Korporal Karotte von der Stadtwache in Ankh-Morpork (Nachtschicht) nahm im Nachthemd Platz, griff nach dem Stift, kaute einige Sekunden lang darauf und schrieb dann:

 

»Liebe Muther und lieber Fater,

hoite habe ich eine große Überraschung denn man hat mich zum Korporal befördert!! Dadurch bekommige ich Fünf Ankh-Morpork-Dollar mehr im Mohnat und auch noch zwei Streifen zusätzlich. Und außerdem eine neue Dienstmarke aus Kupfer! Ich habe jetzt Große Ferantwortung!! Es liegt daran das wir neue Rekruten haben weil der Patrizier – ich habe euch ja schon geruhet mitzuteilen das er der Herrscher dieser Stadt ist – die Ansicht vertritt unsere Wache müßte die ettnische Schtruktur der Stadt widerschpiegeln…«

 

Karotte zögerte, blickte aus dem kleinen, staubigen Schlafzimmerfenster und beobachtete, wie das letzte Licht des Tages über den Fluß kroch. Dann wandte er sich wieder dem Brief zu.

 

»… was ich nicht ganz verstehe aber ich glaube es hat was mit der kosmetischen Fabrik des Zwerges Schnapptopf Donnerstoß zu tun. Und Hauptmann Mumm fon dem ich euch oft geschrieben, habe verläßt die Wache um zu heiraten und zu einem feinen Herrn zu werden. Ja und bestimmt wünschen wir ihm alles Gute immerhin hat er mich das gelehrt was ich weiß abgesehen von den Dingen die ich mir selbst beigebracht habe. Wir legen alle zusammen damit, er ein Überraschungsgeschenk bekommigt vielleicht eine der noien Uhren die auch ohne einen kleinen Dämon in ihrem Innern funkzionieren. Und in die Rückseite könnten wir eingravieren: ›Eine Uhr von deinen alten Froinden in der Wache – damitte du nie vergißt was die Stunde geschlagen hat.‹ Das ist ein lustiges Wortspiel, vielleicht wegen der Heirat und so ich weiß es nicht genau. Auch wissen wir nicht wer der noie Hauptmann wird, Feldwebel Colon will den Abschied nehmen wenn er’s sein muß. Und Korporal Nobbs…«

 

Erneut blickte Karotte aus dem Fenster. Falten bildeten sich auf seiner großen, ehrlichen Stirn, als er nach geeigneten Worten suchte, um etwas Positives über Nobbs zu sagen.

 

»… ist besser in seiner gegenwärtigen das heißt derzeitigen Pohsition aufgehoben und ich bin noch nicht lange genug bei der Wache. Ich schätze uns bleibet nichts anderes übrig als abzuwarten…«

 

Es begann, wie so viele Dinge, mit einem Todesfall. Und mit einer Bestattung an einem Frühlingsmorgen. Dunstschwaden strichen über den Boden, so dick, daß sie den Sarg verschluckten.

Eine kleine graue Promenadenmischung hockte auf einem nahen Erdhügel und sah gleichgültig zu. Sie war Wirt und Transportmittel für so viele Erreger von Hundekrankheiten, daß sie in einen Kokon aus Staub gehüllt zu sein schien.

Die älteren Frauen weinten. Edward d’Eath hingegen vergoß keine einzige Träne, und zwar aus drei Gründen: Erstens war er der älteste Sohn, der siebenunddreißigste Lord d’Eath, und für einen d’Eath gehörte es sich nicht, in aller Öffentlichkeit zu weinen. Zweitens hatte er gerade die Ausbildung zum Assassinen abgeschlossen – sein Diplom war noch so neu, daß es leise knisterte –, und Assassinen weinten nicht bei Todesfällen; andernfalls müßten sie dauernd schluchzen. Und drittens war er von Ärger erfüllt. Mehr noch. In ihm brannte das Feuer des Zorns.

Sein Zorn galt verschiedenen Dingen: dem Umstand, daß er sich Geld für dieses billige Begräbnis leihen mußte; dem Wetter; dem gewöhnlichen Friedhof; dem ständigen Hintergrundgeräusch der Stadt, das sich nicht einmal bei dieser Gelegenheit veränderte. Und der Geschichte. Sie sollte nicht auf diese Weise beschaffen sein.

Sie hatte nie auf diese Weise beschaffen sein sollen.

Edward blickte über den Fluß und beobachtete die düstere Silhouette des Palastes. Dabei verwandelte sich der Zorn in eine scharfe Linse.

Man hatte Edward zur Assassinengilde geschickt, weil sie die beste Schule für Leute war, deren soziale Stellung höher war als ihre Intelligenz. Als Narr hätte er vermutlich die Satire erfunden und gefährliche Witze über den Patrizier erzählt. Als Dieb1 wäre er vielleicht in den Palast eingedrungen, um dem Patrizier etwas Wertvolles zu stehlen.

Doch er war bei den Assassinen in die Lehre gegangen…

An jenem Nachmittag verkaufte er den Rest des einstigen Familienbesitzes und kehrte zur Gilde zurück, um dort am Kursus für Fortgeschrittene teilzunehmen.

Er bestand ihn mit Auszeichnung – das geschah zum erstenmal in der Gildengeschichte. Seine Lehrer beschrieben ihn als jemanden, vor dem man sich besser in acht nahm. Darüber hinaus hielten sie es für angemessen, einen sicheren Abstand zu wahren – in Edwards Nähe fühlten sich selbst Assassinen unbehaglich.

 

Auf dem Friedhof füllte ein einsamer Totengräber das Loch, in dem der verstorbene d’Eath ruhte.

Nach einer Weile wurde er sich seltsamer Gedanken in seinem Kopf bewußt. Sie lauteten etwa so:

Hast du vielleicht einen Knochen? Oh, entschuldige, wie taktlos von mir. Du hast Schinkenbrote in deinem Dingsbums, in deinem Mampfkasten. Eins davon könntest du eigentlich dem netten kleinen Hund da drüben geben.

Der Mann stützte sich auf die Schaufel und drehte den Kopf.

Die graue Promenadenmischung bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick.

»Wuff?« bellte sie.

 

Edward d’Eath brauchte fünf Monate, um das zu finden, wonach er suchte. Das Problem war, daß er nicht genau wußte, wonach er Ausschau halten sollte. Nur eins war ihm klar: Er würde das Gesuchte sofort erkennen, wenn er es sah. Edward glaubte fest an das Schicksal. Das ist bei Leuten wie ihm oft der Fall.

Die Gildenbibliothek zählt zu den größten in der ganzen Stadt. Was bestimmte Themen anging, gab es keine größere – sie betrafen vor allem die bedauerliche Kürze des menschlichen Lebens sowie diverse Mittel, es noch kürzer zu gestalten.

In jener Bibliothek verbrachte Edward viel Zeit, meistens ganz oben auf einer Leiter, umgeben von Staub.

Er las alle bekannten Werke über Waffen. Auch in diesem Fall wußte er nicht genau, wonach er suchte. Er fand es schließlich in Form einer Anmerkung am Rand einer ansonsten ebenso langweiligen wie ungenauen Abhandlung über die Ballistik bei Armbrüsten. Sorgfältig schrieb er die Worte ab.

Edward saß auch lange Zeit über Geschichtsbüchern. Die Assassinengilde bestand zum größten Teil aus vornehmen Herren, und diese Leute betrachten die Geschichte in erster Linie als eine Art Effektenbuch. Die Gildenbibliothek enthielt viele historische Bücher, hinzu kam eine Galerie mit Bildern von Königen und Königinnen2. Edward d’Eath kannte ihre aristokratischen Gesichter bald besser als sein eigenes – er verbrachte dort seine Mittagspausen.

Später hieß es, daß Edward zu diesem Zeitpunkt unter schlechten Einfluß geriet. Doch das Geheimnis seiner Entwicklung war, daß er unter gar keinen externen Einfluß geriet – abgesehen von den vielen toten Königen. Er beeinflußte sich selbst.

An dieser Stelle kommt es häufig zu Mißverständnissen. Individuen haben nicht etwa automatisch eine Mitgliedskarte für die Menschheit – das trifft nur in biologischer Hinsicht zu. Sie müssen von der Brownschen Bewegung der Gesellschaft hin und her gestoßen werden: Dieses Prinzip erinnert die einzelnen Menschen ständig daran, daß sie… nun, Menschen sind. In Edwards Fall kam seine Tendenz hinzu, sich spiralförmig nach innen zu bewegen – ein typisches Symptom.

Er ging nicht planvoll vor. Er reagierte nur wie viele andere Leute, die sich angegriffen fühlen: Er wich in eine Stellung zurück, die sich besser verteidigen ließ. In seinem Fall kam das einer Reise in die Vergangenheit gleich.

Und dann geschah etwas, das auf Edward so wirkte, als würde jemand, der sich mit alten Reptilien befaßt, in seinem Goldfischteich einen Plesiosaurier entdecken.

An einem heißen Nachmittag, nachdem er mehrere Stunden in der Gesellschaft verblaßten Ruhms verbracht hatte, trat er nach draußen in den hellen Sonnenschein. Und plötzlich sah er das Gesicht der Vergangenheit: Es schlenderte einfach so vorbei und nickte den anderen Leuten freundlich zu.

Edward konnte sich nicht beherrschen. »He, du!« entfuhr es ihm. »Wer bist du?«

»Korporal Karotte«, erwiderte die Vergangenheit. »Von der Nachtwache. Du bist Herr d’Eath, nicht wahr? Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Was? Nein! Nein. G-geh nur weiter deinen Aufgaben nach.«

Die Vergangenheit nickte, lächelte und schritt in die Zukunft.

 

Karotte wandte den Blick von der Wand ab.

 

»Ich habe drei Dollar für einen Ikonographkasten ausgegeben das ist ein Ding mit ‘nem kleinen Dähmon drin. Er malt Bilder von Dingen und solche Apparate sind hier jetzt der große Schrei. Anbeiliegend findet ihr Bilder von meinigem Zimmer und den Froinden in der Wache, Nobby kann man leicht an der humorfollen Grimasse erkennen. Er ist wie ein roher Diamant, aber in seinem Innern ganz tief drin hat er eine gute Seele.«

 

Einmal mehr zögerte er. Karotte schrieb mindestens einmal pro Woche nach Hause – für Zwerge war die Familie sehr wichtig. Karotte maß zwar zwei Meter, aber er war als Zwerg aufgewachsen und hatte anschließend als Mensch noch einen Meter zugelegt. Das Literarische fiel ihm eher schwer, doch er bemühte sich.

»Das Wetter«, schrieb er langsam und sorgfältig, »ist auch weiterhin Sehr Heiß…«

 

Edward konnte es kaum fassen. Er überprüfte die Aufzeichnungen. Er blätterte in diversen Unterlagen. Er erkundigte sich und bekam Auskunft, weil man seine Fragen für harmlos hielt. Er entschloß sich zu einem kurzen Urlaub in den Spitzhornbergen, wo ihn weitere vorsichtige Fragen zu den Zwergenminen in der Nähe von Kupferkopf führten. Von dort aus gelangte er zu einer ganz normal wirkenden Lichtung in einem Buchenwald, wo er nach einigen Minuten geduldigen Grabens Spuren von Holzkohle fand.

Den ganzen Tag verbrachte er an diesem Ort. Als die Sonne unterging, schob er das welke Laub zurecht und war ganz sicher.

Ankh-Morpork hatte wieder einen König.

Und das war richtig. Das Schicksal hatte Edward diese Erkenntnis beschert, und zwar gerade zu dem Zeitpunkt, als ihm der Plan einfiel. Und es war auch richtig, daß das Schicksal dahintersteckte. Die ruhmreiche Vergangenheit würde Ankh-Morpork von ihrer schändlichen Gegenwart befreien. Er hatte die Mittel, und er kannte auch den Zweck. Und so weiter… Edwards Überlegungen liefen häufig so ab.

Er dachte kursiv. Solche Leute muß man im Auge behalten.

Möglichst aus sicherer Entfernung.

 

»Mir hat euer Brief Gefallen in dem es hießet das Leute gekommen sind und nach mir gefragt haben. Es ist wirklich Erstaunlich, ich bin kaum Fünf Minuten Hier und schon berühmt.

Außerdem habe ich mich gefreut Sehr über die Nachricht vom neuen Stollen Nummer 7. Ich kann euch ruhig sagen dasse ich hier zwar zufrieden bin aber oft fermisse ich die gute alte Zeit zu Hause.

Gelegentlich und manchmal gehe ich an meinem freien Tag in den Keller und haue mir mit dem Axtstiel auf den Kopf aber es ist nicht so wie daheim.

Ich hoffe es geht euch allen gut, mit freundlichen Grüßen und sehr hochachtungsvoll

Euer euch liebender Sohn, adoptiert

Karotte«

 

Er faltete den Brief, legte die Ikonographbilder dazu und schob alles in einen Umschlag, den er mit Wachs versiegelte und dann in die Hosentasche schob. Die Zwergenpost nach den Spitzhornbergen war recht zuverlässig. Immer mehr Zwerge arbeiteten in der Stadt, und ihre Gewissenhaftigkeit veranlaßte sie, regelmäßig Geld nach Hause zu schicken. Daher die Sicherheit der Post: Sie wurde bewacht. Zwerge hängen sehr am Gold. Wenn ein Räuber »Geld oder Leben« fordert, sollte er besser einen Klappstuhl, genug zu essen und ein Buch dabeihaben – um sich die Zeit zu vertreiben, während die Zwerge debattieren. Karotte wusch sich das Gesicht, zog das Lederwams an, streifte das Kettenhemd über, fügte den Brustharnisch hinzu und klemmte sich den Helm unter den Arm. Dann trat er fröhlich nach draußen, um sich dem zu stellen, was die Zukunft bringen mochte.

 

Dies war ein anderer Raum an einem anderen Ort.

Er bot nicht viel Platz, und der Putz bröckelte von den Wänden. Die Decke hing durch wie die Matratze eines Bettes, in dem ein besonders dicker Mann lag. Die Einrichtung verstärkte das Gefühl der Enge.

Es waren alte, gute Möbel, doch hier wirkten sie fehl am Platz. Sie gehörten in große, hallende Säle, wo sie keine Platzangst hervorriefen. Stühle aus dunklem Eichenholz. Lange Anrichten. Sogar eine Rüstung stand in dem Zimmer. Es gab kaum genug Platz für die sechs Personen an dem großen Tisch. Der Tisch schien gerade so in die Kammer zu passen.

Irgendwo in den Schatten tickte eine Uhr.

Die schweren Samtvorhänge waren zugezogen, obgleich es noch Tag war. Eine Kerze in der Laterna magica sorgte dafür, daß es immer wärmer und stickiger wurde.

Das einzige Licht im Zimmer stammte von der Leinwand. Derzeit zeigte sie ein recht gutes Profilbild von Korporal Karotte Eisengießersohn.

Ein kleines, aber sehr exklusives Publikum betrachtete das Bild. Dabei zeigten die Zuschauer den leeren Gesichtsausdruck von Gästen, die folgende Ansicht vertreten: Zwar ist der Gastgeber nicht zurechnungsfähig, aber er hat gerade erst eine Mahlzeit serviert, und es wäre unhöflich, sofort zu gehen.

Nach einer Weile räusperte sich jemand. »Nun? Ich habe ihn in der Stadt gesehen. Er ist nur ein Wächter, Edward.«

»Natürlich. Dieser Umstand ist bedeutsam. Eine bescheidene Stellung im Leben. Entspricht alles dem klassischen M-uster.« Edward d’Eath gab ein Zeichen. Es klickte, als ein weiterer Bildträger in den Projektionsschlitz geschoben wurde. »Das hier ist das Abbild eines alten P-orträts. König P-paragore. Das nächste…« Klick. »…zeigt König Veitrick III. Stammt ebenfalls von einem Porträt. Das ist Königin Alguinna IV. Achtet auf das Kinn. Das nächste Bild…« Klick. »… p-räsentiert einen Taler aus der Amtszeit von Wubbeldorn des Bewußtlosen. Ich weise erneut auf das Kinn und den Körperbau hin. Dies ist…« Klick. »… das umgedrehte Bild einer Vase mit Blumen drin. Rittersporn, nehme ich an. Welche Erklärung gibt es dafür?«

»Äh, entschuldige bitte, Herr Edward. Ich hatte noch einige unbemalte Bildträger, und die Dämonen waren nicht müde, und…«

»Das nächste Bild, bitte. Dann kannst du gehen.«

»Ja, Herr Edward.«

»Melde dich beim diensthabenden Folterer.«

»Ja, Herr Edward.«

Klick!

»Dies ist eine eindrucksvolle Aufnahme vom Busen der Königin Coanna. Gut gemacht, Bl-enkin.«

»Danke, Herr Edward.«

»Schade, daß man so wenig vom Gesicht sieht. Andernfalls hätten wir die Ähnlichkeit vielleicht erkennen können. Du darfst jetzt gehen, Bl-enkin.«

»Ja, Herr Edward.«

»Ein bißchen von den Ohren, d-enke ich.«

»Ja, Herr Edward.«

Der Diener schloß respektvoll die Tür, schritt dann zur Küche und schüttelte traurig den Kopf. Schon seit vielen Jahren konnten sich die d’Eaths keinen Familienfolterer mehr leisten. Er mußte sehen, was sich mit einem Küchenmesser anstellen ließ, um dem Jungen eine Enttäuschung zu ersparen.

Die Besucher warteten darauf, daß der Gastgeber das Wort ergriff. Edward schien weiterhin schweigen zu wollen. Obwohl man bei ihm nie ganz sicher sein konnte. Wenn er aufgeregt war, litt er nicht etwa an einem Sprachfehler, sondern an falsch plazierten Pausen. Dann schien es, als schalte das Gehirn den Mund vorübergehend ab.

Schließlich sagte jemand. »Na schön. Worauf willst du hinaus?«

»Ist das nicht offensichtlich? Ihr habt die Ähnlichkeit ge-sehen.«

»Oh, ich bitte dich…«

Edward d’Eath zog ein Lederfutteral zu sich heran und löste die Riemen.

»Aber, aber der Junge wurde von Zwergen großgezogen. Sie fanden ihn als Säugling im Wald der Spitzhornberge. Einige W-agen und Karren brannten. Leichen lagen herum. Ganz of-fensichtlich das Ergebnis eines Überfalls. In den Trümmern entdeckten die Zwerge ein Schwert. Er besitzt es jetzt. Es ist sehr alt. Und es wird nie stumpf.«

»Und wenn schon. Es gibt viele Schwerter. Und Wetzsteine.«

»Dieses besondere Exemplar war in einem der auseinandergebrochenen Wagen versteckt. Seltsam. Wenn man in einem Gebiet unterwegs ist, wo man mit Rä-ubern rechnen muß… Dann hält man die Schwerter doch griffbereit und versteckt sie nicht, oder? Ja, und der Junge wächst auf, und… und das Schicksal sorgt dafür, daß er mit dem Schwert nach Ankh-Morpork kommt, wo er sich seinen Lebensunterhalt als Wächter in der Nachtwache verdient. Es ist kaum zu glauben!«

»Trotzdem…«

Edward hob die Hand und entnahm dem Futteral ein kleines Paket.

»Ich habe na-chgeforscht und jenen Ort gefunden, an dem damals der Überfall stattfand. Eine sehr genaue Untersuchung des Bodens förderte mehrere alte N-ägel, einige Kupfermünzen und, in einem Bett aus Holzkohle, dies hier zutage…«

Die Besucher reckten die Hälse.

»Sieht wie ein Ring aus.«

»Es ist ein Ring. Hat sich v-erfärbt – sonst hätte ihn vermutlich längst jemand gefunden. Ich habe ihn t-eilweise gereinigt. Man kann die Inschrift erkennen. Nun, hier haben wir eine ill-ustrierte Aufstellung der königlichen Juwelen von Ankh aus dem Jahr AM 907, der Regierungszeit von König Tyrril. Darf ich e-ure Aufmerksamkeit auf den kleinen Hochzeitsring links u-nten richten? Der Künstler hat auch die Inschrift gezeichnet.«

Die Besucher sahen genau hin, verglichen und brauchten einige Minuten, um sich zu überzeugen. Es mangelte ihnen nicht an Argwohn. Sie waren die Nachkommen von Leuten, für die Mißtrauen und Paranoia überlebenswichtig gewesen waren.

Anders ausgedrückt: Sie waren Aristokraten. Jeder und jede von ihnen kannte den Namen seines oder ihres Urururgroßvaters und wußte auch, an welcher peinlichen Krankheit er gestorben war.

Sie hatten gerade eine nicht besonders gute Mahlzeit eingenommen, dazu jedoch sehr alten und guten Wein getrunken. In diesem kleinen Zimmer saßen sie vor allem deshalb, weil sie Edwards Vater gekannt hatten. Und weil die d’Eaths eine alte, ehrwürdige Familie waren – die inzwischen allerdings sehr geschrumpft war.

»Aus all diesen Dingen läßt sich nur ein Schluß ziehen«, verkündete Edward stolz. »Wir haben einen König!«

Die übrigen Anwesenden vermieden es, sich anzusehen.

»Ich habe damit gerechnet, daß ihr euch f-reut.«

Einige stille Sekunden verstrichen quälend langsam, bevor Lord Rust beschloß, für das Publikum zu sprechen. In seinen blauen Augen schimmerte kein Mitleid – Anteilnahme gehörte nicht zu den erforderlichen Eigenschaften, um zu überleben. Doch manchmal konnte man ein wenig Höflichkeit riskieren.

