noch Manganputzen sind!« Schnapper zögerte kurz und fügte dann hinzu: »Bimsstein! Bimsstein! Kalktuff! Nur ein Dollar! Gerösteter Kalkstein…«

Mehrere Trolle näherten sich neugierig.

»Du siehst… äh… hungrig aus«, sagte Schnapper zu dem kleinsten Troll und grinste breit. »Warum probierst du nicht unseren speziell gewürzten Schieferton-mit-Brötchen? Ist leckerer als nur lecker. Und erst das überaus köstliche Aufschwemmgestein.«

T.M.S.I.D.R. Schnapper hatte den einen oder anderen Charakterfehler, aber Speziesismus gehörte nicht zu seinen schlechten Eigenschaften. Er mochte jeden, der Geld hatte, ungeachtet Farbe und Form der Hand, die es ihm reichte. Schnapper glaubte an eine Welt, in der intelligente Wesen frei und hoch erhobenen Hauptes leben sowie ungehindert nach Zufriedenheit und Glück streben konnten. Wenn sie außerdem bereit waren, etwas aus seinen Imbißtöpfen zu kaufen – um so besser.

Der Troll hob argwöhnisch den oberen Teil eines Brötchens.

»Igitt!« entfuhr es ihm. »Da überall drinstecken Ammoniten! Bäh!«

»Wie bitte?« fragte Schnapper.

»Es sein alter, abgestandener Schiefer«, klagte der Troll.

»Im Gegenteil! Er ist ganz frisch! So wie ihn deine Mutter aus dem Felsgestein hämmerte!«

»Und dieser Granit überall enthalten Quarz«, brummte ein anderer Troll, der Schnapper weit überragte. »Quarz verstopfen Arterien.«

Er knallte den Stein aufs Tablett und wankte fort, gefolgt von den anderen Trollen. Gelegentlich sahen sie sich um und warfen Schnapper mißtrauische Blicke zu.

»Alt und abgestanden?« rief Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin. »Alt – meinetwegen. Aber abgestanden? Es sind Steine, um Himmels willen!«

Er zuckte mit den Schultern. Na schön. Ein guter Geschäftsmann mußte Verluste hinnehmen und sie in Grenzen halten.

Er schloß den für Trolle reservierten Behälter und öffnete einen anderen.

»Grubenspezialitäten! Grubenspezialitäten! Ratte! Ratte! Ratte-am-Stiel! Ratte-mit-Brötchen! Holt euch die Ratten, solange sie tot sind! Leckere…«

Weiter oben splitterte Glas, und kurz darauf landete Obergefreiter Knuddel mit dem Kopf voran im Topf.

»Nichts überstürzen«, sagte Schnapper. »Es ist genug da.«

»Hol mich hier raus«, ertönte Knuddels gedämpfte Stimme. »Oder reich mir den Ketchup.«

Schnapper zog an den Zwergenstiefeln. Eis klebte daran.

»Bist gerade erst aus den Bergen gekommen, wie?«

»Wo ist der Mann, der den Schlüssel für das Lager dort hat?«

»Wenn du keine Ratten magst, solltest du etwas anderes probieren, zum Beispiel…«

Wie durch Magie erschien Knuddels Axt in seiner Hand.

»Ich schneide dir die Knie ab«, kündigte er an.

»WendedichanGerhardtSockevonderFleischergilde.«

»In Ordnung.«

»BittenimmjetztdieAxtweg.«

Knuddel stürmte fort, seine Stiefel rutschten übers Kopfsteinpflaster.

Schnapper sah auf die Reste seines Karrens. Seine Lippen bewegten sich, als er rechnete.

»He!« rief er. »Du schuldest mir… Du schuldest mir das Geld für drei Ratten!«

 

Lord Vetinari spürte einen Anflug von Scham und Verlegenheit, als sich die Tür hinter Hauptmann Mumm schloß. Der Grund dafür blieb ihm ein Rätsel. Er war zwar ziemlich hart gewesen, aber die besondere Situation erforderte das.

Er nahm einen Schlüssel aus einem Schränkchen neben dem Schreibtisch, trat an die Wand heran und berührte eine Stelle, die sich nicht von anderen Stellen zu unterscheiden schien. Doch man brauchte dort nur ein wenig zu drücken, und eine verborgene Tür schwang an gut geölten Angeln auf.

Niemand kannte alle Wege und Geheimgänge im Palast. Es hieß, daß sich manche von ihnen nicht nur auf das Gebäude beschränkten. Außerdem gab es unter der Stadt viele Gewölbe. Jemand mit einer Spitzhacke und einem guten Orientierungssinn konnte jeden beliebigen Ort erreichen, indem er Löcher in vergessene Mauern schlug.

Lord Vetinari brachte mehrere schmale Treppen hinter sich, trat durch einen Korridor und gelangte schließlich zu einer Tür. Dort schob er den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn. Das kleine Portal schwang an ebenfalls gut geölten Angeln auf.

Dahinter lag nicht unbedingt ein Verlies. Der Raum war groß, und durch hohe Fenster fiel genug Licht herein. Es roch nach Holzspänen und Leim.

»Achtung!«

Der Patrizier duckte sich.

Etwas Fledermausartiges summte über ihn hinweg, drehte mitten im Zimmer mehrere Kreise und platzte dann auseinander.

»Schade«, sagte jemand. »Tja, zurück zum Reißbrett. Guten Tag, Euer Lordschaft.«

»Guten Tag, Leonard«, sagte der Patrizier. »Was war das?«

»Ich nenne es ›Fluggerät-mit-schlagenden-Flügeln‹«, antwortete Leonard da Quirm und trat von der Startleiter herunter. »Es funktioniert mit Hilfe von eng zusammengewickelten Guttapercha-Bändern – allerdings nicht sehr gut, fürchte ich.«

Leonard da Quirm war kein sehr alter Mann. Er gehörte zu den Leuten, die schon mit dreißig weise aussahen und sechzig Jahre später immer noch den gleichen Eindruck erweckten. Er war auch nicht in dem Sinne kahlköpfig. Sein Kopf schien durch das Haar gewachsen zu sein und wölbte sich darüber wie ein hoher, kuppelförmiger Felsen über wucherndem Dschungel.

Dauernd rasen Inspirationen durchs Universum. Ihr Ziel ist der richtige Kopf zur richtigen Zeit. Wenn sie auf empfangsbereite Neuronen treffen, kommt es zu einer Kettenreaktion. Kurze Zeit später blinzelt jemand im Scheinwerferlicht eines Fernsehstudios und fragt sich verwirrt, wie er auf die Idee gekommen ist, Brot fertig geschnitten zu verkaufen.

Leonard da Quirm wußte über Inspirationen Bescheid. Eine seiner ersten Erfindungen war eine geerdete Schlafmütze aus Metall – er hoffte, damit vor den verdammten Ideen geschützt zu sein, die dauernd sein Bewußtsein quälten. Es klappte nur selten. Meistens fand er morgens nach dem Erwachen diverse nächtliche Notizen, zum Beispiel Zeichnungen neuer Waffen oder erste Entwürfe für Apfelschälmaschinen.

Der Familie da Quirm mangelte es nicht an Geld. Leonard hatte viele gute Schulen besucht. Dort saugte er Wissen auf, trotz seiner Angewohnheit, aus dem Fenster zu starren und Skizzen vom Flug der Vögel anzufertigen. Er gehörte zu jenen unglücklichen Individuen, deren Schicksal es ist, von der Welt und allem Existierenden fasziniert zu sein, die den Dingen ständig auf den Grund gehen wollen, ob es ihnen paßte oder nicht…

Leonard übte seinerseits Faszination aus, zum Beispiel auf Lord Vetinari, was den Umstand erklärte, daß er noch lebte. Wenn man etwas Einzigartiges zerstörte, ging es für immer verloren. Davor schreckte selbst jemand wie der Patrizier zurück.

Leonard war der ideale Gefangene. Wenn man ihm genug Holz, Draht, Farbe sowie Papier und Stifte gab, war er die ganze Zeit über brav.

Lord Vetinari schob einige Zeichnungen beiseite und setzte sich.

»Die sind ausgezeichnet«, sagte er. »Was stellen sie dar?«

»Karikaturen«, erwiderte Leonard.

»Die von dem Jungen, dessen Drachen in einem Baum steckt, ist gut«, stellte der Patrizier fest.

»Danke. Soll ich uns Tee kochen? Ich bekomme nur selten Besuch, abgesehen von dem Mann, der die Türangeln ölt.«

»Ich bin gekommen, um…«

Der Patrizier unterbrach sich und deutete auf eine andere Zeichnung.

»Da klebt ein Stück gelbes Papier dran«, sagte er. Mißtrauen erwachte in ihm. Er zog daran. Das Papier löste sich von der Zeichnung – und blieb an seinen Fingern kleben. Leonards krakelige Handschrift hatte es mit folgender Botschaft versehen: ».neppalk uz tniehcs sE: reipapzitoN«

»Darauf bin ich echt stolz«, sagte Leonard. »Ich nenne es ›Praktische-Zettel-um-Notizen-zu-schreiben-die-Dinger-kleben-fest-aber-man-kann-sie-wieder-lösen‹.«

Der Patrizier betrachtete den gelben Zettel.

»Woraus besteht der Klebstoff?«

»Aus gekochten Nacktschnecken.«

Lord Vetinari zog den Zettel von seiner Hand ab, woraufhin er an der anderen festklebte.

»Bist du deswegen hier?« fragte Leonard.

»Nein«, erwiderte der Patrizier. »Ich bin gekommen, um mit dir über das Gfähr zu sprechen.«

»Oh, die Sache tut mir sehr leid.«

»Ich fürchte, das Objekt ist… abhanden gekommen.«

»Meine Güte. Ich dachte, du hättest es verschwinden lassen.«

»Ich habe es den Assassinen gegeben, damit sie es zerstören. Immerhin sind sie stolz auf die künstlerische Qualität ihrer Arbeit. Die Vorstellung, daß jeder über eine solche Macht verfügen könnte, müßte sie eigentlich zutiefst entsetzen. Aber die verdammten Narren haben das Ding behalten. Sie glaubten, es sicher einschließen zu können. Und jetzt ist es weg.«

»Sie haben es nicht zerstört?«

»Nein, offenbar nicht.«

»Ebensowenig wie du. Ich frage mich, warum.«

»Ich… kenne den Grund nicht. Kannst du dir das vorstellen?«

»Ich hätte es nie konstruieren dürfen. Es ist nur die Anwendung schlichter Prinzipien: Ballistik, einfache Aerodynamik, chemische Kraft. Die Legierung war ein Problem, genauso der gezogene Lauf. Dafür mußte ich ein kompliziertes Werkzeug herstellen. Milch? Zucker?«

»Nein, danke.«

»Ich nehme an, man sucht danach, oder?«

»Die Assassinen halten Ausschau. Aber sie werden das Gfähr nicht finden. Weil sie falsch denken.« Der Patrizier griff nach einigen Skizzen des menschlichen Skeletts. Sie stimmten in allen Einzelheiten.

»Oje.«

»Deshalb vertraue ich auf die Wache.«

»Wohl besonders auf Hauptmann Mumm, den du schon einmal erwähnt hast.«

Lord Vetinari fand stets großen Gefallen an seinen Gesprächen mit Leonard. Der Erfinder sprach von der Stadt, als wäre sie eine ganz andere Welt.

»Ja.«

»Hoffentlich hast du ihm die große Bedeutung dieser Aufgabe klargemacht.«

»In gewisser Weise. Ich habe ihm zweimal verboten, Ermittlungen anzustellen.«

Leonard nickte. »Aha. Ich verstehe. Und ich hoffe, es klappt alles. – Es wäre vermutlich besser gewesen, wenn ich das Gerät wieder demontiert hätte, aber es erschien mir so… natürlich. Ich hatte den Eindruck, daß ich nur etwas zusammensetzte, das bereits existierte. Manchmal frage ich mich, woher die Idee überhaupt kam. Das Gfähr auseinanderzunehmen… aus irgendeinem Grund sah ich darin fast ein Sakrileg. Ebensogut hätte ich versuchen können, eine Person… äh… aus dem Verkehr zu ziehen. Möchtest du einen Keks?«

»Manchmal ist es notwendig, die eine oder andere Person aus dem Verkehr zu ziehen«, sagte Lord Vetinari.

»Ansichtssache«, entgegnete Leonard da Quirm höflich.

»Du hast eben von ›Sakrileg‹ gesprochen«, fuhr der Patrizier fort. »Normalerweise sind daran doch auch Götter beteiligt, nicht wahr?«

»Habe ich wirklich das Wort ›Sakrileg‹ benutzt? Ich kann mir kaum vorstellen, daß es einen Gott der Gfähre gibt.«

»Das fällt auch mir schwer.«

Lord Vetinari rutschte ein wenig zur Seite und griff hinter sich.

»Was ist das?« erkundigte er sich.

»Oh, ich habe es schon gesucht«, erwiderte Leonard. »Es ist ein Modell meiner Dreht-sich-in-die-Luft-Maschine.«21

Lord Vetinari bewegte den kleinen Rotor.

»Würde der Apparat funktionieren?«

»Ja«, sagte Leonard sofort. Dann seufzte er. »Vorausgesetzt, man findet einen Mann, der so stark ist wie zehn Männer und der die Kurbel in einer Minute tausendmal drehen kann.«

Der Patrizier entspannte sich. Dadurch wurde auf eine subtile Weise deutlich, daß er sich vorher ein wenig versteift hatte.

»Jetzt läuft also ein Mann mit einem Gfähr in der Stadt herum«, sagte er. »Er hat es einmal erfolgreich verwendet, und fast wäre es ihm auch ein zweites Mal gelungen, seine Absichten zu verwirklichen. Könnte jemand anders das Gfähr noch einmal erfinden?«

»Nein«, antwortete Leonard. »Ich bin ein Genie.« Es war nur eine Feststellung; Anmaßung lag dem Erfinder fern.

»Verstehe. Aber wieviel Genialität ist nach der Erfindung des Gfährs erforderlich, um ein zweites Exemplar herzustellen?«

»Das Ziehen des Laufs erfordert erhebliches technisches Geschick. Die Ladevorrichtung für das Geschoßmagazin muß gut ausbalanciert sein, und das Ende des Laufs…« Leonard sah den Ausdruck auf dem Gesicht des Patriziers und zuckte mit den Schultern. »Nur ein sehr cleverer Bursche wäre imstande, ein zweites Exemplar zu bauen.«

»In dieser Stadt wimmelt’s von cleveren Burschen«, sagte Lord Vetinari. »Damit meine ich nicht nur Menschen, sondern auch Zwerge und all die anderen.«

»Das tut mir alles sehr leid.«

»Die Leute denken nie nach.«

»In der Tat.«

Der Patrizier lehnte sich zurück und sah zu den Fenstern empor.

»Sie eröffnen einen Dreimal Glücklichen Fischimbiß an der Stelle, wo sich einst die Mauern des alten Tempels in der Unheilsstraße erhoben. Und welchen Zeitpunkt wählen die Idioten? Den Abend der Wintersonnenwende. Und zufälligerweise auch noch bei Vollmond.«

»Tja, so sind die Leute eben.«

»Ich habe nie herausgefunden, was mit Herrn Hong passiert ist.«

»Armer Kerl.«

»Und dann die Zauberer. Pfuschen dauernd herum. Nehmen sich nie Zeit, gründlich nachzudenken, bevor sie nach einem Streifen der Realität greifen und versuchsweise daran ziehen.«

»Schockierend.«

»Und die Alchimisten. Ihre Vorstellung von Bürgerpflicht ist es, Dinge zu mischen und abzuwarten, was passiert.«

»Die Explosionen höre ich selbst hier unten.«

»Und dann kommt jemand wie du…«

»Es tut mir schrecklich leid.«

Lord Vetinari drehte das Modell der Flugmaschine hin und her.

»Du träumst vom Fliegen«, sagte er.

»O ja. Dann wären die Menschen wirklich frei. In der Luft, wo es keine Grenzen gibt. Es könnte keinen Krieg mehr geben, weil der Himmel endlos ist. Wenn wir die Möglichkeit hätten, aufzusteigen und zu fliegen, fänden wir wahres Glück.«

Vetinari drehte den kleinen Apparat noch immer in seinen Händen.

»Ja«, sagte er leise. »Vielleicht stimmt das.«

»Ich hab’s mit einem Aufziehmechanismus versucht, aber das funktionierte nicht.«

»Oh.«

»Wie sehr man sie auch spannt: Die Kraft von Federn ist begrenzt.«

»O ja«, erwiderte der Patrizier. »Ich verstehe. Wenn man eine Feder in der einen Richtung aufzieht, setzt sie ihre Kraft in der anderen frei. Und manchmal muß man die Feder fester als sonst aufziehen, wodurch man riskiert, daß sie bricht.«

Vetinaris Gesichtsausdruck veränderte sich.

»Meine Güte«, sagte er.

»Bitte?« fragte Leonard.

»Er hat nicht an die Wand geklopft. Vielleicht bin ich diesmal zu weit gegangen.«

 

Detritus saß im Fleischlager und dampfte. Er verspürte Appetit, aber nicht nach etwas Eßbarem, sondern nach neuen Dingen, über die es nachzudenken lohnte. Mit sinkender Temperatur nahm die Effizienz seines Gehirns immer mehr zu. Und es brauchte Dinge, mit denen es sich beschäftigen konnte.

Er berechnete die Anzahl der Ziegelsteine in der nächsten Mauer und wechselte dabei mehrmals die Basis des Zahlsystems: zwei, zehn und schließlich sechzehn. Die Zahlen formten sich von ganz allein und marschierten stolz an seinem inneren Auge vorbei. Detritus entdeckte Division und Multiplikation. Er erfand für sich persönlich die Algebra, die ihn ein oder zwei Minuten lang ablenkte. Dann lichtete sich der Nebel aus Zahlen, und als er den Blick hob, offenbarten sich ihm die funkelnden, fernen Berge des Infinitesimalkalküls.

Trolle lebten in hohen, felsigen und vor allem kalten Regionen. Ihre Siliziumgehirne waren an niedrige Temperaturen gewöhnt. Tief unten im Flachland war es immer warm, und dadurch wurden sie… dumm. Es brachen keineswegs dumme Trolle nach Ankh-Morpork auf, im Gegenteil: Solche Entscheidungen reiften in den klügeren Exemplaren. Doch die Stadt machte sie dumm.

Detritus galt selbst nach den Maßstäben der Trolle in Ankh-Morpork als debil. Eine Laune der Evolution hatte sein Gehirn für den Einsatz bei einer Temperatur vorgesehen, die in der Stadt nicht einmal während eines besonders kalten Winters herrschte.

Jetzt war die Idealtemperatur für Detritus’ Hirn fast erreicht. Leider hatte die Evolution vergessen, den Rest seines Körpers entsprechend anzupassen: Während Detritus immer schneller und besser dachte, näherte sich ihm der Tod.

