»Wieso? Er hat ihn erkannt. Ist doch klar. So identifiziert man Personen. Man sieht sie an und sagt: Das ist der oder die. An-se-hen und er-ken-nen«, betonte das Gildenoberhaupt. »Es war Beano, kein Zweifel. Boffo meint, er habe sehr besorgt gewirkt.«

»Ah. Gut. Ich habe keine weiteren Fragen. Das heißt, noch eine: Hatte Beano Freunde bei den Assassinen?«

»Das ist durchaus möglich. Besuche sind bei uns nicht verboten.«

Karotte sah den Oberclown einige Sekunden an. Dann lächelte er.

»Na schön. Das wär’s dann wohl.«

»Wenn er doch nur bei originellen Dingen geblieben wäre«, sagte Weißgesicht.

»Zum Beispiel bei Sahnetorten?« fragte Feldwebel Colon. »Oder bei einem Eimer Tünche über der Tür?«

»Genau.«

»Wir gehen jetzt besser.« Karotte wandte sich noch einmal an Weißgesicht. »Ich nehme an, du möchtest keine Anzeige gegen die Assassinengilde erstatten, oder?«

Herr Weißgesicht gab sich alle Mühe, erschrocken auszusehen, doch das ist nicht leicht, wenn man sich ein breites Grinsen auf den Mund gemalt hat.

»Was? Nein! Ich meine… wenn ein Assassine in unsere Gilde eingedrungen wäre und etwas gestohlen hätte… dann könnte uns niemand etwas vorwerfen, wenn wir…«

»Wenn ihr ihm Marmelade aufs Hemd kippt?« fragte Angua.

»Oder ihm einen Quietschbeutel auf den Kopf haut?« fügte Colon hinzu.

»Vielleicht.«

»Nun, über solche Dinge haben allein die Gilden zu befinden«, sagte Karotte. »Ich glaube, wir können jetzt gehen, Feldwebel. Hier gibt’s für uns nichts mehr zu tun. Bitte, entschuldige die Störung, Herr Weißgesicht. Das muß alles sehr schwer für dich gewesen sein.«

Dem Gildenoberhaupt war die Erleichterung deutlich anzusehen.

»Oh, schon gut. Hat mich sehr gefreut, euch helfen zu können. Ihr tut doch nur eure Pflicht.«

Er führte Karotte, Colon und Angua die Treppe hinunter und auf den Hof, wo sich die anderen inzwischen rege unterhielten. Es klirrte und knirschte, als die Wächter Haltung annahmen.

»Nun…«, sagte Karotte, als sich das Tor vor ihnen öffnete. »Wenn ich noch eine letzte Bitte an dich richten dürfte, Herr Weißgesicht.«

»Natürlich.«

»Ich möchte nicht frech oder dreist erscheinen, aber ich war schon immer sehr an Gildenbräuchen interessiert. Wenn mir jemand euer Museum zeigen könnte…«

»Wie bitte?«

»Das Clown-Museum.«

»Oh, du meinst den Saal der Gesichter. Das ist kein Museum. Natürlich kannst du den Saal besuchen. Dort gibt es keine Geheimnisse. Schreib’s auf, Boffo. Wir sind jederzeit bereit, dir den Saal zu zeigen, Korporal.«

»Herzlichen Dank, Herr Weißgesicht.«

»Jederzeit…«

»Nun, mein Dienst ist gerade zu Ende«, sagte Karotte. »Und da ich schon einmal hier bin…«

»Du kannst doch nicht deinen Dienst beenden, während…«, begann Colon. Er beendete den Satz mit einem überraschten »Au«.

»Wie bitte, Feldwebel?«

»Du hast mich getreten!«

»Ich bin dir versehentlich auf die Sandale getreten, Feldwebel. Tut mir leid.«

Colon versuchte, im Gesicht des jungen Mannes irgendeine verborgene Botschaft zu erkennen. An den schlichten und einfachen Karotte hatte er sich gewöhnt. Aber der komplizierte Karotte… Es mußte genauso entnervend sein, wenn man von einer Ente überfallen wurde.

»Nun… äh… wir gehen jetzt, in Ordnung?« schlug er vor.

»Ja«, erwiderte Karotte und zwinkerte mehrmals. »Jetzt ist alles klar. Und ich habe jetzt dienstfrei und sehe mir den Saal an.«

Er spähte zu den Dächern empor.

»Oh, gut, freut mich sehr, daß alles klar ist«, entgegnete Colon. »Dann können wir ja gehen. Nicht wahr, Nobby?«

»Oh… äh… ja, wir können gehen, weil alles klar ist«, sagte Nobby. »Hast du gehört, Knuddel?«

»Daß jetzt alles klar ist?« vergewisserte sich der Zwerg. »Ja. Es bedeutet, daß wir gehen können. Meinst du nicht auch, Detritus?«

Detritus stützte sich mit den Fingerknöcheln auf dem Boden ab und starrte ins Leere: die typische Haltung eines Trolls, der auf den nächsten Gedanken wartet.

Die Silben seines Namens sorgten dafür, daß ein Neuron widerstrebend aktiv wurde.

»Was?« brummte Detritus.

»Es ist alles klar

»Was sein klar?«

»Alles. Du weißt schon. Herrn Hammerhocks Tod und der ganze Rest.«

»Tatsächlich sein klar?«

»Ja!«

»Oh.«

Detritus dachte eine Zeitlang darüber nach und kehrte in die Apathie zurück.

Bis ein weiteres Neuron aktiv wurde.

»Gut«, sagte er.

Knuddel beobachtete ihn einige Sekunden.

»Das wär’s«, murmelte er schließlich. »Mehr hören wir nicht von ihm.«

»Ihr seht mich bald wieder«, versprach Karotte der Truppe. »Können wir jetzt mit der Tour beginnen, Herr Weißgesicht?«

»Meinetwegen«, erwiderte der Oberclown. »Schaden kann es nicht. Zeig Korporal Karotte den Saal, Boffo.«

»Sehr wohl«, erwiderte der kleine Clown.

»Als Clown hat man sicher einen tollen Job«, spekulierte Karotte.

»Hat man das?«

»Ich meine, ist sicher sehr lustig.« Boffo lächelte schief.

»Nun… manchmal hat es auch seine guten Seiten, ein Clown zu sein.«

»Davon bin ich überzeugt.«

 

»Hast du oft Wachdienst?« fragte Karotte im Plauderton, als sie durchs Gebäude der Narrengilde schlenderten.

»Ha!« antwortete Boffo. »Praktisch die ganze Zeit über.«

»Nun, sein Freund, der Assassine… wann kam er zu Besuch?«

»Du weißt davon?«

Karotte nickte. »Ja.«

»Vor etwa zehn Tagen«, sagte Boffo. »Wir müssen hier entlang, am Tortenwurfstand vorbei.«

»Er hatte Beanos Namen vergessen, wußte jedoch, wo sich seine Kammer befand«, fuhr Karotte fort. »Auch an die Zimmernummer erinnerte er sich nicht, dennoch kannte er den Weg.«

»Stimmt«, bestätigte Boffo. »Ich nehme an, Herr Weißgesicht hat dir alles erzählt.«

»Ich habe mit Herrn Weißgesicht gesprochen«, sagte Karotte.