»Edward…«, sagte Lord Rust. »Der letzte König starb vor Jahrhunderten.«

»Er wurde von V-errätern hingerichtet!«

»Selbst wenn man heute noch einen Nachkommen finden könnte… Das königliche Blut dürfte inzwischen ziemlich verwässert sein, nicht wahr?«

»Königliches B-lut kann überhaupt nicht v-erwässern!«

Oh, dachte Lord Rust. Er ist einer von der Sorte. Der junge Edward glaubt, ein König brauche nur die Hand aufzulegen, um Skrofeln zu heilen – als käme das Königliche einer Schwefelsalbe gleich. Der junge Edward glaubt, kein See aus Blut sei groß und tief genug, um mit der Absicht hindurchzuwaten, einen rechtmäßigen König auf den Thron zu setzen. Er hält jede Tat für gerechtfertigt, um eine Krone zu verteidigen. Mit anderen Worten: Er ist ein Romantiker.

Lord Rust war kein Romantiker. Die Rusts hatten sich den postmonarchischen Jahrhunderten in Ankh-Morpork angepaßt, indem sie kauften, verkauften, vermieteten, verpachteten, Kontakte knüpften und sich so verhielten, wie sich Aristokraten immer verhalten haben: Sie stellten die Segel richtig und überlebten.

»Nun, vielleicht«, räumte er ein im sanften Tonfall eines Mannes, der jemanden zu überzeugen versucht, daß ein Sprung in die Tiefe keinen Sinn hat. »Allerdings müssen wir uns fragen: Braucht Ankh-Morpork überhaupt noch einen König?«

Edward sah ihn an, als hätte er gerade den Verstand verloren.

»Ob Ankh-Morpork einen König braucht? Unsere Stadt ächzt unter dem Joch des T-yrannen!«

»Oh. Du meinst Vetinari.«

»Siehst du denn nicht, was er mit dieser Stadt anstellt?«

»Nun, er ist ein kleiner, unsympathischer Emporkömmling«, sagte Lady Selachii. »Aber von einer Schreckensherrschaft kann keine Rede sein. Zumindest nicht in dem Sinne.«

»Eins muß man ihm lassen«, fügte Viscount Skater hinzu. »Die Stadt funktioniert. – Mehr oder weniger.«

»Die Straßen sind sicherer als zur Regierungszeit des Verrückten Lord Schnappüber«, sagte Lady Selachii.

»Si-cherer?!« ereiferte sich Edward. »Vetinari hat die Diebesgilde zugelassen!«

»Ja, ja, natürlich, sehr verwerflich, völlig klar. Andererseits braucht man nur eine kleine jährliche Gebühr zu bezahlen und muß keinen Diebstahl mehr befürchten…«

Lord Rust nickte. »Vetinari steht auf dem Standpunkt: Wenn man schon Kriminalität nicht vermeiden kann, sollte man sie wenigstens organisieren.«

»Die Jungs von den Gilden akzeptieren ihn, weil sie mit jedem anderen schlimmer dran wären«, spekulierte Viscount Skater. »Wir hatten einige ziemlich üble Burschen. Ich denke da nur an den Mörderischen Lord Winder.«

»Der Wahnsinnige Lord Harmoni«, sagte Lord Mohnflatter.

»Oder der Lachende Lord Skapula«, meinte Lady Selachii. »Hatte einen sehr eigentümlichen Sinn für Humor.«

»Nun, was Vetinari betrifft…«, begann Lord Rust. »Irgend etwas an ihm…«

»Ja«, ließ sich Viscount Skater vernehmen. »Er scheint zu wissen, was man denkt, bevor man es denkt. Das gefällt mir nicht.«

»Es ist allgemein bekannt, daß die Assassinen das Honorar für ihn auf eine Million Dollar festgesetzt haben«, sagte Lady Selachii. »Soviel würde sein Tod kosten.«

»Wahrscheinlich wäre es weitaus teurer, dafür zu sorgen, daß er auch tot bleibt«, murmelte Lord Rust.

»Meine Güte! Was ist mit Stolz und Ehre passiert?« Die Besucher zuckten zusammen, als der letzte Lord d’Eath aufsprang.

»Was ist nur in euch gefahren? Wer von euch mußte nicht erleben, daß der Familienname seit den Königen an Bedeutung verlor? Wißt ihr denn nicht mehr, wer eure Ahnen gewesen sind?« Edward marschierte um den Tisch herum, und die Sitzenden mußten den Kopf von einer Seite zur anderen drehen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Er hob den Zeigefinger wie eine Lanze.

»Du, Lord Rust! Einer deiner V-orfahren wurde zum Baron ernannt, weil er ganz allein siebenunddreißig Klatschianer umbrachte, nur mit einer N-adel. Das stimmt doch, oder?«

»Ja, aber…«

»Und du, Lord Mohnflatter! Der erste Herzog führte sechshundert Männer in eine ruhmreiche und e-pische Niederlage bei der Schlacht von Quirm! Bedeutet das denn gar n-ichts? Und du, Lord Ventura, und du, Sir George… Ihr wohnt in Ankh, in euren alten Häusern, mit euren alten Namen und dem alten Geld. Während Gilden – Gilden! Krethi und Plethi! Einfache Handwerker! Gewöhnliche Kaufleute! –, während solche Gilden die Geschicke der Stadt lenken!«

Mit zwei langen Schritten erreichte er den Bücherschrank, griff nach einem dicken Wälzer und warf ihn auf den Tisch, wo das Ding Lord Rusts Glas umstieß.

»Twurps A-delsverzeichnis!« rief Edward. »Wir alle stehen da drin. Wir sind praktisch das Buch. Aber der Patrizier hat euch in seinen Bann geschlagen! Ich versichere euch: Er ist ein sterbliches Wesen aus Fleisch und Blut! Niemand unternimmt etwas gegen ihn, weil die Leute fürchten, sich dadurch in Schwierigkeiten zu bringen! Himmel und h-herrje!«

Die Besucher schwiegen niedergeschlagen. Es war die Wahrheit – wenn man es aus dieser Perspektive sah. Und sie von einem aufgeblasenen jungen Mann mit sonderbar glänzenden Augen zu hören… das ließ sie nicht besser klingen.

»Ja, ja, die gute alte Zeit«, sagte Viscount Skater. »Überall Türme und Fahnen und Ritter und so. Frauen mit spitzen Hüten. Junge Männer, die Rüstungen trugen und aufeinander eindroschen und was weiß ich. Tja, der Fortschritt. Hat uns geradewegs in die Zukunft gebracht…«

»Es war ein goldenes Zeitalter«, behauptete Edward.

Bei den Göttern, dachte Lord Rust. Er ist wirklich davon überzeugt.

»Ach, mein Junge«, sagte Lady Selachii, »einige Ähnlichkeiten und dann ein Ring… Das muß nicht viel heißen.«

»Mein Kindermädchen hat mir erzählt, ein wahrer König sei imstande, ein Schwert aus dem Stein zu ziehen«, meinte Viscount Skater.

»Ha, und außerdem kennt er auch noch ein wirkungsvolles Mittel gegen Haarausfall«, kommentierte Lord Rust. »Das ist doch nur eine Legende. Mit der Wirklichkeit hat so etwas nichts zu tun. Wie dem auch sei: Diese Geschichte erschien mir immer ein wenig seltsam. Was soll so schwierig daran sein, ein Schwert aus einem Stein zu ziehen? Die eigentliche Arbeit ist doch schon geleistet worden. Man sollte sich nützlich machen und den Mann finden, der die Klinge in den Stein hineingeschoben hat.«

Erleichtertes Gelächter erklang. Und genau daran erinnerte sich Edward später. Die Besprechung endete mit Gelächter. Die Besucher lachten nicht direkt über ihn, aber er gehörte zu den Leuten, die das Lachen immer persönlich nahmen.

Zehn Minuten später war Edward d’Eath allein.

Oh, seine Gäste waren so nett gewesen. Der Fortschritt… Ha! Er hatte mehr von ihnen erwartet. Viel mehr. Er hatte zu hoffen gewagt, daß sie sich von ihm führen ließen. Er selbst, an der Spitze eines großen Heeres…

Blenkin kam mit einem respektvollen Schlurfen herein.

»Ich habe deine Gäste verabschiedet, Herr Edward«, sagte er.

»Danke, Blenkin. Du kannst jetzt den Tisch abräumen.«

»Ja, Herr Edward.«

»Was ist mit der Ehre passiert, Blenkin?«

»Ich weiß es nicht, Herr Edward. Ich habe sie nicht genommen.«

»Sie wollten mir nicht zuhören.«

»Nein, Herr.«

»Sie wollten mir nicht einmal z-uhören.«

Edward nahm am Kamin Platz und blätterte in einer zerknitterten Ausgabe von Schenkelbeißers Die Thronfolge von Ankh-Morpork. Tote Könige und Königinnen sahen ihn vorwurfsvoll an.

An dieser Stelle hätte die ganze Sache beendet sein können. In gewisser Weise war das auch der Fall: In Millionen von Universen ging sie hier zu Ende. Edward d’Eath wurde älter, und seine Besessenheit verwandelte sich in einen lebensfremden, auf Bücher, Ärmelschoner und Pantoffel fixierten Wahnsinn. Er entwickelte sich zu einem Spezialisten für das Königtum, doch kaum jemand erfuhr etwas davon, da er nur selten seine Zimmer verließ. Korporal Karotte wurde zum Feldwebel Karotte und starb schließlich im reifen Alter von siebzig Jahren bei einem recht eigenartigen Zwischenfall, in den ein Ameisenbär verwickelt war.

In einer Million Universen fielen die Obergefreiten Knuddel und Detritus nicht ins Loch. In einer Million Universen fand Mumm nicht die Flöte. (In einem sehr seltsamen, theoretisch jedoch möglichen Universum wurde das Wachhaus in Pastellfarben neu gestrichen, und zwar von einem außer Rand und Band geratenen Wirbelwind, der auch die Türklinke reparierte und einige andere Arbeiten erledigte.) In einer Million Universen versagte die Wache.

In einer Million Universen war dies ein sehr kurzes Buch.

Mit der Thronfolge von Ankh-Morpork auf den Knien schlief Edward ein und träumte von glorreichen Kämpfen. Das Wort »glorreich« nahm in Edwards Vokabular einen ähnlich zentralen Platz ein wie »Ehre«.

Wenn Verräter und unehrenhafte Männer die Wahrheit nicht erkennen wollten, so mußte er, Edward d’Eath, zum Finger des Schicksals werden.

Manchmal achtet das Schicksal allerdings nicht darauf, wohin es mit dem Finger deutet.

 

Hauptmann Mumm von der Stadtwache in Ankh-Morpork (Nachtschicht) saß im zugigen Vorzimmer der Audienzkammer des Patriziers. Er trug seinen besten Mantel und hatte den Brustharnisch poliert. Der Helm ruhte auf seinen Knien.

Mit unbewegter Miene starrte er an die Wand.

Eigentlich sollte ich glücklich sein, dachte er. Und er war es auch. In gewisser Weise. Ja, kein Zweifel. Er freute sich.

In einigen Tagen heiratete er.

Dann würde er kein Wächter mehr sein.

Dann wurde er ein vornehmer Herr, der nicht mehr arbeiten mußte.

Er holte die kupferne Dienstmarke hervor und rieb sie geistesabwesend am Mantelsaum. Dann hob er sie ins Licht. Hier und dort hatte sich etwas Patina gebildet, aber man konnte ganz deutlich lesen: AMSW Nr. 177. Manchmal fragte er sich, wie viele Wächter vor ihm diese Marke besessen hatten.

Nun, bald würde sie jemand anders bekommen.

 

Dies ist Ankh-Morpork, »Stätte der tausend Überraschungen«, wie es in einer Broschüre der Kaufmannsgilde heißt. Was ist dem noch hinzuzufügen? Es ist ein wildwuchernder Ort mit einer Million Bewohnern, die größte Stadt auf der Scheibenwelt. Sie erstreckt sich auf beiden Seiten des Flusses Ankh, der so schlammig ist, daß er mit dem Grund nach oben zu fließen scheint.

Besucher fragen: Wie kann eine so große Stadt existieren? Was erhält sie am Leben? Und angesichts des Flusses, den man kauen kann: Woher kommt das Trinkwasser? Was ist die Grundlage der urbanen Ökonomie? Und wieso funktioniert sie, den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit zum Trotz?

Eigentlich stellen Besucher solche Fragen nicht sehr häufig. In vielen Fällen fragen sie nur: »Wo geht’s, du weißt schon… äh… äh, zu den, na ja, den jungen Frauen?«

Aber wenn jemand zumindest eine Zeitlang mit dem Gehirn dachte, kamen ihm derartige Fragen in den Sinn.

 

Der Patrizier von Ankh-Morpork lehnte sich auf dem schmucklosen Stuhl zurück und lächelte wie ein vielbeschäftigter Mann, der am Ende eines arbeitsreichen Tages folgenden Eintrag in seinem Terminkalender findet: 19.00 Uhr bis 19.05 Uhr: fröhlich, entspannt und allgemein nett sein.

»Nun, ich habe deinen Brief natürlich sehr bedauert, Hauptmann…«

»Ja, Herr«, sagte Mumm. Sein Gesichtsausdruck blieb so hölzern wie eine Möbelfabrik.

»Bitte, nimm Platz, Hauptmann.«

»Ja, Herr.« Mumm blieb stehen. Es war eine Frage des Stolzes.

»Ich verstehe natürlich. Die Ländereien der Familie Käsedick sollen ziemlich groß sein. Bestimmt kann Lady Käsedick ein wenig Hilfe gebrauchen.«

»Herr?« Wenn Hauptmann Mumm vor dem Herrscher von Ankh-Morpork stand, konzentrierte er seinen Blick immer auf eine Stelle, etwa dreißig Zentimeter über und fünfzehn Zentimeter links vom Kopf des Patriziers.

»Du wirst sehr reich sein, Hauptmann.«

»Ja, Herr.«

»Ich hoffe, du hast gründlich darüber nachgedacht. Mit dem Reichtum kommt auch neue Verantwortung.«

»Ja, Herr.«

Lord Vetinari merkte, daß die Konversation eher auf einen Monolog hinauslief. Er blätterte in den Unterlagen auf dem Schreibtisch.

»Ich muß jemanden finden, der dich als Kommandanten der Nachtwache ersetzt«, verkündete der Patrizier. »Hast du irgendwelche Vorschläge, Hauptmann?«

Mumm stieg aus den Wolken herab, in die sich sein Selbst zurückgezogen hatte. Jetzt ging es um die Pflicht, um die Arbeit der Wache.

»Nun, Fred Colon kommt nicht in Frage. Er ist kaum dafür geschaffen, mehr zu sein als ein Feldwebel…«

 

Feldwebel Colon von der Stadtwache in Ankh-Morpork (Nachtschicht) musterte die strahlenden Mienen der neuen Rekruten.

Er seufzte und erinnerte sich an seinen ersten Tag. Der alte Feldwebel Knüppler. Welch ein Kerl! Zunge wie eine Peitsche! Ach, wenn der alte Knabe dies erlebt hätte…

Was war das hier? Die angemessene Repräsentation einzelner Volksgruppen oder so. Das »Bündnis gegen die Verunglimpfung von Siliziumleben« hatte sich beim Patrizier beschwert, und jetzt…

»Versuch es noch einmal, Obergefreiter Detritus«, sagte Colon. »Der Trick ist, die Hand dicht überm Ohr anzuhalten. Steh jetzt auf und salutiere erneut. Äh, Obergefreiter Knuddel?«

»Hier?«

»Wo?«

»Direkt vor dir, Feldwebel.«

Colon senkte den Kopf und wich einen Schritt zurück. Unter der weiten Wölbung seines stattlichen Bauchs kam ein nach oben gerichtetes Gesicht zum Vorschein. Es gehörte dem Obergefreiten Knuddel und präsentierte neben einem Lächeln, das intelligent wirken sollte, auch ein Glasauge.

»Oh. Ja.«

»Ich bin größer, als ich aussehe.«

Lieber Himmel, dachte Colon müde. Wenn man sie addiert und dann durch zwei teilt, hat man zwei normale Männer. Allerdings wollen normale Männer nicht zur Wache. Ein Troll und ein Zwerg. Und es kommt noch schlimmer…

 

Mumm trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»Nein, Colon halte ich kaum für geeignet«, sagte er. »Er ist nicht mehr so jung wie früher. Wird Zeit, daß er im Wachhaus bleibt und sich um den Papierkram kümmert. Außerdem hat er schon genug am Hals.«

»Und am Bauch«, fügte der Patrizier hinzu.

»Ich meine, er hat mit den neuen Rekruten zu tun«, betonte Mumm. »Weißt du noch, Herr?«

Ich meine die Rekruten, die du uns praktisch aufgezwungen hast, dachte er in einer stillen, heimlichen Ecke seines Kopfes. Natürlich wurden sie nicht der Tagwache zugeteilt. Und die Palastwache lehnte sie ab. Also schickte man sie zur Nachtwache. Die ist ohnehin ein Witz, und dort sieht sie niemand. Zumindest niemand, der irgendeine Rolle spielt.

Mumm hatte nur deshalb nachgegeben, weil sich bald jemand anders um dieses Problem kümmern mußte.

Er war keineswegs ein Speziesist. Aber die Wache brauchte vor allem Männer.

»Was ist mit Korporal Nobbs?« fragte der Patrizier.

»Nobby?«

Sie stellten sich Korporal Nobbs vor.

»Nein.«

»Nein.«

»Nun, dann wäre da noch Korporal Karotte«, sagte Lord Vetinari. »Ein vielversprechender junger Mann. Hat sich bereits einige Verdienste erworben.«

»Das… stimmt«, erwiderte Mumm.

»Ergibt sich hier vielleicht die Gelegenheit zu einer neuerlichen Beförderung? Was meinst du? Ich lege großen Wert auf deinen Rat.«

Mumm malte in Gedanken ein Bild von Korporal Karotte…

 

»Dies hier ist das mittwärtige Tor«, sagte Karotte. »Für die ganze Stadt. Und wir schützen es.«

»Vor wem?« fragte Obergefreite Angua, die ebenfalls zu den neuen Rekruten gehörte.

»Oh, du weißt schon. Vor Barbarenhorden, kriegerischen Stämmen, Räuberbanden und so weiter.«

»Was? Nur wir

»Wir? O nein.« Karotte lachte. »Das wäre ziemlich dumm. Wenn wir solche Angreifer kommen sehen, läuten wir die Glocke, und zwar möglichst laut.«

»Was passiert dann?«

»Nun, die Feldwebel Colon und Nobby kommen sofort, wenn sie das Läuten hören.«

Obergefreite Angua beobachtete den dunstigen Horizont.

Sie lächelte.

Karotte errötete.

Obergefreite Angua hatte das Salutieren auf Anhieb gelernt. Ihre Uniform war erst vollständig, wenn jemand einen Brustharnisch zum Waffenschmied brachte und den alten Remitt darauf hinwies, daß er hier und hier ordentliche Beulen klopfen sollte. Eine geeignete Kopfbedeckung gab es nicht: Kein Helm konnte eine solche Masse aus aschblondem Haar unter sich verbergen. Aber solche Dinge brauchte Angua sicher gar nicht, vermutete Karotte. Die Leute würden bei ihr Schlange stehen, um sich festnehmen zu lassen.

»Was machen wir jetzt?« fragte sie.

»Ich schlage vor, wir kehren zum Wachhaus zurück«, sagte Karotte. »Dort liest Feldwebel Colon den Abendbericht vor.«

Auch das Gehen beherrschte Angua vorzüglich; die spezielle Fortbewegungsweise der Wächter auf Patrouille: Man hob die Füße dabei so wenig wie möglich vom Boden, um Kraft zu sparen, ging praktisch aus den Hüften heraus. Auf diese Weise konnte man stundenlang laufen, ohne zu ermüden. Der Obergefreite Detritus brauchte noch eine Weile, bis er richtiges Patrouillengehen lernte. Zuerst mußte er aufhören, sich beim Salutieren bewußtlos zu schlagen.

»Feldwebel Colon«, wiederholte Angua. »Das ist der Dicke?«

»Ja.«

»Warum hält er sich einen Affen?«

»Oh«, sagte Karotte. »Ich glaube, du meinst Korporal Nobbs.«

»Er ist ein Mensch? Sein Gesicht sieht aus wie ein Puzzle, das jemand falsch zusammengesetzt hat!«

»Der arme Kerl hat das eine oder andere Furunkel. Er stellt die sonderbarsten Dinge damit an. Achte darauf, daß du nie zwischen ihn und einen Spiegel gerätst.«

Sie begegneten nur wenigen Passanten. Die meisten Leute blieben in den Häusern – es war zu heiß, selbst für einen Sommer in Ankh-Morpork. Jeder einzelne Stein schien Hitze auszustrahlen. Der Fluß wälzte sich träge in seinem Bett wie ein Student gegen elf Uhr morgens. Wer nicht unbedingt unterwegs sein mußte, hockte im Keller und wartete auf den Abend.

Karotte schritt durch die Straßen, als gehörten sie ihm, und auf seiner Stirn glänzte ein Film aus ehrlichem Schweiß. Ab und zu erwiderte er einen Gruß. Alle kannten ihn. Es war auch kaum möglich, ihn zu übersehen: Es gab sonst niemanden, der zwei Meter groß war und rotes Haar hatte. Außerdem war er ständig in eine Aura unerschütterlicher Zuversicht gehüllt.