Ein Teil seines Bewußtseins befaßte sich mit diesem Problem. Seine Rettung war sehr wahrscheinlich. Was bedeutete, daß man ihn von diesem Ort fortbrachte. Was bedeutete, daß er wieder dumm wurde. Das war so sicher wie 10-3 (Me/Mp6αG–½N˜10N.

Deshalb hielt er es für angemessen, das Beste aus seiner Situation zu machen.

Er kehrte in eine Welt aus Zahlen zurück, die so komplex waren, daß sie nur vorübergehend Bedeutung hatten. Und der Zeitpunkt des Erfrierens rückte immer näher.

 

Schnapper erreichte die Fleischergilde kurz nach Knuddel. Die große rote Tür war aufgebrochen worden; hinter der Schwelle saß ein kleiner Fleischer und rieb sich die Nase. »Wohin ist er gegangen?«

»Er is’ gelaufen. Un’ zwar dorthin.«

Im großen Saal der Gilde wankte der Meisterfleischer Gerhardt Socke im Kreis. Knuddels Stiefel ruhten auf seiner Brust. Der Zwerg hing an der Weste des Mannes wie ein Segler, der im Sturm laviert. Er schwang die Axt dicht vor Sockes Gesicht.

»Gib ihn mir, jetzt sofort! Sonst zwinge ich dich, deine eigene Nase zu essen!«

Einige Fleischerlehrlinge versuchten, nicht im Weg zu sein.

»Aber…«

»Widersprich mir nicht! Ich bin ein Wächter!«

»Aber du…«

»Ich gebe dir eine letzte Chance: Rück ihn endlich raus!«

Socke schloß die Augen.

»Was willst du?«

Die Zuschauer warteten gespannt.

»Ah«, sagte Knuddel. »Ahaha. Habe ich das nicht gesagt?«

»Nein!«

»Ich bin ziemlich sicher, daß ich dir einen Hinweis gegeben habe.«

»Das wäre mir bestimmt aufgefallen.«

»Na schön. Ich brauche den Schlüssel für das Zukunftsschweinlager, wenn du’s unbedingt wissen willst.« Knuddel sprang zu Boden.

»Warum?«

Die Axt erschien wieder vor Sockes Nase.

»War nur eine Frage«, sagte Socke hastig. Verzweiflung zitterte in seiner leisen Stimme.

»Ein Mann der Wache erfriert dort«, erklärte Knuddel.

 

Es hatte sich Publikum eingefunden, als es ihnen schließlich gelang, die große Tür zu öffnen. Eisklumpen fielen auf den Boden und brachen klirrend auseinander. Kalte Luft strömte aus dem Gebäude.

Rauhreif bedeckte den Boden und die vielen Fleischkörper bei ihrer Reise rückwärts durch die Zeit. Er bedeckte auch einen detritusförmigen Haufen in der Mitte des großen Raums.

Sie trugen ihn nach draußen in den Sonnenschein.

»Ist es normal, daß in seinen Augen ein solches Licht flackert?« fragte Schnapper.

»Hörst du mich?« rief Knuddel. »Detritus?«

Der Troll blinzelte. In der Wärme löste sich das Eis von ihm.

Er spürte das Ende eines wundervollen Universums aus Zahlen nahen. Die steigende Temperatur wirkte auf seine Gedanken wie ein Flammenwerfer auf Schnee.

»Sag was!« drängte Knuddel.

Türme aus Intellekt brachen zusammen, als das Feuer durch Detritus’ Gehirn toste.

»He, seht euch das an«, entfuhr es einem Lehrling.

Zahlen zierten die Innenwände des Lagers. In den Rauhreif waren Gleichungen gekratzt, die mindestens so komplex wirkten wie neuronale Netze. An einer Stelle der Berechnung hatte der Mathematiker statt Zahlen Buchstaben benutzt. Und dann hatten auch keine Buchstaben mehr genügt: Käfigartige Klammern umschlossen Ausdrücke, die für normale Mathematiker das darstellten, was eine Stadt für eine Landkarte war.

Die Formeln wurden einfacher, als sie sich dem Ziel näherten, doch ihre Schlichtheit barg eine spartanische, herrliche Komplexität.

Knuddel starrte sie groß an und wußte: Selbst nach einem hundert Jahre währenden, intensiven Studium wäre er nicht imstande, dies zu verstehen.

In der wärmeren Luft verflüchtigte sich der Rauhreif allmählich.

Die Gleichungen schrumpften, als sie sich der Stelle näherten, wo der Troll gesessen hatte. Schließlich beschränkten sie sich auf einige wenige Ausdrücke, die schimmerten und wie etwas Lebendiges pulsierten: Mathematik ohne Zahlen, so rein wie Blitze.

Am Ende der langen Rechnung erkannte Knuddel ein einfaches Symbol: =.

»Ist gleich was?« fragte er. »Gleich was?«

Der Rauhreif setzte seine Metamorphose fort und wurde zu Wasser.

Knuddel kehrte nach draußen zurück. Detritus hockte inzwischen in einer Pfütze, menschliche Zuschauer umringten ihn.

»Hat jemand von euch eine Decke für ihn?« fragte der Zwerg.

»Hä?« machte ein dicker Mann. »Wer würde eine Decke noch benutzen, nachdem sie auf einem Troll gelegen hat?«

»O ja, natürlich, völlig klar«, erwiderte Knuddel. Er sah zu den fünf Löchern in Detritus’ Brustharnisch. Für einen Zwerg befanden sie sich etwa in Kopfhöhe. »Könntest du bitte mal hierherkommen?«

Der Mann sah zu seinen Freunden, grinste und schlenderte näher.

»Ich nehme an, du siehst diese Löcher im Brustharnisch, nicht wahr?« fragte Knuddel.

T.M.S.I.D.R. Schnapper wußte, wie man überlebte. Nagetiere und Insekten erkennen schon an ersten, kaum merklichen Vibrationen, daß ein schweres Erdbeben bevorsteht. Auf ähnliche Weise witterte Schnapper Probleme in den Straßen der Stadt. Knuddel war zu nett. Wenn ein Zwerg jemandem so freundlich begegnete, war eine Gemeinheit zu erwarten.

»Ich… äh… kümmere mich wieder ums Geschäft«, sagte Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin und wich zurück.

»Ich habe natürlich nichts gegen Zwerge«, versicherte der Dicke unterdessen. »Ich meine, Zwerge sind wie richtige Leute. So sehe ich das. Kleinere Menschen, in gewisser Weise. Aber Trolle… Trolle sind eben anders, nich’ wahr?«

»Entschuldigung, Entschuldigung, Platz da, Platz da«, sagte Schnapper. Mit seinem Imbißwagen erreichte er eine Geschwindigkeit, für die man normalerweise ein Düsentriebwerk brauchte.

»Du hast da einen hübschen Mantel«, stellte Knuddel fest.

Schnappers Wagen sauste auf einem Rad um die Ecke.

»Ja, wirklich ein hübscher Mantel«, fuhr Knuddel fort. »Weißt du, was man mit einem solchen Mantel machen könnte?«

Der Mann runzelte die Stirn.

»Zieh den Mantel aus und gib ihn dem Troll«, sagte Knuddel.

»Na, so was! Du kleiner…«

Der Dicke packte den Zwerg am Kragen und zerrte ihn hoch.

Knuddels Hand bewegte sich sehr schnell. Metall kratzte.

Einige Sekunden lang verharrten Mensch und Zwerg absolut reglos. Dadurch boten sie einen interessanten Anblick.

Knuddels Kopf war auf einer Höhe mit dem Gesicht des Mannes. Interessiert beobachtete er, wie dessen Augen zu tränen begannen.

»Laß mich runter«, sagte Knuddel. »Ganz langsam. Ich kriege Zuckungen, wenn ich erschrecke.«

Der Arm des Dicken sank in Zeitlupe herab.

»Jetzt zieh den Mantel aus… gut so. Gib ihn mir. Sehr freundlich.«

»Deine Axt…«, brachte der Mann leise hervor.

»Axt? Welche Axt? Meine Axt?« Knuddel senkte den Blick. »Meine Güte. Wußte gar nicht, daß ich sie ausgerechnet dorthin gehalten habe. Tja, die Welt ist voller Überraschungen.«

Der Mann versuchte, auf Zehenspitzen zu stehen. Noch mehr Tränen lösten sich aus seinen Augen.

»Diese Axt hat einen sehr interessanten Aspekt«, dozierte Knuddel. »Es ist eine Wurfaxt. Drei Jahre hintereinander habe ich die Kupferkopf-Meisterschaft im Werfen von Wurfäxten gewonnen. Ich zog diese Axt und traf eine Sekunde später einen kleinen Zweig in einer Entfernung von dreißig Metern. Hinter mir. Und ich hatte eine Gallenkolik an jenem Tag.«

Er trat zurück. Der Mann sank dankbar auf die Füße.

Knuddel legte den Mantel um die Schultern des Trolls.

»Komm, steh auf. Laß uns heimkehren.«

Detritus stemmte sich hoch.

»Wie viele Finger zeige ich dir?« fragte Knuddel.

Der Troll sah aufmerksam hin.

»Zwei und noch einen?« erwiderte er unsicher.

»Das genügt«, sagte der Zwerg. »Fürs erste.«

 

Herr Käse blickte über die Theke auf Hauptmann Mumm. Der Eimer war an hingebungsvolle Trinker gewöhnt, die nicht nur fröhlich soffen, sondern den Alkohol mit der ernsten Entschlossenheit von Leuten, die der Nüchternheit für immer entkommen wollten, in sich hineinkippten. Das hier aber war neu und besorgniserregend. Der Wirt befürchtete, daß sich ein Todesfall anbahnte.

Niemand sonst befand sich in der Kneipe. Er hängte die Schürze an einen Haken und eilte zum Wachhaus. Am Eingang stieß er fast gegen Karotte und Angua.

»Oh, ich bin ja so froh, daß ich dir begegne, Korporal Karotte«, sagte der Wirt. »Du solltest besser mitkommen. Es geht um Hauptmann Mumm.«

»Was ist mit ihm passiert?«

»Keine Ahnung. Er hat ziemlich viel getrunken.«

»Ich dachte, er rührt das Zeug nicht mehr an!«

»Er scheint es sich anders überlegt zu haben«, erwiderte der Wirt kummervoll.

 

In der Nähe des Steinbruchwegs spielte sich folgende Szene ab.

»Wohin wir gehen?«

»Ich will dafür sorgen, daß dich jemand untersucht.«

»Keine Zwergendoktor!«

»Hier gibt’s bestimmt jemanden, der weiß, wie man dich mit schnell trocknendem Zement oder so behandelt. Ist es normal, daß du so sehr… äh… näßt?«

»Nicht wissen. Ich haben nie zuvor genäßt. Wohin wir gehen?«

»Keine Ahnung. Bin noch nie in dieser Gegend gewesen.«

Die »Gegend« erstreckte sich auf der Windseite eines Stadtviertels mit mehreren Viehhöfen und Schlachthäusern. Hier wollte niemand wohnen, abgesehen von Trollen, die organische Gerüche aller Art ebenso wahrnahmen wie Menschen den Duft von Granit. Darüber erzählte man sich diesen Witz: Die Trolle leben in der Nähe der Viehhöfe? Und der Geruch? Oh, dem Vieh macht er nichts aus…

Der Pointe fehlte natürlich jeder Sinn. Trolle rochen nur für andere Trolle.

Die Gebäude schienen aus einzelnen Steinplatten zusammengesetzt worden zu sein. Man hatte sie zunächst für Menschen errichtet und dann für Trolle angepaßt: den Zugang mit einigen Tritten verbreitert und die Fenster verschlossen.

»Ugh«, sagte Detritus.

»Komm schon, Großer«, schnaufte Knuddel und zog den Troll, wie Schlepper einen besonders großen Tanker ziehen.

»Obergefreiter Knuddel?«

»Ja?«

»Du sein ein Zwerg. Dies hier Steinbruchweg. Wenn man dich entdeckt hier, dann wir geraten in erhebliche Schwierigkeiten.«

»Wir sind Stadtwächter.«

»Chrysopras sich scheren einen Koprolith darum.«

Knuddel blickte sich um.

»Wie sehen bei euch die Ärzte aus?«

Ein Trollgesicht erschien in einer Tür. Dann noch eins. Und noch eins.

Was Knuddel eben noch für einen Schutthaufen gehalten hatte, stellte sich plötzlich als Troll heraus.

Überall wimmelte es von Trollen.

Ich bin ein Wächter, dachte Knuddel. Darauf weist Feldwebel Colon immer wieder hin. Er fordert mich dauernd auf, kein Zwerg mehr zu sein, sondern ein Wächter. Ich habe eine Dienstmarke in der Form eines Schilds. Ich repräsentiere die Stadtwache. Die Dienstmarke beweist es.

Wenn sie nur größer wäre.

 

Mumm saß stumm und reglos an einem Ecktisch im Eimer. Vor ihm lagen einige Zettel und Metallobjekte, aber er starrte auf seine Faust hinab. Sie ruhte auf dem Tisch, so fest geballt, daß die Knöchel weiß hervortraten.

»Hauptmann?« fragte Karotte und winkte vor Mumms Augen. Keine Reaktion.

»Wieviel hat er getrunken?«

»Zwei Schlückchen Whisky, mehr nicht.«

»Das dürfte keine solche Wirkung auf ihn haben, nicht einmal auf nüchternen Magen«, sagte Karotte.

Angua deutete auf einen Flaschenhals, der aus Mumms Tasche ragte.

»Ich glaube, er hat sich den Magen mit Alkohol gefüllt, bevor er hierherkam.«

»Hauptmann?« wiederholte Karotte.

»Was hält er da in der Hand?« fragte Angua.

»Ich weiß es nicht. Meine Güte, es ist schlimmer als jemals zuvor. Komm. Nimm du die Sachen. Ich nehme den Hauptmann.«

»Er hat die Zeche noch nicht bezahlt«, sagte Herr Käse.

Angua und Karotte sahen ihn an.

»Auf Kosten des Hauses«, fügte der Wirt hinzu.

 

Um Knuddel herum ragten Mauern aus Trollen empor – es gab keinen besseren Ausdruck, um diesen Anblick zu beschreiben. Derzeit beschränkten sich die steinernen Geschöpfe darauf, überrascht zu sein, wie Hunde, die gerade beobachtet hatten, wie eine Katze in den Zwinger schlenderte. Aber wenn sie zu dem Schluß gelangten, daß der Zwerg tatsächlich existierte… Von dem Moment an währte Knuddels Existenz nicht mehr lange.

Schließlich fragte jemand: »Wer er sein?«

»Er ein Wächter, wie ich«, antwortete Detritus.

»Er ein Zwerg.«

»Er ein Wächter.«

»Er verdammt frech, einfach so kommen hierher.« Ein Trollfinger stieß in Knuddels Rücken. Die übrigen Trolle schoben sich erwartungsvoll näher.

»Ich zählen bis zehn«, sagte Detritus. »Wer dann nicht fort sein, das sehr bedauern.«

»Du Detritus«, erwiderte ein besonders großer und breiter Troll. »Alle wissen, daß du bist dumm. Hast beschlossen, Stadtwächter zu werden, weil du dumm bist. Du so dumm, daß du gar nicht zählen kannst bis…«

Wumm.

»Eins«, sagte Detritus. »Zwei. Drei. Fier. Äh. Fünf. Sechs…«

Der liegende Troll sah verblüfft auf.

»Das sein Detritus, und er zählt

Etwas zischte leise, eine Axt prallte dicht neben Detritus’ Kopf von der Wand ab.

Zwerge kamen über die Straße, in eine Aura aus finsterer Entschlossenheit gehüllt. Die Trolle wankten auseinander.

Knuddel lief seinen Artgenossen entgegen.

»Was ist in euch gefahren?« rief er. »Seid ihr verrückt geworden?«

Einer der Zwerge richtete einen zitternden Zeigefinger auf Detritus.

»Wer ist das

»Ein Wächter.«

»Sieht wie ein Troll aus. Den schnappen wir uns!«

Knuddel trat einen Schritt zurück und holte die Axt hervor.

»Ich kenne dich, Starkimarm«, brummte er. »Was hat das zu bedeuten?«

»Das fragst du noch, Wächter?« erwiderte Starkimarm. »Von der Wache wissen wir, daß ein Troll Bjorn Hammerhock umgebracht hat. Man hat den Troll bereits gefunden!«

»Nein, unmöglich, ich…«

Hinter Knuddel ertönte ein Geräusch. Die Trolle kehrten angemessen bewaffnet zurück. Detritus drehte sich zu ihnen um und machte eine mahnende Geste.

»Wenn sich bewegt jemand von euch, ich wieder anfangen zu zählen«, drohte er.

»Ein Mensch hat Hammerhock ermordet«, sagte Knuddel. »Hauptmann Mumm glaubt…«

»Die Wache hat den Troll verhaftet«, knurrte ein Zwerg. »Verdammte Felsen!«

»Staubfresser!«

»Monolithen!«

»Rattenverschlinger!«

»Ha, ich erst seit kurzer Zeit in der Wache, und schon ich genug haben von euch dummen Trollen«, sagte Detritus. »Was glaubt ihr, Menschen sagen, hm? Sie sagen, Trolle sein ethnisch, nicht wissen, wie man sich benimmt in große Stadt, laufen herum und schwingen Keulen und schlagen zu, wenn ihnen kommt jemand kreuzquer.«

»Wir sind Wächter«, betonte Knuddel. »Unsere Aufgabe besteht darin, den Frieden zu sichern.«

»Gut«, entgegnete Starkimarm. »Sichert den Frieden woanders, bis wir hier fertig sind.«

»Dies nicht sein das Koomtal«, knirschte Detritus.

»Stimmt!« rief ein weiter hinten stehender Zwerg. »Diesmal können wir euch sehen!«

Vom einen Ende der Straße her näherten sich die Trolle, vom anderen kamen die Zwerge.

»Was würde Korporal Karotte in einer solchen Situation unternehmen?« flüsterte Knuddel.

»Er sagen, ihr unartige Leute, das mich ärgern, seid wieder brav.«

»Und dann gingen die ›unartigen Leute‹ fort?«

»Ja.«

»Was passiert, wenn wir es mit dieser Taktik versuchen?«

»Dann bald wir im Rinnstein suchen müssen unseren Kopf.«

»Ich fürchte, du hast recht.«

»Du sehen die Gasse dort? Ist eine hübsche Gasse. Sie sagen: Hallo, ihr den anderen 256+64+8+2+1 zu 1 unterlegen. Stattet ab mir Besuch.«

Eine Keule prallte an Detritus’ Helm ab.

»Los!«

Die beiden Wächter sprinteten in die Gasse. Die beiden Heere sahen ihnen nach, vergaßen vorübergehend ihre Differenzen und nahmen die Verfolgung auf.