Angua verstand allmählich, wie Karotte Auskünfte einholte: Er fragte, ohne Fragen zu stellen. Er teilte den Leuten einfach mit, was er dachte oder vermutete, und seine Gesprächspartner füllten die Lücken bei dem Versuch, rhetorisch nicht den Anschluß zu verlieren. Außerdem ließ er sich nie zu einer direkten Lüge hinreißen.

Boffo öffnete eine Tür und zündete umständlich Kerzen an.

»Da sind wir. Ich bin für diesen Raum zuständig – wenn ich nicht gerade am blöden Tor Wache halten muß.«

»Bei den Göttern!« hauchte Angua. »Wie schrecklich.«

»Ich finde es sehr interessant«, sagte Karotte.

»Es ist historisch«, erläuterte Boffo.

»Die vielen kleinen Köpfe…«

Zahllose Clownsgesichter bildeten lange Reihen in den Regalen. Es sah aus, als hätten Kopfjäger plötzlich einen bizarren Sinn für Humor entwickelt und den Wunsch die Welt zu verbessern.

»Eier«, sagte Karotte. »Gewöhnliche Hühnereier. Man nimmt ein Hühnerei, bohrt an beiden Enden ein Loch hinein und bläst das Ei aus. Im Anschluß daran malt ein Clown seine Schminkmaske auf das Ei; dadurch wird sie offiziell. Niemand sonst darf sie benutzen. Dieser Punkt ist sehr wichtig. Einige Gesichter sind schon seit Generationen im Besitz einer Familie. Das Gesicht eines Clowns kann sehr wertvoll sein. Stimmt’s, Boffo?«

Der Clown starrte ihn an.

»Woher weißt du das alles?«

»Hab’s in einem Buch gelesen.«

Angua griff nach einem alten Ei. Auf einem kleinen Schild daran standen zehn oder mehr Namen. Alle waren durchgestrichen, bis auf den letzten. Die verstrichene Zeit hatte die Tinte der ersten Namen in einen blassen Schatten verwandelt. Vorsichtig stellte Angua das Ei ins Regal zurück und wischte sich unbewußt die Hände an der Uniform ab.

»Was passiert, wenn ein Clown das Gesicht eines anderen Clowns kopiert?« fragte sie.

»Wir vergleichen alle neuen Eier mit denen, die bereits in den Regalen stehen«, erklärte Boffo. »Übereinstimmungen sind nicht gestattet.«

Sie wanderten durch die Gänge zwischen den vielen Gesichtern. Angua glaubte, das Quatschen von Millionen mit Sahnetorten gefüllten Hosen zu hören, die Echos von tausend Tröten. Sie sah eine Million grinsender Mienen, die eigentlich nicht lächelten. Etwa auf halbem Weg durch den Saal gelangten sie zu einem Alkoven. Er enthielt einen Tisch, einen Stuhl, ein Regal mit alten Mappen und eine Werkbank mit verkrusteten Farbtöpfen, buntem Roßhaar, Pailletten und anderen für das Bemalen von Eiern erforderlichen Utensilien. Karotte griff nach einem Bündel Roßhaar und drehte es nachdenklich hin und her.

»Angenommen…«, sagte er, »angenommen, ein Clown mit eigenem Gesicht möchte das Gesicht eines anderen Clowns benutzen.«

»Wie bitte?« erwiderte Boffo.

»Angenommen, jemand verwendet die Schminke eines anderen Clowns«, sagte Angua.

»Oh, das passiert immer wieder«, sagte Boffo. »Die Leute leihen sich oft Klatsche von den Kollegen aus.«

»Klatsche?« wiederholte Angua.

»Schminke«, übersetzte Karotte. »Nein, Boffo, ich meine: Könnte sich ein Clown so zurechtmachen, daß er wie ein anderer Clown aussieht?«

Tiefe Falten bildeten sich auf Boffos Stirn, als er versuchte, eine für ihn absurde Frage mit Sinn zu füllen.

»Bitte?«

»Wo ist Beanos Ei, Boffo?«

»Hier auf dem Tisch«, antwortete der kleine Clown. »Seht es euch ruhig an.«

Er zeigte ein Ei mit einer knollenförmigen Nase und rotem Haar. Karotte hob es ins Licht und holte einige rote Strähnen hervor.

»Aber…« Angua suchte nach den richtigen Worten, damit Boffo verstand. »Könntest du nicht morgens aufwachen und dich so schminken, daß du wie ein anderer Clown aussiehst?«

Einige Sekunden lang sah Boffo sie stumm an. Sein Make-up schuf eine starre Maske des Kummers, deshalb veränderte sich sein Gesichtsausdruck kaum. Trotzdem spürte Angua plötzlich eine besondere Kühle, als hätte sie dem kleinen Clown vorgeschlagen, mit einem Huhn intim zu werden.

»Wie sollte ich dazu imstande sein?« erwiderte Boffo. »Dann wäre ich nicht mehr ich selbst.«

»Könnte jemand anders so etwas tun?«

Wasser spritzte aus Boffos Knopfloch.

»Solches Gerede brauche ich mir nicht anzuhören!«

»Bedeutet das, daß kein Clown jemals auf den Gedanken käme, das Gesicht eines anderen Clowns zu benutzen?« vergewisserte sich Karotte.

»Geht das schon wieder los?«

»Und wenn ein junger Clown durch Zufall…«

»Wir sind anständige Leute, klar?«

»Entschuldigung«, sagte Karotte. »Ich glaube, ich verstehe jetzt. Als wir den armen Beano fanden, fehlte ihm die Perücke; vielleicht hat sie ihm der Fluß vom Kopf gerissen. Aber seine Nase… Du hast Feldwebel Colon gesagt, jemand hätte seine Nase genommen, seine richtige Nase.« Im ruhigen, freundlichen Ton eines Mannes, der mit einem Einfaltspinsel redet, fügte der Korporal hinzu: »Würdest du uns bitte deine richtige Nase zeigen, Boffo?«

Der Clown hob die Hand zu seiner großen roten Nase.

»Aber das ist…«, begann Angua.

»… seine richtige Nase«, beendete Karotte den Satz. »Danke.«

Boffo beruhigte sich ein wenig.