»Im Wachhaus habe ich jemanden mit einem granitenen Gesicht gesehen«, sagte Angua, als sie dem Verlauf des Breiten Weges folgten. »Wer war das?«

»Das muß der Troll Detritus gewesen sein«, antwortete Karotte. »Früher nahm er es mit den Gesetzen nicht ganz so genau. Aber jetzt, da er sich um Rubins Gunst bemüht, hält er es für angebracht…«

»Nein, ich meine den Mann«, warf Angua ein, die noch nicht wußte, daß Karotte Schwierigkeiten mit Metaphern hatte. »Seine Miene… Er schien sehr niedergeschlagen zu sein.«

»Oh, du sprichst von Hauptmann Mumm. Soweit ich weiß, ist er von niemandem geschlagen worden. Und in einigen Tagen verläßt er die Wache und heiratet.«

»Er scheint sich kaum darüber zu freuen«, kommentierte Angua.

»Keine Ahnung.«

»Und ich glaube, die neuen Rekruten gefallen ihm nicht.«

Eine weitere Eigenschaft von Korporal Karotte war, daß er nicht lügen konnte.

»Nun, er hat wenig übrig für Trolle«, sagte er. »Er schwieg den ganzen Tag, als er erfuhr, daß wir einen Troll-Rekruten in unsere Truppe aufnehmen mußten. Und dann durfte natürlich auch ein Zwerg nicht fehlen – andernfalls hätte es Probleme gegeben. Ich bin ein Zwerg, aber das glauben mir die hiesigen Zwerge nicht.«

»Ach?« Angua musterte ihn.

»Meine Mutter bekam mich durch Adoption.«

»Oh. Nun, ich bin weder Troll noch Zwerg«, sagte Angua zuckersüß.

»Nein, aber du bist eine F…«

Angua blieb stehen. »Das ist der Grund, nicht wahr? Meine Güte, leben wir nun im Jahrhundert des Flughunds oder nicht? Denkt der Hauptmann wirklich so überholt?«

»Er ist in seinen Gewohnheiten festgefahren.«

»Wohl eher erstarrt.«

»Der Patrizier meinte, wir müßten auch die Minoritäten in der Stadt repräsentieren«, sagte Karotte.

»Minoritäten!«

»Tut mir leid. Wie dem auch sei: Am Ende der Woche zieht sich Mumm in den Ruhestand zurück und…«

Auf der anderen Straßenseite krachte es. Karotte und Angua drehten sich um und sahen jemanden aus einer Taverne stürmen und davonsprinten. Ein dicker Mann mit Schürze folgte ihm, zumindest einige Schritte weit.

»Haltet ihn! Haltet ihn! Ein Dieb ohne Lizenz!«

»Ah«, machte Karotte. Zusammen mit Angua überquerte er die Straße und näherte sich dem Dicken, der jetzt nicht mehr lief, sondern watschelte.

»Morgen, Herr Flanell«, sagte er. »Ärger gehabt?«

»Der Kerl hat sieben Dollar stibitzt, ohne mir die Diebeslizenz zu zeigen!« beschwerte sich Herr Flanell. »Unternimm was dagegen! Immerhin zahle ich pünktlich die Steuern!«

»Gleich beginnt eine wilde Verfolgungsjagd, keine Sorge«, erwiderte Karotte ruhig und holte ein Notizbuch hervor. »Sieben Dollar wurden gestohlen?«

»Mindestens vierzehn.«

Flanell richtete den Blick auf Angua, blinzelte und sah genauer hin – eine typisch männliche Reaktion.

»Warum trägt sie einen Helm?«

»Sie ist ein neuer Rekrut, Herr Flanell.«

Angua lächelte, und Flanell trat einen Schritt zurück. »Aber sie ist eine…«

»Man muß mit der Zeit gehen«, sagte Karotte und steckte das Notizbuch weg.

Flanell besann sich wieder auf das Geschäftliche.

»Von achtzehn Dollar mußte ich Abschied nehmen, wahrscheinlich für immer«, sagte er scharf.

»Oh, nil desperandum, Herr Flanell, nil desperandum«, entgegnete Karotte fröhlich. »Komm, Obergefreite Angua. Setzen wir die Ermittlungen fort.«

Er schlenderte los, und Flanell starrte den beiden Wächtern mit offenem Mund nach.

»Vergeßt meine fünfundzwanzig Dollar nicht!« rief er ihnen nach.

»Wie sollen wir den Dieb einholen, wenn wir nicht rennen?« fragte Angua.

»Ich kenne eine viel einfachere Methode.« Karotte trat in eine Gasse, die so schmal war, daß sie nur für einen aufmerksamen Beobachter zu erkennen war. Zwischen zwei feuchten, moosbewachsenen Wänden setzten sie ihren Weg durch eine Welt des Zwielichts fort.

»Eine interessante Sache«, meinte er nach einer Weile. »Bestimmt wissen nicht viele Leute, daß man vom Breiten Weg aus die Zephirstraße erreichen kann. Wenn man jemanden danach fragt, so bekommt man folgende Auskunft: Es ist unmöglich, von hier zur anderen Seite der Hemdgasse zu gelangen. Aber das läßt sich durchaus bewerkstelligen. Man geht einfach über die Mormiusstraße, zwängt sich hier an den Pfählen vorbei in den Darmkollerpfad – nicht übel, diese Dinger, sehr stabiles Eisen –, und schon ist man in der Weilandgasse…«

Am Ende der Gasse blieb er stehen und lauschte eine Zeitlang.

»Worauf wartest du?« fragte Angua.

Jemand kam ziemlich schnell näher und schnaufte dabei hingebungsvoll. Karotte lehnte sich an die Wand und streckte einen Arm in die Zephirstraße. Ein dumpfes Pochen erklang, Karottes Arm rückte nicht einen Zentimeter zur Seite. Genausogut hätte der Dieb gegen einen massiven Balken laufen können.

Sie blickten auf den Bewußtlosen hinab. Silbermünzen rollten über das Kopfsteinpflaster.

»Oje, oje, oje«, sagte Karotte. »Armer alter Hierundheute. Er hat mir versprochen, endlich damit aufzuhören. Na ja…«

Er griff nach einem Bein.

»Wieviel Geld ist es?« fragte er.

»Sieht nach drei Dollar aus«, antwortete Angua.

»Gut. Die exakte Summe.«

»Nein, der Ladeninhaber sprach von…«

»Komm. Kehren wir zum Wachhaus zurück. Hierundheute kann sich freuen. Dies ist sein Glückstag.«

»Warum soll heute sein Glückstag sein?« fragte Angua. »Wir haben ihn doch geschnappt, oder?«

»Ja. Wir. Wenn ihn die Diebesgilde vor uns erwischt hätte – sie hätte ihn nicht annähernd so freundlich behandelt.«

Hierundheutes Kopf hüpfte von Kopfstein zu Kopfstein.

»Klaut drei Dollar und rennt dann direkt nach Hause.« Karotte seufzte erneut. »Typisch für ihn. Er ist der schlimmste Dieb auf der ganzen Welt.«

»Eben hast du doch gesagt, daß die Gilde…«

»Wenn du länger hier bist, verstehst du allmählich, wie alles läuft«, sagte Karotte. Hierundheutes Kopf stieß an die Bordsteinkante. »Man braucht eine Weile, um alles zu durchschauen. Und dann gelangt man zu einer erstaunlichen Erkenntnis: Es funktioniert. Ich wünschte, dem wäre nicht so, aber es funktioniert tatsächlich.«

 

Während Hierundheute auf dem Weg zum Wachhaus eine Gehirnerschütterung erlitt, kam ein Clown ums Leben.

Er wanderte durch die Gasse und fühlte sich völlig sicher, weil er bereits die Jahresgebühr an die Diebesgilde entrichtet hatte. Plötzlich trat vor ihm eine dunkle Gestalt aus den Schatten.

»Beano?«

»Oh, hallo… Bist du das, Edward?«

Die Gestalt zögerte.

»Ich wollte gerade zur Gilde zurück«, sagte Beano.

Die dunkle Gestalt nickte.

»Ist alles in Ordnung mit dir?« fragte der Clown.

»Es tut mir sehr l-eid«, lautete die Antwort. »Es geschieht zum Wohle der Stadt. Es ist nichts P-ersönliches.«

Mit einem Schritt war die Gestalt hinter dem Clown. Etwas knackte, und dessen inneres Universum schien sich einfach auszuschalten.

Der Clown setzte sich auf.

»Au«, sagte er. »Das tat w…«

Er unterbrach sich, als er merkte, daß das gar nicht stimmte – er fühlte gar keine Schmerzen.

Edward d’Eath sah entsetzt auf ihn hinunter.

»Oh… Ich wollte nicht so fest zuschlagen! Ich wollte dich nur, vorübergehend ins Reich der Träume schicken.«

»Warum mußtest du mich überhaupt schlagen?«

Und dann begriff Beano, daß Edward durch ihn hindurchsah, daß seine Worte gar nicht ihm galten.

Er blickte zu Boden und erlebte jenes spezielle Empfinden, das nur gerade verstorbene Personen kennenlernen: Erschrocken erkannte er, wer dort vor ihm auf dem Pflaster lag, und er fragte sich, mit wessen Augen er sah.

HALLIHALLO.

Beano hob den Kopf – oder das, was er für seinen Kopf hielt.

»Wer ist da?«

TOD.

»Tod wer?«

Die Luft war plötzlich frostig. Edward klopfte dem Clown verzweifelt auf die Wangen – beziehungsweise auf das, was bis eben seine Wangen gewesen waren.

KÖNNEN WIR NOCH EINMAL VON VORN ANFANGEN? MIT SOLCHEN DINGEN KOMME ICH OFFENBAR NICHT SEHR GUT ZURECHT.

»Wie bitte?« erwiderte Beano.

»Es tut mir so l-eid!« stöhnte Edward. »Ich wollte nur das Beste!«

Beano beobachtete, wie der Mörder seinen… äh…. den Leichnam fortzog.

»Es war nichts Persönliches«, sagte er. »Das hat er extra betont. Wie beruhigend. Es hätte mir ganz und gar nicht gefallen, aus persönlichen Gründen umgebracht zu werden.«

ES IST NUR… MAN HAT MIR NAHEGELEGT, FREUNDLICHER UND UMGÄNGLICHER ZU SEIN.

»Ich meine, warum? Bis eben dachte ich, zwischen Edward und mir sei alles in bester Ordnung. In meinem Job findet man schwer Freunde. Das gilt sicher auch für dich.«

ES DEN LEUTEN SCHONEND BEIBRINGEN UND SO…

»Im einen Augenblick gehe ich gemütlich durch die Gasse, und im nächsten bin ich tot. Warum?«

SIEH DIE SACHE EINMAL SO: DU BIST NUR… DIMENSIONELL BENACHTEILIGT.

Beanos Phantom drehte sich zu Tod um.

»Wovon redest du da?«

DU BIST TOT.

»Ja, ich weiß.« Beano entspannte sich und hörte auf, Gedanken an die immer unwichtiger werdende Welt zu vergeuden. Diese Reaktion erlebte Tod oft, nach der ersten Phase der Verwirrung. Das Schlimmste war bereits geschehen… mit ein wenig Glück.

WENN DU MIR JETZT BITTE FOLGEN WÜRDEST…

»Erwarten mich Sahnetorten und Pappnasen? Muß ich jonglieren oder weite Flatterhosen tragen?«

NEIN.

Den größten Teil seines kurzen Lebens hatte Beano als Clown verbracht. Unter der dicken Schminkschicht verzog sich sein Gesicht nun zu einem grimmigen Lächeln.

»Was auch immer jetzt vor mir liegt: Es gefällt mir.«

 

Mumms Audienz beim Patrizier endete wie alle Begegnungen dieser Art: Der Gast geht mit dem zwar vagen, aber doch recht beharrlichen Gefühl, daß er dem Tod nur knapp entronnen ist.

Der Hauptmann beschloß, seine Verlobte zu besuchen. Er wußte, wo er sie finden konnte.

Das Schild über dem großen Tor in der Morphischen Straße verkündete: »Hier gibt es Drachen.«

Die Messingtafel neben dem Tor teilte mit: »Ankh-Morporks Sonnenscheinheim für kranke Drachen.«

Darüber hing ein kleiner, hohler und mitleiderweckend aussehender Drache aus Pappmaché mit einer Sammelbüchse in den Klauen. Mehrere Ketten verbanden die Büchse alles andere als diskret mit der Mauer, zudem trug sie den Hinweis: Laßt nicht zu, daß meine Flamme erlischt.

An diesem Ort verbrachte Lady Sybil Käsedick den größten Teil ihrer Zeit.

Mumm wußte inzwischen, daß sie die reichste Frau in Ankh-Morpork war. Selbst wenn man das Vermögen aller anderen Frauen in der Stadt zusammennahm und die Protestschreie überhörte: Sybil Käsedicks Reichtum ging weit darüber hinaus.

Nach Ansicht der Leute stand eine seltsame Heirat bevor. Den sozial Höhergestellten begegnete Mumm mit kaum verhohlener Verachtung – die Frauen bereiteten ihm Kopfschmerzen, und die Männer ließen es in seinen Fäusten kribbeln. Und Lady Sybil Käsedick war die letzte Überlebende einer der ältesten Familien von Ankh. Das Schicksal hatte sie zusammengeführt wie Zweige in einem Strudel. Jetzt blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich dem Unvermeidlichen zu fügen…

Als kleiner Junge hatte Sam Mumm geglaubt, die Reichen äßen von goldenen Tellern und wohnten in Häusern aus Marmor.

Jetzt wußte er: Sehr reiche Leute leisteten sich den Luxus, arm zu sein. Sybil Käsedick lebte in jener Art von Armut, die nur den Reichsten der Reichen zur Verfügung stand. Einer solchen Armut näherte man sich von der anderen Seite. Nur begüterte Frauen kauften seidene Kleider mit Spitzen und Perlen; Lady Käsedick war so reich, daß sie es sich erlaubte, in Gummistiefeln herumzulaufen und einen Tweedrock von ihrer Mutter zu tragen. Sie war so reich, daß sie es sich leisten konnte, allein von Keksen und Käsebroten zu leben. Sie war so reich, daß sie mit drei Zimmern vorliebnahm, obwohl die Villa vierunddreißig Räume bot. In den übrigen Kammern standen, von Staubtüchern bedeckt, sehr teure und sehr alte Möbel.

Mumm vermutete, daß die Reichsten der Reichen deshalb so unerhört reich waren, weil sie weitaus weniger Geld ausgaben als andere Leute.

Man nehme zum Beispiel Stiefel. Mumm verdiente achtunddreißig Ankh-Morpork-Dollar im Monat, plus Spesen. Wirklich gute Lederstiefel kosteten etwa fünfzig Dollar das Paar. Erschwingliche Stiefel hingegen kosteten nur rund zehn Dollar. Etwa ein Jahr lang leisteten sie gute Dienste, dann war die Pappsohle so dünn, daß man sich selbst bei leichtem Nieselregen nasse Füße holte. Solche Stiefel hatte Mumm immer benutzt. Er trug sie so lange, bis er durch die hauchdünnen Sohlen die charakteristischen Merkmale des Kopfsteinpflasters spürte und so selbst in einer nebligen Nacht feststellen konnte, wo er sich befand.

Gute Stiefel hingegen hielten jahrelang. Wenn man fünfzig Dollar für ein Paar Stiefel ausgab, waren auch noch in zehn Jahren trockene Füße garantiert. Ein armer Teufel hingegen, der sich mit billigem Schuhwerk begnügen mußte, gab in der gleichen Zeit hundert Dollar für einfache Stiefel aus und hatte trotzdem nasse Füße.

So lautete Hauptmann Samuel Mumms Stiefeltheorie über die sozialökonomische Ungerechtigkeit.

Es lief auf folgendes hinaus: Sybil Käsedick wurde nur selten mit der Notwendigkeit konfrontiert, etwas anzuschaffen. In der Villa gab es zahlreiche alte Möbel, die ihre Vorfahren gekauft hatten und die nie abnutzten. Dutzende von Schatullen enthielten kostbaren Schmuck – das Zeug schien sich im Lauf der Jahrhunderte von ganz allein angesammelt zu haben. Im Weinkeller unter dem Gebäude hätten sich Speläologen mit Begeisterung betrunken, um anschließend den ebenso langen wie komplizierten Rückweg vergessen zu haben.

Lady Sybil Käsedick lebte glücklich und zufrieden, indem sie etwa halb soviel Geld ausgab wie Mumm. Doch bei ihren Drachen sparte sie nicht.

Das Sonnenscheinheim hatte besonders dicke Wände und ein besonders leichtes Dach – die architektonischen Eigenheiten von Fabriken, in denen man Feuerwerkskörper herstellte.

Der Grund: Sumpfdrachen sind normalerweise chronisch krank. Und chronisch kranke Sumpfdrachen neigen dazu, sich mehr oder weniger gleichmäßig auf Wänden, Boden und Decke eines Raums zu verteilen. Sumpfdrachen sind wie ein achtlos gewarteter und gefährlich instabiler Reaktor, der dicht – sehr dicht – vor einer Explosion steht.

Daß Sumpfdrachen gerne mit einem lauten Krachen explodieren, wenn sie zornig, aufgeregt, erschrocken oder schlicht gelangweilt sind, ist für Biologen eine Überlebenseigenschaft3. Die Botschaft lautet: Wenn du Drachen frißt, holst du dir Blähungen, die dich auseinanderreißen werden.

Ganz vorsichtig öffnete Mumm die Tür, und Drachengeruch wehte ihm entgegen. Selbst nach den Maßstäben von Ankh-Morpork war es ein ungewöhnliches Aroma. Es erinnerte Mumm an einen Teich, der jahrelang alchimistische Abfälle aufgenommen hatte und dann ausgetrocknet war.

Kleine Drachen heulten und quiekten in den Pferchen, die sich rechts und links vom Gang erstreckten. Flammen züngelten aus aufgeregten Mäulern und versengten ihm die Haare an den nackten Schienbeinen.

Er fand Sybil Käsedick bei einigen in Kniehosen gekleideten jungen Frauen, die ihr bei der Verwaltung des Sonnenscheinheims halfen. Für gewöhnlich hießen die Assistentinnen Sara oder Emma, und für Mumm sahen sie alle gleich aus. Derzeit rangen sie mit einem wütenden Sack. Lady Käsedick sah auf, als sich der Hauptmann näherte.

»Ah, da ist Sam«, sagte sie. »Halt das hier, sei so nett.«

Sie drückten Mumm den Sack in die Arme. Eine Sekunde später fuhr unten eine Klaue hindurch, und Krallen kratzten über den Brustharnisch des Hauptmanns, versuchten vergeblich, ihm die Eingeweide aus dem Leib zu reißen. Oben schob sich ein Kopf mit spitzen Ohren aus dem Beutel, und zwei rotglühende Augen richteten sich auf Mumm. Der Rachen klappte auf, offenbarte zahllose scharfe Zähne und einen stinkenden Atem.

Triumphierend packte Lady Käsedick den Unterkiefer und stopfte ihren Arm bis zum Ellenbogen ins Drachenmaul.

»Hab dich!« Sie wandte sich an Mumm, dem es noch nicht gelungen war, die Starre des Schocks abzustreifen. »Der kleine Teufel hat sich geweigert, seine Kalksteintablette zu nehmen. Schluck jetzt. Du sollst schlucken! Na bitte. Braver Junge. Du kannst ihn loslassen.«

Der Sack glitt aus Mumms Händen.

»Ein schlimmer Fall von flammenloser Kolik«, erklärte Lady Käsedick. »Ich hoffe, er hat das Medikament noch rechtzeitig bekommen…«

Der Sumpfdrache zerfetzte den Sack, sah sich um und suchte nach etwas Brennbarem. Alle duckten sich.

Das Geschöpf verdrehte die Augen. Dann rülpste es.

Die Kalksteintablette prallte mit einem deutlich vernehmbaren Ping von der gegenüberliegenden Wand ab.

»In Deckung!«

Die Helferinnen hechteten hinter einen Wassertrog. Mumm und Lady Käsedick warfen sich hinter einen großen Schlackehaufen.

Der Drache rülpste noch einmal und wirkte verwirrt.

Dann explodierte er.

Sie standen auf, als sich die Qualmwolken verzogen. Traurig schauten sie zu dem Krater.

Lady Käsedick zog ein Tuch aus der Tasche ihres ledernen Overalls und putzte sich die Nase.

»Dummer kleiner Kerl«, sagte sie. »Na ja. Wie geht’s dir, Sam? Hast du mit Havelock gesprochen?«

Mumm nickte. Er würde sich nie daran gewöhnen, daß der Patrizier von Ankh-Morpork auch einen Vornamen hatte – und daß ihn jemand damit ansprach.

»Ich habe über das Essen für morgen abend nachgedacht«, brachte er verzweifelt hervor. »Weißt du, ich glaube nicht, daß ich…«

»Oh, ich bitte dich«, unterbrach ihn Lady Käsedick. »Bestimmt gefällt’s dir. Es wird Zeit, daß du die richtigen Leute kennenlernst. Das sollte dir klar sein.«

Mumm nickte kummervoll.

»Um acht Uhr erwarte ich dich beim Haus«, fügte Sybil hinzu. »Und mach nicht so ein Gesicht. Der Empfang wird dir enorm nützen. Es muß ein Ende haben, daß du nachts durch feuchte Straßen latschst. Jetzt bekommst du endlich Gelegenheit, es zu etwas zu bringen.«

Mumm wollte antworten, daß er es mochte, nachts durch feuchte Straßen zu latschen, aber solche Hinweise waren zwecklos. Sie entsprachen nicht der Wahrheit. Eigentlich fand er gar keinen Gefallen daran, Nacht für Nacht auf Streife zu gehen. Es war reine Angewohnheit: Er konnte sich nicht daran erinnern, die Nächte jemals anders verbracht zu haben. Er brachte seiner Dienstmarke die gleichen Gefühle entgegen wie der eigenen Nase: Er liebte oder haßte sie nicht – es war einfach seine Dienstmarke.