»Wohin führen Gasse?«

»Sie führt weg von den Leuten, die hinter uns her sind.«

»Mir gefallen die Gasse.«

Die Verfolger versuchten, einen Zugang zu passieren, der gerade genug Platz bot für einen Troll. Während sie schoben und drängelten, wurde ihnen plötzlich klar, daß sich der Feind in unmittelbarer Nähe befand. Daraufhin kam es zu einem hauptsächlich mit Fäusten und Ellenbogen geführten Kampf auf dem schmalsten Schlachtfeld der Militärgeschichte.

Knuddel hob die Hand, damit Detritus stehenblieb. Anschließend spähte er um eine Ecke.

»Ich glaube, es droht keine Gefahr mehr«, sagte er. »Wir müssen jetzt nur noch das Ende der Gasse erreichen und dann zum Wachhaus zurückkehren, in Ordnung?«

Knuddel drehte sich um, doch von dem Troll war nichts mehr zu sehen. Er trat einen Schritt vor – und verschwand vorübergehend aus der Welt der Menschen.

 

»O nein«, stöhnte Feldwebel Colon. »Er wollte das Zeug nicht mehr anrühren! Seht nur! Eine ganze Flasche hat er in sich hineingeschüttet!«

»Was ist es?« fragte Nobby. »Bärdrückers Leckertropfen?«

»Ich glaube nicht. Immerhin atmet er noch. Komm, hilf mir.«

Die Nachtwache hatte sich eingefunden. Hauptmann Mumm saß im Wachhaus auf dem Boden.

Angua griff nach der Flasche und betrachtete das Etikett.

»T.M.S.I.D.R. Schnappers echter und einziger Naßbergtau«, las sie. »Er wird sterben! Hier steht: ›Alkoholgehalt hundertfünfzig Prozent‹.«

»Das ist kein Todesurteil, sondern nur Schnappers Reklame«, sagte Nobby. »Seine Prozentzahlen sind immer ziemlich groß.«

»Warum hat der Hauptmann sein Schwert nicht dabei?« fragte Angua.

Mumm öffnete die Augen und sah in Nobbys besorgte Miene.

»Aaargh!« brachte er hervor. »Dasch Schwert? Habsch weggeben! Hurra!«

»Wie bitte?« erwiderte Colon.

»Esch gibt keine Wache mehr! Allesch weg…«

»Ich glaube, er ist betrunken«, sagte Karotte.

»Betrunken? Ich scholl betrunken schein? Du würdescht nicht wagen, so etwasch zu behaupten, wenn ich nüchtern wäre!«

»Besorgt ihm Kaffee«, schlug Angua vor.

»Ich glaube, unser Kaffee hilft nicht mehr«, meinte Colon. »Nobby, lauf zur Dicken Sally in der Quetschbauchgasse. Hol einen Krug mit dem besonderen klatschianischen Zeug. Aber paß auf: keinen Metallkrug.«

Mumm blinzelte, als sie ihm auf einen Stuhl halfen.

»Allesch weg«, sagte er. »Bäng, bäng!«

»Lady Käsedick wird sehr ungehalten sein«, spekulierte Nobby. »Er hat ihr versprochen, nie mehr zu trinken.«

»Hauptmann Mumm?« fragte Karotte.

»Mhm?«

»Wie viele Finger zeige ich dir?«

»Mhm?«

»Na schön. Wie viele Hände siehst du?«

»Vier?«

»Meine Güte, so habe ich ihn seit Jahren nicht mehr erlebt«, sagte Colon. »Versuchen wir’s mal anders. Noch was zu trinken, Hauptmann

»Er braucht jetzt sicher nicht noch mehr Alko…«

»Laß nur. Ich weiß, worauf es jetzt ankommt. Noch ein Gläschen, Hauptmann Mumm?«

»Mhm?«

»Na, so was.« Colon trat zurück. »Er war immer in der Lage, mit einem lauten, deutlichen ›Ja‹ zu antworten. Ich fürchte, die Sache ist sehr ernst. Bringen wir ihn auf sein Zimmer.«

»Ich trage den armen Kerl«, bot sich Karotte an. Mühelos hob er Mumm hoch und legte ihn sich über die Schulter.

»Es gefällt mir gar nicht, ihn so zu sehen«, sagte Angua, als sie Karotte in den Flur und die Treppe hoch folgte.

»Er trinkt nur, wenn er deprimiert ist.«

»Warum sollte er deprimiert sein?«

»Manchmal wird er depressiv, weil er nichts zu trinken hat.«

Das Wachhaus am Pseudopolisplatz hatte einst als eine Familienresidenz der Käsedicks gedient. Jetzt war der erste Stock das mehr oder weniger improvisierte Quartier der Wache. Karotte hatte dort ein Zimmer. Nobby wohnte bereits im vierten Raum: Er zog immer dann um, wenn es schwierig wurde, den Boden wiederzufinden. Auch Mumm hatte eine Kammer für sich.

Allerdings gelang es selbst einem Häftling, seine Persönlichkeit in gewisser Weise auf die Zelle zu übertragen. Doch hier hatte Angua den Eindruck, ein Zimmer zu sehen, in dem nie jemand gewohnt hatte.

»Das hier ist sein Zuhause?« vergewisserte sie sich. »Meine Güte!«

»Was hast du erwartet?«

»Ich weiß nicht. Etwas. Irgend etwas. Aber das hier ist… nichts

Angua sah ein schmuckloses eisernes Bettgestell. Federn und Matratzen hatten so sehr nachgegeben, daß eine deutlich ausgeprägte Mulde den Benutzer sofort zwang, die Position eines Schlafenden einzunehmen. Hinzu kamen ein gesprungener Spiegel, darunter ein Waschbecken, auf dem ein Rasiermesser lag, sorgfältig mittwärts ausgerichtet – offenbar teilte Hauptmann Mumm den Volksglauben, daß dadurch die Klinge scharf blieb –, ein brauner Holzstuhl mit gebrochener Sitzfläche und eine kleine Truhe. Das war alles.

»Ich hätte wenigstens mit einem Bettvorleger gerechnet«, sagte Angua. »Oder mit einem Bild an der Wand.«

Karotte legte Mumm aufs Bett, wo er sofort in die richtige Position rutschte.

»Was ist mit deinem Zimmer?« fragte die junge Frau. »Hast du dort etwas Persönliches?«

»Ja. Ein Schnittdiagramm vom fünften Stollen daheim. Der hat sehr interessante Gesteinsschichten. Ich habe dabei geholfen, den Stollen anzulegen. Außerdem habe ich Bücher und andere Sachen. Eigentlich hält sich der Hauptmann hier nur selten auf. Er ist die meiste Zeit über unterwegs.«

»Aber hier gibt es nicht einmal eine Kerze!«

»Er hat mal gesagt, daß er den Weg zum Bett auch im Dunkeln findet.«

»Und kein einziger Ziergegenstand!«

»Unter dem Bett liegt ein großes Stück Pappe«, meinte Karotte. »Er hat’s in der Filigranstraße gefunden. Ich erinnere mich daran. Bei der Gelegenheit sagte er: ›Daraus lassen sich Sohlen anfertigen, die mindestens einen Monat halten.‹ Er hat sich sehr darüber gefreut.«

»Er kann sich nicht einmal ordentliche Stiefel leisten?«

»Ich glaube doch. Lady Sybil hat ihm mehrmals angeboten, ihm so viele neue Stiefel zu kaufen, wie er möchte, aber dieses Angebot schien ihn fast zu beleidigen. Offenbar wollte er sein Schuhwerk möglichst lange verwenden.«

»Aber auch du kannst dir Stiefel kaufen, obwohl du weniger verdienst. Und du schickst noch Geld nach Hause. Wahrscheinlich versäuft der Idiot alles.«

»Das bezweifle ich. Seit Monaten hat er nichts mehr getrunken. Lady Sybil hat ihn dazu gebracht, auf Zigarren umzusteigen.«

Mumm schnarchte laut.

»Kann man so jemanden bewundern?«

»Er ist ein guter Mann«, erwiderte Karotte.

Mit dem Fuß hob Angua den Deckel der kleinen Holztruhe.

»Das solltest du besser lassen«, mahnte der junge Mann.

»Ich werfe nur einen Blick hinein«, sagte Angua. »Das ist doch nicht verboten, oder?«

»Nach dem 1467 erlassenen Gesetz zur Regelung der Privatsphäre…«

»Da liegen nur alte Stiefel und solche Sachen drin. Und Papier.« Angua bückte sich und griff nach etwas, das wohl ein Buch sein sollte. Es war ein Bündel unterschiedlich großer Blätter, die zwischen zwei Pappdeckeln steckten.

»Das gehört dem Hauptmann…«

Angua öffnete das Buch und las einige Zeilen. Ihre Augen wurden immer größer.

»Sieh dir das an! Kein Wunder, daß er kein Geld hat.«

»Was meinst du?«

»Er gibt seinen Sold für Frauen aus! Ist das zu fassen? Sieh dir diese Einträge an. Vier in einer Woche!«

Karotte sah seiner Kollegin über die Schulter, während Mumm weiterschnarchte.

In der krakeligen Handschrift des Hauptmanns offenbarte das Buch folgende Liste:

 

Frau Schenkel, Zimperlichgasse: 5 $

Frau Hurtig, Sirupstraße: 4 $

Frau Kastanie, Kohlkrautgasse: 4 $

Annabel Curry, Tölpelpflaster: 2 $

 

»Mit Annabel Curry kann nicht viel los gewesen sein«, sagte Angua. »Sie hat nur zwei Dollar bekommen.«

Die Temperatur im Zimmer schien plötzlich zu sinken.

»Da hast du recht«, erwiderte Karotte langsam. »Immerhin ist Annabel erst neun Jahre alt.« Mit der einen Hand griff er nach Anguas Arm, mit der anderen zog er ihr das Buch aus den Fingern.

»He, laß los!«

»Feldwebel!« rief Karotte über die Schulter. »Würdest du bitte mal kommen?«

Angua versuchte, sich loszureißen. Aber Karottes Hand war ein Schraubstock.

Die Treppenstufen knirschten unter Colons Schritten, und kurz darauf öffnete sich die Tür.

Er hielt einen kleinen Becher mit einer Zange.

»Nobby hat den Kaffee gebr…«, begann er und brach dann ab.

Karotte bedachte die junge Frau mit einem strengen Blick. »Feldwebel, Obergefreite Angua würde gern über Frau Schenkel Bescheid wissen.«

»Die Witwe des alten Laufviel Schenkel? Wohnt in der Zimperlichgasse.«

»Und Frau Hurtig?«

»Die in der Sirupstraße? Ist Wäscherin geworden.« Feldwebel Colon musterte die beiden jungen Leute und versuchte, ein Gefühl für die Situation zu bekommen.

»Und Frau Kastanie?«

»Die Witwe von Feldwebel Kastanie. Verkauft Kohle in…«

»Und Annabel Curry?«

»Sie besucht noch immer die Barmherzigkeitsschule der Gehässigen Schwestern des siebenhändigen Sek.« Colon sah Angua an und lächelte nervös – er hatte noch immer keinen Schimmer, was dies alles zu bedeuten hatte. »Sie ist die Tochter von Korporal Curry, aber das war vor deiner Zeit…«

Angua musterte Karotte; dessen Gesicht blieb ausdruckslos.

»Die Witwen von Wächtern?« erkundigte sie sich.

Karotte nickte. »Und eine Waise.«

»Ist ein hartes Leben«, sagte Colon. »Witwen bekommen keine Pension.«

Wieder huschte sein Blick zwischen Angua und Karotte hin und her.

»Stimmt was nicht?« fragte er.

Karotte ließ die junge Frau los, legte das Buch in die Truhe und schloß den Deckel.

»Alles in Ordnung«, sagte er.

»Es tut mir l…«, begann Angua. Karotte ignorierte sie und nickte dem Feldwebel zu.

»Gib ihm den Kaffee.«

»Aber… vierzehn Dollar… das ist fast der halbe Sold!«

Karotte griff nach Mumms schlaffem Arm und versuchte, die immer noch geballte Faust zu öffnen – vergeblich. Der Hauptmann schlief zwar tief und fest, aber seine Hand blieb wie im Krampf geschlossen.

»Ich meine, der halbe Sold!«

»Was er da wohl so verzweifelt festhält?« murmelte Karotte. »Vielleicht gibt es uns einen Hinweis.«

Er nahm den Kaffee und zog Mumm am Kragen hoch.

»Trink das, Hauptmann«, sagte er. »Dann sieht alles viel… klarer aus.«

Klatschianischer Kaffee wirkt ernüchternder als der überraschende Besuch von Steuerfahndern. Kaffeeliebhaber verzichten nie auf die Vorsichtsmaßnahme, ordentlich betrunken zu sein, bevor sie von dieser ganz speziellen Spezialität kosten. Klatschianischer Kaffee macht nicht nur nüchtern. Er bringt einen auf die andere Seite der Nüchternheit, wo das menschliche Bewußtsein nie weilen sollte. Nach Nobbys und Colons Ansicht war Samuel Mumm normalerweise mindestens zwei Drinks im Minus, und brauchte einen ordentlichen Doppelten, um auch nur nüchtern zu werden.

»Langsam… langsam…« Karotte ließ einige Tropfen zwischen Mumms Lippen fallen.

Angua nahm einen neuerlichen Anlauf. »Hör mal, als ich vorhin sagte…«

»Schon gut.« Karotte drehte sich nicht einmal um.

»Ich wollte nur…«

»Schon gut

Mumm öffnete die Augen, erblickte die Welt und schrie.

»Nobby!« rief Colon.

»Ja, Feldwebel?«

»Was hast du besorgt? Heiße Rote Wüste oder Ringelberg Pur?«

»Rote Wüste, Feldwebel. Weil…«

»Darauf hättest du gleich hinweisen sollen.« Colon blickte in das von Entsetzen geprägte Gesicht des Hauptmanns. »Hol ein halbes Glas Bärdrückers Leckertropfen. Wir haben ihn zu weit auf die andere Seite geschickt.«

Das Glas wurde geholt und sein Inhalt als Medizin verabreicht. Mumm entspannte sich, als die Flüssigkeit ihre Wirkung entfaltete.

Die bisher zur Faust geballte Hand öffnete sich.

»Bei allen Göttern«, ächzte Angua. »Gibt es hier Verbandszeug?«

 

Der Himmel war eine kleine weiße Scheibe weit oben.

»Meine Güte, wo sind wir hier, Partner?« fragte Knuddel.

»In Höhle.«

»Unter Ankh-Morpork gibt es keine Höhlen. Die Stadt wurde auf Lehm errichtet.«

Knuddel war etwa drei Meter tief gefallen und auf Detritus’ Kopf gelandet, was den Aufprall ein wenig gemildert hatte. Der Troll hatte auf dem Boden gesessen, umgeben von verfaultem Holz, in… in einer Höhle. Das war Knuddels erster Eindruck. Als sich seine Augen ans Halbdunkel gewöhnt hatten, revidierte er ihn. Sie schienen in einem von Steinen gesäumten Tunnel zu sein.

»Ich nichts getan«, sagte Detritus. »Ich einfach nur gestanden, dann plötzlich alles saust nach oben.«

Knuddel griff in den Schlamm und hob ein Stück Holz hoch. Es war sehr dick – und sehr morsch.

»Wir sind durch etwas in etwas gefallen«, sagte er und strich mit der Hand über die gewölbte Tunnelwand. »Das nenne ich gute Maurerarbeit. Wirklich gut.«

»Wie können wir verlassen diesen Ort?«

Es gab keine Möglichkeit, nach oben zu klettern. Die Decke wölbte sich ein ganzes Stück über Detritus’ Kopf.

»Indem wir dem Verlauf dieses Tunnels folgen, schätze ich«, erwiderte Knuddel.

Er atmete die feuchte Luft mehrmals tief ein und schnupperte. Unter Tage haben Zwerge einen guten Orientierungssinn.

»Hier entlang«, sagte er und ging los.

»Knuddel?«

»Ja?«

»Niemand jemals darauf hingewiesen hat, daß es gibt Tunnel unter der Stadt.«

»Ja. Und?«

»Daher kein Ausgang. Weg hinaus bedeutet auch Weg hinein, und wenn niemand hiervon wissen, so deshalb, weil gibt nicht Zugang.«

»Aber dieser Tunnel führt irgendwohin

»Ja.«

Mehr oder weniger trockener, schwarzer Schlamm bildete einen Pfad im Tunnel. Von den Wänden tropfte Schleim, was darauf hindeutete, daß vor nicht allzu langer Zeit Wasser den Tunnel gefüllt hatte. Hier und dort wuchsen große Fladen Schimmelpilze, von denen ein mattes Glühen ausging.22

Knuddel fühlte, wie alle Sorgen von ihm abfielen, als er durch die Düsternis stapfte. Im Boden fühlten sich Zwerge immer besser als darüber.

»Wir finden bestimmt einen Ausweg«, sagte er.

»Ja.«

»Nun… wie bist du zur Wache gekommen?«

»Meine Freundin Rubin sagen, wenn du willst heiraten, so mußte du haben richtigen Dschob, ich nicht heiraten Troll, von dem Leute meinen, er sein so dumm wie… wie… wie ein Troll.« Detritus’ Stimme hallte durch die Dunkelheit. »Und du?«

»Ich habe mich gelangweilt. Arbeitete früher für meinen Schwager Beharrlich. Er verdient eine Menge Geld, indem er Zwergenrestaurants mit sogenannten Glücksratten beliefert. Du weißt schon: Ratten mit kleinen Zetteln drin, auf denen die Zukunft geschrieben steht.« Knuddel seufzte. »Meiner Ansicht nach ist das keine richtige Arbeit für Zwerge.«

»Klingt nicht wie anstrengende Tätigkeit.«

»Es fiel mir nicht leicht, dafür zu sorgen, daß die Ratten die verdammten Zettel schluckten.«

Knuddel blieb stehen. Eine Veränderung in der Luft verriet einen größeren Tunnel weiter vorn. Der Schlamm bildete nun eine dicke Schicht auf dem Boden, in der Mitte floß ein wenig Wasser. Ratten trippelten durch die Dunkelheit – zumindest hoffte der Zwerg, daß die Geräusche von Ratten stammten. Er glaubte, sogar durch den Filter des Erdreichs den dumpfen Pulsschlag der Stadt zu hören.

»Hier ist es wie in einem Tempel«, sagte er, und seine Stimme bewirkte Echos in der dunklen Ferne.

»Ich sehen Schrift an Wand«, verkündete Detritus.

Knuddel betrachtete die tief in den Stein gemeißelten Symbole.

»›VIA CLOACA‹«, las er. »Hm. ›Via‹ ist ein altes Wort für Straße oder so. Und ›Cloaca‹ bedeutet…«

Er starrte in die Finsternis.

»Wir sind in der Kanalisation«, sagte er schließlich.

»Kanali-was?« fragte Detritus.