»Ihr solltet jetzt besser gehen«, sagte er. »Solche Sachen gefallen mir nicht. Sie regen mich auf.«

»Entschuldigung«, sagte Karotte noch einmal. »Weißt du, ich habe eine Idee. Zunächst war alles nur eine Vermutung, doch inzwischen bin ich ziemlich sicher. Ich glaube, ich kenne den Täter. Doch ich mußte die Eier sehen, um Gewißheit zu erlangen.«

»Behauptest du etwa, ein anderer Clown hätte Beano umgebracht?« fragte Boffo empört. »In dem Fall wäre ich gezwungen…«

»Nein«, erwiderte Karotte. »Der Täter ist kein Clown in dem Sinne. Aber ich kann dir sein Gesicht zeigen.«

Er nahm etwas aus dem Durcheinander auf dem Tisch. Anschließend wandte er sich zu Boffo um und öffnete die Hand. Er stand mit dem Rücken zu Angua, und sie konnte nicht erkennen, was er dem Clown zeigte. Boffo gab einen erstickten Schrei von sich und rannte durch den langen Gang, vorbei an Regalen mit Gesichtern. Seine großen Schuhe quietschten und klackten auf den steinernen Fliesen.

»Danke«, sagte Karotte. »Du warst mir eine große Hilfe.«

Er schloß die Hand wieder und sah seine Begleiterin an.

»Komm. Wir sollten diesen Ort besser verlassen. Ich fürchte, in einigen Minuten sind wir hier nicht mehr sehr beliebt.«

»Was hast du ihm gezeigt?« fragte Angua, als sie in einer Mischung aus Würde und Hast zum Tor zurückkehrten. »Du bist hierhergekommen, um etwas zu finden, stimmt’s? Es ging dir gar nicht darum, das Museum der Clowns zu sehen…«

»Oh, ich habe mich tatsächlich dafür interessiert«, entgegnete Karotte. »Ein guter Wächter sollte immer aufgeschlossen für neue Erfahrungen sein.«

Sie erreichten das Tor, ohne daß strafende Torten aus der Dunkelheit flogen.

Draußen auf der Straße lehnte sich Angua an die Mauer. Die Luft roch hier angenehmer, soweit man das von der Luft in Ankh-Morpork behaupten konnte. Außerhalb der Gilde lachten die Leute auch, ohne dafür bezahlt zu werden.

»Ich weiß noch immer nicht, was Boffo so sehr entsetzt hat«, sagte Angua.

»Ich habe ihm einen Mörder gezeigt«, erklärte Karotte. »Und es tut mir leid. Mit einer solchen Reaktion habe ich nicht gerechnet. Ich schätze, die Leute sind derzeit ein wenig gereizt. Es ist wie mit Zwergen und ihren Werkzeugen. Alle denken auf ihre eigene Art und Weise.«

»Du hast das Gesicht des Mörders im Saal gefunden?«

»Ja.«

Karotte öffnete die Hand.

Sie enthielt ein unbemaltes Ei.

»Er sieht so aus«, meinte der junge Mann.

»Er hat kein Gesicht

»Jetzt denkst du wie ein Clown«, erwiderte Karotte. »Ich mit meinem schlichten Gemüt sehe die Sache folgendermaßen. Jemand aus der Assassinengilde wollte kommen und gehen, ohne aufzufallen. Er stellte fest, daß eine ziemlich dünne Wand die beiden Gilden voneinander trennte. Er hatte dort ein Zimmer und brauchte nur herauszufinden, wer auf der anderen Seite wohnte. Später brachte er Beano um und nahm ihm die Perücke und die Nase ab – die richtige Nase. Das entspricht der Denkweise der Clowns. Die Schminke war sicher nicht das Problem; die kann man sich überall besorgen. In der Maske von Beano betrat er die Gilde und machte dort ein Loch in die Wand. Im Anschluß daran schlenderte er in der Aufmachung eines Assassinen zum Hof vor dem Museum. Er nahm sich das… Gfähr und kehrte hierher zurück. Erneut kletterte er durch das Loch, zog sich um und verließ die Gilde als Beano. Und dann kam jemand, um ihn umzubringen.«

»Boffo meinte, Beano hätte besorgt gewirkt«, sagte Angua.

»Das finde ich seltsam, denn man muß einen Clown aus unmittelbarer Nähe betrachten, um seinen tatsächlichen Gesichtsausdruck zu erkennen. Aber vermutlich fällt er einem eher auf, wenn die Schminke nicht ganz perfekt ist. Wenn sie zum Beispiel von jemandem aufgetragen wurde, der sich damit nicht besonders gut auskennt. Aber noch wichtiger ist folgender Punkt: Wenn ein anderer Clown beobachtete, wie Beanos Gesicht durchs Tor ging, dann hat er gesehen, wie die Person Beano die Gilde verließ. Für Clowns ist es unvorstellbar, daß jemand anders sein Gesicht benutzt. Ohne Schminke existiert ein Clown überhaupt nicht. Clowns benutzen die Gesichter ihrer Kollegen ebensowenig wie Zwerge die Werkzeuge eines anderen Zwergs.«

»Klingt riskant«, kommentierte Angua.

»Oh, es war riskant. Sehr sogar.«

»Karotte? Was willst du jetzt unternehmen?«

»Wir sollten in Erfahrung bringen, wessen Zimmer sich auf der anderen Seite des Loches befindet. Vielleicht gehört es Beanos Freund.«

»Wir sollen der Assassinengilde einen Besuch abstatten? Nur wir beide?«

»Äh. Guter Hinweis.«

Karotte wirkte so niedergeschlagen, daß Angua nachgab.

»Wie spät ist es?« fragte sie.

Behutsam holte der junge Mann die für Hauptmann Mumm bestimmte Uhr hervor.

»Es ist…«

Abing, abong, abong, bong… bing… bing…

Sie warteten geduldig, bis der Lärm aufhörte.

»Viertel vor sieben«, sagte Karotte. »Sie geht absolut genau. Ich habe sie nach der großen Sonnenuhr in der Unsichtbaren Universität gestellt.«

Angua sah zum Himmel hoch.

»Na schön«, meinte sie. »Ich glaube, ich kann’s herausfinden. Überlaß die Sache mir.«

»Wie willst du vorgehen?«

»Äh, nun… ich… äh… ziehe die Uniform aus und behaupte, die Schwester einer Köchin oder so zu sein…«

Karotte wirkte skeptisch.

»Und du glaubst, das klappt?«

»Hast du eine bessere Idee?«

»Derzeit leider nicht.«

»Na also. Ich… äh… Du kehrst am besten zu den anderen zurück. Ich… besorge mir andere Kleidung.«

Angua brauchte sich nicht umzusehen, um festzustellen, woher das leise spöttische Lachen kam. Gaspode neigte dazu, ganz plötzlich zu erscheinen, so unerwartet wie eine Wolke Methan in einem vollen Zimmer. Seine Präsenz hatte wie besagte Wolke die unangenehme Tendenz, den ganzen zur Verfügung stehenden Raum auszufüllen.

»Wo willst du dir hier andere Kleidung besorgen?« fragte Karotte.

»Ein guter Wächter kann jederzeit improvisieren«, erwiderte Angua.

»Der kleine Hund schnauft dauernd«, sagte Karotte. »Warum folgt er uns immerzu?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Er hat dir etwas mitgebracht.«

Angua riskierte einen kurzen Blick. Gaspode hielt – mit viel Mühe – einen großen Knochen im Maul. Das Ding war länger als er selbst, und es schien von etwas zu stammen, das in einer Teergrube gestorben war. Es hatte grüne Patina angesetzt, und an einigen Stellen klebten Fellfetzen.