»Sei pünktlich«, sagte Lady Käsedick. »Bestimmt vergnügst du dich prächtig. Hast du ein Taschentuch?«

Mumm geriet in Panik.

»Wie bitte?«

»Gib’s mir.« Sie hielt es ihm dicht vor den Mund. »Spuck«, befahl sie.

Sybil wischte dem Hauptmann einen Fleck von der Wange. Eine der austauschbaren Emmas lachte leise; Lady Käsedick überhörte es.

»So«, sagte sie. »Schon besser. Geh jetzt und sorg dafür, daß die Straßen sicher sind für uns alle. Und wenn du dich wirklich nützlich machen willst… such Chubby.«

»Chubby?«

»Er ist gestern abend aus seinem Pferch entkommen.«

»Ein Drache?«

Mumm stöhnte und holte eine billige Zigarre hervor. Sumpfdrachen wurden immer mehr zum Problem in der Stadt. Lady Käsedick war deshalb sehr verärgert. Die Leute kauften Drachen als fünfzehn Zentimeter lange Jungtiere und fanden es schick, sie als Feueranzünder und dergleichen zu verwenden. Aber wenn sie Möbel in Asche verwandelten und mit ihren Ausscheidungen Löcher in Teppich, Boden und Kellerdecke hinterließen… dann setzte man sie einfach irgendwo aus.

»Wir haben ihn von einem Schmied in der Leichten Straße gerettet«, erklärte Sybil. »Ich habe ihm gesagt: Guter Mann, warum verwendest du keine Esse wie alle anderen Schmiede? Armer kleiner Kerl. Der Drache, meine ich.«

»Chubby«, brummte Mumm. »Hast du Feuer?«

»Er hat ein blaues Halsband«, sagte Lady Käsedick.

»In Ordnung.«

»Er folgt dir so brav wie ein Lamm, wenn er glaubt, daß du einen Holzkohlekeks für ihn hast.«

»Na schön.« Mumm klopfte seine Taschen ab.

»Bei dieser Hitze sind sie alle ein wenig nervös.«

Mumm griff in einen Pferch und griff ein kleines Jungtier, das aufgeregt mit den Flügeln schlug. Es spie eine kleine blaue Flamme und entzündete damit die Zigarre des Hauptmanns.

»Bitte, hör damit auf, Sam.«

»Entschuldige.«

»Wenn du Karotte und den netten Korporal Nobbs bitten würdest, nach Chubby Ausschau zu halten…«

Lady Käsedick hatte zwar Augen im Kopf, aber aus irgendeinem Grund hielt sie Nobbs für eine Art sympathischen Schlingel. Dieses Phänomen verwirrte Mumm nach wie vor. Vielleicht lag es daran, daß sich Gegensätze anzogen. Die Käsedicks waren hochgeboren, höher noch als die nächsten Berge. Und Nobbs… ihn hatte man wegen Schubsens disqualifiziert und aus der Gattung Homo sapiens verbannt.

Gekleidet in altes Leder und ein rostiges Kettenhemd, schritt Mumm durch die Stadt, den Helm wie am Kopf festgeschraubt. Durch die dünnen Stiefelsohlen empfing er eine Botschaft, die ihm mitteilte, daß er sich nun in der Hektarstraße befand. Wenn man ihn so sah, konnte man kaum glauben, daß er bald die reichste Frau von Ankh-Morpork heiratete.

 

Chubby war kein glücklicher Drache.

Er vermißte die Schmiede. Dort hatte es ihm gefallen, weil er soviel Kohle fressen durfte, wie er wollte. Und der Schmied war eigentlich nicht besonders unfreundlich gewesen. Chubby hatte nicht viel vom Leben verlangt und es bekommen.

Dann kam eine große Frau und sperrte ihn in einen Pferch. Er erinnerte sich an andere Drachen in der Nähe – er legte keinen Wert auf Drachengesellschaft. Außerdem bekam er Kohle, die nicht besonders gut schmeckte.

Er freute sich zunächst, als ihn jemand mitten in der Nacht aus dem Pferch holte. Vielleicht durfte er jetzt zum Schmied zurück.

Doch nach einer Weile schwanden seine Hoffnungen auf eine Rückkehr. Er wurde in einer Kiste hin und her gestoßen. Zorn wuchs in ihm…

 

Feldwebel Colon fächelte sich mit dem Heftbrett Luft zu und richtete dann einen strengen Blick auf die versammelten Wächter.

Er hüstelte.

»Na schön«, sagte er. »Setzt euch.«

»Wir sitzen bereits, Fred«, erwiderte Korporal Nobbs.

»Es heißt Feldwebel, auch für dich, Nobby«, beharrte Feldwebel Colon.

»Warum müssen wir uns überhaupt setzen? Daran sind wir gar nicht gewöhnt. Ich komme mir komisch vor, wenn ich mich setze und zuhöre, wie du…«

»Wir sind jetzt mehr, deshalb müssen wir alles richtig machen«, erklärte Feldwebel Colon. »Also gut! Ähem. In Ordnung. Heute heißen wir folgende Personen in der Wache willkommen: den Obergefreiten Detritus – nicht salutieren! –, den Obergefreiten Knuddel und den… äh…. die Obergefreite Angua. Wir hoffen, daß ihr lange… Was hast du da, Knuddel?«

»Was meinst du?« fragte Knuddel unschuldig.

»Mir ist gerade aufgefallen, daß du mit einer doppelschneidigen Wurfaxt ausgerüstet bist, Obergefreiter, obwohl man dich deutlich auf die Vorschriften hingewiesen hat.«

»Und wenn es eine kulturelle Waffe ist, Feldwebel?« entgegnete Knuddel hoffnungsvoll.

»Laß sie in deinem kulturellen Spind. Die Bewaffnung von Wächtern besteht aus einem Schwert, kurz, und einem Schlagstock, mittellang.«

Detritus ist die einzige Ausnahme, fügte Colon in Gedanken hinzu. Erstens sah in der riesigen Hand des Trolls selbst das größte Schwert wie ein Zahnstocher aus. Und zweitens galt es zu vermeiden, daß ein Mitglied der Wache sich beim Salutieren die eigene Hand ans Ohr nagelte. Nein, Detritus bekam nur einen Schlagstock. Besser einen Knüppel. Vielleicht erschlug er sich damit.

Trolle und Zwerge! Zwerge und Trolle! Colon fand, daß er so etwas nicht verdiente, nicht ausgerechnet jetzt! Und es kam noch schlimmer.

Er hüstelte erneut. Seine Stimme wurde beim Ablesen vom Heftbrett zum Singsang eines Mannes, der öffentliche Ansprachen in der Schule gelernt hatte.

»In Ordnung«, wiederholte er ein wenig unsicher. »Na schön. Hier steht…«

»Feldwebel?«

»Was ist denn jetzt schon wie… Oh, du bist’s, Korporal Karotte. Ja?«

»Vergißt du nicht etwas, Feldwebel?« fragte Karotte.

»Keine Ahnung«, erwiderte Colon vorsichtig. »Glaubst du?«

»Die Rekruten, Feldwebel«, fügte Karotte hinzu. »Sie müssen etwas ablegen, nicht wahr?«

Feldwebel Colon rieb sich die Nase. Ablegen? Sie hatten vor allem Dinge genommen und den Empfang quittiert, wie es die Vorschriften verlangten: ein Hemd (Ketten), ein Helm (Eisen und Kupfer), ein Brustharnisch (Eisen; abgesehen von der Obergefreiten Angua, die eine Sonderanfertigung benötigte und vom Obergefreiten Detritus, dessen Rüstungsteil von einem Kriegselefanten stammte – man hatte es in aller Eile seinen Bedürfnissen angepaßt), ein Schlagstock (Eichenholz), eine für den Notfall bestimmte Pike oder Hellebarde, eine Armbrust, eine Sanduhr, ein Kurzschwert (abgesehen vom Obergefreiten Detritus) und eine Dienstmarke (Kupfer, Nachtwache).

»Ich glaube, die Rekruten müssen nichts ablegen«, sagte Colon schließlich. »Niemand von ihnen hat zuviel bekommen. Und alle haben unterschrieben. Selbst für Detritus hat jemand ein Kreuz gemalt.«

»Ich meine den Eid, Feldwebel.«

»Oh. Äh. Ist er Pflicht?«

»Ja, Feldwebel. So verlangt es das Gesetz.«

Feldwebel Colon wirkte verwirrt und verlegen. Vielleicht hatte Karotte recht, und es gab tatsächlich ein Gesetz, das von Rekruten verlangte, einen Eid abzulegen. Mit solchen Dingen war Karotte gut vertraut. Er kannte die Gesetze von Ankh-Morpork auswendig. Colon wußte nur, daß er selbst bei der Aufnahme in die Wache keinen Eid geleistet hatte. Und Nobby… Wenn der irgend etwas geschworen hatte, dann vermutlich so etwas wie: »Hiermit schließe ich mich diesem verlausten Soldatenhaufen an.«

»Äh, ja«, sagte Colon. »Ihr alle müßt den Eid ablegen, und… äh… Korporal Karotte zeigt euch, worauf es dabei ankommt. Äh, Korporal Karotte… Hast du den Eid geleistet, als du zu uns gekommen bist?«

»Ja, Feldwebel. Niemand forderte mich dazu auf, deshalb habe ich ihn für mich selbst abgelegt.«

»Ach? Gut. Laß die Rekruten schwören.«

Karotte stand auf und nahm den Helm ab. Er strich sein Haar glatt und hob dann die rechte Hand.

»Hebt ebenfalls die rechte Hand«, sagte er. »Äh… Damit meine ich die Hand, die der Obergefreiten Angua am nächsten ist, Obergefreiter Detritus. Sprecht mir nach…« Karotte schloß die Augen, und einige Sekunden lang bewegten sich seine Lippen stumm, als läse er etwas auf der Innenseite des Kopfes.

»›Ich Komma Klammer auf Name des Rekruten Klammer zu Komma…‹«

Er nickte der Gruppe zu. »Sagt es.«

Mehrere Stimmen wiederholten die Worte. Angua versuchte, nicht zu lachen.

»›… schwöre feierlich bei Klammer auf Gottheit des Rekruten Klammer zu…‹«

Angua wagte es nicht, Karotte anzusehen.

»›… die Gesetze und Verordnungen der Stadt Ankh-Morpork zu hüten Komma dem öffentlichen Wohl zu dienen und die Untertanen Seiner Strich Ihrer Klammer auf Unzutreffendes streichen Klammer zu Majestät Klammer auf regierender Monarch Klammer zu schützen…‹«

Angua bemühte sich, ihren Blick auf einen Punkt hinter Karottes Ohr zu richten. Es fiel ihr sehr schwer, sich zu beherrschen, nicht zuletzt deshalb, weil Detritus den anderen Stimmen immer einige Dutzend Worte hinterherhinkte.

»›… ohne Furcht Komma Begünstigung Komma oder Rücksicht auf persönliche Sicherheit Semikolon Übeltäter zu verfolgen und Unschuldige vor Schaden zu bewahren Komma das eigene Leben nötigenfalls besagter Pflicht zu opfern Komma so wahr mir Klammer auf zuvor erwähnte Gottheit Klammer zu helfe Punkt mögen die Götter den König Strich Königin Klammer auf Unzutreffendes streichen Klammer zu Punkt schützen.‹«

Angua brachte die letzten Worte dankbar hinter sich, und dann sah sie Karottes ins Gesicht. Tränen rannen ihm über die Wangen.

»Äh, gut, das wär’s, danke«, sagte Feldwebel Colon nach einer Weile.

»…Un-schul-dige vor Schaden zu be-wah-ren Komma…«

»Laß dir ruhig Zeit, Obergefreiter Detritus.«

Der Feldwebel räusperte sich und blickte wieder auf sein Heftbrett.

»Nun, Würger Hoskins ist einmal mehr aus der Haft entlassen worden, und deshalb rate ich euch allen, auf der Hut zu sein. Ihr wißt ja, wie er ist, wenn er einen über den Durst getrunken hat. Außerdem hat der Troll Kohlenfresse gestern abend vier Männer zusammengeschlagen…«

»… nöt-igen-falls besag-ter Pflicht zu opfern Komma…«

»Wo steckt Hauptmann Mumm?« fragte Nobby. »Eigentlich sollte er sich um diese Sache kümmern.«

»Hauptmann Mumm muß… gewisse Dinge erledigen«, erwiderte Feldwebel Colon. »Es… ist bestimmt nicht leicht, bald ein Zivilist zu sein. Nun gut.« Erneut konsultierte er das Heftbrett und wandte sich dann wieder an die Rekruten. Ein toller Haufen…

Seine Lippen bewegten sich, als er zählte. Zwischen Nobby und dem Obergefreiten Knuddel hockte ein kleiner, zerlumpter Mann. Bart und Haar bildeten eine so zerzauste und verfilzte Masse, daß der Bursche aussah wie ein Frettchen, das aus einem Busch starrte.

»…zuvor er-wähnte Gott-heit Klam-mer zu…«

»O nein«, ächzte Colon. »Was machst du denn bei uns, Hierundheute? Danke, Detritus – nicht salutieren! –, du kannst dich jetzt setzen.«

»Herr Karotte hat mich hergebracht«, lautete die Antwort.

»Schutzhaft, Feldwebel«, erklärte Karotte.

»Schon wieder?« Colon nahm das Schlüsselbund vom Haken neben der Tür und warf es dem Dieb zu. »Zelle drei. Nimm die Schlüssel ruhig mit. Wir rufen, wenn wir sie brauchen.«

»Bist ‘n echter Kumpel, Herr Colon«, sagte Hierundheute und ging die Treppe zu den Zellen hinunter.

Colon schüttelte den Kopf.

»Der schlimmste Dieb auf der ganzen Welt«, kommentierte er.

»Er sieht gar nicht so geschickt aus«, wandte Angua ein.

»Er ist der schlimmste Dieb«, betonte Colon. »Damit meine ich das Gegenteil von ›gut‹.«

»Wißt ihr noch, wie er nach Würdentracht aufbrach, um den Göttern das Geheimnis des Feuers zu stehlen?« fragte Nobby.

»Und ich sagte zu ihm: ›Aber wir haben das Feuer schon, Hierundheute, seit Tausenden von Jahren‹«, ließ sich Karotte vernehmen. »Woraufhin er sagte: ›Um so besser. Dann hat es zusätzlichen Wert als Antiquität4.‹«

»Armer Kerl«, brummte Feldwebel Colon. »Na schön. Was haben wir sonst no… Ja, Karotte?«

»Die Rekruten müssen den sogenannten Königsshilling nehmen.«

»Natürlich. Ja. Genau.« Colon griff in die Tasche und holte drei paillettengroße Ankh-Morpork-Dollar hervor, mit dem Goldgehalt von Meerwasser. Er warf sie nacheinander den neuen Wächtern zu.

»Das ist der Königsshilling«, sagte er mit einem kurzen Seitenblick auf Karotte. »Fragt mich bloß nicht nach dem Grund. Man bekommt ihn, wenn man Mitglied der Wache wird. Die Vorschriften, wißt ihr. Vermutlich beweist das Ding, daß ihr zur Wache gehört.« Zwei oder drei Sekunden lang zeigte sich Verlegenheit auf den Zügen des Feldwebels. »Na ja. In Ordnung. Ach, noch etwas. Ein paar Fel…« Er unterbrach sich gerade noch rechtzeitig. »Ich meine, einige Trolle wollen die Kurze Straße hinuntermarschieren. Obergefreiter Detritus – nicht salutieren! Gut. Was hat es damit auf sich?«

»Es sein Troll-Neujahr«, sagte Detritus.

»Ach, tatsächlich? Tja, ich schätze, solche Dinge müssen wir nun berücksichtigen. Außerdem findet eine Versammlung der Staubfres… der Zwerge statt.«

»Zum Gedenken an die Schlacht vom Koomtal«, erläuterte Obergefreiter Knuddel. »Dabei errangen wir den Sieg über die Trolle.« Er grinste selbstgefällig – soweit das unter dem wuchernden Bart erkennbar war.

»Aus einem feigen Hinterhalt ihr angegriffen habt«, brummte Detritus und bedachte den Zwerg mit einem finsteren Blick.

»Was?« entfuhr es Knuddel. »Ihr Trolle wart es, die…«

»Ruhe«, sagte Colon. »Hier steht… Hier steht, die Zwerge wollen die Kurze Straße hinaufmarschieren.« Er sah genauer hin. »Stimmt das?«

»Die Trolle marschieren in die eine Richtung, und die Zwerge in die andere?« vergewisserte sich Karotte.

»Das dürfte eine interessante Parade werden«, prophezeite Nobby.

»Ist damit was nicht in Ordnung?« erkundigte sich Angua.

Karotte gestikulierte vage. »Meine Güte. Eine Katastrophe bahnt sich an. Wir müssen etwas dagegen unternehmen.«

»Zwerge und Trolle vertragen sich so gut wie Katz und Maus«, sagte Nobby. »Wobei es schwerfällt, die Katze von der Maus zu unterscheiden.«

Feldwebel Colons normalerweise rote Gesichtsfarbe verblaßte nun zu einem hellen Rosarot. Er schnallte das Schwert an den Gürtel und griff nach dem Schlagstock.

»Denkt daran«, mahnte er. »Seid vorsichtig da draußen.«

»Ja«, murmelte Nobby. »Wir sollten vorsichtig sein und hier drin bleiben.«

 

Um zu verstehen, warum Zwerge und Trolle sich nicht mögen, muß man ein ganzes Stück in die Vergangenheit zurückkehren.

Sie unterscheiden sich wie Tag und Nacht oder wie Käse und Kreide. Das zweite Beispiel verdeutlicht den Sachverhalt noch besser. Käse ist eine organische Substanz (die außerdem ein wenig riecht), Kreide nicht. Zwerge verdienen sich ihren Lebensunterhalt, indem sie Felsen, die wertvolle Mineralien enthalten, zertrümmern. Und die auf Silizium basierende Lebensform, die man »Trolle« nennt, besteht im großen und ganzen aus Felsen, die wertvolle Mineralien enthalten. In der Wildnis verbringen sie den größten Teil des Tages damit, tief zu schlafen, und dieser Zustand ist gefährlich für Felsen mit wertvollen Mineralien, wenn Zwerge in der Nähe sind. Die Zwerge verabscheuen Trolle aus folgendem Grund: Hat man ein vielversprechendes Flöz mit wertvollen Mineralien gefunden, wünscht man nicht, daß die Felsen plötzlich aufstehen und einem den Arm abreißen, nur weil man ihnen die Spitzhacke ins Ohr gebohrt hat.

Eine permanente Fehde verband die beiden Völker, und wie jede gute Fehde benötigte sie keinen Grund für ihre weitere Existenz. Es genügte, daß sie schon immer existiert hatte5. Zwerge haßten Trolle, weil Trolle Zwerge haßten, und umgekehrt.

 

Die Wache wartete in der Dreilampengasse, etwa in halber Höhe der Kurzen Straße. Feuerwerkskörper knatterten in der Ferne – die Zwerge wollten damit böse Geister vertreiben. Trolle hingegen mochten Knaller und dergleichen, weil sie gut schmeckten.

»Warum lassen wir sie nicht einfach gegeneinander kämpfen und verhaften dann die Verlierer?« grummelte Korporal Nobbs. »Mit dieser Taktik hatten wir bisher stets Erfolg.«

»Der Patrizier mag keinen ethnischen Konflikt«, erwiderte Feldwebel Colon betrübt. »Er wird deswegen sogar sarkastisch.«

Dann fiel ihm etwas ein, das seine Stimmung ein wenig besserte.

»Hast du eine Idee, Karotte?« fragte er.

Ihm fiel noch mehr ein. Karotte war nicht nur sehr zuverlässig, sondern auch einfach und unkompliziert.

»Korporal Karotte?«

»Ja, Feldwebel?«

»Bring die Sache in Ordnung.«

Karotte spähte um die Ecke und beobachtete die marschierenden Gruppen. Zwerge und Trolle hatten sich schon gesehen.

»Zu Befehl, Feldwebel«, sagte er. »Obergefreiter Knuddel und Obergefreiter Detritus – nicht salutieren! –, ihr begleitet mich.«

»Ihr dürft ihn nicht gehen lassen!« brachte Angua hervor. »Dort erwartet ihn der sichere Tod!«

»Hat ein bemerkenswertes Pflichtbewußtsein, der Junge«, sagte Korporal Nobbs. Er holte einen Zigarettenstummel hinter dem Ohr hervor und riß ein Streichholz an der Stiefelsohle an.

»Keine Sorge, Fräulein«, meinte Colon. »Er…«

»Obergefreite«, unterbrach Angua den Feldwebel.

»Wie bitte?«

»Es heißt ›Obergefreite‹, nicht ›Fräulein‹. Karotte hat mich darauf hingewiesen, daß ich während des Dienstes kein Geschlecht habe.«

Nobbs erlitt einen Hustenanfall, und Colon sagte hastig: »Ich wollte auf folgendes hinaus, Obergefreite: Der junge Karotte hat Krisma. Und zwar jede Menge.«

»Krisma?«

»Ja. Jede Menge.«

 

Die dauernden Erschütterungen hörten auf. Chubby war inzwischen sauer. Echt sauer.

Etwas raschelte. Das Sackleinen wich beiseite, und plötzlich sah Chubby einen anderen männlichen Drachen.

Er schien wütend zu sein.

Chubby reagierte instinktiv.

 

Karotte blieb mitten auf der Straße stehen und verschränkte die Arme. Die beiden neuen Rekruten verharrten dicht hinter ihm und versuchten, die beiden heranmarschierenden Armeen im Auge zu behalten.