Knuddel zögerte kurz. »Wo deponieren Trolle ihre… Abfälle?«

»Auf Straße«, antwortete Detritus. »Wegen Hügiene.«

»Dies ist eine unterirdische Straße für… Abfälle persönlicher Art«, erklärte Knuddel. »Ich wußte gar nicht, daß es in Ankh-Morpork so etwas gibt.«

»Vielleicht auch Ankh-Morpork nichts wissen davon«, vermutete Detritus.

»Mag sein. Dieser Ort ist alt. Wir sind hier sozusagen tief im Bauch der Stadt.«

»In Ankh-Morpork selbst Scheiße haben eine Straße allein«, staunte Detritus. »Wahrhaftig Land der unbegrenzten Möglichkeiten.«

»Hier steht noch mehr geschrieben«, sagte Knuddel und strich Schleim beiseite.

»Cirone IV me fabricat«, las der Zwerg laut. »Er war einer der frühen Könige, nicht wahr? He, verstehst du, was das bedeutet?«

»Seit gestern niemand mehr hiergewesen«, entgegnete Detritus.

»Nein! Dieser Tunnel ist mehr als zweitausend Jahre alt. Wer weiß, wann hier zum letztenmal jemand durchgegangen ist?«

»Gestern«, sagte der Troll.

»Gestern? Was hat gestern damit zu tun?«

»Fußspuren noch frisch«, meinte Detritus.

Er deutete in eine bestimmte Richtung.

Jemand hatte deutliche Spuren im Schlamm hinterlassen.

»Wie lange bist du schon in der Stadt?« fragte Knuddel. Trotz der Dunkelheit glaubte er plötzlich, auf einem Präsentierteller zu stehen.

»Neun Jahre. Das die Anzahl der Jahre ich schon leben in Ankh-Morpork. Neun«, betonte Detritus stolz. »Es sein eine von vielen Zahlen, die… ich kann zählen.«

»Hast du jemals von Tunneln unter der Stadt gehört?«

»Nein.«

»Aber jemand weiß darüber Bescheid.«

»Ja.«

»Was machen wir jetzt?«

Eigentlich erübrigte sich diese Frage. Sie hatten einen Mann bis zum Zukunftsschweinlager verfolgt und dafür fast mit dem Leben bezahlt. Kurz darauf gerieten sie in einen kleinen Krieg und wären beinah ums Leben gekommen. Jetzt steckten sie in einem mysteriösen Tunnel, in dem es frische Fußspuren gab. Knuddel stellte sich vor, wie Korporal Karotte oder Feldwebel Colon fragte: »Und was habt ihr dann unternommen?« Die hypothetische Antwort »Wir kehrten zurück« brachte ihn schon jetzt in Verlegenheit.

»Die Fußabdrücke führen dorthin«, sagte der Zwerg. »Und dann wieder hierher. Aber bei der zweiten Spur sind die Mulden nicht ganz so tief, und sie ragen teilweise in die ersten Abdrücke hinein. Der Unbekannte war also schwerer als er dorthin ging, stimmt’s?«

»Stimmt«, pflichtete Detritus dem Zwerg bei.

»Und das bedeutet?«

»Er unterwegs Gewicht verloren?«

»Er trug etwas. Und er ließ es weiter vorn zurück.«

Sie starrten in die Dunkelheit.

»Wir jetzt gehen und herausfinden, was es sein?« fragte der Troll.

»Ich denke schon. Wie fühlst du dich?«

»Ganz gut.«

Sie gehörten zu zwei Spezies, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten, doch jetzt teilten sie eine gemeinsame Vorstellung: Mündungsfeuer und durch den Tunnel rasende Bleiklumpen.

»Er kam zurück«, sagte Knuddel.

»Ja«, bestätigte Detritus.

Wieder spähten sie in die Finsternis.

»Bisher war’s kein besonders angenehmer Tag für uns«, meinte Knuddel.

»Das die Wahrheit.«

»Ich möchte dich noch etwas fragen, für den Fall, daß ich später keine Gelegenheit mehr dazu habe. Was ist im Zukunftsschweinlager passiert? Du hast soviel gerechnet und mathematische Formeln an die Wand geschrieben.«

»Ich… weiß nicht mehr. Ich habe… alles gesehen.«

»Gesehen? Was?«

»Alles. Absolut alles. Alle Zahlen. Und ich sie zählen konnte.«

»Worauf lief die Berechnung hinaus? Was gehört hinter das Gleichheitszeichen?«

»Keine Ahnung. Was ist Gleichheitszeichen?«

Sie setzten den Weg fort, um festzustellen, was die Zukunft für sie bereithielt.

Nach einer Weile führte die Spur in einen schmaleren Tunnel, in dem der Troll kaum mehr aufrecht stehen konnte. Dann ging’s nicht mehr weiter. Ein großer Stein hatte sich aus der Decke gelöst, und nachgerutschtes Geröll verstopfte den Tunnel wie ein Pfropfen. Doch das spielte keine Rolle, denn das, was die beiden Wächter suchten, lag vor der Barriere.

»Meine Güte«, kommentierte Detritus.

»Ja«, sagte Knuddel und sah sich um.

»Weißt du«, sagte er dann, »für gewöhnlich sind diese Tunnel voller Wasser. Sie verlaufen ein ganzes Stück unter dem normalen Pegel des Flusses.«

Er sah auf das Ding hinab. Es bot keinen hübschen Anblick.

»Das dürfte weitere Probleme geben«, meinte Knuddel.

 

»Seine Dienstmarke«, stellte Karotte fest. »Bei den Göttern. Er hält sie so fest umklammert, daß sich ihre Kanten in die Hand gebohrt haben.«

 

Es heißt, daß Ankh-Morpork auf Lehm errichtet wurde, doch genau genommen steht ein großer Teil der Stadt auf Ankh-Morpork. Die Metropole wuchs, wurde niedergebrannt und wieder aufgebaut, wuchs noch mehr, verschlammte bei einer Überflutung und wurde erneut wiederaufgebaut. Und so weiter. Ihre Fundamente bestehen aus alten Kellern und längst vergessenen Straßen, aus den Fossilien und Kehrichthaufen früherer Städte.

Dort saßen sie nun, Troll und Zwerg.

»Was wir machen jetzt?«

»Wir sollten den… Fund hierlassen und Korporal Karotte holen. Er weiß bestimmt, was es zu unternehmen gilt.«

Über die Schulter hinweg blickte Detritus zu dem erbärmlichen Etwas.

»Mir das nicht gefallen«, sagte er. »Es nicht richtig, zu lassen hier.«

»Ja. Stimmt schon. Du hast recht. Aber du bist ein Troll, und ich bin ein Zwerg. Wie würden die Leute wohl reagieren, wenn wir damit durch die Straßen gehen?«

»Wir in große Schwierigkeiten kommen.«

»Und ob. Komm. Folgen wir den Fußspuren zurück.«

»Was ist, wenn Fund weg, wenn wir später wieder aufsuchen diesen Ort?« fragte Detritus, durch den Tunnel wankend.

»Wie sollte er verschwinden? Wir folgen jetzt den Spuren des Unbekannten, der es hierherbrachte. Wenn er zurückkehrt, begegnen wir ihm.«

»Oh, gut. Danke für Hinweis.«

 

Mumm saß auf der Bettkante, während ihm Angua die Hand verband.

»Hauptmann Schrulle?« brachte Karotte hervor. »Aber er ist… keine gute Wahl.«

»Wir nennen ihn Mayonnaise Schrulle«, meinte Colon. »Ein Angeber und Aufschneider.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Angua. »Er ist reich, arrogant und ölig, nicht wahr?«

»Und er riecht immer ein wenig nach Eiern«, fügte Karotte hinzu.

»Trägt Federn am Helm«, brummte Colon. »In seinem Brustharnisch kann man sich spiegeln.«

»Karotte hat ebenfalls einen von der Sorte«, sagte Angua.

»Ja, aber da gibt es einen wichtigen Unterschied«, sagte Colon. »Karotte poliert seinen Brustharnisch, weil… weil er ihn sauber mag. Schrulles Ding glänzt nur deshalb, weil er angeben will.«

»Er hat den Fall gelöst«, ließ sich Nobby vernehmen. »Hab’ davon gehört, als ich den Kaffee holte. Kohlenfresse wurde verhaftet. Der Troll, der Aborte reinigt. Jemand sah ihn unweit der Rauhreifstraße, kurz vor der Ermordung des Zwergs.«

»Aber er ist groß«, wandte Karotte ein. »Er kann unmöglich die Tür passiert haben.«

»Er hat ein Motiv«, sagte Nobby.

»Ja?«

»Hammerhock war ein Zwerg.«

»Das ist kein Motiv.«

»Für einen Troll schon. Aber selbst wenn er nichts mit Hammerhocks Tod zu tun haben sollte – irgend etwas hat er bestimmt angestellt. Es gibt jede Menge Beweise gegen ihn.«

»Zum Beispiel?« fragte Angua.

»Er ist ein Troll.«

»Das dürfte kaum ein Beweis sein.«

»Für Hauptmann Schrulle schon«, erwiderte der Feldwebel.

»Etwas hat Kohlenfresse zweifellos verbrochen«, betonte Nobby noch einmal.

Damit teilte er die Ansicht des Patriziers über Kriminalität und gerechte Strafe. Verbrechen mußten bestraft werden. Wenn dabei die tatsächlich verantwortliche Person zur Rechenschaft gezogen wurde, mußte man das als glücklichen Zufall betrachten. Aber praktisch eignete sich jeder beliebige Verbrecher. Und da niemand völlig frei war von Schuld, wurde mit einer Verurteilung im großen und ganzen der Gerechtigkeit Genüge getan.

»Kohlenfresse ist ein übler Bursche«, sagte Colon. »Ein Kumpel von Chrysopras.«

»Ja, aber er kann Bjorn nicht umgebracht haben«, meinte Karotte. »Und was ist mit der Bettlerin?«

Mumm blickte zu Boden.

»Was hältst du davon, Hauptmann?« fragte Karotte.

Mumm zuckte mit den Schultern.

»Wen kümmert’s?« erwiderte er.

»Dich«, sagte Karotte sofort. »Du hast immer Anteil genommen. Wir dürfen nicht zulassen, daß…«

»Jetzt hör mal…« Mumm sprach ganz leise. »Selbst wenn wir den Burschen finden, der Hammerhock, Beano und die Bettlerin umgebracht hat – es macht überhaupt keinen Unterschied. Weil alles verkommen und verfault ist.«

»Was ist verkommen und verfault, Hauptmann?« erkundigte sich Colon.

»Alles. Genausogut könnte man versuchen, mit einem Sieb Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen. Überlassen wir es den Assassinen, die Sache zu regeln. Oder den Dieben. Von mir aus auch den Ratten. Was soll’s? Wir sind nicht die richtigen Leute dafür. Wir hätten uns damit begnügen sollen, die Glocken zu läuten und ›Alles ist gut!‹ zu rufen.«

»Aber es ist nicht alles gut, Hauptmann«, gab Karotte zu bedenken.

»Und wenn schon. Hat das jemals eine Rolle gespielt?«

»Meine Güte«, hauchte Angua. »Vielleicht hat er zuviel von dem Kaffee bekommen…«

»Morgen ziehe ich mich in den Ruhestand zurück«, fuhr Mumm fort. »Nach fünfundzwanzig Jahren auf der Straße…«

Nobby grinste, klappte den Mund auf… und schloß ihn wieder, als ihm Colon warnend den Arm auf den Rücken drehte, wobei er sich sonderbarerweise gar nicht zu bewegen schien.

»Und wozu das alles? Ist es mir gelungen, etwas Gutes zu bewirken? Ich habe nur die Sohlen vieler Stiefeln durchgelaufen. In Ankh-Morpork gibt es keinen Platz für Polizisten und Wächter! Wer schert sich hier darum, was richtig ist und was falsch? Assassinen und Diebe, Trolle und Zwerge! Ebensogut könnten wir uns wieder einen König zulegen!«

Die restlichen Mitglieder der Nachtwache standen stumm da und sahen verlegen zu Boden.

Schließlich sagte Karotte: »Es ist besser, eine Kerze zu entzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen, Hauptmann. So heißt es jedenfalls.«

»Was?« Mumm erlitt einen jähen Wutanfall. »Wer behauptet so etwas? Wann ist das jemals wahr gewesen? Nie! Solche Weisheiten stammen von Leuten ohne Macht und Einfluß. Sie sagen so etwas, damit alles weniger schlimm aussieht. Aber es sind nur Worte. Und Worte allein nützen nichts…«

Jemand hämmerte an die Tür.

»Das wird Schrulle sein«, sagte Mumm. »Ihr müßt ihm eure Waffen geben. Die Nachtwache wird vorübergehend aufgelöst. Damit keine Wächter mehr durch die Gegend laufen und Probleme schaffen. Laß ihn eintreten, Karotte.«

»Aber…«, begann der junge Mann.

»Ich habe dir einen Befehl erteilt. Für andere Dinge tauge ich vielleicht nicht mehr viel, doch ich bin nach wie vor imstande, dir einen Befehl zu geben. Und hiermit erteile ich dir einen: Mach auf!«

Sechs Angehörige der Tagwache begleiteten Schrulle. Sie trugen Armbrüste. Da sie eine nicht sehr angenehme Pflicht erfüllten, die sich gegen Kollegen richtete, hielten sie die Waffen ein wenig gesenkt. Da sie keine Idioten waren, hatten sie die Sicherungsbolzen gelöst.

Eigentlich war Schrulle kein schlechter Kerl. Allerdings zeichnete er sich durch einen eklatanten Mangel an Phantasie aus. Er bekam es jeden Tag mit jenen Unerquicklichkeiten zu tun, die Flecken auf der Seele mit ihnen konfrontierter Menschen hinterlassen23. Viele Leute stecken in einem Beruf, der sie zumindest leicht überfordert. Es gibt unterschiedliche Reaktionen auf eine derartige Situation. Manchmal sind die betreffenden Leute verunsichert oder nett; gelegentlich sind sie wie Schrulle. Mayonnaise Schrulle vertrat folgenden Standpunkt: Es spielt keine Rolle, ob man recht hat oder nicht; wichtig ist nur, entschlossen und energisch aufzutreten. Eigentlich existierte in Ankh-Morpork keine Rassendiskriminierung in dem Sinne. Wenn Zwerge und Trolle in der Nähe wohnen, spielt die Hautfarbe von Menschen keine Rolle mehr. Schrulle hingegen sprach das Wort »Neger« voller Genuß mit zwei »g« und einem »i« aus.

Er trug einen mit Federn geschmückten Helm.

»Komm herein, komm herein«, sagte Mumm. »Wir haben ohnehin nichts zu tun.«

»Hauptmann Mumm…«

»Schon gut. Wir wissen Bescheid. Gebt ihm eure Waffen. Das ist ein Befehl, Karotte. Ein Dienstschwert, eine Pike oder Hellebarde, einen Schlagstock oder Knüppel, eine Armbrust. Stimmt’s, Feldwebel Colon?«

»Ja, Hauptmann.«

Karotte zögerte nur kurz.

»Na schön«, sagte er. »Mein Dienstschwert liegt dort drüben im Regal.«

»Und was ist das da an deinem Gürtel?«

Karotte gab eine nichtverbale Antwort: Er verlagerte das Gewicht und spannte deutlich sichtbar die Muskeln.

»Das Dienstschwert, in Ordnung«, sagte Schrulle. Er gehörte zu den Leuten, die sofort vor einem stärkeren Gegner zurückwichen, einen Schwächeren jedoch gnadenlos angriffen. »Wo ist der Staubfresser?« fragte er. »Und der Felsen?«

»Oh«, erwiderte Mumm. »Du meinst die Repräsentanten von zwei anderen intelligenten Spezies, die in Ankh-Morpork zu Hause sind. Oder anders ausgedrückt: Deine Worte beziehen sich auf zwei Mitbürger, die sich uns angeschlossen haben, um für Recht und Ordnung zu sorgen.«

»Ich meine euren Zwerg«, sagte Schrulle. »Und den Troll.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo sie sich derzeit aufhalten«, entgegnete Mumm. Angua glaubte fast, daß er wieder betrunken war. Entfaltete Verzweiflung bei ihm eine ähnliche Wirkung wie Alkohol?

»Wir wissen es ebenfalls nicht«, ließ sich Colon vernehmen. »Haben sich schon seit Stunden nicht mehr blicken lassen.«

»Wahrscheinlich prügeln sie sich im Steinbruchweg wie alle anderen«, sagte Schrulle. »Solchen Burschen kann man nicht trauen. Das sollte euch eigentlich klar sein.«

Angua fand Worte wie »Staubfresser« und »Felsen« ziemlich beleidigend, aber sie wurden zu Komplimenten, wenn jemand wie Schrulle von »solchen Burschen« sprach. Erschrocken stellte sie fest, wie ihr Blick zur Halsschlagader des Mannes glitt.

»Im Steinbruchweg gibt es eine Prügelei?« fragte Karotte. »Warum?«

Schrulle zuckte mit den Achseln.

»Wer weiß das schon.«

»Laßt mich mal nachdenken«, sagte Mumm. »Vielleicht steht sie im Zusammenhang mit einer ungerechtfertigten Verhaftung. Vielleicht haben einige der aggressiveren Zwerge nur auf einen Vorwand gewartet, um die Trolle anzugreifen. Was meinst du, Schrulle?«

»Ich denke nicht nach, Mumm.«

»Ausgezeichnet. Die Stadt braucht mehr Männer deines Formats.«

Mumm stand auf.

»Ich gehe jetzt«, sagte er. »Wir sehen uns morgen. Falls wir dann noch leben.«

Hinter ihm fiel die Tür laut ins Schloß.

 

Es war ein riesiger Saal – seine Größe reichte an die eines Stadtplatzes heran. In einem Abstand von mehreren Metern stützten Säulen die Decke. Viele Tunnel gingen von dem Saal aus, manchmal waren ihre Öffnungen nicht einmal in Bodenhöhe. Wasser tropfte oder rann aus ihnen, kam von kleinen Quellen oder unterirdischen Bächen.

Das ergab ein Problem: Das über den Steinboden fließende Wasser hatte die Fußspuren verschwinden lassen.

Ein breiter Tunnel, in dem sich Hügel aus Schutt und Schlamm gebildet hatten, führte in die Richtung, die Knuddel für die richtige hielt.

Er war fast zufrieden. Die Gerüche beschränkten sich auf eine allgemeine Muffigkeit. Und nach der Hitze in Ankh-Morpork empfand Knuddel die Kühle hier unten als sehr angenehm.

»Ich habe große Zwergensäle in den Bergen gesehen«, sagte er. »Aber dies ist was anderes.« Seine Stimme hallte von den Wänden wider.