»Wie nett«, sagte sie kühl. Und zu Karotte: »Geh nur. Ich finde schon eine Möglichkeit, mich in der Assassinengilde umzusehen.«

»Wenn du wirklich glaubst…«, entgegnete Karotte widerstrebend.

»Ja.«

Als er außer Sicht war, eilte Angua zur nächsten Gasse. Es blieben nur noch wenige Minuten, bis der Mond aufging.

 

Feldwebel Colon salutierte, als ein nachdenklich die Stirn runzelnder Karotte zur Truppe aufschloß.

»Können wir jetzt heimkehren?« fragte er.

»Was? Warum?«

»Es ist doch alles klar, oder?«

»Das habe ich nur gesagt, damit kein Verdacht entsteht«, sagte Karotte.

»Ah, sehr schlau«, erwiderte der Feldwebel rasch. »Genau das dachte ich mir. Er sagt das nur, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, dachte ich.«

»Es treibt sich noch immer ein Mörder in der Stadt herum. Oder etwas Schlimmeres.«

Karotte musterte die Wächter der Reihe nach. Eine seltsame Gruppe.

»Ich glaube, wir müssen zunächst die Angelegenheit mit der Tagwache klären«, sagte er.

»Äh«, erwiderte Colon. »Es heißt, dort sei das Chaos besonders… äh… chaotisch.«

»Dann ist es unsere Aufgabe, Ordnung zu schaffen.«

Colon biß sich auf die Lippe. Er war nicht in dem Sinne ein Feigling. Im vergangenen Jahr hatte er auf einem Dach gestanden und Pfeile auf einen Drachen geschossen, der ihm mit weit geöffnetem Rachen entgegenraste. Nachher mußte er allerdings die Unterhose wechseln. Aber im Vergleich zum aktuellen Geschehen waren diese Ereignisse harmlos gewesen. Vielleicht nicht unbedingt harmlos, aber unkompliziert. Ein Drache war eine problemlos einschätzbare Gefahr. Wenn er einem mit weit aufgerissenem Rachen entgegenraste, konnte man die eigene Situation kaum falsch beurteilen. Dann wußte man genau, worüber man sich Sorgen machen mußte. Sicher, ein Drache war Anlaß genug, sich große Sorgen zu machen, aber wenigstens verwirrte er niemanden mit irgendwelchen Geheimnissen und Rätseln.

»Wir sollen alles in Ordnung bringen?« fragte er.

»Ja.«

»Oh. Gut. Gefällt mir sehr. Bin begeistert.«

 

Der Stinkende Alte Ron genoß hohes Ansehen in der Bettlergilde. Er war ein sogenannter Brummler, und noch dazu ein guter. Er schlurfte hinter Passanten her und brummelte in einer ganz persönlichen Sprache, bis man ihm Geld gab, damit er aufhörte. Man hielt ihn für verrückt, aber das stimmte nicht, zumindest nicht ganz. Seine Kontakte mit der Realität fanden auf einem kosmischen Niveau statt, deshalb fiel es ihm schwer, sich auf kleine Dinge zu besinnen, wie zum Beispiel andere Personen, Wände und Seife. Gegenüber noch kleineren Dingen, zum Beispiel Münzen, war er allerdings besonders aufmerksam.

Aufgrund seiner speziellen Veranlagung überraschte es ihn kaum, als eine attraktive junge Frau an ihm vorbeieilte und sich auszog. So etwas geschah im Kopf des Alten Ron dauernd.

Er beobachtete, was anschließend passierte.

Kurze Zeit später sprang ein schlanker, goldbrauner Leib fort.

»Ich hab’s ihnen gesagt! Ich hab’s ihnen gesagt! Ich hab’s ihnen gesagt!« stieß der Stinkende Alte Ron hervor. »Das falsche Ende einer Lumpensammlertrompete soll’n sie bekommen, jawohl! Bei den Göttern und Dämonen! Potzblitz und Donnerwetter! Gesagt hab ich’s ihnen!«

 

Als Angua wieder zum Vorschein kam, wackelte bei Gaspode etwas, das sein Schwanz sein mußte. Zumindest befand sich das Ding am richtigen Ende.

»Haft dich umgefogen, wie?« fragte er. Der Knochen machte seine Stimme undeutlich. »Gut. Aufgefeichnet. Ich hab dir daf hier mitgebracht…«

Er ließ den Knochen auf das Kopfsteinpflaster fallen. Für Anguas Wolfsaugen sah er nicht besser aus.

»Was soll ich damit?« fragte sie.

»Steckt voll nahrhaftem Knochenmark«, sagte Gaspode vorwurfsvoll.

»Und wenn schon«, erwiderte Angua. »Erklär mir lieber, wie ich in die Assassinengilde reinkomme.«

»Und nachher könnten wir es uns bei den Misthaufen in der Fleißigen Straße gemütlich machen«, schlug Gaspode vor. Sein Stummelschwanz klopfte unaufhörlich auf den Boden. »Dort gibt’s Ratten, bei deren Anblick… Oh, schon gut, vergiß es«, sagte er hastig, als es in Anguas Augen blitzte.

Er seufzte.

»Es gibt da einen Abfluß neben der Küche«, fügte er hinzu.

»Groß genug für einen Menschen?«

»Nicht einmal ein Zwerg könnte sich hindurchzwängen. Aber es ist ohnehin nicht die Mühe wert. Heute stehen Spaghetti auf der Speisekarte. Und Spaghetti enthalten nur wenig Knochen…«

»Komm.«

Gaspode watschelte los.

»Es war ein guter Knochen«, murmelte er. »Nur ein bißchen grün. Ha! Ich wette, Schokoladenkekse von Herrn Dickerbrocken würdest du nicht ablehnen.«

Unwillkürlich zog er den Kopf ein, als sich Angua abrupt zu ihm umdrehte.

»Was hast du gesagt?«

»Nichts! Nichts!«

Gaspode folgte dem Wolfshund und winselte leise.

Auch Angua war alles andere als glücklich. Das Leben brachte gewisse Probleme mit sich, wenn einem bei Vollmond Haare und Reißzähne wuchsen. Aus einigen unliebsamen Erfahrungen hatte sie erkannt, daß Männer es nicht mochten, wenn ihre Partnerin plötzlich ein Fell bekam. Deshalb hatte sie sich geschworen, nie wieder enge Beziehungen zu knüpfen.

Was Gaspode betraf… Er fand sich mit einem Leben ohne Liebe ab. Seine praktischen Erfahrungen beschränkten sich auf einen ahnungslosen Chihuahua und eine kurze Episode mit dem Bein eines Postboten.