Colon hielt Karotte für einfach und unkompliziert. Diesen Eindruck machte er auf viele Leute. Und er täuschte nicht.

Doch man sollte nicht den Fehler machen, dies mit Dummheit zu verwechseln.

Dumm war Karotte eigentlich nicht. Er war direkt, ehrlich, gutmütig und in jeder Hinsicht ehrenhaft. In Ankh-Morpork hieß so etwas normalerweise »Dummheit«, und unter gewöhnlichen Umständen hätte er damit die Überlebenschance einer Qualle in einem Hochofen. Aber es gab noch einige andere Faktoren. Zum Beispiel sein Schlag, den inzwischen selbst Trolle fürchteten. Und die bemerkenswerte Tatsache, daß Karotte auf eine geradezu übernatürliche Weise sympathisch war. Er kam gut mit Leuten zurecht, auch dann, wenn er sie verhaftete. Und er hatte ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis.

Den größten Teil seines jungen Lebens hatte er in einem kleinen Zwergendorf verbracht, wo man kaum neue Gesichter sah. Doch dann fand er sich plötzlich in einer Großstadt wieder, was irgendwelche Talente in ihm zum Anlaß nahmen, sich zu entfalten.

Und sie entfalteten sich nach wie vor.

Er winkte den Zwergen fröhlich zu.

»Morgen, Herr Schenkeldick! Morgen, Herr Starkimarm!«

Er drehte sich um und winkte dem ersten Troll zu. Mit einem dumpfen »Bumm« ging ein Knaller los.

»Morgen, Herr Bauxit!«

Er wölbte die Hände trichterförmig vor dem Mund.

»Wenn ihr bitte stehenbleiben und mir zuhören würdet…!« rief er.

Die beiden Gruppen verharrten tatsächlich, wobei es weiter hinten zu einigen Kollisionen und einem allgemeinen Gedränge kam. Die vorderen Reihen rührten sich nicht von der Stelle: Niemand wollte riskieren, über Karotte hinwegzutrampeln. Er hätte es kaum zugelassen.

Wenn Karotte einen Fehler hatte, dann den, gewissen Details in der Umgebung keine Beachtung zu schenken, wenn seine Aufmerksamkeit wichtigeren Dingen galt. Deshalb überhörte er die beiden, hinter seinem Rücken flüsternden Stimmen.

»Ha! Und ob es ein Hinterhalt war! Und deine Mutter ist bestimmt eine verdammte…«

»Nun gut, meine Herren«, begann Karotte in einem freundlichen, an die Vernunft appellierenden Ton. »Ich bin sicher, daß die hier zur Schau gestellte Aggressivität überhaupt nicht nötig ist…«

»… ihr euch im Hinterhalt gelegen habt! Ich es wissen von meinem Ururgroßvater. Er bei Koom dabei. Er hat mir erzählt!«

»… in unserer schönen Stadt, an einem so herrlichen Tag. Ich wende mich an euch als Bürger von Ankh-Morpork…«

»Ach ja? Weißt du überhaupt, wer dein Vater ist?«

»… verlange ich natürlich nicht von euch, daß ihr auf eure ethnischen Traditionen verzichtet. Ich bitte nur darum, daß ihr euch ein Beispiel nehmt an meinen beiden Kollegen hier, die ihre kulturellen Differenzen überwunden haben, um…«

»Ich dir einschlagen Kopf, du blöder Zwerg!«

»… dem Wohle dieser Stadt…«

»… könnte ich es selbst dann mit dir aufnehmen, wenn man mir eine Hand auf den Rücken bindet!«

»… zu dienen, deren Dienstmarke…«

»… bekommen du Gelegenheit, mir zu zeigen! Ich dir binden BEIDE Hände auf Rücken!«

»… sie voller Stolz tragen.«

»Aargh!«

»Auuuh!«

Karotte merkte, daß ihm niemand mehr zuhörte. Er drehte sich um.

Obergefreiter Knuddel hing mit dem Kopf nach unten, und Obergefreiter Detritus versuchte gerade, ihn in den Boden zu rammen. Doch Obergefreiter Knuddel nutzte seine Position, indem er die Arme um Obergefreiter Detritus’ Knie schlang und seine Zähne möglichst tief in Obergefreiter Detritus’ Wade bohrte.

Die beiden Gruppen beobachteten das Geschehen fasziniert.

»Wir sollten etwas unternehmen«, sagte Angua im Versteck der anderen Wächter.

»Nuuun…«, erwiderte Feldwebel Colon langsam. »Ist immer sehr kompliziert und heikel, das Ethnische.«

»Man könnte dabei leicht ins Fettnäpfchen treten«, fügte Korporal Nobbs hinzu. »Typische Ethniker sind sehr sensibel.«

»Sensibel? Sie versuchen, sich gegenseitig umzubringen

»Dabei geht es um Kultur«, sagte Feldwebel Colon kummervoll. »Und wir dürfen nicht versuchen, ihnen unsere Kultur aufzuzwingen. Das wäre Speziesismus.«

Unterdessen lief Korporal Karottes Gesicht rot an.

»Wenn er einen von ihnen anrührt, während all die Freunde zusehen…«, sagte Nobby. »Dann laufen wir alle so schnell wie möglich weg.«

Auf Karottes Hand zeichneten sich deutlich Adern und Sehnen ab. Er stemmte die Hände in die Hüften und donnerte:

»Obergefreiter Detritus – salutieren!«

Sie hatten es stundenlang geübt. Detritus’ Gehirn brauchte eine Weile, um sich an ein neues Konzept zu gewöhnen, doch dann hielt es daran fest.

Der Troll salutierte.

Und dabei hatte er die Hand voller Zwerg.

Detritus salutierte und hielt seine Finger um Knuddel geschlossen. Der wesentlich kleinere Obergefreite wurde emporgerissen, und…

Zwei Helme stießen gegeneinander, und das Krachen hallte laut von den Hauswänden wider. Mit einem Poltern fielen zwei Körper zu Boden.

Karotte stieß sie mit der Sandale an. Dann drehte er sich um, schritt den Zwergen entgegen und bebte vor Zorn.

In der Gasse biß Feldwebel Colon voller Furcht in den Rand seines Helms.

»Ihr habt Waffen, nicht wahr?« knurrte Karotte und wandte sich damit an die hundert Zwerge. »Gebt es zu! Wenn ihr die Waffen nicht sofort fallen laßt, dann verhafte ich die ganze Parade, und ich meine wirklich die ganze Parade! Es ist mir ernst damit!«

Die vorn stehenden Zwerge traten einen Schritt zurück. Hier und dort klirrte es, als Objekte aus Metall auf dem Boden landeten.

»Alle Waffen«, sagte Karotte drohend. »Das gilt auch für den Zwerg mit dem schwarzen Bart, der sich gerade hinter Herrn Schinkenwurf versteckt. Ich sehe dich, Herr Starkimarm! Laß das Ding fallen. Niemand findet dein Verhalten lustig!«

»Er wird sterben, nicht wahr?« hauchte Angua.

»Komische Sache«, erwiderte Nobby. »Wenn wir so etwas versuchen würden, müßten wir damit rechnen, in Stücke gehauen zu werden. Aber bei ihm scheint’s zu klappen.«

»Krisma«, sagte Feldwebel Colon, der sich nun an die Wand lehnte, weil ihm die Knie zitterten.

»Meinst du vielleicht Charisma?« fragte Angua.

»Ja. So was in der Art.«

»Wie bringt er das fertig?«

»Keine Ahnung«, entgegnete Nobby. »Weil ihn alle nett finden?«

Karotte drehte sich zu den hämisch grinsenden Trollen um.

»Was euch betrifft…«, sagte er. »Heute abend führt mich der Streifengang auch zum Steinbruchweg, und wehe, wenn es dort irgendwelche Probleme gibt, klar?«

Große Füße scharrten, und ein wortloses Murmeln erklang.

Karotte wölbte die Hand hinter seinem Ohr.

»Ich habe euch nicht verstanden.«

Das Murmeln schwoll an zu einem Brummen, metamorphierte zu einer Tokkata für hundert widerstrebende Stimmen: »Ja, Korporal Karotte.«

»Gut. Geht jetzt. Seid brav. Ich möchte nicht, daß sich dieser Unsinn wiederholt.«

Karotte klopfte sich den Staub von den Händen und lächelte freundlich. Die Trolle wirkten verwirrt. Rein theoretisch war Karotte nur ein dünner Film aus zerriebenem Fleisch auf dem Pflaster. Aber aus irgendeinem Grund konnte diese Theorie nicht in die Praxis umgesetzt werden.

»Er hat hundert Trolle aufgefordert, ›brav‹ zu sein«, sagte Angua. »Einige von ihnen sind gerade erst aus den Bergen gekommen. Anderen wächst Moos auf dem Rücken!«

»Das Intelligenteste an einem Troll«, bemerkte Feldwebel Colon.

Und dann explodierte die Welt.

 

Die Wächter hatten das Wachhaus verlassen, bevor Hauptmann Mumm zum Pseudopolisplatz zurückkehrte. Er stapfte die Treppe zu seinem Büro hoch, setzte sich dort auf einen knarrenden Stuhl und starrte an die Wand.

Er wollte die Nachtwache verlassen. Kein Zweifel.

Konnte man so etwas vielleicht Leben nennen? Nein, Leben gewiß nicht.

Zu nachtschlafender Zeit arbeiten. Nie sicher sein, wie die Gesetze in einer so pragmatischen Stadt am nächsten Tag beschaffen waren. Kein nennenswertes Privatleben. Schlechtes Essen, das man hinunterschlingen mußte, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot. Er hatte sich sogar dazu hinreißen lassen, Treibe-mich-selbst-in-den-Ruin Schnappers Würstchen-in-Brötchen zu probieren. Es schien entweder zu regnen oder sehr heiß zu sein. Freunde gab es keine, abgesehen von den Kollegen – sie waren die einzigen Personen, die in derselben Welt lebten.

Und in einigen Tagen sollte sich alles ändern. Dann saß Mumm, wie es Feldwebel Colon ausgedrückt hatte, »an der Futterkrippe«. Dann brauchte er nur noch seine Mahlzeiten einzunehmen und den Dienern Anweisungen zu geben.

Manchmal erinnerte er sich an den alten Feldwebel Keppel. Er hatte die Wache kommandiert, als Mumm Rekrut gewesen war. Kurze Zeit später zog er sich in den Ruhestand zurück. Damals legten sie alle zusammen und kauften ihm eine jener billigen Uhren, die ein paar Jahre lang gingen – bis sich der Dämon darin in Luft auflöste.

Eine dämliche Idee, dachte Mumm schwermütig und starrte weiterhin an die Wand. Jemand verläßt den aktiven Dienst, gibt Marke, Sanduhr und Glocke zurück… Und was schenkt man ihm? Eine Uhr.

Am nächsten Tag kam Keppel trotzdem zur Arbeit, mit der Uhr, um die Neuen in alles einzuweihen. Und um einige liegengebliebene Dinge zu erledigen, haha. Um den jungen Kerlen zu zeigen, wie man Schwierigkeiten mied, haha. Einen Monat später brachte er die Kohle, fegte, machte Botengänge und half beim Schreiben der Berichte. Fünf Jahre später war er immer noch da. Und auch nach sechs Jahren, als ein Wächter besonders früh eintraf und ihn auf dem Boden fand…

Es stellte sich heraus, daß niemand – niemand – wußte, wo er wohnte, oder ob es eine Frau Keppel gab. Mumm erinnerte sich: Sie legten erneut zusammen, um ihn zu beerdigen. Und bei der Bestattung waren nur Wächter zugegen…

Das schien bei Bestattungen von Wächtern immer der Fall zu sein.

Inzwischen hatte sich die Situation natürlich verändert. Feldwebel Colon war seit vielen Jahren glücklich verheiratet – vielleicht deswegen, weil sich die Kontakte zwischen Ehemann und Gattin auf ein Minimum beschränkten: Wegen ihres unterschiedlichen Berufslebens begegneten sie sich nur selten, meistens an der Haustür. Aber Frau Colon hinterließ ihrem Mann anständige Mahlzeiten in der Küche, und sicher verbarg sich noch mehr hinter der Beziehung. Sie hatten Kinder, was darauf hindeutete, daß sie nicht immer imstande gewesen waren, sich aus dem Weg zu gehen. Der junge Karotte mußte die Frauen mit einem Stock abwehren. Und Korporal Nobbs… vermutlich arrangierte er sich irgendwie. Es hieß, er hätte den Körper eines Fünfundzwanzigjährigen; allerdings wußte niemand, wo er ihn versteckte.

Nun, jeder hatte jemanden, bei Nobbs vielleicht gegen den Willen der betreffenden Personen.

Und Hauptmann Mumm? Wie sieht’s bei dir aus? Liegt dir wirklich etwas an ihr? Denk mal nicht an Liebe, denn das ist ein riskantes Wort für Leute über Vierzig. Hast du vielleicht Angst, allein als Greis zu sterben und aus Mitleid begraben zu werden, von jungen Burschen, die dich nur als alten Knacker kannten, als jemanden, der Kaffee holte und über den man hinter seinem Rücken dumme Witze riß?

Das wollte Mumm vermeiden. Und jetzt bot ihm das Schicksal ein Märchen an.

Er hatte natürlich gewußt, daß Lady Käsedick reich war. Doch es war eine Überraschung für ihn gewesen, von Herrn Tagscheu zu einem Gespräch geladen zu werden.

Herr Tagscheu fungierte seit langer Zeit als Familienanwalt der Käsedicks. Schon seit Jahrhunderten. Er war ein Vampir.

Mumm mochte keine Vampire. Im nüchternen Zustand neigten Zwerge dazu, die Gesetze zu achten, und selbst Trolle machten kaum Schwierigkeiten, solange man sie im Auge behielt. Doch Untote weckten profundes Unbehagen in Mumm. Gegen das Prinzip »Leben und leben lassen« hatte er nichts einzuwenden, aber in diesem besonderen Fall gab es da logische Probleme…

Herr Tageschau erwies sich als sehr dünn und sehr blaß. Er brauchte eine halbe Ewigkeit, um auf den Kern der Sache zu kommen, und als es schließlich soweit war, fühlte sich Mumm auf seinem Stuhl wie festgenagelt.

»Wieviel?«

»Äh. Nun, wenn ich alle Bestandteile des Vermögens berücksichtige, auch die Bauernhöfe, unbebauten Grundstücke und magisch beeinflußten Immobilien unweit der Unsichtbaren Universität… Der jährliche Ertrag beläuft sich etwa auf sieben Millionen Ankh-Morpork-Dollar. Ja, ich halte sieben Millionen für eine recht exakte Schätzung.«

»Und das gehört alles mir

»Sobald du Lady Sybil geheiratet hast. In ihrem letzten Brief wies sie mich an, dir vollen Zugang zu allen Konten und dergleichen zu gewähren.«

Der Untote beobachtete Mumm mit seltsam glänzenden Augen.

»Etwa ein Zehntel von Ankh gehört Lady Sybil«, sagte der Vampir langsam. »Hinzu kommen ausgedehnte Besitztümer in Morpork, plus weite Ländereien außerhalb der Stadt…«

»Aber… aber… es ist unser gemeinsames Eigentum…«

»In dieser Hinsicht hat sich Lady Sybil sehr klar ausgedrückt. Sie überschreibt ihren ganzen Besitz dem Ehemann. Offenbar hat sie da recht… altmodische Vorstellungen.« Tagscheu schob ein Dokument über den Schreibtisch. Mumm nahm es entgegen, entfaltete es und las.

»Falls du vor ihr stirbst, geht alles wieder in den Besitz der Lady über«, erklärte der Anwalt. »Als Erben kämen auch eventuelle Söhne und Töchter in Frage.«

Selbst an dieser Stelle schwieg Mumm. Er spürte nur, wie seine Kinnlade nach unten klappte und ihm irgend etwas das Gehirn verkleisterte.

Tagscheus Stimme erklang wie aus weiter Ferne, als er fortfuhr: »Lady Sybil mag nicht mehr die Jüngste sein, aber sie ist eine gesunde Frau, und es gibt keinen Grund…«

Den Rest der Besprechung überstand Mumm, indem er auf Automatik umschaltete.

Selbst jetzt noch fiel es ihm schwer, darüber nachzudenken. Wenn er es versuchte, drifteten seine Gedanken fort. Sie glitten in eine bestimmte Richtung, wie immer, wenn die Welt zuviel für ihn wurde.

Mumm zog die Schublade des Schreibtischs auf und starrte auf eine glänzende Flasche Jimkin Bärdrückers Sehr Guten Whisky. Er wußte gar nicht mehr, wie sie in die Schublade gelangt war. Irgendwie hatte er es nie geschafft, sie verschwinden zu lassen.

Wenn du damit wieder anfängst, schaffst du es nicht bis zur Pensionierung, warnte er sich selbst. Bleib bei den Zigarren.

Er schloß die Schublade, lehnte sich zurück und holte eine halb gerauchte Zigarette hervor.

Vielleicht konnte es sich die Wache gar nicht leisten, ihn zu verlieren. Politik. Ha! Wächter wie Keppel würden sich im Grab umdrehen, wenn sie von den neuen Rekruten erfuhren…

Und die Welt explodierte.

Das Fenster zerbarst. Glassplitter bohrten sich auf der anderen Seite des Zimmers in die Wand; eine Scherbe schnitt in Mumms Ohr.

Er warf sich zu Boden und rollte unter den Schreibtisch.

Jetzt war das Maß voll! Die verdammten Alchimisten hatten ihr Gildenhaus zum letztenmal in die Luft gejagt, wenn es nach Mumm ging. Doch als er über den Fenstersims blickte, sah er auf der anderen Seite des Flusses eine Rauchwolke über dem Gebäude der Assassinengilde…

 

Die übrigen Wächter eilten über die Filigranstraße, als Mumm den Eingang des Gildenhauses erreichte. Zwei in Schwarz gekleidete Assassinen versperrten ihm den Weg. Sie blieben höflich, gaben jedoch zu erkennen, daß Unhöflichkeit zu den Optionen für die nahe Zukunft gehörte. Hinter dem Tor erklangen die typischen Geräusche hastiger Schritte.

»Seht ihr diese Dienstmarke?« fragte Mumm. »Seht ihr sie?«

»Und wenn schon«, erwiderte ein Assassine. »Dies ist Gildengelände.«

»Im Namen des Gesetzes – laßt uns eintreten!« donnerte Mumm.

Der Assassine lächelte nervös. »Das Gesetz sagt, daß hier bei uns allein die Regeln der Gilde gelten.«

Mumm bedachte ihn mit einem finsteren Blick. Unglücklicherweise hatte er recht. Die Gesetze von Ankh-Morpork reichten – wenn überhaupt – bis zu den Eingangstüren der Gildenhäuser, weiter nicht. Die Gilden hatten ihre eigenen Vorschriften. Die Gilden…

Der Hauptmann unterbrach seine Überlegungen.

Hinter ihm bückte sich Obergefreite Angua und griff nach einem Glassplitter.

Dann scharrte sie mit dem Fuß in dem Durcheinander auf dem Boden.

Kurze Zeit später begegnete sie dem Blick einer kleinen, unscheinbaren Promenadenmischung, die unter einem Karren hockte und sie aufmerksam beobachtete. Der Hund sah aus wie akuter Mundgeruch mit feuchter Nase.

»Wuff, wuff«, sagte der Köter gelangweilt. »Wuff, wuff, wuff. Knurr, knurr.«

Er lief in eine Gasse. Angua sah sich kurz um, bevor sie ihm folgte. Die anderen Wächter standen bei Mumm, der sehr still geworden war.

»Hol das Oberhaupt der Assassinen«, sagte er. »Und zwar sofort

Der junge Assassine versuchte, spöttisch zu lächeln.

»Ha!« erwiderte er. »Mich beeindruckt deine Uniform überhaupt nicht.«

Mumm senkte den Kopf, betrachtete seinen verbeulten Brustharnisch und das recht abgenutzte Kettenhemd.

»Ja«, brummte er. »Dies ist keine sehr beeindruckende Uniform. Tut mir leid. Vortreten, Korporal Karotte und Obergefreiter Detritus.«

Der Assassine merkte, wie es plötzlich finster wurde. Irgend etwas blockierte das Sonnenlicht.

»Nun«, erklang Hauptmann Mumms Stimme hinter der Eklipse, »ich schätze, dies sind beeindruckende Uniformen, nicht wahr?«

Der Assassine nickte langsam. Die Situation bekam einen ganz neuen Aspekt. Für gewöhnlich hielten sich jenseits der Gildenmauern nie Wächter auf. Warum auch? Und normale Wächter waren ohnehin kein Problem. In seiner perfekt geschneiderten, schwarzen Kleidung steckten mindestens achtzehn Vorrichtungen, die das Töten von Personen erleichterten, doch jetzt wurde ihm klar: Obergefreiter Detritus verfügte am Ende seiner Arme über zwei Dinge, die dem gleichen Zweck dienten. Er mußte sie nicht extra hervorholen.

»Ich… äh… gehe jetzt und hole das Gildenoberhaupt, in Ordnung?« fragte er.

Karotte beugte sich vor.

»Das ist sehr freundlich von dir«, erwiderte er ernst.

 

Angua beobachtete den Hund. Und der Hund beobachtete Angua.

Sie ging in die Hocke, als sich das Tier hingebungsvoll am Ohr kratzte.

Mit einem raschen Blick vergewisserte sie sich, daß niemand in der Nähe weilte. Dann bellte sie eine Frage.

»Spar dir die Mühe«, sagte der Hund.