»O ja«, bestätigte Detritus. »Es muß was anderes sein. Immerhin ist es kein Zwergensaal.«

»Siehst du irgendeinen Weg nach oben?«

»Nein.«

»Vielleicht sind wir schon an mehreren Tunneln vorbeigekommen, die emporführen, ohne es zu merken.«

»Das wäre durchaus möglich«, räumte der Troll ein.

»Detritus?«

»Ja?«

»Hier unten im Kühlen scheinst du wieder intelligenter zu werden.«

»Im Ernst?«

»Hast du vielleicht eine Idee?«

»Wie wär’s mit… graben?« schlug der Troll vor.

Hier und dort lagen Steine in den Tunneln. Es waren nicht viele, denn diese Anlage war offenbar sorgfältig gebaut. Aber immerhin…

»Wir haben keine Schaufel«, wandte Knuddel ein.

Detritus nickte.

»Gib mir deinen Brustharnisch«, sagte er.

Er lehnte ihn an die Wand und hämmerte einige Male mit der Faust darauf. Anschließend gab er Knuddel einen ungefähr schaufelförmigen Gegenstand zurück.

»Es ist ein langer Weg nach oben«, meinte Knuddel skeptisch.

»Aber wir kennen ihn«, erwiderte Detritus. »Entweder wir graben – oder wir essen Ratten für den Rest unseres Lebens.«

Knuddel zögerte. Die Vorstellung übte einen gewissen Reiz aus…

»Ohne Ketchup«, fügte der Troll hinzu.

»Ich glaube, ich habe da hinten einen heruntergefallenen Stein gesehen«, sagte der Zwerg.

 

Hauptmann Schrulle sah sich im Wachraum um, als würde er dem Zimmer damit eine Ehre erweisen.

»Nicht schlecht«, sagte er. »Ich glaube, wir ziehen hier ein. Ist besser als unser Quartier in der Nähe des Palastes.«

»Aber wir wohnen hier«, erwiderte Feldwebel Colon.

»Ihr müßt eben ein wenig zusammenrücken«, erwiderte Hauptmann Schrulle.

Er sah zu Angua. Ihr starrer Blick sägte immer mehr an seinen Nerven.

»Außerdem wird es einige Veränderungen geben«, fügte er hinzu. Hinter ihm öffnete sich die Tür einen Spalt, und ein kleiner, nicht sehr angenehm riechender Hund schlurfte herein.

»Lord Vetinari hat noch keinen neuen Kommandeur für die Nachtwache bestimmt«, sagte Karotte.

»Ach?« schnaufte Schrulle. »Nun, mir scheint, daß dafür wohl kaum jemand von euch in Frage kommt. Ich halte es für viel wahrscheinlicher, daß die beiden Wachen zusammengelegt werden. Mir scheint, hier wird zuviel geschlampt. Mir scheint, die Truppe könnte mehr Disziplin vertragen.«

Erneut sah er Angua an. Ihr Blick schien ihn zu durchbohren.

»Mir scheint…« Schrulle unterbrach sich kurz, als er den Hund bemerkte. »Na so was!« entfuhr es ihm. »Hunde im Wachhaus!« Er gab Gaspode einen Tritt und lächelte, als der Hund winselnd unter den Tisch lief.

»Was ist mit der Bettlerin Nimmer Niedlich?« fragte Angua. »Sie wurde nicht von einem Troll umgebracht. Ebensowenig der Clown.«

»Ihr seht die Sache zu eng«, behauptete Schrulle. »Es geht hier um die Situation im allgemeinen.«

»Den Herrn Hauptmann juckt’s am Hintern«, erklang eine leise Stimme unter dem Tisch, die nur Angua bewußt wahrnahm.

»Was hat es denn mit der allgemeinen Situation auf sich?« fragte Feldwebel Colon.

»Sie betrifft die ganze Stadt«, sagte Schrulle und trat unruhig vom einen Bein aufs andere.

»Es juckt noch stärker«, suggerierte die Stimme unterm Tisch.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Hauptmann?« erkundigte sich Angua.

Schrulle schnitt eine Grimasse.

»Kitzel-kitzel«, ertönte die Stimme. »Wie gern er sich jetzt kratzen würde…«

»Ich meine, einige Dinge sind wichtig, andere nicht«, erklärte Schrulle. »Aargh!«

»Bitte?«

»Kitzel-kitzel, juck-juck.«

»Ich kann nicht den ganzen Tag hierbleiben und mit euch schwatzen«, sagte Schrulle. »Melde dich. Morgen nachmittag. Bei. Mir.«

»Juck-juck-juck

»Und keeehrt!«

Die Tagwächter eilten hinaus, und Schrulle hüpfte ihnen hinterher, wobei er seinen Allerwertesten verzweifelt von einer Seite zur anderen drehte.

»Er schien es plötzlich sehr eilig zu haben«, stellte Karotte fest.

»Ja«, pflichtete ihm Angua bei. »Warum nur?«

Sie sahen sich an.

»Sollte das tatsächlich das Ende der Nachtwache sein?« fragte Karotte.

 

In der Bibliothek der Unsichtbaren Universität ist es für gewöhnlich sehr still. Hier und dort ertönt das Geräusch schlurfender Schritte, verursacht von Zauberern, die an den Regalen entlangwandern. Gelegentlich wird die akademische Stille von einem Hustenanfall unterbrochen. Es kann auch geschehen, daß in der Ferne ein schnell verhallender Schrei erklingt, ausgestoßen von einem magischen Studenten, der die alten thematurgischen Bücher nicht mit der notwendigen Vorsicht behandelt hat.

Man denke an Orang-Utans.

In allen mit ihrer Existenz geehrten Welten argwöhnt man, daß sie sprechen können und nur deshalb stumm bleiben, damit sie nicht von den Menschen zur Arbeit gezwungen werden, womöglich beim Fernsehen. Die Wahrheit lautet: Orang-Utans können tatsächlich sprechen. Allerdings reden sie ausschließlich in Orang-Utan. Und die Menschen hören in Verwirrung zu.

Für eine bessere Kommunikation hatte der Bibliothekar der Unsichtbaren Universität unilateral beschlossen, ein Wörterbuch der Sprachen Orang-Utan/Menschlich zu schreiben. Schon seit drei Monaten mühte er sich.

Die Arbeit fiel ihm nicht leicht. Bisher war er nur bis »Ugh«24 gekommen.

Derzeit weilte er im Archiv und genoß die dort herrschende Kühle.

Plötzlich sang jemand.

Ein Mensch hätte jetzt vielleicht darauf hingewiesen, daß er seinen Ohren nicht traute. Orang-Utans sind da viel vernünftiger: Wenn man nicht mal den eigenen Ohren trauen kann, welchen dann?

Jemand sang, und zwar im Boden. Besser gesagt: Jemand versuchte zu singen.

Die chthonischen Stimmen klangen etwa so:

»Dlog, glod, Dlog, glod…«

»Jetzt hör mal, du… Troll! Das Lied ist doch ganz einfach! Es heißt ›Gold, Gold, Gold, Gold‹.«

»Gold, Gold, Gold, Gold…«

»Nein! Das ist die zweite Strophe!«

Ein anderes Geräusch deutete darauf hin, daß in regelmäßigen Abständen Erde bewegt wurde.

Der Bibliothekar überlegte eine Zeitlang. Ein Zwerg und ein Troll. Er zog beide Spezies den Menschen vor. Beide lasen nicht viel. Natürlich sprach sich der Bibliothekar im allgemeinen sehr fürs Lesen aus, aber Leser im besonderen gingen ihm auf die Nerven. Er sah etwas… Frevlerisches darin, wenn irgendwelche Leute Bücher aus den Regalen nahmen und die niedergeschriebenen Worte durch Lesen abnutzten. Ihm gefielen Personen, die Bücher liebten und respektieren. Dieser Respekt kam seiner Meinung nach am besten dadurch zum Ausdruck, daß man die Bücher in den Regalen ließ.

Die dumpfen Stimmen schienen näher zu kommen.

»Gold, Gold, Gold…«

»Jetzt singst du den Refrain!«

Es gab allerdings auch Regeln des Anstands bezüglich des Betretens einer Bibliothek.

Der Bibliothekar watschelte zu den Regalen und griff nach dem von Buckeltulpe verfaßten Werk »Wie man Insekten tötet«, das erbauliche zweitausend Seiten umfaßte.

 

Benommenheit umhüllte Mumm, als er durch die Teekuchenstraße ging. Er spürte, daß ein innerer Mumm gewissermaßen aus vollem Halse schrie, doch er schenkte ihm keine Beachtung.

In Ankh-Morpork konnte man kein guter Polizist sein und gleichzeitig bei Verstand bleiben. Ein guter Polizist beziehungsweise Wächter nahm Anteil – in Ankh-Morpork konnte man genausogut eine Dose Fleisch in unmittelbarer Nähe eines Schwarms Piranhas öffnen.

Jeder wurde auf seine eigene Art damit fertig. Colon dachte nie darüber nach, und Nobby machte sich deshalb keine Sorgen. Die Rekruten waren noch nicht lange genug dabei, als daß es sie belasten würde, und Karotte… er blieb immer er selbst.

Hunderte von Personen starben jeden Tag in der Stadt, oft durch Selbstmord. Was spielten einige mehr oder weniger schon für eine Rolle?

Der innere Mumm hämmerte mit den Fäusten an die Wände.

Einige Kutschen standen vor der Käsedick-Villa; überall wimmelte es von diversen weiblichen Verwandten und austauschbaren Emmas. Sie buken und kochten und putzten. Mumm schritt durch die allgemeine Hektik, und kaum jemand beachtete ihn.

Er fand Sybil im Drachenstall. Wie üblich trug sie Stiefel und Schutzkleidung. Sie mistete aus, völlig unberührt vom kontrollierten Chaos im großen Gebäude.

Die Lady sah auf, als sich die Tür hinter Mumm schloß.

»Oh, da bist du ja«, stellte sie fest. »Ich habe erst später mit dir gerechnet. Ich konnte das Durcheinander nicht ertragen und bin deshalb hierhergekommen. Aber ich muß mich bald umziehen…«

Sie unterbrach sich, als sie Mumms Gesichtsausdruck bemerkte. »Was ist los?«

»Ich kehre nicht zurück«, verkündete der Hauptmann.

»Tatsächlich? Letzte Woche hast du gesagt, du wolltest bis zum Schluß bei der Truppe bleiben.«

Sybil hörte alles. Und sie vergaß nur selten etwas.

Sie klopfte Mumm auf die Hand.

»Ich bin froh, daß du’s hinter dir hast«, sagte sie.

 

Korporal Nobbs stürmte ins Wachhaus und warf die Tür hinter sich zu.

»Nun?« fragte Karotte.

»Es sieht nicht besonders gut aus«, berichtete Nobby. »Angeblich planen die Trolle einen Protestmarsch zum Palast, um Kohlenfresses Freilassung zu verlangen. Hier und dort treiben sich Gruppen von Zwergen und Trollen herum. Sie sind auf Stunk aus. Und Bettler. Nimmer Niedlich war sehr beliebt. Dazu kommen Leute von den Gilden.« Nobbs atmete tief durch und fügte bedeutungsvoll hinzu: »Die Stadt gleicht einem Faß mit Pulver Nummer eins.«

»Was haltet ihr davon, wenn wir unser Quartier in die Ebene außerhalb von Ankh-Morpork verlegen?« fragte Colon.

»Wieso denn?«

»Wenn heute nacht jemand ein Streichholz an der falschen Stelle anzündet, bleibt nicht viel von der Stadt übrig«, brummte der Feldwebel kummervoll. »Normalerweise genügt es, die Tore zu schließen, aber diesmal hat der Fluß zuwenig Wasser.«

»Ihr flutet die Stadt, nur um Brände zu löschen?« vergewisserte sich Angua.

»Ja.«

»Und noch etwas«, sagte Nobby. »Die Leute haben Dinge nach mir geworfen.«

Karotte hatte an die Wand gestarrt. Jetzt holte er ein kleines, zerknittertes Buch hervor und blätterte darin.

»Kam es zufälligerweise zu einem unwiederbringlichen Verlust von Recht und Ordnung?« fragte er. Seine Stimme schien aus der Ferne zu kommen.

»Ja«, bestätigte Colon. »Recht und Ordnung gingen vor etwa fünfhundert Jahren verloren. Daraus hat sich ein für Ankh-Morpork typischer Zustand ergeben.«

»Ist der Zustand derzeit noch typischer als sonst? Das ist sehr wichtig.« Karotte blätterte erneut.

»Wenn man Dinge nach mir wirft…«, sagte Nobby. »Das läßt sich nur durch einen allgemeinen Zusammenbruch von Recht und Ordnung erklären.«

Einige Sekunden lang herrschte erwartungsvolle Stille.

»Damit kommen wir nicht durch«, sagte Colon schließlich.

»Einige der Dinge haben mich sogar getroffen«, betonte Nobby.

»Warum sollte man überhaupt etwas nach dir werfen?« fragte Angua.

»Weil ich ein Wächter bin«, antwortete Nobbs. »Die Zwerge sind wegen Herrn Hammerhock sauer auf die Wache, und den Trollen gefallen wir nicht, weil Kohlenfresse verhaftet wurde. Die anderen Leute möchten uns eine Abreibung verpassen, weil es ihnen nicht gefällt, wenn zornige Zwerge und Trolle durch die Stadt ziehen.«

Jemand hämmerte an die Tür.

»Vermutlich hat sich draußen eine wütende Menge eingefunden«, sagte Nobby.

Karotte öffnete.

»Ich sehe keine wütende Menge«, verkündete er.

»Ugh.«

»Es ist ein Orang-Utan. Er trägt einen bewußtlosen Zwerg, und ein Troll folgt ihm. Außerdem scheint er nicht gerade bester Laune zu sein.«

 

Willikins, Lady Käsedicks Diener, hatte für Mumm ein Bad vorbereitet. Ha! Morgen würde er auch sein Diener sein.

Und das Bad war nicht etwa eins der üblichen Sitzbäder, eine alte, verbeulte Wanne, die man vor den Kamin zog. O nein. In der Käsedick-Villa wurde das Regenwasser vom Dach in einer großen Zisterne gesammelt und gleichzeitig eventuelle Tauben herausgefiltert. Das Wasser wurde von einem uralten Geysir25 erhitzt und anschließend durch knackende Bleirohre zu geradezu riesigen Messinghähnen geleitet, aus denen es in eine emaillierte Wanne strömte. Daneben lagen verschiedene Badeutensilien auf einem flauschigen Handtuch bereit: eine große Schrubbürste, drei Sorten Seife und ein Luffaschwamm.

Willikins stand geduldig neben der Wanne wie ein lauwarmer Handtuchständer.

»Ja?« fragte Mumm.

»Der Herr… ich meine den Vater Ihrer Ladyschaft… ließ sich immer den Rücken von mir schrubben«, erklärte Willikins.

»Ich schlage vor, du hilfst dem alten Geysir, den Boiler zu heizen«, sagte Mumm fest.

Als er allein war, zwängte er sich aus dem Brustharnisch und warf ihn in eine Ecke. Dem folgten Kettenhemd, Helm, Geldbeutel sowie andere Gegenstände aus Leder und Baumwolle, die sich normalerweise zwischen einem Wächter und dem Rest der Welt befanden.

Dann sank er – zunächst widerstrebend – ins warme Wasser.

 

»Seife versuchen«, sagte Detritus. »Mit Seife bestimmt klappen.«

»Halt endlich still«, sagte Karotte.

»Du reißt mir den Kopf ab!«

»Na los, ihm einseifen den Kopf.«

»Seif dich selbst ein!«

Mit einem Flupp löste sich der Helm des Zwergs.

Knuddels Gesicht kam zum Vorschein. Er blinzelte im Licht, sah den Bibliothekar und knurrte.

»Er hat mir auf den Kopf gehauen!«

»Ugh.«

»Er meint, ihr seid durch den Boden gekommen«, übersetzte Karotte.

»Das ist noch lange kein Grund, mir auf den Kopf zu hauen.«

»Einige der Dinge, die durch den Boden der Unsichtbaren Universität kommen, haben nicht einmal einen Kopf«, sagte Karotte.

»Ugh!«

»Oder sie sind mit Dutzenden von Köpfen ausgestattet. Warum habt ihr euch überhaupt in den Boden gegraben?«

»Wir wollten uns nicht hineingraben, sondern wieder heraus…«

Karotte hörte aufmerksam zu und unterbrach den Zwerg nur zweimal.

»Auf euch geschossen

»Fünfmal«, sagte Detritus fröhlich. »Muß melden Beschädigung meines Brustharnischs, aber nicht des Rückens, weil zum Glück dazwischenkam mein Körper und so bewahrte Stadteigentum im Wert von drei Dollar vor noch mehr Schaden.«

Karotte hörte erneut zu.

»Kanalisation?« fragte er nach einer Weile.

»Es ist fast, als gäbe es unter der Stadt noch eine andere. Jemand hat Kronen und so in die Wände gemeißelt.«

In Karottes Augen funkelte es. »Diese Anlage stammt aus der Zeit, als wir noch Könige hatten! Später wurde die Stadt so oft wiederaufgebaut, daß die unterirdischen Tunnel und Gewölbe in Vergessenheit gerieten…«

»Äh«, sagte Knuddel. »Es gibt noch mehr da unten. Wir haben… etwas gefunden.«

»Was denn?«

»Etwas Schlimmes.«

»Es dir bestimmt nicht gefallen«, meinte Detritus. »Es sein schlimm, schlimm, schlimm. Sogar noch schlimmer.«

»Wir hielten es für besser, das Ding dort unten zu lassen«, fügte Knuddel hinzu. »Weil es… äh… Beweismaterial ist. Du solltest es dir ansehen.«

»Es schaffen viel Unruhe«, sagte der Troll. Er fand allmählich Gefallen an der Sache.

»Was ist es?«

»Wenn wir dir antworten jetzt, dann du sagen: Ihr dummen ethnischen Leute wollt mich wohl nehmen auf Arm, was?« erwiderte Detritus.

»Kommt mit und seht es euch an«, schlug Knuddel vor.

Feldwebel Colon musterte die übrigen Angehörigen der Wache.

»Meinst du uns alle?« fragte er nervös. »Äh. Sollte nicht jemand hierbleiben? Für den Fall, daß was passiert?«

»Daß wo was passiert?« entgegnete Angua. »Hier oben? Oder unten in den Tunneln?«

»Ich begleite die Obergefreiten Knuddel und Detritus«, sagte Karotte. »Sonst braucht niemand mitzukommen.«

»Aber es könnte gefährlich werden!« wandte Angua ein.

»Ja«, bestätigte Karotte. »Das könnte es tatsächlich – wenn ich der Person begegne, die auf Wächter schießt.«

 

Hauptmann Mumm hob das Bein, und mit dem großen Zeh drehte er den Warmwasserhahn auf.

Jemand klopfte respektvoll an die Tür, dann kam Willikins respektvoll herein. »Hat der Herr einen Wunsch?«

Mumm überlegte.