 

Das Pulver Nummer eins rutschte durch das gefaltete Papier in das kleine Metallrohr. Verfluchter Mumm! Wer hätte gedacht, daß er sich die Mühe machte, aufs Dach des Opernhauses zu klettern? Er hatte dort oben ein Schußmagazin verloren. Aber ihm standen noch drei andere zur Verfügung. Ein Beutel mit Pulver Nummer eins und einige Kenntnisse über Bleigießen – mehr brauchte man nicht, um die Stadt zu beherrschen…

Das Gfähr lag auf dem Tisch. Ein bläulicher Glanz ging von dem Metall aus, fast ein Glitzern. Natürlich lag es am Öl. Man mußte glauben, daß es allein am Öl lag. Immerhin war es ein Objekt aus Metall und nichts Lebendiges.

Und doch…

Und doch…

»Es heißt, es war nur ein Bettlermädchen…«

Na und? Sie bot ein Ziel. Mich trifft keine Schuld. Du bist dafür verantwortlich. Ich bin nur das Gfähr. Gfähre töten niemanden. Personen bringen andere Personen um.

»Du hast Hammerhock ermordet! Der Junge meinte, du hättest von ganz allein geschossen! Und er hat dich repariert!«

Erwartest du Dankbarkeit? Er hätte ein zweites Gfähr gebaut.

»War das ein Grund, ihn zu töten?«

Natürlich. Das verstehst du nicht.

War die Stimme in seinem Kopf? Oder kam sie vom Gfähr? Er wußte es nicht. Edward hatte von einer Stimme gesprochen, von einer Stimme, die einem alles versprach…

 

Es fiel Angua leicht, in die Gilde hineinzukommen, obwohl es auf den Straßen in der Nähe von zornigen Bürgern wimmelte. Und als sie erst einmal im Gebäude war… Einige Assassinen – insbesondere jene, die aus adeligen Familien stammten, wo Hunde mit langem Fell die gleiche Rolle spielten wie bei anderen Leuten Teppiche – hielten sich hier edle Tiere, und Angua paßte da gut ins Bild. Immerhin war sie reinrassig. Als sie durch die Flure lief, zog sie nur bewundernde, keine argwöhnischen Blicke auf sich.

Es war auch nicht schwer, den richtigen Korridor zu finden. Sie hatte sich bei der Gilde nebenan einen Überblick verschafft und zählte nun die Etagen und Fenster. Außerdem brauchte sie ihren visuellen Orientierungssinn gar nicht in Anspruch zu nehmen – Feuerwerksgeruch wies ihr den Weg.

Im betreffenden Flur drängten sich Assassinen vor der aufgebrochenen Tür. Angua blickte um die Ecke und sah einen sehr wütenden Professor Kreuz.

»Herr Witwenmacher?«

Ein weißhaariger Assassine nahm Haltung an.

»Ja?«

»Ich möchte, daß er gefunden wird!«

»Ja, Herr…«

»Und ich möchte noch mehr! Er soll inhumiert werden! Auf eine Sehr Unangenehme Art! Das Honorar dafür setze ich hiermit auf zehntausend Ankh-Morpork-Dollar fest – und ich bezahle es aus meiner eigenen Tasche, verstanden? Ohne Gildensteuer.«

Mehrere Assassinen lösten sich aus der Menge und schlenderten wie beiläufig fort. Zehntausend unversteuerte Dollar übten einen gewissen Reiz aus…

Witwenmacher wand sich voller Unbehagen. »Professor, ich denke…«

»Du denkst? Du wirst nicht dafür bezahlt zu denken! Weiß der Himmel, wohin der Idiot verschwunden ist! Das ganze Gildenhaus durchsuchen – so lautete mein Befehl. Warum hat niemand die Tür aufgebrochen?«

»Es tut mir sehr leid, Professor. Edward verließ uns vor einigen Wochen, und ich dachte nicht…«

»Du hast nicht gedacht? Wofür wirst du bezahlt?«

»Ich habe ihn noch nie so sauer gesehen«, sagte Gaspode.

Hinter dem Chef der Assassinengilde hüstelte jemand. Herr Weißgesicht war in den Flur getreten.

»Ah, ich glaube, wir sollten die Angelegenheit in meinem Büro besprechen«, meinte Professor Kreuz.

»Ich bedaure das alles sehr…«

»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Der kleine… Teufel hat dafür gesorgt, daß wir beide wie Narren dastehen. Oh… das meine ich natürlich nicht persönlich. Herr Witwenmacher, die Narren und Assassinen werden das Loch bewachen, bis morgen die Steinmetze mit der Arbeit beginnen. Niemand darf die Öffnung passieren, verstanden?«

»Ja.«

»Gut.«

»Das ist Herr Witwenmacher«, sagte Gaspode, als Professor Kreuz und der Oberclown durch den Flur schritten. »Die Nummer zwei in der Assassinenhierarchie.« Er kratzte sich am Ohr. »Er würde Kreuz kaltblütig aus dem Weg räumen, wenn das nicht gegen die Vorschriften verstieße.«

Angua setzte sich wieder in Bewegung. Witwenmacher wischte sich gerade die Stirn ab und senkte den Blick.

»Hallo. Du bist neu hier.« Er sah Gaspode. »Und der Köter ist wieder da.«

»Wuff, wuff«, sagte Gaspode, und sein Stummelschwanz klopfte auf den Boden. »Von ihm kann man sich ein Pfefferminzbonbon erhoffen, wenn er in der richtigen Stimmung ist«, teilte er Angua mit. »In diesem Jahr hat er fünfzehn Personen vergiftet. Mit Gift kann er fast ebensogut umgehen wie der alte Kreuz.«

»Mußtest du unbedingt darauf hinweisen?« entgegnete Angua, während ihr Witwenmacher den Kopf tätschelte.

»Oh, Assassinen töten nur, wenn sie dafür bezahlt werden. Beruhigend, nicht wahr?«

Jetzt konnte Angua die Tür sehen. In einer metallenen Halterung steckte ein Pappschild mit einem Namen.

Edward d’Eath.

»Edward d’Eath«, sagte sie.

»Den Namen höre ich nicht zum erstenmal«, erwiderte Gaspode. »Adlige Familie. Wohnte früher in der Königsstraße. War mal so reich wie Krösus.«

»Wer ist Krösus?«

»Irgendein Ausländer, der ‘ne Menge Geld hat.«

»Oh.«

»Sein Urgroßvater hatte immer viel Durst, und der Großvater jagte allem nach, das einen Rock trug, obgleich er manchmal selbst Röcke anzog und so. Mit Vater d’Eath war soweit alles in Ordnung, ich meine, er trank nur Wasser und hielt sich auch ansonsten zurück. Trotzdem verlor er den Rest des Familienvermögens – weil er Mühe hatte, den Unterschied zwischen einer Eins und einer Elf zu erkennen.«

»Wie verliert man dadurch Geld?«

»Die finanziellen Verluste können sogar erheblich sein, wenn man trotz einer solchen Schwäche mit bestimmten Leuten Leg-Herrn-Zwiebel-rein spielt.«

Werwolf und Hund liefen langsam durch den Flur.

»Was weißt du über den jungen Edward?« fragte Angua.

»Nicht viel. Das Haus wurde vor kurzer Zeit verkauft, um die Schulden der Familie zu bezahlen. Edward habe ich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen.«

»Du bist wirklich gut informiert«, kommentierte Angua.