»Du kannst sprechen

»Ach, das erfordert nicht viel Intelligenz«, lautete die Antwort. »Und man muß auch nicht besonders gescheit sein, um zu erkennen, was du bist.«

Panik huschte über Anguas Gesicht.

»Woran zeigt es sich?«

»Am Geruch, Teuerste. Hast du denn nichts gelernt? Ich habe dich schon aus einer Entfernung von anderthalb Kilometern gerochen und dachte mir: Oh-ho, jetzt ist eine von ihnen in der Wache.«

Angua hob den Zeigefinger.

»Wenn du es jemandem verrätst…«

Der Hund wirkte noch etwas kummervoller als vorher.

»Niemand würde mir zuhören«, sagte er.

»Warum?«

»Weil alle davon überzeugt sind, daß Hunde nicht sprechen können. O ja, die Leute hören mich, aber in den meisten Fällen glauben sie, daß es ihre eigenen Gedanken sind.« Der kleine Hund seufzte. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe Bücher gelesen. Besser gesagt: gekaut.«

Wieder kratzte er sich am Ohr. »Mir scheint, wir könnten uns gegenseitig helfen…«

»Wie denn?«

»Nun, was hältst du davon, wenn du mir ein Steak besorgst? Mindestens ein Pfund schwer und schön zart. Steaks haben eine sehr positive Wirkung auf mein Gedächtnis. Sie sorgen dafür, daß ich mich an alles erinnere.«

Angua runzelte die Stirn.

»Das Wort ›Erpressung‹ mögen die Leute nicht«, sagte sie.

»Es gibt noch andere Wörter, die sie nicht mögen«, erwiderte der Hund. »Nimm mich zum Beispiel. Ich leide an chronischer Intelligenz. Was kann ein Hund damit anfangen? Habe ich vielleicht darum gebeten? Nein. Ich habe nur ein gemütliches Plätzchen für die Nacht gesucht, zufälligerweise in der Nähe der Unsichtbaren Universität, besser gesagt: unweit des Forschungstraktes für hochenergetische Magie. Niemand wies mich darauf hin, daß dort die Thaumaturgie leckt. Tja, als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, zischte und sprudelte es wie Sekt in meinem Kopf, und ich überraschte mich beim Denken. Oh, hallo, dachte ich, da seid ihr wieder, abstrakte Vorstellungen und intellektuelle Entwicklung… Was kann ich schon damit anfangen, hm? Als es zum letztenmal geschah, lief es darauf hinaus, daß ich die ganze Welt vor irgendwelchen schrecklichen Dingsbumsdingern aus den Kerkerdimensionen retten mußte, und hat mir vielleicht jemand dafür gedankt? ›Liebes Hündchen, möchtest du einen Knochen?‹ Har, har.« Das Tier hob eine abgewetzte Pfote. »Ich heiße Gaspode. Praktisch jede Woche passiert mir so was. Abgesehen davon bin ich ein ganz normaler Hund.«

Angua gab auf, griff nach der von Motten zerfressenen Pfote und schüttelte sie behutsam.

»Mein Name ist Angua. Und du weißt, was ich bin.«

»Hab’s schon vergessen«, sagte Gaspode.

 

Hauptmann Mumm betrachtete die Trümmer auf dem Hof. Sie lagen vor einem großen Loch in einer der Erdgeschoßkammern. Alle Fenster waren geborsten, und zahllose Glassplitter lagen auf dem Boden. Glas von einem Spiegel. Assassinen standen zwar in dem Ruf, sehr eitel zu sein, aber normalerweise befanden sich Spiegel in einem Zimmer. Diese Fragmente sollten eigentlich in einem Raum liegen, nicht hier draußen.

Mumm sah, wie sich Obergefreiter Knuddel bückte und nach einigen Rollen griff, die mit einem halb verbrannten Seil verschnürt waren.

Ein Stück Pappe lag in dem Durcheinander.

Die Haare auf Mumms Handrücken prickelten.

Er nahm einen charakteristischen Geruch wahr.

Er war bereit zuzugeben, daß er kein besonders guter Polizist war – aber wahrscheinlich wäre ihm das erspart geblieben, da andere Leute darauf hingewiesen hätten. Zu seinen Charaktereigenschaften gehörte eine sture Entschlossenheit, die gewisse wichtige Personen als unangenehm empfanden. Und was gewisse wichtige Personen als unangenehm empfanden, konnte unmöglich Teil der Eigenschaften eines guten Polizisten sein. Wie dem auch sei: Mumm hatte Instinkte entwickelt. Ohne gute Instinkte konnte man auf den Straßen von Ankh-Morpork nicht überleben. Der Dschungel verändert sich auf subtile Weise, wenn ein Jäger eindringt, und eine solche Veränderung spürte Mumm nun in der Stadt.

Etwas geschah, etwas Falsches, aber er wußte nicht genau, wo er danach suchen sollte. Er bückte sich, um das Stück Pappe aufzuheben…

»Was geht hier vor?«

Mumm neigte den Oberkörper wieder nach oben, drehte sich jedoch nicht um.

»Feldwebel Colon, bitte kehre mit Nobby und Detritus zum Wachhaus zurück«, sagte er. »Korporal Karotte und Obergefreiter Knuddel – ihr bleibt bei mir.«

»Zu Befähl!« erwiderte Feldwebel Colon, stampfte mit dem Fuß auf und salutierte zackig, um die Assassinen zu verärgern. Mumm erwiderte den Gruß.

Dann drehte er sich um.

»Ah, Professor Kreuz«, sagte er.

Das Oberhaupt der Assassinengilde war kalkweiß im Gesicht – ein deutliches Zeichen seines Zorns. Die Blässe kontrastierte seine schwarze Kleidung.

»Niemand hat euch gerufen!« zischte Kreuz. »Wer gibt dir das Recht, dich an diesem Ort aufzuhalten, Wächter? Wieso schreitest du durch die Gegend, als wäre das hier dein persönliches Eigentum?«

Mumm zögerte und juchzte innerlich. Er genoß diesen Augenblick. Er hätte ihn gern genommen und in ein großes Buch gelegt, um ihn gelegentlich hervorzuholen und sich an alle Einzelheiten zu erinnern.

Er griff in den Brustharnisch und hielt zwei Sekunden später einen Brief von Anwalt Tagscheu in der Hand.

»Wenn du den wesentlichen Grund erfahren möchtest…«, erwiderte er. »Hier gehört mir tatsächlich alles.«

Man kann jemanden beschreiben, indem man die Dinge aufzählt, die der Betreffende verabscheut. Hauptmann Mumm verabscheute eine Menge. Assassinen standen fast ganz oben auf der Liste, sofort hinter Königen und Untoten.

Er mußte sich allerdings eingestehen, daß sich Professor Kreuz sehr schnell von der Überraschung erholte. Er explodierte nicht, als er den Brief las; er erhob keine Einwände, behauptete nicht einmal, daß es sich um eine Fälschung handelte. Er faltete ihn einfach zusammen, gab ihn zurück und sagte kühl: »Ich verstehe. Grundbesitz, nicht wahr? Auch die Gebäude?«

»In der Tat. Würdest du mir jetzt bitte sagen, was hier passiert ist?«

Mumm sah einige andere hochrangige Assassinen durch das Loch in der Wand auf den Hof treten. Sie schienen in den Trümmern nach etwas zu suchen.

Professor Kreuz zögerte zwei oder drei Sekunden lang.

»Feuerwerkskörper«, sagte er.

 

»Folgendes ist geschehen«, sagte Gaspode. »Jemand hat einen Drachen in eine Kiste gestopft und diese an die Wand des Gildengebäudes gestellt. Dann versteckte sich der Bursche hinter einer Statue, zog an einem Strick und… Bumm!«

»Bumm?«

»Genau. Unser Freund springt durch das Loch, kommt kurze Zeit später wieder zum Vorschein und rennt über den Hof. Von einem Augenblick zum anderen wimmelt’s überall von Assassinen, und er ist mitten unter ihnen. Wem fällt schon ein schwarzgekleideter Mann unter schwarzgekleideten Männern auf.«

»Ist er noch immer da?«

»Woher soll ich das wissen? An schwarzen Kapuzenmänteln herrscht da drüben kein Mangel…«

»Wieso hast du das alles gesehen?«

»Oh, am Mittwochabend mache ich immer einen Abstecher zur Assassinengilde. Verschiedenes vom Grill, verstehst du?« Gaspode seufzte, als er die Verwirrung in Anguas Gesicht sah. »Am Mittwochabend brät der Koch immer dies und das – ›Verschiedenes vom Grill‹. Und stets bleibt die Blutwurst übrig. Ich gehe zur Küche, und dort spielt sich alles so ab: Wuff-wuff, bettel, bettel, o sieh nur den Hund, sitzt dort ganz brav, scheint jedes Wort zu verstehen, der Köter, mal sehen, was wir für ihn haben…«

Verlegen senkte er den Kopf.

»Stolz ist eine Sache, Wurst eine ganz andere«, fügte er hinzu.

 

»Feuerwerkskörper?« wiederholte Mumm.

Professor Kreuz wirkte wie jemand, der im sturmgepeitschten Meer die Hände nach einem vorbeitreibenden Baumstamm ausstreckt.

»Ja. Feuerwerkskörper. Zum Anlaß des… äh… Gründungstags. Leider hat jemand ein brennendes Streichholz weggeworfen, wodurch die Böller alle auf einmal hochgingen.« Professor Kreuz lächelte plötzlich. »Tja, mein lieber Hauptmann Mumm…« Er klatschte in die Hände. »Ich weiß deine Besorgnis natürlich zu schätzen, aber…«

»Die Feuerwerkskörper lagerten in dem Zimmer dort drüben?« fragte Mumm.

»Ja, doch das spielt eigentlich keine Rolle…«

Mumm trat an das Loch in der Wand und blickte in den Raum. Zwei Assassinen sahen zu Kreuz hinüber und tasteten unauffällig nach bestimmten Stellen an ihrer schwarzen Kleidung.

Das Oberhaupt der Gilde schüttelte den Kopf. Seine Vorsicht mochte etwas damit zu tun haben, daß Karotte die rechte Hand aufs Schwertheft legte. Vielleicht lag es auch einfach am Ehrenkodex der Assassinen: Sie hielten es für unehrenhaft, jemanden zu töten, ohne dafür bezahlt zu werden.

»Das scheint eine Art… Museum zu sein«, sagte Mumm. »Denkwürdigkeiten der Gilde und so?«

»Genau. Und so. Dies und das. Krimskrams. Du weißt schon: Dinge, die sich im Lauf der Zeit ansammeln.«

»Oh«, entgegnete Mumm. »Nun, ich glaube, hier ist alles in bester Ordnung. Entschuldige bitte, daß ich deine Zeit in Anspruch genommen habe, Professor. Ich hoffe, du hattest deshalb keine Unannehmlichkeiten.«

»Natürlich nicht! Es war mir eine Freude, dich zu beruhigen.«

Mit sanftem Nachdruck geleitete man die Wächter zum Tor.

»An eurer Stelle würde ich das Glas wegräumen«, sagte Mumm und sah sich noch einmal auf dem Platz um. »An den vielen Scherben könnte sich jemand verletzen. Und ich möchte nicht, daß jemand von euch zu Schaden kommt.«

»Wir schaffen hier sofort Ordnung, Hauptmann«, versprach Professor Kreuz.

»Gut, gut. Herzlichen Dank.« Im Tor verharrte Mumm noch einmal und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Oh, meine Güte, seit einiger Zeit ist mein Gedächtnis wie ein Sieb… Du hast von einem Diebstahl gesprochen. Was wurde gestohlen?«

In der Miene des Gildenoberhaupts rührte sich kein Muskel.

»Ich habe nichts als gestohlen gemeldet, Hauptmann.«

Mumm starrte ihn einige Sekunden lang an.

»Ach? Oh. Entschuldigung. Es liegt am Streß, nehme ich an. Zuviel Arbeit. Bis dann.«

Dicht hinter ihm fiel die große Tür ins Schloß.

»Also gut«, sagte Mumm.

»Hauptmann, was…«, begann Karotte. Mumm hob die Hand.

»Das wär’s dann wohl«, sagte er etwas lauter als nötig. »Es besteht kein Anlaß zur Sorge. Kehren wir zum Wachhaus zurück. Wo ist Obergefreite Wiehießsienoch?«

»Hier, Hauptmann«, sagte Angua und kam aus einer nahen Gasse.

»Hast dich versteckt, wie? Und was ist das

»Wuff-wuff, jaul-jaul.«

»Ein kleiner Hund, Hauptmann.«

»Meine Güte.«

 

Das Läuten der großen, korrodierten Inhumierungsglocke hallte durch den Gebäudekomplex der Assassinengilde. In Schwarz gekleidete Gestalten erschienen aus allen Richtungen, und in ihrer Hast, den Hof zu erreichen, stießen sie sich gegenseitig beiseite.

Vor dem Büro von Professor Kreuz versammelte sich der Gildenrat. Der Stellvertreter des Oberhaupts, Herr Witwenmacher, klopfte zaghaft an die Tür.

»Herein.«

Die Räte kamen der Aufforderung nach.

Kreuz’ Büro war der größte Raum im ganzen Gildenhaus. Besuchern erschien es immer falsch, daß es bei der Gilde so viele große und helle Zimmer gab. Dadurch wirkte das ganze Anwesen wie ein vornehmer Club und nicht wie ein Ort, an dem tagtäglich der Tod geplant wurde.

Fröhliche Jagdbilder hingen an den Wänden, doch wenn man genau hinsah, erkannte man, daß nicht etwa Füchse oder Hirsche die Beute waren. Kupferstiche, Radierungen und einige neumodische ikonographische Bilder präsentierten die Gilde: lange Reihen von lächelnden Gesichtern über schwarzen Kutten. Die jüngsten Assassinen saßen vorn im Schneidersitz, und einer von ihnen schnitt eine Grimasse6.

Vor der einen Wand erstreckte sich ein langer Mahagonitisch, an dem sich die Ältesten der Gilde einmal pro Woche versammelten. Die andere Seite des Raums enthielt Kreuz’ private Bibliothek und eine kleine Werkbank. Darüber hing ein Arzneischrank mit Hunderten von kleinen Schubladen. Die Schilder darauf waren im Assassinencode beschriftet, aber Fremde wären ohnehin nicht auf den Gedanken gekommen, hier nach einem Mittel gegen Kopfschmerzen zu suchen.

Vier Säulen aus schwarzem Granit stützten die Decke. Hineingemeißelt waren die Namen berühmter Assassinen aus vergangenen Epochen. Kreuz’ Schreibtisch stand so, daß die Säulen genau an den vier Ecken aufragten. Dort wartete das Gildenoberhaupt und sah den Neuankömmlingen entgegen.

»Ich möchte, daß ein Anwesenheitsappell durchgeführt wird«, sagte er scharf. »Hat jemand das Gelände verlassen?«

»Nein, Herr.«

»Wie kannst du da so sicher sein?«

»Die Wächter auf den Dächern in der Filigranstraße haben niemanden gesehen, der die Gilde betrat oder verließ.«

»Wer beobachtet die Wächter?«

»Sie beobachten sich gegenseitig, Herr.«

»Na schön. Hört gut zu. Ich möchte, daß alles in Ordnung gebracht wird. Falls jemand aus irgendwelchen Gründen das Gelände verlassen muß, wird er begleitet, klar? Niemand geht allein irgendwohin. Außerdem veranlasse ich hiermit eine gründliche Durchsuchung des Gebäudes. Habt ihr verstanden?«

»Wonach soll gesucht werden, Professor?«

»Nach allem, das… versteckt ist. Wenn ihr etwas findet und nicht wißt, was es damit auf sich hat, benachrichtigt sofort den Rat. Und rührt das Ding nicht an.«

»Aber Professor, im Gildenhaus sind zahllose Dinge versteckt…«

»Dieses versteckte Ding ist anders als alle anderen versteckten Dinge, kapiert?«

»Nein, Herr.«

»Gut. Und kein Wort davon zu den blöden Wächtern. Du, Junge… bring mir meinen Hut.« Professor Kreuz seufzte. »Ich schätze, ich muß dem Patrizier Bescheid geben.«

»Tut mir leid, Herr.«

 

Der Hauptmann schwieg, bis sie die Messingbrücke überquert hatten.

»Nun, Korporal Karotte«, sagte er, »ich habe dich mehrmals darauf hingewiesen, wie wichtig das Beobachten ist, nicht wahr?«

»Ja, Hauptmann. Deinen diesbezüglichen Bemerkungen habe ich immer große Beachtung geschenkt.«

»Na schön. Was hast du also beobachtet?«

»Ein Spiegel ging zu Bruch. Alle wissen, daß Assassinen Spiegel mögen. Aber wenn jener Raum eine Art Museum ist… Wieso befand sich dort ein Spiegel?«

»Bitte, Herr.«

»Wer hat das gesagt?«

»Ich. Hier unten. Ich bin’s, Obergefreiter Knuddel.«

»Oh, ja. Ja?«

»Ich kenne mich ein bißchen mit Feuerwerkskörpern aus. Wenn sie abbrennen oder explodieren, entsteht ein ganz besonderer Geruch. Der fehlte bei der Gilde. Dort hat’s ganz anders gestunken.«

»Gut… gerochen, Knuddel.«

»Und dort lag ein halb verbranntes Seil mit Rollen dran.«

»Ich habe Drachen gerochen«, sagte Mumm.

»Im Ernst, Hauptmann?«

»Ja.« Mumm verzog das Gesicht. Wer etwas Zeit in der Gesellschaft von Lady Käsedick verbrachte, fand schnell heraus, wie Drachen rochen. Wenn der erstaunte Besucher beim Essen plötzlich einen schuppigen Kopf auf dem eigenen Schoß vorfand, versuchte er, die Ruhe zu bewahren und ihm den einen oder anderen Leckerbissen zu geben – in der Hoffnung, daß der Sumpfdrache keinen Schluckauf bekam.

»In dem Zimmer stand ein gläserner Behälter«, fuhr Mumm fort. »Er wurde zertrümmert. Ha! Um etwas zu stehlen. Draußen auf dem Hof lag ein Stück Pappe, aber jemand ließ es verschwinden, als ich mit dem alten Kreuz sprach. Hundert Dollar gäbe ich, um zu erfahren, was darauf geschrieben stand.«

»Warum, Hauptmann?« fragte Karotte.

»Weil der verdammte Kreuz etwas verheimlicht.«

»Ich weiß, wodurch das Loch in der Wand entstanden sein könnte«, warf Angua ein.

»Ach?«

»Durch einen explodierenden Drachen.«

Während der nächsten Schritte herrschte verblüfftes Schweigen.

»Das wäre möglich, Hauptmann«, sagte der loyale Karotte. »Manchmal platzen die kleinen Teufel schon auseinander, wenn sie sich nur erschrecken.«

»Ein Drache«, murmelte Mumm. »Wie kommst du darauf, Obergefreite Angua?«

Angua zögerte. Die Antwort »Ein Hund hat’s mir erzählt« hielt sie nicht für besonders klug. Darunter konnte ihre Karriere beim Militär leiden.

»Weibliche Intuition?« erwiderte sie vorsichtig.

»Nun«, sagte Mumm, »gibt dir die Intuition vielleicht auch einen Hinweis, was gestohlen wurde?«

Angua zuckte mit den Schultern, und Karotte beobachtete interessiert, wie sich dabei ihre Brust bewegte.

»Ein Gegenstand, den die Assassinen an einem Ort aufbewahrten, wo sie ihn ständig betrachten konnten?« spekulierte sie.

»O ja.« Mumm nickte. »Und gleich behauptest du noch, der Hund hätte alles gesehen, wie?«

»Wuff?«

 

Edward d’Eath zog die Vorhänge zu, verriegelte die Tür und lehnte sich dagegen. Es war so leicht gewesen!

Das Bündel lag auf dem Tisch: dünn, etwa hundertzwanzig Zentimeter lang.

Edward packte das Objekt aus und starrte voller Ehrfurcht darauf hinab.

Es sah genauso aus wie auf der Zeichnung. Typisch für den Mann… Dutzende detaillierter Diagramme von Armbrüsten, und dies am Rand, als wäre es völlig unwichtig.

Ein einfaches Prinzip steckte dahinter. Warum war der Gegenstand überhaupt versteckt worden? Vielleicht deshalb, weil sich die Leute davor fürchteten. Der Macht begegneten sie immer mit Furcht. Sie weckte Unbehagen in ihnen.

Edward griff nach dem Objekt, hielt es eine Zeitlang fest und stellte fest, daß es sich gut an Schulter und Arm schmiegte.

Du gehörst mir.

Und das war das Ende von Edward d’Eath, mehr oder weniger. Er starb nicht etwa, zumindest nicht sofort, aber etwas anderes nahm seinen Platz ein, etwas, das nicht mehr dachte wie ein Mensch.

 

Es war fast Mittag. Feldwebel Colon hatte die neuen Rekruten zum Schießstand bei Indeckung geführt.

Mumm und Karotte gingen Streife.

Der Hauptmann spürte, wie es in ihm brodelte. Etwas kratzte an seinen verrosteten, aber noch funktionierenden Instinkten und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Alles in ihm drängte danach, sich zu bewegen. Diesmal fiel es Karotte schwer, nicht den Anschluß zu verlieren.

In der Straße vor dem Gildenhaus begegneten sie drei Assassinenlehrlingen, die noch immer damit beschäftigt waren, die Trümmer zu beseitigen.

»Assassinen am hellichten Tag«, knurrte Mumm. »Bin überrascht, daß sie nicht zu Staub zerfallen.«

»Du verwechselst sie mit Vampiren«, erwiderte Karotte.