»Lady Käsedick meint, du möchtest bestimmt keinen Alkohol«, sagte Willikins, der die Gedanken des Badenden zu lesen schien.

»Meint sie das?«

»Ja, Herr. Aber ich habe hier eine gute Zigarre für dich.«

Er verzog das Gesicht, als Mumm das eine Ende abbiß und es über den Rand der Badewanne spuckte. Pflichtbewußt holte der alte Diener Streichhölzer hervor und riß eins an.

»Danke, Willikins. Wie lautet dein Vorname?«

»Welcher Vorname, Herr?«

»Ich meine, wie nennen dich Leute, wenn sie dich besser kennenlernen?«

»Willikins, Herr.«

»Oh. Schon gut. In Ordnung. Du kannst jetzt gehen, Willikins.«

»Ja, Herr.«

Mumm sank ins warme Wasser zurück. Seine innere Stimme war nach wie vor da, aber er versuchte, ihr keine Beachtung zu schenken. Sie sagte gerade: Um diese Zeit patrouillierst du normalerweise in der Straße der Geringen Götter, nicht weit von der Stelle der Stadtmauer entfernt, wo du dir im Windschatten eine Zigarette drehen kannst.

Er sang aus vollem Hals, um das Flüstern in seinem Innern zu übertönen.

 

Zum erstenmal seit Jahrtausenden hallten menschliche und… fast menschliche Stimmen durch die Kanalisation unter der Stadt.

»Hai-hi…«

»… hai-ho…«

»Ugh ugh ugh ugh ugh…«

»Ihr alle dumm

»Ich kann nicht anders. Es liegt an dem Fastzwergenblut in meinen Adern. In Stollen singen wir immer. Das ist Teil unseres Wesens.«

»Na schön. Aber warum er singen? Er sein Affe.«

»Aber einer von der geselligen Sorte.«

Sie hatten Fackeln mitgebracht. Schatten tanzten zwischen den Säulen und huschten durch die Tunnel. Welche Gefahren auch in der Finsternis lauern mochten – Karotte gab sich ganz der Freude über diese besondere Entdeckungsreise hin.

»Es ist wirklich erstaunlich! Die Via Cloaca wird in einigen alten Büchern erwähnt, aber als Straße, die längst nicht mehr existiert. Hier ist erstklassige Arbeit geleistet worden. Welch ein Glück, daß der Pegel des Flusses so niedrig ist. Normalerweise scheint hier alles voller Wasser zu sein.«

»Genau das habe ich gesagt«, meinte Knuddel. »›Hier ist normalerweise alles voller Wasser‹ – das waren meine Worte.«

Wachsam und argwöhnisch beobachtete er die tanzenden Schatten. Sie bildeten seltsame Formen an der gegenüberliegenden Wand: sonderbare zweibeinige Geschöpfe, unheimliche, geisterhafte Erscheinungen…

Karotte seufzte.

»Hör mit den Schattenspielen auf, Detritus.«

»Ugh.«

»Was hat er gesagt?«

»Versuch mal ›mißgestaltetes Kaninchen‹, das ist meine Lieblingsfigur«, übersetzte Karotte.

Ratten trippelten in der Dunkelheit. Knuddel sah sich um. Er sah immer wieder jemanden vor sich, der eine Art Stange hob, zielte…

Sie waren kurz besorgt und verwirrt, als Knuddel auf den nassen Steinen die Spur verlor, doch nahe bei einer von Schimmelpilzen bedeckten Wand fand er sie wieder. Kurz darauf entdeckte er ein bestimmtes Rohr: Darunter hatte er ein Zeichen ins Mauerwerk geritzt.

»Da vorn«, sagte er und reichte Karotte die Fackel.

Der junge Mann ging allein weiter.

Knuddel und seine beiden Begleiter hörten Schritte, gefolgt von einem überraschten Pfiff. Eine Zeitlang war es still.

Schließlich kehrte Karotte zurück.

»Meine Güte«, sagte er. »Wißt ihr, wer das ist?«

»Nun, alles deutet darauf hin…«, begann Knuddel.

»Alles deutet darauf hin, daß es weitere Probleme geben wird«, meinte Karotte.

»Verstehst du jetzt, warum wir mit leeren Händen zurückgekehrt sind?« fragte Knuddel. »Unter den gegenwärtigen Umständen wäre es sicher nicht sehr ratsam, die Leiche eines Menschen durch Ankh-Morpork zu tragen. Erst recht nicht diese.«

»Ein Teil davon ich ebenfalls gedacht«, behauptete Detritus.

»Ja.« Karotte nickte. »Das leuchtet mir ein. Ich glaube, wir… wir lassen den Leichnam zunächst dort liegen und kommen später noch einmal hierher – mit einem Sack. Und noch etwas: Sprecht mit niemandem darüber.«

»Abgesehen natürlich vom Feldwebel und den anderen«, sagte Knuddel.

»Nein. Nicht einmal mit ihnen dürft ihr darüber reden. Es würde sie nur… nervös machen.«

»Zu Befehl, Korporal Karotte.«

»Wir haben es hier mit jemandem zu tun, der nicht ganz richtig im Kopf ist.«

Dem Zwerg ging ein unterirdisches Licht auf.

»Oh«, sagte er. »Du hast Korporal Nobbs in Verdacht?«

»Ich fürchte, hinter dieser Sache steckt jemand, der noch weniger richtig im Kopf ist als Korporal Nobbs.« Karotte sah zu der Halle mit den vielen Säulen. »Hast du eine Ahnung, wo wir hier sind, Knuddel?«

»Vielleicht unterm Palast.«

»Das vermute ich ebenfalls. Die Tunnel führen in alle Richtungen…«

Karottes besorgte Gedanken verloren sich in einem mentalen Labyrinth.

Selbst bei der derzeitigen Dürre gab es Wasser in der Kanalisation. Es stammte aus Quellen – oder sickerte von oben herab. Überall tropfte und plätscherte es. Die Hitze in der Stadt war hier nur mehr eine Erinnerung.

Es hätte ein recht angenehmer Ort sein können – ohne die Leiche eines Menschen, der bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Clown Beano hatte.

 

Mumm trocknete sich ab. Willikins hatte ihm einen Bademantel mit Brokat an den Ärmeln bereitgelegt. Er streifte ihn über und ging ins Ankleidezimmer.

Auch daran mußte er sich erst noch gewöhnen. Die Reichen verfügten über Zimmer, die allein dazu dienten, sich anzuziehen. Außerdem trugen sie spezielle Kleidung, in der sie die Ankleidezimmer aufsuchten.

Frische Kleider warteten auf ihn. An diesem Abend war es etwas Flottes in Rot und Gelb…

Etwa um diese Zeit hast du immer in der Sirupminenstraße patrouilliert…

Dazu kam ein Hut. Ein Hut mit einer Feder.

Mumm zog sich an – beziehungsweise um – und setzte sogar den Hut auf. Er wirkte gefaßt und normal. Aber er vermied es, in den Spiegel zu sehen.

 

Die Wächter saßen um den großen Tisch im Wachraum und gaben sich ganz ihrem Kummer hin. Sie hatten auf gewisse Weise zum erstenmal dienstfrei: Nie zuvor war niemand von ihnen im Dienst gewesen.

»Habt ihr Lust, Karten zu spielen?« fragte Nobby munter. Er zog ein schmieriges Spiel aus irgendeinem ekligen Winkel seiner Uniform.

»Erst gestern hast du unseren ganzen Sold gewonnen«, erwiderte Feldwebel Colon.

»Jetzt gebe ich euch die Chance, ihn zurückzugewinnen.«

»Wenn ich mich recht entsinne, hattest du in der entscheidenden Runde fünf Könige.«

Nobby mischte.

»Eigentlich komisch«, sagte er. »Wohin man auch sieht: Überall Könige.«

»In deinen Ärmeln bestimmt.«

»Nein, ich meine zum Beispiel die Königsstraße in Ankh. Und Könige in Kartenspielen. Und den Königsshilling, den jeder Rekrut bekommt. Überall gibt es Könige, nur nicht auf dem goldenen Thron im Palast. Ich sage euch: Wenn wir einen König hätten, ginge es in der Stadt nicht drunter und drüber.«

Karotte blickte an die Decke. Konzentrationsfalten bildeten tiefe Täler auf seiner Stirn. Detritus zählte mit den Fingern.

»Na klar«, brummte Feldwebel Colon. »Ein halber Liter Bier würde nur ein paar Ankh-Morpork-Cent kosten, und die Bäume würden wieder blühen. Wenn sich in dieser Stadt jemand den Zeh stößt, heißt es immer: Mit einem König wäre das nicht passiert. Weißt du, was Mumm von solchem Gerede hielt? Noch weniger als nichts.«

»Die Leute gehorchen einem König«, sagte Nobby.

»Nach Mumms Ansicht ist das genau das Problem«, entgegnete Colon. »Eine ähnliche Meinung hat er über Magie. Wenn’s darum geht, fährt er regelrecht aus der Haut.«

»Wie man bekommt König?« erkundigte sich Detritus.

»Indem man einen Felsen aufsägt oder so«, antwortete Colon.

»Ha! Das sein Antisiliziunismus!«

»Nein, jemand zieht ein Schwert aus einem Stein«, sagte Nobby.

»Woher weiß er denn, daß eins darinsteckt?« fragte Colon.

»Weil ein Teil davon herausragt?«

»Aber dann kann praktisch jeder danach greifen! Eins steht fest: In dieser Stadt bliebe das Schwert nicht lange im Stein stecken.«

»Nur der rechtmäßige König kann es herausziehen«, sagte Nobby.

»Oh«, kommentierte Colon. »Natürlich. Ich verstehe. Es hat also jemand entschieden, wer der rechtmäßige König ist, bevor er das Schwert aus dem Stein zieht. Scheint eine abgekartete Sache zu sein. Vermutlich ist der Stein hohl, und ein Zwerg hockt darin und hält das Schwert mit einer Zange fest, bis der richtige Bursche daran zieht…«

Eine Fliege summte am Fenster, flog dann im Zickzack durchs Zimmer und ließ sich auf einem Balken nieder. Knuddels lässig geworfene Axt traf sie dort genau in der Mitte.

»Du hast die falsche Einstellung, Fred«, sagte Nobby. »Ich wäre gern ein Ritter in funkelnder Rüstung. So wird man vom König belohnt, wenn man etwas Gutes geleistet hat. Er schlägt einen zum Ritter.«

»Der fleckige Brustharnisch eines Mitglieds der Nachtwache dürfte viel eher dein Métier sein«, ließ sich Colon vernehmen. Stolz sah er sich um, ob jemand den kleinen, schiefen Strich überm »e« bemerkt hatte. »Nee. Ich halte nichts davon, jemandem zu huldigen, nur weil er ein Schwert aus einem Stein gezogen hat. Das macht einen nicht zu einem König. Der Mann, der die Klinge hineingestoßen hat, verdient es schon eher, gekrönt zu werden.«

»Ja«, murmelte Nobby. »So einer wäre kein König, der wäre ein As.«

Angua gähnte.

Dingding dang dingding dang…

»Was ist denn das?« fragte Colon.

Karottes Stuhl neigte sich abrupt nach vorn. Der junge Mann kramte in einer Tasche, holte einen Samtbeutel hervor und drehte ihn um. Heraus rutschte eine etwa acht Zentimeter große, gelbe Scheibe, die wie eine Muschelschale aufklappte, als Karotte auf die eine Seite drückte.

Die Wächter beugten sich interessiert vor.

»Soll das eine Uhr sein?« fragte Angua.

»Eine Taschenuhr«, erwiderte Karotte.

»Ist ziemlich groß.«

»Wegen der Mechanik. Es muß Platz genug geben für viele kleine Räder und Stangen. In den üblichen Taschenuhren sitzen nur kleine Dämonen. Ihre Lebenserwartung ist begrenzt, außerdem zählen sie die Minuten und Stunden nie genau…«

Dingding dang dingding dang dingding dang…

»Eine Melodie!« staunte Angua.

»Sie erklingt jede Stunde«, sagte Karotte. »Das gehört zum Mechanismus.«

Ding. Ding. Ding.

»Und danach wird die Stunde geschlagen«, fügte Karotte hinzu.

»Das kostet doch nur Zeit«, meinte Feldwebel Colon. »Wenn man wissen will, wie spät es ist, muß man sich erst eine Melodie anhören.«

»Mein Vetter Jorgen konstruiert solche Taschenuhren«, sagte Knuddel. »Sie messen die Zeit viel genauer als Dämonen, Wasseruhren oder Kerzen. Oder die großen Pendeldinger.«

»Außer vielen kleinen Zahnrädern steckt auch eine Feder drin«, sagte Karotte.

Knuddel zog ein Vergrößerungsglas aus dem Bart und betrachtete die Uhr aufmerksam. »Der wichtigste Bestandteil des Mechanismus ist ein Dingsbums, das dauernd hin und her schwingt. Es verhindert, daß sich die Rädchen zu schnell drehen.«

»Und woher weiß das Dingsbums, wann sie sich zu schnell drehen?« fragte Angua.

»Das ist eingebaut«, sagte Knuddel. »Ich kenne die Funktionsweise nur in groben Zügen. Oh, hier ist eine Inschrift…«

Er las sie laut vor.

»›Eine Uhr von deinigen alten Froinden in der Wache – damit du immer weißt, was die Stunde geschlagen habet.‹«

»Das ist ein Wortspiel«, erläuterte Karotte.

Verlegenes Schweigen folgte.

»Äh. Ich dachte, daß auch die neuen Rekruten ein paar Dollar beisteuern«, sagte Karotte schließlich und errötete. »Ich meine… ihr könnt einen eigenen Beitrag leisten. Wenn ihr wollt. Äh. Bestimmt wärt ihr seine Freunde geworden. Wenn ihr Gelegenheit bekommen hättet, ihn besser kennenzulernen.«

Die anderen Wächter wechselten stumme Blicke.

Er könnte Heere anführen, dachte Angua. Ja, das könnte er wirklich. Manche Personen haben ganze Nationen allein mit ihren Visionen zu Großartigem inspiriert. Dazu wäre auch Karotte imstande. Er träumt nicht etwa von marschierenden Soldaten, der Weltherrschaft oder einem tausendjährigen Reich. Nein, er glaubt, daß alle Leute im Grunde ihres Wesens anständig sind. Er glaubt so fest daran, daß seine Überzeugung wie eine Flamme brennt, die größer ist als er selbst. Er hat einen Traum, der uns alle einschließt, und dadurch verändert sich die Welt um ihn herum. Das Seltsame daran ist, daß ihn niemand enttäuschen will. Er hat eine besondere Art von Magie.

»Das Gold reibt sich ab«, sagte Knuddel. »Aber sonst ist es eine sehr gute Uhr«, versicherte er rasch.

»Ich wollte sie dem Hauptmann heute abend geben«, meinte Karotte. »Und ich habe gehofft, daß wir anschließend gemeinsam losziehen, um… das eine oder andere Gläschen zu trinken.«

»Das ist keine gute Idee«, erwiderte Angua.

»Warten wir bis morgen«, schlug Colon vor. »Bei der Hochzeit bilden wir die Ehrenwache. So verlangt’s die Tradition. Wir heben unsere Schwerter und formen damit einen Bogen.«

»Wir haben nur noch ein Schwert«, stellte Karotte niedergeschlagen fest.

Alle blickten zu Boden.

»Es ist nicht fair«, sagte Angua. »Es ist mir ziemlich gleich, wer den Assassinen was gestohlen hat, aber ich finde es richtig, daß der Hauptmann den Mörder von Herrn Hammerhock finden wollte. Außerdem schert sich niemand um Nimmer Niedlich.«

»Ich gern wissen, wer hat geschossen auf mich«, knarrte Detritus.

»Es ist mir ein Rätsel, warum jemand so dumm sein sollte, den Assassinen etwas zu stehlen«, sagte Karotte. »Darauf hat auch Hauptmann Mumm hingewiesen. Er meint, nur ein Narr bricht ausgerechnet bei den Assassinen ein.«

Wieder blickten die Wächter zu Boden.

»Narr?« wiederholte Detritus. »Wie Witzbolde und Clowns?«

»Der Hauptmann meinte nicht Narren, die Mützen mit Glöckchen tragen«, erwiderte Karotte in freundlichem und geduldigem Ton. »Er meinte, nur ein Idiot käme auf den Gedanken…«

Er unterbrach sich und sah an die Decke.

»Donnerwetter«, hauchte er. »Ist es tatsächlich so einfach?«

»Was soll einfach sein?« fragte Angua.

Jemand hämmerte an die Tür. Es war ein unmißverständlicher Hinweis darauf, daß die Tür entweder von innen geöffnet oder von außen aufgebrochen werden würde.

Ein Wächter wankte herein. Die Hälfte seiner Uniform fehlte, und er hatte ein blaues Auge. Trotzdem erkannten sie Skully Langmarsch von der Tagwache.

Colon stützte ihn.

»Bist du in einen Kampf geraten?«

Skully hob den Kopf, sah Detritus und wimmerte.

»Die Mistkerle haben das Wachhaus angegriffen!«

»Wer?«

»Sie!«

Karotte klopfte ihm auf die Schulter.

»Das ist kein Troll, sondern Obergefreiter Detritus – nicht salutieren«, sagte er. »Trolle haben die Tagwache angegriffen?«

»Sie schmeißen mit Kopfsteinen!«

»Man kann nicht trauen ihnen«, brummte Detritus.

»Wem kann man nicht trauen?« fragte Skully.

»Trollen. Die Burschen zu allem fähig.« Detritus sprach mit der Überzeugung eines Trolls, der eine Dienstmarke besaß. »Man sie ständig muß im Auge behalten.«

»Was ist mit Schrulle?« fragte Karotte.

»Keine Ahnung! Ihr müßt irgend etwas unternehmen!«

»Wir sind offiziell vom Dienst suspendiert«, sagte Colon.

»Komm mir doch nicht damit!«

»Da fällt mir etwas ein.« Karotte strahlte, holte einen Bleistiftstummel hervor und kritzelte ein Häkchen in sein schwarzes Notizbuch. »Hast du noch immer das kleine Haus in der Leichten Straße, Feldwebel Langmarsch?«

»Wie? Was? Ja! Was ist damit?«

»Sollte es deiner Meinung nach mehr als einen Cent Miete im Monat einbringen?«

Langmarsch starrte ihn aus dem noch funktionierenden Auge an.