»Ich komme herum. Und niemand achtet auf Hunde.« Gaspode rümpfte die Nase – das Ding sah aus wie eine verschrumpelte Trüffel. »Meine Güte. Hier stinkt’s nach Gfähr, nicht wahr?«

»Ja. Der Geruch ist irgendwie seltsam.«

»Was meinst du?«

»Etwas scheint damit nicht zu stimmen.«

Es gab noch weitere Gerüche: ungewaschene Socken, andere Hunde, Herrn Weißgesichts Schminke, das Essen vom vergangenen Tag – ein großes olfaktorisches Durcheinander. Doch der Feuerwerksgeruch, den Angua inzwischen automatisch mit dem Gfähr assoziierte, überlagerte den Rest und brannte wie Säure in der Nase.

»Was stimmt damit nicht?«

»Keine Ahnung. Vielleicht liegt’s am besonderen Aroma des Gfährs…«

Gaspode zuckte mit den schmalen Schultern. »Es befand sich jahrelang an diesem Ort. Dadurch hat es einen Geruchsschatten hinterlassen.«

»Na schön. In Ordnung. Wir haben jetzt einen Namen. Vielleicht kann Karotte etwas damit anfangen…«

Angua lief die Treppe hinunter.

»Entschuldige bitte…«, sagte Gaspode.

»Ja?«

»Wie verwandelst du dich zurück in eine Frau?«

»Nun, ich verlasse den Mondschein und… konzentriere mich. Bisher hat’s immer geklappt.«

»So einfach ist das?«

»Bei Vollmond kann ich mich sogar tagsüber… verändern, wenn ich will. Doch wenn ich dem Mondschein ausgesetzt bin, bleibt mir keine Wahl.«

»Ach? Und was ist mit Knoblauch?«

»Ist lecker, wenn man ihn in der richtigen Menge den richtigen Speisen hinzufügt.«

»Wirkt er nicht abschreckend auf dich?«

»Ich bin ein Werwolf, kein Vampir. Du solltest nicht alles glauben, was du über uns liest. Wir sind auch nur Menschen – die meiste Zeit über.«

Sie verließen die Gilde und erreichten kurze Zeit später eine Gasse, der es an zwei Dingen mangelte: Anguas Uniform fehlte, und vom Stinkenden Alten Ron war weit und breit nichts mehr zu sehen.

»Mist.«

Sie blickten auf leeren Dreck hinab.

»Hast du andere Sachen?« fragte Gaspode.

»Ja, in der Ulmenstraße. Aber es ist… äh… zivile Kleidung. Dies war meine einzige Uniform.«

»Mußt du als Mensch unbedingt etwas anziehen?«

»Ja.«

»Warum? Ich dachte, eine nackte Frau wäre überall und in jeder Gesellschaft zu Hause. Damit möchte ich niemandem zu nahe treten.«

»Ich bin lieber angezogen.«

Gaspode beschnüffelte den Boden.

»Komm«, seufzte er. »Wir sollten den Stinkenden Alten Ron besser einholen, bevor er mit deinem Kettenhemd eine Flasche Bärdrücker bezahlt.«

Angua sah sich um. Der Geruch des Alten Ron hatte praktisch Substanz.

»Na schön. Beeilen wir uns.«

Knoblauch und dergleichen? Man brauchte keine blöden Kräuter, um das Leben problematisch zu gestalten. Es genügte, wenn man einmal im Monat mit zwei zusätzlichen Beinen und vier zusätzlichen Brustwarzen zurechtkommen mußte.

 

Vor dem Palast des Patriziers und vor der Assassinengilde wimmelte es von Leuten. Es waren auch viele Bettler zugegen, und sie sahen scheußlich aus. Scheußliches Aussehen gehört gewissermaßen zum Handwerkszeug eines Bettlers, doch hier sahen die Bettler noch scheußlicher aus als sonst.

Die Milizionäre marschierten um eine Ecke.

»Das sind Hunderte!« staunte Colon. »Und jede Menge Trolle stehen vor dem Haus der Tagwache. Dadurch sinkt die durchschnittliche Intelligenz der Demonstranten.«

Karotte bedachte ihn mit einem strengen Blick.

»War nur ein Scherz«, sagte Colon rasch.

»Na schön. Folgt mir.«

Das Stimmengewirr verklang, als die Miliz erneut marschierte, schlurfte und wankte.

Zwei besonders große Trolle versperrten ihr den Weg zum Wachhaus. Die Menge wartete gespannt.

Gleich wirft jemand mit etwas, dachte Colon. Dann sind wir alle erledigt.

Er hob den Kopf. Oben an den Regenrinnen erschienen wie in Zeitlupe steinerne Figuren. Alle rechneten mit einem Kampf, und niemand wollte ihn verpassen.

Karotte nickte den beiden Trollen vor der Miliz zu.

Flechten wuchsen auf ihnen, stellte Colon fest.

»Ihr seid Flußspat und Bauxit, nicht wahr?« fragte Karotte.

Flußspat nickte stumm. Bauxit war etwas hartnäckiger und starrte nur.

»Nach Burschen wie euch habe ich gesucht«, meinte Karotte.

Colon griff nach seinem Helm mit der gleichen Verzweiflung wie eine Napfschnecke der Größe 10, die versucht, in ein Schneckenhaus der Größe 1 zu schlüpfen. Bauxit war eine Lawine mit Füßen.

»Ihr seid eingezogen«, verkündete Karotte.

Colon spähte unter dem Rand seines Helms hervor.

»Holt euch eure Waffen bei Korporal Nobbs ab. Obergefreiter Detritus vereidigt euch.« Karotte trat zurück. »Willkommen in der Bürgerwache. Und denkt daran: Jeder Obergefreite hat den Stab eines Feldmarschalls in seinem Rucksack.«

Die Trolle rührten sich nicht von der Stelle.

»Will nich’ sein in Wache«, sagte Bauxit.

»Oh, ihr seht aus wie gutes Offiziersmaterial.«

»He, ihr könnt sie nicht in die Wache aufnehmen!« rief ein Zwerg aus der Menge.

»Hallo, Herr Starkimarm«, erwiderte Karotte. »Freut mich, daß auch die Oberhäupter lokaler Gemeinschaften zugegen sind. Warum können diese beiden Personen nicht Mitglied der Wache werden?«

Alle Trolle lauschten. Starkimarm merkte, daß er plötzlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand. Er zögerte.

»Äh… ihr habt nur einen Zwerg«, sagte er schließlich.

»Ich bin ebenfalls ein Zwerg«, sagte Karotte. »Wenn auch nur ein adoptierter.«

Starkimarm wirkte ein wenig nervös. Politisch eingestellte Zwerge konnten sich kaum daran gewöhnen, daß Karotte unbedingt zu ihnen gehören wollte.

»Du bist recht groß«, wandte er ein.

»Was hat denn Größe damit zu tun?« fragte Karotte.

»Äh… viel«, erwiderte Starkimarm.