»Ha! Du hast recht. Assassinen und Diebe mit Lizenzen und verdammte Vampire! Ach, einst war dies eine großartige Stadt, Junge.«

Ganz unbewußt fielen sie in den Patrouillenschritt.

»Als es noch Könige gab, Hauptmann?«

»Könige? Könige? Lieber Himmel, nein!«

Zwei Assassinen drehten sich verwirrt um.

»Wenn du’s genau wissen willst…«, sagte Mumm. »Ein Monarch ist ein absoluter Herrscher. Gewissermaßen der Ober-Honcho…«

»Es sei denn, es handelt sich um eine Königin«, warf Karotte ein.

Mumm durchbohrte ihn mit einem finsteren Blick, bevor er nickte.

»In Ordnung: die Ober-Honchette…«

»Was natürlich nur gilt, wenn sie eine junge Frau ist. Allerdings neigen Königinnen dazu, älter zu sein. In dem Fall wäre es eine… Honcharina? Nein, diese Bezeichnung paßt nur auf eine sehr junge Prinzessin. Nein… äh… Es müßte Honchesa heißen, glaube ich.«

Mumm zögerte. Es ist die besondere Atmosphäre in dieser Stadt, dachte er. Hätte der Schöpfer in Ankh-Morpork gesagt: »Es werde Licht!«, wäre er von den Bürgern sofort mit der Frage »In welcher Farbe?« unterbrochen worden.

»Der oberste Herrscher, einverstanden?« schlug der Hauptmann vor und setzte sich wieder in Bewegung.

»Einverstanden.«

»Das ist doch nicht richtig, oder? Ich meine, ein einzelner Mann entscheidet über Leben und Tod.«

»Nun, wenn es ein guter Mann ist…«, begann Karotte.

»Was? Was? Na schön. Laß uns einmal annehmen, der oberste Herrscher beabsichtigt, sich an gute, ehrenwerte Prinzipien zu halten. Aber gilt das auch für seinen Stellvertreter? Das solltest du besser hoffen. Denn er ist ebenfalls der oberste Herrscher, im Namen des Königs. Und der ganze Rest des Hofes… muß sich ebenfalls aus guten Leuten zusammensetzen. Gehört auch nur ein schlechter Mann dazu, ist das Resultat Bestechung und Vetternwirtschaft.«

»Der Patrizier ist ein oberster Herrscher«, meinte Karotte. Er nickte einem Troll zu. »Guten Tag, Herr Karfunkel.«

»Aber er trägt weder eine Krone, noch sitzt er auf einem Thron«, sagte Mumm. »Er teilt seinen Untertanen auch nicht mit, es sei richtig, daß er regiert. Ich hasse den Kerl, doch eins muß man ihm lassen: Er ist ehrlich. So ehrlich wie ein Korkenzieher.«

»Trotzdem, ein guter Mann als König…«

»Ja? Und dann? Königliches vergiftet das Bewußtsein, Junge. Ehrliche Männer fangen an, sich zu verbeugen, nur weil der Großvater von irgend jemandem mehr Burschen umgebracht hat als ihrer. Hör mir gut zu! Vielleicht hatten wir mal gute Könige! Aber Königen folgen weitere Könige! Und früher oder später – meistens früher – führt diese Entwicklung zu Großvätern, die mehr Leute umgebracht haben als andere. Und damit nicht genug. Sie hacken Königinnen den Kopf ab und kämpfen dauernd gegen die Vettern! Jahrhundertelang ging das so. Bis jemand aufstand und sagte: ›Wir wollen keine Könige mehr!‹ Daraufhin erhoben wir uns alle, um die verdammten Adligen zu vertreiben, und wir zerrten den König vom Thron, und wir brachten ihn zum Hier-gibt’s-alles-Platz, und dort enthaupteten wir ihn, jawohl. Wurde auch höchste Zeit!«

»Donnerwetter«, sagte Karotte. »Wer war es?«

»Wen meinst du?«

»Den Mann, der aufstand und sagte: ›Wir wollen keine Könige mehr!‹«

Die Passanten starrten sie groß an, und Mumms Gesichtsfarbe wandelte sich: Aus dem Rot des Zorns wurde das Rot der Verlegenheit. Doch eigentlich gab es dabei keinen nennenswerten Unterschied.

»Oh. Er war damals Kommandant der Stadtwache«, murmelte Mumm. »Sie nannten ihn ›Altes Steingesicht‹.«

»Hab’ nie von ihm gehört«, sagte Karotte.

»Nun… äh… in den Geschichtsbüchern wird er kaum erwähnt«, erklärte Mumm. »Manchmal gibt es einen Bürgerkrieg, und nachher beschließt man, so zu tun, als wäre überhaupt nichts geschehen. Manchmal müssen gewisse Leute eine gewisse Pflicht erfüllen, um anschließend vergessen zu werden. Altes Steingesicht schwang die Axt. Niemand sonst war dazu bereit. Immerhin war es ein königlicher Hals. Könige sind etwas Besonderes.« Der Hauptmann verlieh diesem Wort einen verächtlichen Klang. »Dieser Meinung waren die Leute selbst dann noch, nachdem sie die privaten Gemächer gesehen und dort… aufgeräumt hatten. In der Welt aber wollte niemand Ordnung schaffen. Bis auf Steingesicht. Er nahm die Axt, verfluchte alle und erledigte das, was erledigt werden mußte.«

»Wie hieß der König?« fragte Karotte.

»Lorenzo der Nette«, antwortete Mumm leise.

»Im Palastmuseum habe ich Bilder von ihm gesehen. Ein dicker alter Mann. Umgeben von vielen Kindern.«

»O ja«, sagte Mumm langsam. »Kinder mochte er sehr.«

Karotte winkte einigen Zwergen zu.

»Von dieser Sache höre ich jetzt zum erstenmal. Bisher dachte ich, es sei zu einer heimtückischen Rebellion gekommen.«

Der Hauptmann zuckte mit den Schultern. »Man muß die Geschichtsbücher schon sehr aufmerksam lesen, wenn man die Wahrheit erfahren will.«

»Und das war das Ende der Könige von Ankh-Morpork?«

»Ich glaube, ein Sohn überlebte. Und einige verrückte Verwandte. Man verbannte sie. Für Majestäten soll das schrecklich sein. Warum eigentlich? frage ich mich.«

»Nun, dir gefällt die Stadt, nicht wahr?«

»Ja«, bestätigte Mumm. »Aber wenn ich die Wahl hätte zwischen Verbannung und einem abgehackten Kopf, so würde ich nicht zögern, die Koffer zu packen. Es ist gut, daß es keine Könige mehr gibt. Andererseits… die Stadt funktionierte.«

»Das ist nach wie vor der Fall«, sagte Karotte.

Sie kamen an der Assassinengilde vorbei, und kurz darauf erreichten sie die hohen, düsteren Mauern der Narrengilde an der anderen Ecke des Blocks.

»Nein, sie existiert nur. Ich meine, sieh dir nur das da oben an.«

Karotte hob gehorsam den Blick.

Wo sich der Breite Weg und die Alchimistenstraße trafen, stand ein vertrautes Gebäude. Die Fassade hatte viele Verzierungen, doch die meisten verbargen sich unter einer dicken Patina aus Schmutz. Oben nisteten Steinfiguren.

Die vom Zahn der Zeit angenagte Inschrift über dem Portikus lautete:

 

WEDER REGEN NOCH SCHNEE ODER SONST ETWAS KANN ABHALTIGEN DIESE BOTEN VON IHRE PFLICHT.

 

Früher mochte das tatsächlich der Fall gewesen sein, doch vor kurzer Zeit hatte jemand ein Schild mit folgenden Worten hinzugefügt:

 

ABGESEHEN FON:

Felsen

Trollen mit Stökken

Allen Arten fon Drachen

Frau Kuchen

Grossigen grünen Dingen mit Zähnen

Schwarzen Hunden mit orangschfarbenen Brauen

Spanielregen

Nebel.

Frau Kuchen

 

»Oh«, sagte Karotte. »Die königliche Post.«

»Das Postamt«, korrigierte Mumm. »Von meinem Großvater weiß ich: Einst konnte man hier einen Brief aufgeben und sicher sein, daß er innerhalb eines Monats zugestellt wurde. Man brauchte ihn keinem Zwerg zu geben, in der Hoffnung, daß der kleine Mistkerl ihn nicht verspeist…«

Mumm unterbrach sich.

»Äh. Entschuldige. Ich wollte dich nicht beleidigen.«

»Oh, keine Sorge«, erwiderte Karotte fröhlich.

»Eigentlich habe ich nichts gegen Zwerge. Man muß lange suchen, bevor man geschicktere, gesetzestreuere, fleißigere…«

»… kleine Mistkerle findet?«

»Ja. Nein!«

Sie setzten den Weg im Patrouillenschritt fort.

»Jene Frau Kuchen…«, sagte Karotte nach einer Weile. »Scheint sehr willensstark zu sein, wie?«

»Und ob«, erwiderte Mumm.

Etwas knirschte unter Karottes großer Sandale.

»Noch mehr Glas«, stellte er fest. »Selbst hier, ein ganzes Stück von der Assassinengilde entfernt.«

»Explodierende Drachen! Das Mädchen hat vielleicht Phantasie…«

»Wuff-wuff«, erklang eine Stimme hinter ihnen.

»Der blöde Hund ist uns gefolgt«, sagte Mumm.

»Er bellt die Mauer an«, meinte Karotte.

Gaspode bedachte sie mit einem kühlen Blick.

»Wuff-wuff, meine Güte, jaul-jaul«, sagte er. »Seid ihr blind oder was?«

Normale Leute hörten keine Worte von Gaspode, weil gewöhnliche Hunde nicht sprechen. Das ist eine allgemein bekannte Tatsache. Dieses Wissen ist ein integraler Bestandteil der intellektuell-organischen Struktur, wie andere allgemein bekannte Tatsachen. Sie haben Vorrang gegenüber allen Informationen, die von den Sinnen übermittelt werden. Aus gutem Grund: Wenn die Leute ständig darauf achten würden, was um sie herum geschieht, brächte niemand mehr etwas zustande.7

Außerdem spricht die überwiegende Mehrheit der Hunde wirklich nicht. Die sprechenden Exemplare sind nur ein statistischer Fehler, den man getrost ignorieren kann.

Gaspode hatte inzwischen herausgefunden, daß man ihn auf einem unterbewußten Niveau hörte. Am vergangenen Tag hatte ihn zum Beispiel jemand getreten und dann nach einigen Schritten gedacht: Ich bin doch ein echter Mistkerl.

»Da oben ist etwas«, sagte Karotte. »Sieh nur… An der Steinfigur hängt was Blaues.«

»Wuff-wuff, wuff! Wollt ihr euch das Ding nun aus der Nähe ansehen oder nicht?«

Mumm kletterte auf Karottes Schultern und streckte die Hände an der Wand hoch, doch er erreichte den blauen Streifen nicht.

Die Steinfigur drehte ein Auge in seine Richtung.

»Wenn du bitte so freundlich wärst…«, sagte Mumm. »Es hängt an deinem Ohr.«

Stein schabte über Stein, als die Figur eine Hand hob und das Etwas von seinem Ohr löste.

»Danke.«

»Keine Urfache.«

Mumm kehrte auf den Boden zurück.

»Diese Steinfiguren gefallen dir, nicht wahr, Hauptmann?« fragte Karotte, als sie fortgingen.

»Ja. Es sind natürlich Trolle – eine Subspezies –, aber sie bleiben unter sich, erscheinen nur selten unterhalb des ersten Stocks und verüben keine Verbrechen, von denen jemand etwas erfährt. Solche Leute mag ich.«

Er sah sich den blauen Streifen an.

Das Ding erwies sich als der Rest eines Halsbands. Unter dem Ruß zeichnete sich das Wort »Chubby« ab.

»Meine Güte!« brachte Mumm hervor. »Es ist tatsächlich ein Drache explodiert!«

 

An dieser Stelle soll der gefährlichste Mann der Scheibenwelt vorgestellt werden.

Nie hat er einem lebenden Geschöpf ein Leid zugefügt. Ein paar sind von ihm seziert worden, aber erst nach ihrem Tod8. Bei diesen Gelegenheiten staunte er, wie gut alles zusammenpaßte, was er um so bemerkenswerter fand, weil nur ungelernte Arbeit dahintersteckte. Mehrere Jahre lang blieb er in einem großen, luftigen Zimmer, was ihn jedoch kaum belastete: Die meiste Zeit verbrachte er ohnehin im eigenen Kopf. Bestimmte Personen lassen sich nicht einsperren.

Er hatte herausgefunden, daß eine Stunde Gymnastik pro Tag gesunden Appetit schuf und die Verdauung förderte. Derzeit saß er auf einem von ihm selbst erfundenen Apparat.

Die Vorrichtung bestand aus einem Sattel über einer Tretkurbel, die über eine Kette ein hölzernes Rad antrieb. Ein metallener Ständer hielt es über dem Boden. Ein zweites Holzrad vor dem Sattel konnte mittels einer Steuerstange gedreht werden. Das zweite Rad und die Stange hatte der Mann hinzugefügt, um den Apparat leichter hin und her schieben zu können. Außerdem ergab es eine hübsche Symmetrie.

Er nannte seine Erfindung »Das-Rad-mit-Pedalen-drehen-und-noch-ein-Rad-Maschine«.

 

Lord Vetinari arbeitete ebenfalls.

Normalerweise saß er im Rechteckigen Büro oder auf dem einfachen Holzstuhl am unteren Ende der Treppe im Palast. Dahinter führten Stufen zu einem prunkvollen und verstaubten Thron empor. Es war der Thron von Ankh-Morpork, und er bestand zum größten Teil aus Gold. Vetinari hatte nie davon geträumt, dort Platz zu nehmen.

Es herrschte gutes Wetter, und deshalb arbeitete er im Garten.

Für viele Besucher in Ankh-Morpork war es eine große Überraschung, daß der Palast des Patriziers von ausgedehnten Gartenanlagen umgeben war.

Der Patrizier gehörte sicher nicht zu den gärtnerisch veranlagten Personen. Aber einige seiner Vorgänger hatten solche Neigungen entfaltet, und Lord Vetinari veränderte oder zerstörte nie etwas, wenn es keinen zwingenden Grund dafür gab. Er behielt sowohl den kleinen Zoo als auch den Rennpferdstall. Darüber hinaus akzeptierte er, daß die Gärten ganz offensichtlich von historischem Interesse waren.

Sie verdankten ihre Existenz dem Absolut Bekloppten Johnson.

Viele Landschaftsgestalter sind in die Geschichte eingegangen und haben ein sehr substantielles Verhältnis in Form von Parkanlagen, die sie mit fast göttlichem Weitblick entworfen hatten, hinterlassen. Sie schufen Seen, Hügel und Wälder, ermöglichten es zukünftigen Generationen, die erhabene Pracht einer vom Menschen unterworfenen Natur zu bewundern. Einige der besten Künstler waren: der Fähige Braun, der Weise Schmitt, der Intuitive Wolfgang von Torfschaufel…

In Ankh-Morpork war der Absolut Bekloppte Johnson tätig gewesen.

Der Absolut Bekloppte »Derzeit sieht’s noch nicht besonders toll aus, aber warte nur fünfhundert Jahre« Johnson. Der Absolut Bekloppte »Ich habe bei den Plänen nicht oben und unten verwechselt; das muß später passiert sein« Johnson. Der Absolut Bekloppte Johnson: Er ließ zweitausend Tonnen Erde herbeischaffen, um vor der Villa von Quirm einen künstlichen Hügel zu errichten. Seine Erklärung lautete: »Es würde mich in den Wahnsinn treiben, von morgens bis abends nichts anderes zu sehen als ein paar Bäume und in der Ferne die Berge.«

Die Palastgärten von Ankh-Morpork galten als Höhepunkt seiner Karriere – falls eine solche Bezeichnung überhaupt angemessen war. Zum Beispiel der Forellenteich: Er war hundertfünfzig Meter lang, und einer der geringfügigen Schreibfehler – ein charakteristisches Merkmal von Johnsons Entwürfen – beschränkte die Breite auf einen Zoll. Der Teich war die Heimat einer Forelle, die sich kaum über einen Mangel an Gemütlichkeit beklagen konnte, solange sie nicht versuchte, sich umzudrehen. Zu Anfang hatte es auch einen Zierbrunnen gegeben: Als man ihn das erste Mal ausprobierte, ächzte er etwa fünf Minuten, um schließlich einen kleinen steinernen Engel dreihundert Meter hoch zu schleudern.

Und dann das Hoho. Ein Hoho ist wie ein Haha, nur tiefer. Was es mit einem Haha auf sich hat? Es ist ein verborgener Graben, der Grundbesitzern einen weiten Blick über ihr Land gestattet, ohne daß sie dabei durch die Präsenz von Vieh oder irgendwelchen armen Leuten auf dem Rasen gestört werden. Der launische Planungsstift des Absolut Bekloppten Johnson sorgte für einen fünfzehn Meter tiefen Graben, dem bereits drei Gärtner zum Opfer gefallen waren.

Und das Labyrinth… Es war so klein, daß sich die Leute bei der Suche danach verirrten.

Doch der Patrizier fand auf eine stille Art und Weise Gefallen an den Gärten. Er hatte seine eigenen Ansichten über die Mentalität der meisten Menschen, und der Park bestätigte ihn in seiner Meinung.

Rechts und links von seinem Stuhl stapelte sich Papier. Bedienstete fügten neue Blätter hinzu und trugen welche fort. Es waren besondere Bedienstete, und sie nahmen besondere Aufgaben wahr. Alle Arten von Informationen strömten in den Palast, doch an einem Ort kam alles zusammen wie Spinnfäden im Zentrum eines Netzes.

Viele Herrscher – gute, schlechte und in vielen Fällen tote – wußten, was geschehen war. Einige wenige fanden mit viel Mühe heraus, was vorging. Lord Vetinari glaubte, daß es sowohl den einen als auch den anderen an Ehrgeiz fehlte.

»Ja, Professor Kreuz«, sagte er, ohne aufzusehen.

Wie stellt er das nur an? dachte Kreuz verblüfft. Ich habe nicht das geringste Geräusch gemacht…

»Äh, Havelock…«, begann er.

»Möchtest du mir etwas mitteilen, Professor?«

»Es ist… weg.«

»Ja. Und zweifellos sucht ihr danach. In Ordnung. Ich wünsche dir noch einen guten Tag.«

Der Patrizier drehte nicht einmal den Kopf, geschweige denn, daß er die Frage stellte, was »weg« war. Er weiß Bescheid, dachte das Oberhaupt der Assassinengilde. Wieso kann man ihm nie etwas sagen, das er noch nicht weiß?

Lord Vetinari legte ein Blatt Papier beiseite und nahm ein anderes.

»Du bist immer noch da, Professor Kreuz.«

»Ich versichere dir, daß wir…«

»Oh, da bin ich sicher. Völlig klar. Allerdings beschäftigt mich in diesem Zusammenhang eine Frage.«

»Herr?«

»Wieso befand sich der gestohlene Gegenstand im Gildenhaus? Wenn ich mich recht entsinne, habe ich die Anweisung erteilt, ihn zu zerstören.«

Kreuz hatte gehofft, daß ihm diese Frage erspart blieb. Sie berührte einen wunden Punkt.

»Äh. Wir… das heißt, mein Vorgänger hielt es für eine gute Idee, das Objekt als warnendes Beispiel aufzubewahren.«

Der Patrizier sah auf und lächelte.

»Prächtig!« erwiderte er. »Ich bin immer davon überzeugt gewesen, daß Beispiele eine große Wirkung haben. Damit meine ich auch Beispiele wie ›ein Exempel statuieren‹. Nun, du bist bestimmt in der Lage, das Problem schnell zu lösen, ohne daß sich weitere Schwierigkeiten ergeben.«

»Gewiß, Herr«, sagte der Assassine kummervoll. »Aber…«

 

Es wurde Mittag.

Der Mittag in Ankh-Morpork dauerte eine Weile, denn die genaue Uhrzeit – zwölf Uhr – mußte per Mehrheitsbeschluß festgestellt werden. Als erste Glocke läutete für gewöhnliche die der Lehrergilde; sie reagierte damit auf die Gebete der Gildenmitglieder. Anschließend löste die Wasseruhr auf dem Tempel der Geringen Götter einen großen Bronzegong aus. Die schwarze Glocke im Tempel des Schicksals schlug einmal, und zwar ganz unerwartet. Unmittelbar darauf klimperte das Carillon der Narrengilde, und das Läuten der anderen Gilden gesellte sich hinzu. Es entstand ein akustisches Durcheinander, in dem sich keine der Glocken mehr voneinander unterscheiden ließen. Mit Ausnahme der magischen Oktironglocke im Turm der Unsichtbaren Universität. Der klöppellose alte Tom schuf zwölf laute Stillen, die alles übertönten.

Zum Schluß erklang die Glocke der Assassinengilde.

Neben dem Patrizier summte eine Sonnenuhr zweimal und fiel dann um.

»Was wolltest du sagen?« fragte Lord Vetinari.

»Hauptmann Mumm«, brachte Kreuz hervor. »Er stellt Ermittlungen an.«

»Natürlich. Das ist seine Pflicht.«

»Tatsächlich? Ich verlange von dir, daß du ihm den Befehl gibst, sich nicht mit dieser Angelegenheit zu befassen.«

Die Worte hallten durch den Park. Einige Tauben erschraken und flogen hoch.

»Du… verlangst?« fragte der Patrizier freundlich.