»Bist du übergeschnappt oder was?«

Karotte lächelte weiterhin. »Nein, ich glaube nicht, Feldwebel Langmarsch. Bitte beantworte meine Frage. Ist die Miete mehr wert als einen Cent pro Monat?«

»In der Stadt sind Zwergenpuppen unterwegs, die nach jemandem suchen, über den sie herfallen können – und du erkundigst dich nach Mieten?«

»Mehr als einen Cent oder nicht?«

»Sei doch nicht dumm! Ein solches Haus bringt mindestens fünf Dollar im Monat!«

»Ah.« Karotte schrieb wieder etwas in sein Notizbuch. »Die Inflation, nehme ich an. Vermutlich gibt es auch einen Kochtopf in dem Gebäude… Nun, Feldwebel Langmarsch, besitzt du mindestens zweieinhalb Morgen Land und mehr als eine halbe Kuh?«

»Na schön.« Der Tagwächter seufzte. »Es ist ein Scherz, den ich nicht verstehe, oder?«

»Ich glaube, die Frage des Besitzstandes kann in diesem Fall außer acht gelassen werden«, sagte Karotte. »In den Vorschriften heißt es, bei einer Person von Stand und Rang brauchen die Vermögensverhältnisse nicht berücksichtigt zu werden. Nun zum letzten Punkt: Kam es deiner Ansicht nach in der Stadt zu einem unwiederbringlichen Verlust von Recht und Ordnung?«

»Die Leute haben Schnappers Imbißwagen umgekippt und ihn gezwungen, zwei seiner eigenen Würstchen zu essen!«

»Meine Güte!« entfuhr es Colon.

»Ohne Senf!«

»Ich schätze, die Antwort ist ein klares Ja«, sagte Karotte. Er malte noch ein Häkchen auf die Seite und schloß das Notizbuch.

»Wir sollten jetzt aufbrechen«, fügte er hinzu.

»Man hat uns angewiesen…«, begann Colon.

Karotte holte tief Luft. »Nach den Gesetzen und Verordnungen der Städte Ankh und Morpork sind alle Bürger bei einem unwiederbringlichen Verlust von Recht und Ordnung befugt, sich auf Geheiß eines Wachoffiziers in Stand und Rang zu einer Miliz zusammenschließen, um die Stadt zu verteidigen.«

»Was bedeutet das?« fragte Angua.

»Miliz…«, murmelte Feldwebel Colon.

»He, einen Augenblick, das geht nicht!« rief Langmarsch. »So ein Unsinn!«

»Das entsprechende Gesetz gilt nach wie vor«, betonte Karotte. »Es wurde nicht außer Kraft gesetzt.«

»Wir hatten nie eine Miliz! Wir haben nie eine gebraucht!«

»Bis jetzt.«

»Jetzt hört mal«, schnaufte Langmarsch. »Begleitet mich zum Palast. Ihr gehört zur Wache…«

»Und als Wächter nehmen wir die Aufgabe wahr, die Stadt zu verteidigen«, sagte Karotte.

 

Leute strömten am Wachhaus vorbei. Karotte hielt einige von ihnen an, indem er einfach die Hand ausstreckte.

»Herr Brodel, nicht wahr?« grüßte er einen Mann. »Wie läuft das Lebensmittelgeschäft?«

»Hast du nichts davon gehört?« fragte Herr Brodel. Rote Flecken der Aufregung zeigten sich auf seinen Wangen. »Die Trolle haben den Palast in Brand gesteckt!«

Karotte blickte über den Breiten Weg zum Palast, dessen dunkle Mauern im matten Licht des zu Ende gehenden Tages aufragten. Nirgends leckten Flammenzungen daran.

»Erstaunlich«, sagte Karotte.

»Und die Zwerge schlagen überall Fenster ein!« ereiferte sich der Lebensmittelhändler. »Niemand ist mehr seines Lebens sicher.«

»Man kann ihnen nicht trauen«, sagte Knuddel.

Brodel starrte ihn groß an. »Du bist ein Zwerg, nicht wahr?«

»Es ist verblüffend.« Knuddel schüttelte verwundert den Kopf. »Woran merkt man das?«

»Ich muß jetzt weiter! Kann nicht zulassen, daß Frau Brodel von den kleinen Teufeln geschändet wird! Ihr wißt ja, was man über Zwerge munkelt!«

Die Wächter sahen dem Paar nach, als es sich wieder zu der Menge gesellte.

»Nun, ich habe keine Ahnung«, knurrte Knuddel. »Was munkelt man über Zwerge?«

Karotte wandte sich einem Mann zu, der einen Imbißwagen schob.

»Entschuldige bitte, Herr«, sagte er. »Würdest du mir bitte erklären, was hier los ist?«

»Und weißt du vielleicht, was man über Zwerge munkelt?« erklang eine Stimme hinter Karotte.

»Das ist kein Herr, sondern Schnapper«, meinte Colon. »Und seht euch nur seine Gesichtsfarbe an!«

»Sollten Wangen so glänzen?« fragte Detritus.

»Fühle mich gut, fühle mich gut!« behauptete Schnapper. »Ha! Verstehe überhaupt nicht, was die Leute an meinen Würstchen auszusetzen haben!«

»Was geschieht in der Stadt, Schnapper?« fragte Colon.

»Ich habe gehört…«, begann Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnapper. Er lief grün an.

»Was hast du gehört?« drängte Karotte. »Und von wem?«

»Von ihnen hab’ ich’s gehört«, antwortete Schnapper. »Du weißt schon. Von den Leuten. Von allen. Es heißt, jemand fiel den Trollen bei den Tollen Schwestern zum Opfer, und die Zwerge haben die Immer-geöffnet-Töpferei des Trolls Kreidig in einen Trümmerhaufen verwandelt und außerdem die Messingbrücke zum Einsturz gebracht.«

Karotte deutete in eine bestimmte Richtung.

»Du bist gerade über die Messingbrücke gekommen«, stellte er fest.

»Äh, ja«, bestätigte Schnapper. »Nun, das erzählt man sich jedenfalls.«

»Oh, ich verstehe.« Karotte straffte die Schultern.

»Haben die Leute auch darüber gesprochen, was man so über Zwerge munkelt?« fragte Knuddel.

»Ich glaube, wir sollten mit der Tagwache über Kohlenfresses Verhaftung reden«, sagte Karotte.

»Wir haben keine Waffen«, gab Colon zu bedenken.

»Ich bin sicher, daß Kohlenfresse überhaupt nichts mit Hammerhocks Tod zu tun hat«, fuhr Karotte fort. »Wir sind mit der Wahrheit bewaffnet. Was kann uns dann gefährlich werden?«

»Zum Beispiel ein Armbrustbolzen«, entgegnete Feldwebel Colon. »Die Dinger hinterlassen gleich zwei Löcher im Kopf: eins in der Augenhöhle und das andere im Hinterkopf.«

»Na schön, Feldwebel«, sagte Karotte. »Wo kriegen wir zusätzliche Waffen her?«

 

Das Arsenal ragte als düstere Masse vor dem Abendrot auf.

Eigentlich seltsam, daß es in Ankh-Morpork ein Arsenal gab – immerhin besiegte die Stadt ihre Feinde durch Täuschung, Bestechung und Integration. Feldwebel Colon drückte es folgendermaßen aus: Hatte man den Gegner erst einmal auf friedliche Weise entwaffnet, mußte man den ganzen Kram irgendwo aufbewahren.

Karotte klopfte an die Tür. Nach einer Weile ertönte das Geräusch von Schritten, und eine kleine Klappe wurde geöffnet. »Ja?« fragte jemand mit unüberhörbarem Mißtrauen.

»Ich bin Korporal Karotte von der Stadtmiliz.«

»Nie davon gehört. Verschwinde.«

Die Klappe schloß sich wieder. Karotte hörte Nobby leise kichern.

Er klopfte erneut an die Tür.

»Ja?«

»Ich bin Korporal Karotte…« Die Klappe bewegte sich, doch Karotte rammte seinen Schlagstock in die Öffnung. »Ich bin gekommen, um Waffen für meine Männer zu holen.«

»Ach? Und wo ist die Genehmigung?«

»Wie bitte? Aber ich…«

Der Schlagstock wurde zurückgestoßen, und die Klappe schloß sich erneut.

»Tschuldigung.« Korporal Nobbs schob sich vorbei. »Laß es mich mal versuchen. Mit solchen Sachen kenne ich mich aus.«

Mit seinen Stahlspitzen an den Stiefeln trat er an die Tür. Sie waren sehr gefürchtet, besonders von Leuten, die auf dem Boden lagen und sich nicht wehren können.

Klappe auf. »Ich habe gesagt, du sollst verschw…«

»Revisoren«, ertönte Nobbys scharfe Stimme.

Es war einige Sekunden still.

»Was?«

»Wir kommen wegen einer Bestandsaufnahme.«

»Wo ist die Genehmi…«

»Ach? Unsere Genehmigung willst du sehen?« Nobby lachte höhnisch. »Ha! Sicher willst du nur Zeit schinden. Damit deine Kumpel durch den Hinterausgang schlüpfen können, um die ans Leihhaus verhökerten Sachen zurückzuholen, wie?«

»Ich wollte keineswegs…«

»Oder probieren deine Komplizen gerade den Tausendschwertertrick, hm? Fünfzig aufeinandergestapelte Kisten. Und in den unteren vierzig sind nur Steine.«

»Ich…«

»Wie heißt du?«

»Ich…«

»Mach sofort die Tür auf!«

Die Klappe wurde geschlossen, anschließend deuteten charakteristische Geräusche darauf hin, daß jemand Riegel beiseite schob – jemand, der nicht gerne die Tür öffnete. Und der gleich einige Fragen stellen würde.

»Hast du einen Zettel dabei, Fred? Schnell!«

»Ja, aber…«, erwiderte Feldwebel Colon.

»Ich brauche irgendeinen Zettel! Und zwar sofort

Colon kramte in der Tasche und reichte Nobby die letzte Quittung vom Lebensmittelhändler. Eine Sekunde später schwang das kleine Portal auf. Nobby trat energisch vor und ließ den Mann auf der anderen Seite des Zugangs hastig zurückweichen.

»Lauf nicht weg!« rief er. »Es scheint alles in Ordnung zu sein…«

»Ich wollte gar nicht weg…«

»…BISHER!«

Karottes Blick glitt durch einen großen Raum mit komplexen Schatten. Abgesehen von dem Mann, der dicker war als Colon, befanden sich noch zwei Trolle an diesem Ort. Sie arbeiteten an einem großen Schleifstein. Das Arsenal schien bisher von den jüngsten Ereignissen in der Stadt verschont geblieben zu sein. Vielleicht wegen der dicken Mauern des Gebäudes.

»Also gut, keine Panik, laßt einfach alles stehen und liegen. Ich bin Korporal Nobbs vom Stadtamt für Inspektion, Revision…« Er hob den Zettel vor die Augen des Mannes und wedelte so schnell damit, daß nicht einmal der flinkste Leser irgendwelche Buchstaben erkennen konnte. Nobby suchte etwa eine halbe Sekunde nach einem geeigneten Ende für den begonnenen Satz. »… und dem Büro… für Kontrolle… und inspizierende Revision. Wie viele Personen arbeiten hier?«

»Nur ich…«

Nobby deutete auf die beiden Trolle.

»Was ist mit ihnen?«

Der Mann spuckte auf den Boden.

»Deine Frage bezog sich auf Personen

Reflexartig hob Karotte die Hand und preßte sie auf Detritus’ Brustharnisch.

»Na schön«, sagte Nobby. »Mal sehen, was wir hier haben…« Er ging so schnell an den Regalen und Gestellen entlang, daß sich die anderen beeilen mußten, um mit ihm Schritt zu halten. »Was ist das hier?«

»Äh…«

»Du weißt es nicht, wie?«

»Doch, doch. Es ist…«

»Eine mit drei Sehnen und verstärkter Winde ausgestattete, zweitausend Pfund starke, fahrbare Sturmarmbrust?«

»Ja.«

»Und dies hier? Eine klatschianische Repetierarmbrust mit spezieller Spannvorrichtung und ausziehbarem Bajonett?«

»Äh. Ja.«

Nobby betrachtete das Ding kurz und legte es dann beiseite.

Die übrigen Wächter staunten. Ihr Kollege Nobbs war immer nur mit einem Messer bewaffnet gewesen.

»Hast du hier eine herschebianische Zwölfschußarmbrust mit Fallspeisung?« fragte er.

»Wie bitte? Hier gibt es nur das, was du siehst.«

Nobby griff nach einer für die Jagd bestimmten Armbrust. Auf seinen dünnen Armen zeichneten sich deutlich die Sehnen ab, als er den Hebel spannte.

»Die Bolzen für dieses Ding sind vermutlich verscherbelt worden, wie?«

»Sie liegen hier!«

Nobby nahm einen und schob ihn in die dafür vorgesehene Öffnung. Dann peilte er über den Schaft – und drehte sich um.

»Ich mag dieses Arsenal«, sagte Nobby. »Wir nehmen alles.«

Der Mann sah von der anderen Seite durch das Visier und bemerkte das Glitzern in Nobbys Augen. Zu Anguas großer Überraschung fiel er nicht in Ohnmacht.

»Das kleine Ding erschreckt mich nicht«, sagte er.

»Es erschreckt dich nicht?« vergewisserte sich Nobby. »O nein. Natürlich nicht. Ist wirklich eine recht kleine Armbrust. Eine so kleine Armbrust kann einen Mann wie dich nicht beeindrucken. Eine wesentlich größere Armbrust ist nötig, um einen Mann wie dich zu erschrecken.«

Angua hätte einen Monatssold gegeben, um das Gesicht des Quartiermeisters zu sehen. Sie beobachtete, wie Detritus die Sturmarmbrust nahm, sie mit einer Hand und einem kaum hörbaren Ächzen spannte und dann vortrat. Sie stellte sich vor, wie der Mann die Augen verdrehte, als er kühles Metall im heißen Nacken spürte.

»Nun, das hinter dir ist eine große Armbrust«, sagte Nobby.

Der fast zwei Meter lange Bolzen war nicht in dem Sinne scharf. Er sollte Türen und Tore durchschlagen; für Chirurgie war er nicht bestimmt.

»Darf ich drücken jetzt den Auslöser?« knirschte Detritus ins Ohr des Mannes.

»Du wagst es nicht, diese Waffe hier drin abzuschießen! Sie ist dazu bestimmt, Festungen zu erobern. Sie würde ein großes Loch in die Wand reißen!«

»Nachdem sie dich getroffen hat«, meinte Nobby.

»Wofür das hier sein?« fragte Detritus.

»Jetzt hör mal…«

»Ich hoffe, das Ding ist gut gepflegt worden«, sagte Nobbs. »Häufig leiden die Sicherungsbügel an der Ermüdung des Materials.«

»Sicherungsbügel?« wiederholte Detritus verwirrt. »Was das sein?«

Es wurde still.

Karotte nahm seine Stimme an einem fernen Ort wahr.

»Korporal Nobbs?«

»Ja?«

»Ich übernehme jetzt, wenn du nichts dagegen hast.«

Behutsam drückte er die Sturmarmbrust beiseite. Doch der Witz über Personen hatte Detritus ganz und gar nicht gefallen, weshalb die Waffe wieder zurückschwang.

»Ich mag es nicht, jemanden zu etwas zu zwingen«, sagte Karotte. »Wir sind nicht gekommen, um diesen armen Mann unter Druck zu setzen. Er arbeitet wie wir für die Stadt. Es ist nicht richtig, ihm Angst einzujagen. Warum richten wir nicht eine höfliche Frage an ihn?«

»Ist das dein Ernst?« fragte Nobby.

Karotte klopfte dem Quartiermeister auf die Schulter.

»Dürfen wir uns einige Waffen nehmen?« fragte er.

»Was?«

»Erlaubst du uns, einige Waffen auszuleihen? Für einen offiziellen Zweck?«

Der Arsenalverwalter wußte nicht, was er davon halten sollte.

»Ich kann eine… äh… freie Entscheidung treffen?«

»Ja. Wir legen großen Wert auf die Zustimmung der Bürger. Wenn du dich außerstande siehst, auf unser Anliegen einzugehen, so genügt ein entsprechender Hinweis.«

Der Quartiermeister schwieg zunächst, als er an die Sturmarmbrust hinter seinem Kopf dachte. Er hörte bereits den Ruf: »Feuer!«

»Äh«, sagte er schließlich. »Na gut. In Ordnung. Nehmt euch, was ihr wollt.«

»Ausgezeichnet. Feldwebel Colon gibt dir eine Quittung, die bestätigt, daß du uns die Waffen aus freiem Willen überlassen hast.«

»Aus freiem Willen?«

»Die Entscheidung liegt ganz bei dir.«

Das Gesicht des Mannes verzog sich zu einer Grimasse, als er mühsam überlegte.

»Ich schätze…«

»Ja?«

»Ich schätze, es gibt nichts dagegen einzuwenden, wenn ihr euch ein paar Waffen nehmt.«

»Gut. Hast du eine Karre für uns?«

»Und weißt auch, was man über Zwerge munkelt?« fragte Knuddel.

Angua sah bestätigt, daß Karotte überhaupt keinen Sinn für Ironie hatte. Er meinte jedes Wort ernst. Wenn es der Mann abgelehnt hätte, ihnen Waffen zu überlassen… wäre Karotte wahrscheinlich bereit gewesen, mit leeren Händen zu gehen. Doch das Wort wahrscheinlich verhieß keine absolute Gewißheit.

Nobby eilte durch einen langen Gang. Gelegentlich quiekte er voller Entzücken, wenn er einen interessanten Kriegshammer oder eine besonders gefährliche Gleve fand. Er versuchte, mehrere Waffen gleichzeitig zu halten. Kurz darauf ließ er alles fallen und näherte sich einem bestimmten Gestell.

»Donnerwetter! Ein klatschianischer Flammenwerfer! Das ist schon mehr mein Meteor!«

Er kramte im Halbdunkel und kam dann mit einer Art Tonne auf kleinen, quietschenden Rädern hervor. Der Apparat hatte mehrere Henkel, große Lederbeutel und eine Düse an der Vorderseite. Er sah aus wie ein zu groß geratener Kessel.

»Sogar das Leder ist eingefettet!«

»Was ist das?« fragte Karotte.

»Und es ist noch Öl im Tank!« Nobby griff nach einem Hebel und pumpte. »Angeblich ist dieses Ding in acht Ländern verboten worden. Und die Oberhäupter von drei Religionen haben damit gedroht, jeden Soldaten zu exkommunizieren, der eine solche Waffe verwendet!26 Hat jemand ein Streichholz?«

»Hier«, sagte Karotte. »Aber was…«

»Paßt auf!«

Nobby zündete ein Streichholz, hielt es an das vorn aus der Tonne ragende Rohr und zog einen anderen Hebel.

Nach einer Weile gelang es ihnen, alle Flammen zu ersticken.

»Muß erst noch richtig eingestellt werden«, sagte Nobby und wischte sich Ruß von den Wangen.

»Nein«, sagte Karotte. Für den Rest seines Lebens würde er sich an einen Flammenstrahl erinnern, der ihm auf dem Weg zur gegenüberliegenden Wand die Wangen versengte.