»Guter Hinweis«, meinte Karotte. »Ja, ein guter Hinweis.« Mit erneuertem Interesse sah er in die Menge. »In Ordnung. Wir brauchen einige ehrliche, gesetzestreue Zwerge. Du dort!«

»Wer, ich?« fragte ein unvorsichtiger Zwerg.

»Hast du Vorstrafen?«

»Äh, ich weiß nicht… Ich denke, ich habe immer fest daran geglaubt, daß ein gesparter Cent ein erworbener Cent ist…«

»Gut. Außerdem nehme ich… euch beide… und auch dich. Vier Zwerge, einverstanden? Jetzt gibt es keinen Grund mehr zur Klage, oder?«

»Will nich’ sein in Wache«, wiederholte Bauxit, doch ein Hauch von Unsicherheit schwang in seiner Stimme.

»Ihr Trolle jetzt nicht könnt nehmen Abschied«, verkündete Detritus. »Sonst zu viele Zwerge. So es sein mit Zahlen

»Ich werde kein Wächter!« sagte einer der ausgewählten Zwerge.

»Ach?« erwiderte Knuddel. »Bist wohl nicht Manns genug, wie?«

»Was? Ich bin ebenso gut wie irgendein blöder Troll!«

»Das wäre also geklärt«, sagte Karotte und rieb sich die Hände. »Oberobergefreiter Knuddel?«

»Herr?«

»He«, brummte Detritus. »Wieso er plötzlich sein ein zusätzlicher Ober?«

»Weil er sich um die Zwergenrekruten kümmert«, erklärte Karotte. »Und du bist von jetzt an für die rekrutierten Trolle verantwortlich, Oberobergefreiter Detritus.«

»Ich Oberobergefreiter und soll kümmern mich um Troll-Rekruten?«

»Ja. Wenn du nun bitte zur Seite treten würdest, Obergefreiter Bauxit…«

Hinter Karotte holte Detritus tief und stolz Luft.

»Will nich’…«

»Obergefreiter Bauxit! Du schrecklicher großer Troll! Du gerade stehen! Und jetzt sofort salutieren! Korporal Karotte aus dem Weg gehen! Ihr beiden Trolle, ihr hierherkommen undzwarfix! Aaains zwei und drei vier! In der Wache ihr jetzt seid! Aaargh, ich es nicht glauben kann, obwohl meine Augen es sehen! Woher du kommst, Bauxit?«

»Vom Schnittenberg, aber…«

»Vom Schnittenberg? Vom Schnittenberg? Nur…« Detritus starrte einige Sekunden lang auf seine Finger und ließ seine Hände dann schnell hinterm Rücken verschwinden. »Nur zwei Dinge kommen vom Schnittenberg! Felsen und… und… und…« Er nahm das erste Wort, das sich ihm anbot. »Und noch mehr Felsen! Was du bist, Bauxit?«

»Was geht hier vor?«

Die Tür des Wachhauses wurde geöffnet, und Hauptmann Schrulle trat mit gezogenem Schwert nach draußen.

»Ihr beide schreckliche Trolle! Ihr jetzt sofort heben Hand und wiederholen Trollschwur…«

»Ah, Hauptmann«, sagte Karotte. »Ich glaube, wir haben etwas zu besprechen.«

»Du hast dich gerade in große Schwierigkeiten gebracht, Korporal Karotte«, knurrte Schrulle. »Für wen hältst du dich eigentlich?«

»… alle Anweisungen befolgen…«

»Will nich’ sein in…«

Bamm.

»… alle Anweisungen befolgen…«

»Nun, ich bin ein Mann am Ort des Geschehens«, erwiderte Karotte fröhlich.

»Na schön, Mann am Ort des Geschehens, ich bin hier der ranghöchste Offizier, und deshalb…«

»Da sprichst du einen interessanten Punkt an.« Karotte holte sein schwarzes Notizbuch hervor. »Hiermit enthebe ich dich deines Kommandos.«

»… sonst mir wird eingeschlagen Goohuloog-Kopf.«

»… sonst mir wird eingeschlagen Goohuloog-Kopf.«

»Was? Bist du übergeschnappt?«

»Nein. Aber ich glaube, du bist es. Was bedeutet, daß bestimmte Vorschriften zur Anwendung kommen.«

»Wo sind deine Befugnisse?« Schrulle starrte auf die Menge. »Ha! Ich nehme an, du willst auf diese Meute hier verweisen.«

Karotte wirkte schockiert.

»Natürlich nicht. Meine Befugnisse sind deutlich in den Gesetzen und Verordnungen der Städte Ankh und Morpork beschrieben. Ich beziehe mich auf geltendes Recht. Bitte, sag mir, was dem Häftling Kohlenfresse zur Last gelegt wird.«

»Meinst du den verdammten Troll? Er ist ein Troll!«

»Und?«

Schrulle sah sich um.

»Ich muß dir doch nicht hier vor allen Leuten sagen…«

»Doch, genau das mußt du. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang von ›Beweisen‹. Das heißt soviel wie sichtbar machen

»Jetzt hör mal…« Schrulle beugte sich zu Karotte vor. »Er ist ein Troll. Irgend etwas hat er bestimmt angestellt. Kein Troll taugt etwas.«

Karotte lächelte.

Colon kannte dieses Lächeln inzwischen. Wenn Karotte auf diese Weise lächelte, wurde sein Gesicht wächsern und schien von innen heraus zu leuchten.

»Und deshalb hast du ihn eingesperrt?«

»Ja!«

»Oh. Natürlich. Jetzt verstehe ich.«

Karotte wandte sich ab.

»Ich weiß beim besten Willen nicht, was dir in den Sinn…«, begann Schrulle.

Man sah kaum, wie sich Karotte bewegte. Er wurde zu einem Schemen, und ein seltsames Geräusch erklang – wie ein Steak, das jemand auf ein Bratblech klatscht. Einen Sekundenbruchteil später lag der Hauptmann auf dem Boden.

Zwei Angehörige der Tagwache erschienen vorsichtig in der Tür des Wachhauses.

Ein Rasseln zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nobby ließ den Morgenstern an der Kette schwingen. Allerdings war die mit Stacheln besetzte Kugel eine sehr schwere mit Stacheln besetzte Kugel, und Nobby unterschied sich von Zwergen in erster Linie durch die Spezies, nicht durch die Größe. Das führte dazu, daß er und der Morgenstern sich gegenseitig umkreisten. Wenn er losließ, wurde irgend etwas entweder von der Kugel oder von einem nicht explodierenden Korporal Nobbs getroffen. Das eine war ebenso unangenehm wie das andere.

»Laß den Morgenstern sinken, Nobby«, flüsterte Colon. »Ich glaube, wir haben hier alles überstanden…«

»Ich kann nicht loslassen, Fred!«

Karotte saugte an seinen Fingerknöcheln.

»Fällt das in die Kategorie ›minimale Gewalt‹, Feldwebel?« fragte er und schien ernsthaft besorgt zu sein.