Professor Kreuz trat einen Schritt zurück, Verzweiflung zitterte in ihm. »Er steht in deinen Diensten«, sagte er. »Warum sollte es ihm erlaubt sein, sich in Dinge einzumischen, die ihn nichts angehen?«

»Er glaubt, nicht mir zu dienen, sondern dem Gesetz«, erwiderte der Patrizier.

»Er ist ein Wichtigtuer und ein arroganter Emporkömmling!«

»Meine Güte. Ich sehe mich außerstande, deine intensiven Gefühle zu teilen. Aber ich nehme den Hauptmann an die Kandare, wenn du solchen Wert darauf legst.«

»Danke.«

»Schon gut. Und jetzt möchte ich dich nicht länger aufhalten.«

Der Patrizier winkte vage, und Professor Kreuz ging in die entsprechende Richtung.

Lord Vetinari nahm weitere Blätter zur Hand und sah nicht auf, als in der Ferne ein gedämpfter Schrei erklang. Er griff nach einer kleinen silbernen Glocke und läutete kurz.

Ein Bediensteter eilte herbei.

»Hol die Leiter, Drumknott«, sagte er. »Professor Kreuz scheint ins Hoho gefallen zu sein.«

 

Die Hintertür der Werkstatt öffnete sich mit einem leisen Knarren. Bjorn Hammerhock warf einen kurzen Blick nach draußen, um festzustellen, ob jemand seine Dienste in Anspruch nehmen wollte.

Er schauderte und schloß die Tür.

»Ist windig geworden«, sagte er zu der anderen anwesenden Person. »Nun, vielleicht läßt dadurch die Hitze nach.«

Die Decke der Werkstatt schwebte nur anderthalb Meter über dem Boden. Für einen Zwerg genügte das völlig.

AU, sagte eine Stimme, die niemand hörte.

Hammerhock betrachtete den auf der Werkbank festgeklemmten Gegenstand und griff nach einem Schraubenzieher.

AU.

»Erstaunlich«, murmelte der Zwerg. »Wenn man diese Röhre in den Lauf schiebt… Ich glaube, dann bewegen sich die sechs Kammern. Ja, dann gleitet eine von ihnen vor… vor die Feueröffnung. Soweit scheint alles klar zu sein. Was den Auslöser betrifft… Eigentlich ist der Mechanismus nur eine Art Zunderbüchse. Die Feder – hier – ist durchgerostet. Ich kann sie leicht ersetzen.« Er sah auf. »Weißt du, dies ist ein sehr interessanter Apparat. Die Chemikalien in den Röhren… Ein ganz einfaches Prinzip. Was stellt das Objekt dar? Vielleicht das Werkzeug eines Clowns? Möglicherweise die neue Version eines lustigen Stocks?«

Er suchte in einer Dose mit Abfällen aus Metall, fand ein geeignetes Stück und nahm die Feile zur Hand.

»Später würde ich gern die eine oder andere Zeichnung davon anfertigen«, fügte er hinzu.

Etwa dreißig Sekunden später knallte es, und eine Rauchwolke stieg auf.

Bjorn Hammerhock erhob sich und schüttelte den Kopf.

»Na, so was«, brachte er hervor. »Das hätte böse enden können.«

Er versuchte, den Rauch fortzufächern, und griff dann erneut nach der Feile.

Seine Hand fuhr hindurch.

ÄHEM.

Bjorn versuchte es noch einmal.

Die Feile war ebenso substanzlos wie der Rauch.

»Wie?«

ÄHEM.

Der Eigentümer des seltsamen Objekts wirkte entsetzt, sein Blick galt etwas auf dem Boden. Bjorn sah nach unten.

»Oh«, sagte er. Eine Erkenntnis, die bisher am Rande des Bewußtseins gewartet hatte, schob sich nun in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Dies war ein Aspekt des Todes: Wenn es einen selbst traf, gehörte man zu den ersten, die davon erfuhren.

Der Besucher nahm den Apparat von der Werkbank und verstaute ihn hastig in einem Stoffbeutel. Dann sah er sich rasch um und zerrte die Leiche des Herrn Hammerhock durch die Tür zum Fluß.

Kurz darauf platschte es – soweit man beim Ankh von einem Platschen sprechen konnte.

»Lieber Himmel«, sagte Bjorn. »Ich kann überhaupt nicht schwimmen.«

DAS IST JETZT KEIN PROBLEM MEHR, erwiderte Tod.

Bjorn musterte ihn.

»Du bist viel kleiner, als ich dachte.«

DAS SCHEINT NUR SO, WEIL ICH VOR DIR KNIE, HERR HAMMERHOCK.

»Das verdammte Ding hat mich umgebracht!«

JA.

»So was passiert mir zum erstenmal.«

ES IST ÜBERHAUPT ZUM ERSTENMAL GESCHEHEN. ABER VERMUTLICH NICHT ZUM LETZTENMAL.

Tod stand auf; Knochen knackten und klickten. Er stieß nicht mit dem Kopf an die Decke, weil die Decke nicht mehr existierte. Die letzten Konturen des Zimmers verflüchtigten sich.

Es gab auch Zwergengötter. Zwerge waren keine von Natur aus religiöse Spezies, aber sie lebten in einer Welt, die mit einstürzenden Stollen und Grubengas drohte. Unter solchen Umständen brauchte man Götter als übernatürliches Äquivalent für Helme. Und wenn man sich mit einem vier Kilo schweren Hammer auf die Finger haut, ist es eine große Erleichterung, richtig fluchen zu können. Nur besonders hartgesottene Atheisten bringen es fertig, mit unter die Achsel geklemmter Hand umherzuhüpfen und dabei zu schreien: »Oh, ihr verfluchten Zufälligen-Fluktuationen-im-Raum-Zeit-Kontinuum!« Oder: »Aaargh, du verdammtes Primitives-und-unzeitgemäßes-Konzept-an-das-nur-Dummköpfe-glauben!«

Bjorn vergeudete keine Zeit mit Fragen. Wenn man tot war, bekamen gewisse Dinge eine neue Bedeutung.

»Ich glaube an die Reinkarnation«, sagte er.

ICH WEISS.

»Ich habe versucht, ein gutes Leben zu führen. Hilft das?«

DAS HÄNGT NICHT VON MIR AB. Tod hüstelte. ABER DA DU AN DIE REINKARNATION GLAUBST… WAHRSCHEINLICH WIRST DU WIEDERGEBJORN.

Er wartete.

»Verstehe«, murmelte Bjorn schließlich. Zwerge sind für ihren Humor bekannt. Man sagt zum Beispiel: »Die kleinen Mistkerle haben nicht den geringsten Sinn für Humor.«

ÄH. HAST DU IN MEINER BEMERKUNG ETWAS LUSTIGES ENTDECKT?

»Oh, nein. Nein, ich glaube nicht.«

ES WAR EIN WORTSPIEL. BJORN – WIEDERGEBJORN.

»Ja?«

IST DIR DAS AUFGEFALLEN?

»Nicht sofort.«

OH.

»Tut mir leid.«

MAN HAT MICH AUFGEFORDERT, ALLES ETWAS FRÖHLICHER ZU GESTALTEN.

»Wiedergebjorn.«

JA.

»Ich denke darüber nach.«

DANKE.

 

»Also gut«, sagte Feldwebel Colon. »Dies hier, Männer, ist euer Schlagstock. Manche Leute bezeichnen ihn auch als Knüttel oder Prügel.« Er legte eine kurze Pause ein und versuchte, sich an seine Zeit beim Militär zu erinnern. Nach einigen Sekunden strahlte er.

»Hund von jetzt an seid ihr hunzertrennlich!« rief er. »Ihr werdet damit hessen. Ihr werdet damit hschlafen. Ihr…«

»Entschuldigung.«

»Wer hat das gesagt?«

»Hier unten. Ich bin’s, Obergefreiter Knuddel.«

»Ah. Nun, was willst du?«

»Wie essen wir damit, Feldwebel?«

Colons aufgedrehter Machismo verlor abrupt an Schwung. Er brachte dem Obergefreiten Knuddel ausgeprägtes Mißtrauen entgegen. Er argwöhnte, daß der Obergefreite ein Unruhestifter war.

»Was?«

»Benutzen wir ihn als Messer oder als Gabel? Oder sollen wir ihn durchbrechen, um mit Stäbchen zu essen?«

»Wovon redest du da?«

»Entschuldigung, Feldwebel.«

»Was ist denn, Obergefreite Angua?«

»Wie sollen wir damit schlafen?«

»Nun, ich… äh… Korporal Nobbs, hör sofort auf zu lachen!« Colon rückte seinen Brustharnisch zurecht und beschloß, eine neue rhetorische Richtung einzuschlagen.

»Nuuun, hier haben wir eine große Puppe, auch Marionette hoder Bildnis genannt.« Er deutete auf ein mehr oder weniger humanoides Etwas aus Leder und Stroh. Es war an einem Pfahl befestigt. »Sein Spitzname ist Harthur, an ihm können wir den Umgang mit Hwaffen üben. Vortreten, Obergefreite Angua. Sag mir, Obergefreite: Könntest du einen Mann umbringen?«

»Wieviel Zeit habe ich dafür?«

Es kam zu einer kurzen Verzögerung, weil man Nobbs wieder hochhelfen mußte. Mehrere Hände klopften ihm auf den Rücken, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte.

»Nun gut«, brummte Colon. »Man hält den Schlagstock so. Auf den Befehl eins hin nähert man sich Harthur, und bei zwei gibt man ihm eins auf die Rübe.« Er wandte sich an Angua. »Hundeins… Hundzwei…«

Der Schlagstock prallte an Arthurs Helm ab.

»Gut. Nur ein Fehler. Hat ihn jemand bemerkt?«

Die Rekruten schüttelten den Kopf.

»Von hinten«, sagte Feldwebel Colon. »Man schlägt von hinten zu. Hat doch keinen Sinn, ein Risiko einzugehen, oder? Versuch du’s, Obergefreiter Knuddel.«

»Aber…«

»Na los.«

Sie beobachteten ihn.

»Vielleicht sollten wir ihm einen Stuhl besorgen«, schlug Angua nach peinlichen fünfzehn Sekunden vor.

Detritus kicherte.

»Er zu klein für Wächter«, knirschte der Troll.

Obergefreiter Knuddel hörte auf, auf und ab zu springen.

»Tut mir leid, Feldwebel«, sagte er. »Zwerge gehen ganz anders vor.«

»Aber so gehen Wächter vor«, betonte Feldwebel Colon. »Na schön. Obergefreiter Detritus – nicht salutieren! –, jetzt bist du dran.«

Detritus hielt den Schlagstock zwischen… zwischen Daumen und Zeigefinger, soweit diese Bezeichnungen bei ihm zutrafen. Er rammte das Ding auf Arthurs Helm und starrte dann nachdenklich auf den Stumpf des Stocks hinab. Anschließend ballte er etwas, das hier in Ermangelung eines besseren Wortes »Faust« genannt werden soll, schlug zu und trieb Arthurs Pfahl einen Meter tief in den Boden.

»Jetzt der Zwerg kann noch einmal versuchen«, kommentierte er.

Es folgten weitere peinliche Sekunden, bis sich Feldwebel Colon räusperte.

»Nun, wir können wohl davon ausgehen, daß er diese Ausbildungsstufe hinter sich gebracht hat«, sagte er. »Schreib auf, Korporal Nobbs: Dem Obergefreiten Detritus – nicht salutieren! – wird ein Dollar von seinem Sold abgezogen, wegen Verlust des Schlagstocks. Außerdem soll man dem Gegner später noch Fragen stellen können.«

Er betrachtete die Reste von Arthur.

»Wenden wir uns nun der feinen Kunst des Bogenschießens zu«, brummte er.

 

Nur ein Streifen Leder war von Chubby übrig, und Lady Sybil Käsedick blickte darauf hinab.

»Wer sollte einem armen kleinen Drachen so etwas antun?« fragte sie.

»Wir versuchen, es herauszufinden«, erwiderte Mumm. »Es wäre denkbar, daß man ihn in unmittelbarer Nähe einer Mauer festband und dort… zur Explosion brachte.«

Karotte beugte sich über die Wand eines Pferchs.

»Kutschikutschi-ku«, sagte er. Eine freundliche Flamme versengte ihm die Brauen.

»Ich meine, er war völlig zahm und ganz sanft«, fuhr Lady Käsedick fort. »Hätte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun können.«

»Wie bringt man einen männlichen Sumpfdrachen zum Explodieren?« fragte Mumm. »Indem man ihn tritt?«

»Dadurch verliert man höchstens das Bein«, entgegnete Sybil.

»Gibt es keine andere Möglichkeit, bei der man unverletzt bleibt?«

»Nein, eigentlich nicht. Einfacher wär’s, dafür zu sorgen, daß sich der Drache selbst zur Explosion bringt. Wirklich, Sam, mir erscheint das alles absurd…«

»Ich frage dich, weil ich Bescheid wissen muß.«

»Nun… Um diese Jahreszeit kämpfen die männlichen Drachen. Sie… äh… plustern sich auf, verstehst du? Imponiergehabe und so. Deshalb halte ich sie getrennt voneinander.«

Mumm schüttelte den Kopf. »Chubby war allein.«

Hinter ihm beugte sich Karotte über den nächsten Pferch, in dem ein birnenförmiger, männlicher Drache ein Auge öffnete und ihn anstarrte.

»Achwasbistdudochfüreinlieberkerl«, sagte er. »Bestimmt habe ich irgendwo ein Stück Kohle für dich.«

Der Drache öffnete auch das andere Auge, blinzelte und war plötzlich hellwach. Er legte die Ohren an. Er blähte die Nüstern. Er entfaltete die Flügel. Er holte tief Luft. Säuren gurgelten in seinem Bauch, als sich diverse Ventile öffneten. Seine Brust dehnte sich…

Mumm prallte in Brusthöhe gegen Karotte und riß ihn zu Boden.

Im Pferch blinzelte der Drache erneut. Seltsam: Der Gegner war verschwunden. Er hatte ihn in die Flucht geschlagen!

Er entspannte sich wieder und spie eine große Flamme.

Mumm nahm die Hände vom Kopf und rollte zur Seite.

»Warum hast du mich umgestoßen, Hauptmann?« fragte Karotte. »Es bestand doch gar keine Gefahr…«

»Der Bursche da drin wollte einen Drachen angreifen!« rief Mumm. »Und zwar einen, der nicht zurückwich!«

Er stemmte sich hoch und klopfte auf Karottes Brustharnisch.

»Du hast das Ding auf Hochglanz poliert«, stellte er fest. »Der Drache hat sich darin gesehen.«

»Oh, das meinst du«, ließ sich Lady Sybil vernehmen. »Jeder weiß, daß man Spiegel besser von Sumpfdrachen fernhält…«

»Spiegel«, wiederholte Karotte. »He, die vielen Glassplitter auf dem Boden…«

»Ja«, bestätigte Mumm. »Jemand zeigte Chubby einen Spiegel.«

»Der arme Kerl hat versucht, sich selbst zu besiegen«, sagte Karotte. »Und das ist ihm auch gelungen.«

»Wir haben es hier mit jemandem zu tun, der nicht ganz richtig im Kopf ist«, meinte Mumm.

»Ach du meine Güte! Im Ernst?«

»Ja.«

»Aber… Das kann unmöglich stimmen. Nobby war doch die ganze Zeit über bei uns.«

»Ich spreche nicht von Nobby«, sagte Mumm hart. »Was immer er mit einem Drachen anstellen würde – er brächte ihn sicher nicht zur Explosion. Mein Junge, auf dieser Welt gibt es seltsamere Leute als Korporal Nobbs.«

Auf Karottes Gesicht rangen Faszination und Entsetzen miteinander.

»Potzblitz«, erwiderte er.

 

Feldwebel Colon blickte über den Schießstand, nahm den Helm ab und wischte sich Schweiß von der Stirn.

»Äh, Obergefreite Angua sollte auf weitere Übungen mit dem Langbogen verzichten, bis sie… äh… sich dabei nicht mehr selbst im Weg ist.«

»Entschuldigung, Feldwebel.«

Sie drehten sich zu Detritus um, der verlegen hinter einem Haufen zerbrochener Langbögen stand. Armbrüste kamen für ihn nicht in Frage – in den gewaltigen Händen des Trolls wirkten sie wie Haarnadeln. Der Langbogen mußte in seinen Pranken eigentlich eine tödliche Waffe sein. Doch er hatte noch nicht gelernt, die Sehne im richtigen Augenblick loszulassen.

Detritus zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid«, sagte er. »Bögen keine Trollwaffe sind.«

»Ha!« entfuhr es Colon. »Und was dich betrifft, Obergefreiter Knuddel…«

»Ich komme einfach nicht mit dem Zielen zurecht, Feldwebel.«

»Ich dachte, Zwerge sind berühmt für ihr Kampfgeschick!«

»Ja, stimmt«, erwiderte Knuddel. »Aber auf anderem Gebiet.«

»Hinterhalt«, brummte Detritus.

Wenn ein Troll murmelt, hallt die Stimme selbst von weit entfernten Hauswänden wider.

Knuddel schnaufte. »Du verdammter Troll! Ich zeige dir, was…«

»Nun«, sagte Colon rasch, »ich schätze, wir sollten diesen Teil der Ausbildung beenden. Ihr müßt eben… irgendwie zurechtkommen, wenn’s ernst wird.«

Er seufzte. Feldwebel Colon war kein boshafter Mann, aber er hatte den größten Teil seines Lebens als Soldat und Wächter verbracht, und nun fühlte er sich ausgenutzt. Allein das veranlaßte ihn zu den nächsten Bemerkungen.

»Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Dauernd streitet ihr euch und zerbrecht die eigenen Waffen… Ich meine, hat das alles einen Sinn? Es ist jetzt fast Mittag. Nehmt euch einige Stunden frei und kehrt heute abend zurück. Wenn ihr glaubt, es sei die Mühe wert.«

Mit einem leisen Boing! ging Knuddels Armbrust los. Der Bolzen raste dicht an Korporal Nobbs’ Ohr vorbei und blieb im Schlamm des Flusses stecken.

»Entschuldigung«, sagte Knuddel.

»Ts, ts«, erwiderte Feldwebel Colon.

Das war das schlimmste. Wenn er den Zwerg wenigstens ordentlich verflucht hätte. Aber er schien nicht zu glauben, daß Knuddel auch nur ein Schimpfwort verdiente.

Er drehte sich um und verließ den Pseudopolisplatz.

Die Rekruten hörten einige letzte, gebrummte Worte.

»Was er gesagt?« fragte Detritus.

»Tolle Männer«, schnaubte Angua und lief rot an.

Knuddel spuckte auf den Boden – sein Speichel brauchte keinen weiten Weg zurückzulegen. Anschließend griff er unter die Jacke und vollbrachte das gleiche Wunder wie ein Zauberkünstler, der ein Kaninchen der Größe 10 aus einem Hut der Größe 5 zieht: Er hielt plötzlich eine geradezu riesige, doppelschneidige Streitaxt in den Händen. Und damit lief er los.

Als er das jungfräuliche Ziel erreichte, war er kaum mehr als ein Schemen. Es knackte, und einen Sekundenbruchteil später explodierte die Puppe wie ein nuklearer Heuhaufen.

Die anderen beiden Rekruten traten näher und betrachteten das Ergebnis, während Spreu zu Boden rieselte.

»Ja, gut«, sagte Angua nach einer Weile. »Aber der Feldwebel sagte, man sollte den Leuten später noch Fragen stellen können.«

»Er hat nicht darauf hingewiesen, daß die Leute auch in der Lage sein müssen, die Fragen zu beantworten«, erwiderte Knuddel grimmig.

»Obergefreiter Knuddel, dir abgezogen wird ein Dollar vom Sold wegen Ziel zerstören«, sagte Detritus, der wegen der Langbögen bereits mit elf Dollar in der Kreide stand.

»›Wenn ihr glaubt, es sei die Mühe wert!‹« wiederholte Knuddel und ließ die Axt unter der Jacke verschwinden. »Und dann das mit den Männern… Speziesist!«

»Ich glaube, er hat es nicht so gemeint«, spekulierte Angua.

»Ha, du hast leicht reden«, entgegnete Knuddel.

»Wieso?«

»Du bist ein Mensch«, knirschte Detritus.

Angua war klug genug, darüber einige Sekunden nachzudenken.

»Ich bin eine Frau«, sagte sie.

»Wo ist da der Unterschied?«

»Nun…« Angua beschloß, das Thema zu wechseln. »Ich schlage vor, wir trinken was zusammen.«

Die kurze Phase von Kameradschaft ging abrupt zu Ende.

»Ich soll mit einem Troll trinken?«

»Ich mit einem Zwerg trinken?«

»Na schön«, sagte Angua. »Wie wär’s, wenn ihr beide etwas mit mir trinkt?«

Sie nahm den Helm ab und schüttelte ihr Haar. Weibliche Trolle haben keine Haare; auf ihrem Kopf wachsen höchstens einige Flechten. Und weibliche Zwerge zeichnen sich durch ihre seidenweichen Bärte aus. Aber vielleicht ließ der Anblick von Anguas Haar in Troll und Zwerg eine kosmische Männlichkeit erwachen, die auf gemeinsame Vorfahren zurückging.

»Bisher hatte ich kaum Gelegenheit, mich in der Stadt umzusehen«, fuhr Angua fort. »Doch ich glaube, es gibt ein geeignetes Lokal in der Schimmerstraße.«

Das bedeutete, sie mußten den Fluß überqueren. Das bedeutete, zwei von ihnen mußten die Passanten darauf hinweisen, daß sie nicht mit mindestens einem der anderen beiden zusammen waren. Das bedeutete, daß sie sich immer wieder argwöhnisch umsahen.