»Aber…«

»Nein. Das Ding ist viel zu gefährlich.«

»Es soll gefährlich sein…«

»Ich meine, es könnte jemanden verletzen.«

»Oh.« Nobby nickte langsam. »Darauf hättest du hinweisen sollen. Wir suchen Waffen, die niemanden verletzen.«

»Korporal Nobbs«, sagte Feldwebel Colon. Er war der Flamme noch näher gewesen als Karotte.

»Ja, Feldwebel?«

»Du hast Korporal Karotte gehört. Keine heidnischen Waffen. Woher kennst du diese Dinge überhaupt?«

»Aus meiner Zeit beim Militär.«

»Tatsächlich?« fragte Karotte.

»Habe damals besondere Pflichten erfüllt. Hatte eine Menge Verantwortung.«

»Welche Pflichten hast du erfüllt?«

»Die des Quartiermeisters, Herr«, sagte Nobby und salutierte zackig.

»Du bist Quartiermeister gewesen?« brachte Karotte erstaunt hervor. »In wessen Armee?«

»In der Armee des Herzogs von Pseudopolis, Herr.«

»Aber Pseudopolis hat alle Kriege verloren!«

»Äh… nun…«

»Wem hast du die Waffen verkauft?«

»Das ist Verleumdung, jawohl! Sie wurden nur lange poliert und geschärft.«

»Nobby, wieviel Zeit verbrachten die Waffen beim Polieren und Klingenschärfen? Eine grobe Schätzung genügt mir.«

»Eine grobe Schätzung? Oh. Etwa hundert Prozent. Mehr oder weniger, Herr.«

»Nobby?«

»Herr?«

»Du brauchst mich nicht ›Herr‹ zu nennen.«

»Ja, Herr.«

Letztendlich blieb Knuddel seiner Axt treu, fügte ihr allerdings zwei weitere hinzu. Feldwebel Colon wählte eine Pike, denn bei einer solchen Waffe spielte sich der Kampf am anderen Ende ab, also ein ganzes Stück entfernt. Obergefreite Angua nahm ohne große Begeisterung ein Kurzschwert, und Korporal Nobbs…

Korporal Nobbs verwandelte sich in ein Stachelschwein aus Klingen, Spitzen und stachelbewehrten Kugeln am Ende von Ketten.

»Bist du ganz sicher, Nobby?« fragte Karotte. »Möchtest du wirklich nichts davon hierlassen?«

»Die Wahl ist so schwer, Herr.«

Detritus blieb bei der großen Sturmarmbrust.

»Mehr nimmst du nicht mit, Detritus?«

»Doch. Ich auch nehmen Feuerstein und Moräne, Herr!«

Die beiden Trolle, die bisher im Arsenal gearbeitet hatten, standen nun hinter Detritus.

»Ich sie haben vereidigt. Mit Trollschwur.«

Feuerstein salutierte eher dilettantisch.

»Er damit gedroht uns einschlagen Goohuloog-Köpfe, wenn wir uns nicht anschließen der Wache und gefälligst gehorchen, Herr«, sagte er.

»Sehr alter Trollschwur«, fügte Detritus hinzu. »Sehr berühmt und traditionell.«

»Einer von ihnen könnte den klatschianischen Flammenwerfer tragen…«, begann Nobbs hoffnungsvoll.

»Nein, Nobby. Äh… willkommen in der Wache, Männer.«

»Korporal Karotte?«

»Ja, Knuddel?«

»Das ist nicht fair. Es sind Trolle.«

»Wir brauchen jeden Mann, den wir bekommen können, Knuddel.«

Karotte trat zurück. »Die Leute sollen nicht glauben, daß wir Ärger suchen.«

»Mit unserer derzeitigen Aufmachung brauchen wir nicht lange danach Ausschau zu halten«, murmelte Colon bedrückt.

»Darf ich etwas fragen, Herr?« ließ sich Angua vernehmen.

»Ich höre, Obergefreite Angua.«

»Wer ist der Feind?«

»Wenn wir so durch die Gegend laufen, begegnen wir nur Feinden«, brumme Feldwebel Colon.

»Wir wollen keine Feinde, sondern Informationen«, erwiderte Karotte. »Unsere beste Waffe ist die Wahrheit. Wir beginnen bei der Narrengilde. Dort stellen wir fest, warum Bruder Beano das Gfähr gestohlen hat.«

»Hat er das Gfähr gestohlen?«

»Ich glaube schon.«

»Aber er starb vor dem Diebstahl!« wandte Colon ein.

»Ja«, bestätigte Karotte. »Ich weiß.«

»So was nenne ich ein gutes Alibi«, fügte der Feldwebel hinzu.

Die Truppe bezog Aufstellung und marschierte los – nachdem sich die Trolle darauf geeinigt hatten, was der linke Fuß war und was der rechte. Nobby blickte mehrmals über die Schulter und sah traurig zum Flammenwerfer.

Manchmal ist es besser, einen Flammenwerfer anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen.

 

Zehn Minuten später bahnten sich die Wächter einen Weg durch die Menge und erreichten den Gildenbezirk.

»Seht ihr?« fragte Karotte.

»Sie grenzen aneinander«, sagte Nobby. »Na und? Es ist eine Wand dazwischen.«

»Aber vielleicht nicht überall«, erwiderte Karotte. »Das finden wir bald heraus.«

»Haben wir dafür Zeit?« erkundigte sich Angua. »Wir wollten doch zur Tagwache.«

»Zuerst müssen wir hier etwas feststellen«, sagte Karotte. »Die Narren haben mir nicht die Wahrheit gesagt.«

»Augenblick, Augenblick«, erklang Colons Stimme. »Jetzt geht die Sache ein wenig zu weit. Ich möchte nicht, daß wir jemanden töten. Zufälligerweise bin ich Feldwebel, falls das jemanden interessiert. Hast du verstanden, Karotte? Und auch du, Nobby! Es wird weder mit Armbrüsten geschossen noch mit Schwertern herumgefuchtelt. Es ist schon schlimm genug, wenn wir Gildengelände betreten. Aber wenn wir dort jemanden verletzen oder gar ins Jenseits befördern, bekommen wir echte Schwierigkeiten. Dann beschränkt sich Lord Vetinari nicht mehr darauf, sarkastisch zu werden. Dann wird er vielleicht…« Colon schluckte. »…ironisch. Mit anderen Worten: Ich habe euch gerade einen Befehl erteilt. Was hast du eigentlich vor, Karotte?«

»Ich möchte, daß mir die Leute Auskunft geben.«

»Nun, falls sie dazu nicht bereit sind, wird keineswegs Gebrauch von den Waffen gemacht«, sagte Colon. »Du kannst Fragen stellen, einverstanden. Aber wenn Herr Weißgesicht auf stur schaltet, lassen wir ihn in Ruhe. Bei Narren läuft es mir kalt den Rücken runter, und er ist der schlimmste von allen. Weißgesicht, meine ich. Wenn er nicht antworten will, gehen wir friedlich, und dann läßt du dir was anderes einfallen. Wie ich schon sagte: Das ist ein Befehl. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Es ist ein Befehl.«

»Wenn er meine Fragen nicht beantwortet, gehe ich friedlich«, entgegnete Karotte. »Alles klar.«

»Hoffentlich.«

Karotte klopfte an die Tür der Narrengilde, fing die zum Vorschein kommende Sahnetorte auf und rammte sie zurück. Anschließend trat er so fest gegen das Portal, daß es sich fast zehn Zentimeter weit nach innen beulte.

Dahinter erklang ein dumpfes »Au!«

Die Tür öffnete sich noch weiter und gab den Blick frei auf einen kleinen, von Tünche und Sahne bedeckten Clown.

»Das war nicht nötig«, klagte er.

»Ich wollte uns nur in Stimmung bringen. Ich bin Korporal Karotte, und dies ist die Bürgermiliz von Ankh-Morpork. Wir lachen gern, weißt du.«

»‘tschuldigung…«

»Abgesehen vom Obergefreiten Knuddel. Der Obergefreite Detritus lacht ebenfalls gern, allerdings erst ein paar Minuten später. Wir sind gekommen, um mit Herrn Weißgesicht zu sprechen.«

Die Haare des Clowns richteten sich auf. Wasser spritzte aus seinem Knopfloch.

»Ha-habt ihr einen Termin?«

»Keine Ahnung«, sagte Karotte. »Haben wir einen Termin?«

»Ich habe eine Eisenkugel mit Spitzen«, meinte Nobby.

»Das ist ein Morgenstern.«

»Tatsächlich?«

»Ja«, sagte Karotte. »Ein Termin bedeutet nicht, jemanden zu terminieren. Es ist vielmehr eine Verabredung. Morgensterne hingegen werden eingesetzt, um Schädel zu zertrümmern. Man darf das eine nicht mit dem anderen verwechseln, Herr…« Er hob fragend die Brauen.

»Boffo«, antwortete der Clown. »Aber…«

»Wenn du jetzt bitte Herrn Weißgesicht mitteilen würdest, daß wir hier einen Morgenstern haben… Oh, wie dumm von mir. Ich meine natürlich, daß wir zwar keinen Termin haben, aber trotzdem mit ihm reden möchten. Herzlichen Dank für deine Bemühungen.«

Der Clown eilte fort.

»Na bitte«, sagte Karotte. »Bist du zufrieden, Feldwebel?«

»Wahrscheinlich wird Lord Vetinari sogar satirisch«, brummte Colon verdrießlich.

Nach einer Weile holte Obergefreiter Knuddel einen Schraubenzieher hervor und untersuchte die an der Tür festgeschraubte Tortenwerfmaschine. Die anderen Wächter scharrten mit den Füßen, bis auf Nobby, der immer wieder irgendwelche Dinge fallen ließ.

Schließlich kehrte Boffo in Begleitung von zwei muskulösen Witzbolden zurück, die ganz offensichtlich nicht zum Scherzen aufgelegt waren.

»Herr Weißgesicht meint, es gebe überhaupt keine Bürgermiliz«, sagte der kleine Clown. »Aber Herr Weißgesicht meint auch, wenn es wirklich wichtig sei, sei er bereit, einige von euch zu empfangen. Doch weder die Trolle noch den Zwerg. Wir haben gehört, daß Banden aus Trollen und Zwergen die ganze Stadt terrorisieren.«

»So es heißen«, sagte Detritus und nickte.

»Weißt du, was man über Zwerge…«, begann Knuddel. Nobby brachte ihn mit einem Stoß in die Rippen zum Schweigen.

»Du und ich, Feldwebel?« fragte Karotte. »Und auch du, Obergefreite Angua.«

»O Mann«, stöhnte Colon leise.

Sie folgten Karotte ins triste Gebäude, gingen mit dem jungen Korporal durch düstere Korridore zum Büro des Gildenoberhaupts. Herr Weißgesicht stand mitten im Zimmer. Ein anderer Witzbold versuchte gerade, zusätzliche Pailletten an seinen Mantel zu nähen.

»Nun?«

»Guten Abend«, sagte Karotte.

»Eins steht fest«, brummte Weißgesicht. »Lord Vetinari wird von diesem Vorfall erfahren.«

»Ja«, erwiderte Karotte. »Ich erstatte ihm Bericht.«

»Es ist mir ein Rätsel, warum ihr mich stört, obwohl es in der Stadt drunter und drüber geht.«

»Darum kümmern wir uns später. Hauptmann Mumm hat mich mehrmals darauf hingewiesen, daß es große und kleine Verbrechen gibt. Manchmal wirken die kleinen Verbrechen sehr groß, und die großen sind kaum zu erkennen. Es ist wichtig, zwischen ihnen zu unterscheiden.«

Sie musterten sich gegenseitig.

»Also?« fragte Herr Weißgesicht scharf.

»Ich möchte von dir wissen, was vorgestern abend in diesem Gildenhaus geschah«, sagte Karotte.

Das Gildenoberhaupt sah ihn groß an.

»Und wenn ich keine Auskunft gebe?«

Karotte holte tief Luft. »Dann bleibt mir zu meinem großen Bedauern nichts anderes übrig, als dem Befehl zu gehorchen, den ich auf dem Weg hierher bekam.«

Er wandte sich an Colon. »Das stimmt doch, Feldwebel?«

»Was? Wie? Oh, ja…«

»Es behagt mir ganz und gar nicht«, fügte Karotte hinzu. »Aber wenn ich keine Wahl habe…«

Herrn Weißgesichts Blicke durchbohrten Karotte und Colon.

»Dies ist Gildenterritorium! Du hast kein Recht, hier…«

»Davon weiß ich nichts«, sagte Karotte. »Ich bin nur ein einfacher Korporal. Bisher habe ich allen Befehlen gehorcht, und ich betone noch einmal: Auch in diesem Fall werde ich mich voll und ganz an meine Anweisungen halten.«

»Jetzt hör mal…«

Karotte schob sich ein wenig näher.

»Wenn’s dich tröstet: Wahrscheinlich schäme ich mich später dafür.«

Weißgesicht starrte in Karottes Augen, und wie alle anderen sah er darin nur Wahrheit.

»Wenn ich rufe…« Unter der Schminke lief Weißgesicht rot an. »…dann wimmelt’s hier wenige Sekunden später von meinen Leuten.«

»Das macht es mir nur leichter, dem Befehl zu gehorchen«, gab Karotte zurück.

Herr Weißgesicht war stolz auf seine Fähigkeit, Charakter und Wesen von Personen beurteilen zu können. In Karottes Gesicht sah er nichts als absolute Aufrichtigkeit. Er betastete einen Federkiel und warf ihn dann wütend zu Boden.

»Verflixt!« entfuhr es ihm. »Wie hast du es herausgefunden? Wer hat dir davon erzählt?«

»Niemand«, sagte Karotte. »Doch es gibt keine andere Erklärung. Jede Gilde verfügt nur über einen Eingang, aber die Häuser stehen Rücken an Rücken. Ein Loch in der Wand genügt.«

»Ich versichere dir, daß wir nichts davon wußten«, meinte Weißgesicht.

Feldwebel Colon konnte es kaum fassen. Er hatte Spieler mit schlechten Karten bluffen sehen, aber hier bluffte jemand ohne Karten.

»Zunächst hielten wir die Sache für einen Scherz«, fuhr Weißgesicht fort. »Wir dachten, der junge Beano hätte humorvolle Absichten. Wir glaubten es, bis man ihn tot fand. Und dann…«

 

Die übrigen Wächter lümmelten sich auf dem Hof.

»Korporal Nobbs?«

»Ja, Obergefreiter Knuddel?«

»Was munkelt man über Zwerge?«

»Du willst mich wohl auf den Arm nehmen«, entgegnete Nobby. »Das weiß jeder, der sich auch nur ein wenig mit Zwergen auskennt.«

Knuddel hüstelte.

»Nur die Zwerge nicht«, sagte er.

»Was soll das heißen?«

»Niemand hat uns gesagt, was man über Zwerge munkelt«, meinte Knuddel.

»Nun… äh.« Nobby zögerte. »Vielleicht dachten die Leute, daß ihr’s längst wißt.«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Oh, na schön.« Er sah kurz zu den Trollen, beugte sich dann zu Knuddel und flüsterte dort, wo er das Ohr vermutete.

Der Zwerg nickte.

»Und das ist alles?«

»Ja. Äh. Stimmt es?«

»Was? O ja. Natürlich. Das liegt in der Natur von Zwergen. Einige haben natürlich mehr als andere.«

»Das ist überall so«, sagte Nobby.

»Ich selbst habe mehr als achtundsiebzig Dollar gespart.«

»Nein! Ich meine… nein. Ich meinte nicht, ›gut ausgestattet‹ mit Geld. Ich meine…« Nobby flüsterte erneut. Knuddels Miene veränderte sich nicht.

Nobbs hob und senkte die Brauen. »Stimmt’s?«

»Woher soll ich wissen, wieviel bei Menschen üblich ist?«

Nobby gab auf. »An einer Sache kann wenigstens kein Zweifel bestehen«, sagte er. »Ihr Zwerge liebt Gold, nicht wahr?«

»So ein Unsinn – natürlich nicht.«

»Ach?«

»Das behaupten wir nur, um ins Bett zu kommen.«

 

Es war im Zimmer eines Clowns. Colon hatte sich schon öfter gefragt, wie es im Heim eines Clowns aussah, und nun stellte er fest, daß nichts fehlte: Der übergroße Schuhspanner war ebenso vorhanden wie die extra breite Hosenpresse, ein von Kerzen gesäumter Spiegel und riesige Schminkstifte. Dazu ein Bett, das nur aus einer Decke auf dem Boden zu bestehen schien. Dieser Eindruck täuschte keineswegs. Clowns und Narren wurden von Anfang an dazu erzogen, auf Komfort zu verzichten. Humor war eine sehr ernste Angelegenheit…

In der Wand war ein Loch, groß genug, daß ein Mensch hindurchpaßte. Daneben waren Ziegelsteine aufgetürmt.

Dunkelheit lauerte auf der anderen Seite.

Karotte schob Kopf und Schultern durch die Öffnung. Colon versuchte ihn zurückzuziehen.

»Das solltest du besser lassen, Junge. Wer weiß, welche schrecklichen Dinge jenseits dieser Wand auf dich warten?«

»Ich wollte es gerade herausfinden.«

»Vielleicht ist dort eine Folterkammer. Oder ein Verlies. Oder eine Schlangengrube. Oder was weiß ich.«

»Es ist ein Schülerzimmer, Feldwebel.«

»Na bitte.«

Karotte trat durch das Loch, und seine Geräusche deuteten an, daß er auf der anderen Seite in Bewegung blieb. Die Finsternis der Assassinenkammer umhüllte ihn – eine Dunkelheit, die weniger düster anmutete als das freudlose Zwielicht im Raum des Clowns.

Kurz darauf erschien Karotte wieder an der Öffnung.

»Hier hat sich schon seit einer ganzen Weile niemand mehr aufgehalten«, sagte er. »Eine dicke Staubschicht bedeckt den Boden. Fußspuren zeichnen sich darin ab. Die Tür ist geschlossen und verriegelt. Von dieser Seite.«

Der junge Mann kehrte ins Narrenzimmer zurück.

»Ich möchte sicher sein, daß ich alles richtig verstehe«, sagte er zu Herrn Weißgesicht. »Beano machte ein Loch in die Wand zur Assassinengilde. Dann brach er auf, um den Drachen explodieren zu lassen? Wie kam er ums Leben? Wer brachte ihn um?«

»Bestimmt die Assassinen«, sagte Herr Weißgesicht. »Es wäre ihr gutes Recht gewesen. Unbefugtes Eindringen in ein Gildenhaus ist ein schweres Verbrechen.«

»Hat jemand Beano nach der Explosion gesehen?« erkundigte sich Karotte.

»Ja. Boffo hatte Wachdienst und erinnert sich genau daran, daß Beano hinausging.«

»Ist er ganz sicher, daß es wirklich Beano war?«

Herr Weißgesicht blinzelte.

»Natürlich.«

»Wieso?«