»Fred! Fred! Was mache ich bloß?«

Die Zentrifugalkraft beschleunigte Nobby. Wenn man eine mit Stacheln bewehrte Kugel an einer Kette schwingt, ist es das Vernünftigste, in Bewegung zu bleiben. Wer unter solchen Bedingungen stehenbleibt, erlebt die ebenso kurze wie aufschlußreiche Demonstration einer Spirale.

»Atmet er noch?« fragte Colon.

»Ja. Ich habe ihn nur ins Reich der Träume geschickt.«

»Scheint tatsächlich minimal zu sein«, urteilte der Feldwebel großzügig.

»Freeeddd!«

Karotte streckte geistesabwesend die Hand aus, als der Morgenstern vorbeisauste. Er riß ihn zur Wand, wo die Kugel steckenblieb.

»Ihr im Wachhaus«, sagte er. »Kommt raus.«

Fünf Männer traten nach draußen und verharrten unsicher beim reglosen Hauptmann.

»Gut. Und jetzt holt Kohlenfresse.«

»Äh. Er ist nicht besonders gut gelaunt, Korporal Karotte.«

»Weil er an den Boden gekettet wurde«, erklärte ein anderer Tagwächter.

»Ich nehme an, dann verbessert sich seine Stimmung gleich«, erwiderte Karotte. »Weil ihr die Ketten jetzt lösen werdet.« Voller Unbehagen scharrten die Männer mit den Füßen und erinnerten sich vermutlich an ein altes Sprichwort, das gut zur derzeitigen Situation paßte27. Karotte nickte. »Ich fordere euch nicht auf, den Dienst zu quittieren. Aber es wäre sicher keine schlechte Idee, wenn ihr eine Zeitlang Urlaub macht.«

»Quirm soll um diese Jahreszeit sehr schön sein«, meinte Feldwebel Colon. »Dort gibt’s eine Blumenuhr.«

»Äh… da du es schon erwähnst… es wird ohnehin Zeit, daß ich meine Grippe nehme«, entgegnete ein Wächter.

»Wenn du noch länger hierbleibst, könnten sich der Grippe andere Krankheiten hinzugesellen«, mahnte Karotte.

Die Tagwächter eilten so schnell fort, wie es Ehre und Würde erlaubten. Die Menge schenkte ihnen kaum Beachtung. Sie fand es viel interessanter, Karotte zu beobachten.

»Na schön«, sagte er nun. »Detritus, nimm dir einige Männer und hol den Gefangenen.«

»Ich sehe nicht ein, warum…«, begann ein Zwerg.

»Du still sein, schrecklicher Mann«, brummte der machttrunkene Detritus.

Von einem Augenblick zum anderen herrschte völlig Stille.

Man hätte die Klinge einer Guillotine fallen hören können.

In der Menge griffen unterschiedlich große Hände nach verborgenen Waffen.

Alle sahen Karotte an.

Das war das Seltsame daran, erinnerte sich Colon später. Alle Blicke richteten sich auf Karotte.

 

Gaspode beschnüffelte einen Laternenpfahl.

»Ah. Der dreibeinige Schepp ist erneut krank gewesen, wie ich rieche«, sagte er. »Und Schnösel-Willi hält sich wieder in der Stadt auf.«

Für Hunde sind gut plazierte Laternenpfähle wie die Gesellschaftsrubrik in der Zeitung.

»Wo sind wir?« fragte Angua. Es fiel ihr schwer, die Fährte des Stinkenden Alten Ron weiterhin zu erkennen, weil es hier viele andere Gerüche gab.

»Irgendwo in den Schatten«, erwiderte Gaspode. »Die Schätzchengasse riecht so.« Er schnüffelte erneut, diesmal am Boden. »Aha, hier ist die Spur wieder. Sie…«

»Hallo, Gaspode…«

Die Stimme war tief und heiser, und ihr Flüstern klang, als hätte jemand Sand hineingestreut.

»Wer ist deine Freundin, Gaspode?«

Jemand kicherte spöttisch.

»Oh«, erwiderte Gaspode. »Äh. Hallo, Kumpel.«

Zwei Hunde näherten sich. Sie waren riesig und gehörten zu keiner klar identifizierbaren Rasse. Einer von ihnen war pechschwarz und sah aus wie eine Kreuzung zwischen einem Bullterrier und einem Fleischwolf. Der andere wirkte wie ein Hund, der den Namen »Schlächter« trug. Aufgrund der sehr langen Reißzähne schien es, als betrachte er die Welt durch ein Gitter. Dazu hatte er krumme Beine – obwohl es sehr dumm oder sogar fatal gewesen wäre, ihn darauf anzusprechen.

Gaspodes Schwanz vibrierte nervös.

»Das sind meine Freunde, der Schwarze Roger und…«

»Schlächter?« vermutete Angua.

»Woher weißt du das?«

»Hab’ nur geraten.«

Die beiden großen Hunde blieben rechts und links von ihnen stehen.

»Na so was«, sagte der Schwarze Roger. »Wen haben wir denn hier?«

»Sie heißt Angua«, erwiderte Gaspode. »Und sie ist ein…«

»Wolfshund«, sagte Angua.

Die beiden Hunde schlichen um sie herum.

»Weiß der Große Fido von ihr?« fragte der Schwarze Roger.

»Ich wollte gerade…«, begann Gaspode.

»Du wolltest uns bestimmt begleiten«, unterbrach ihn der Schwarze Roger. »Heute abend findet eine Gildenversammlung statt.«

»Klar, natürlich«, erwiderte Gaspode hastig. »Kein Problem.«

Ich könnte mit ihnen fertig werden, dachte Angua. Aber nicht mit beiden gleichzeitig.

Ein Werwolf verfügte über genug Kiefernkraft, um jemandem in ein, zwei Sekunden die Halsschlagader zu zerfetzen. Anguas Vater hatte sich besonders gut darauf verstanden und diesen Trick recht häufig angewendet, worüber sich ihre Mutter besonders ärgerte, wenn er sein diesbezügliches Geschick unmittelbar vor den Mahlzeiten bewies. Was die Tochter betraf… Als überzeugte Vegetarierin konnte sie sich nie dazu durchringen, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen.

»Hallo«, knurrte Schlächter an ihrem Ohr.

»Keine Sorge«, stöhnte Gaspode. »Der Große Fido und ich… Wir stehen so zueinander.«

»Was versuchst du da? Willst du Krallen überkreuzen? Ich wußte gar nicht, daß Hunde so was können.«

»Können sie auch nicht«, erwiderte Gaspode kläglich.

Andere Hunde kamen aus der Finsternis, als man sie durch Gassen führte, die eigentlich nur noch Spalten zwischen Mauern waren. Schließlich gelangten sie zu einem freien Bereich, der in erster Linie dazu diente, die Gebäude in der Nähe mit Tageslicht zu versorgen. In einer Ecke lag eine Tonne mit einer zerrissenen Decke darin. Daneben und davor warteten Hunde erwartungsvoll. Einige von ihnen hatten nur ein Auge oder ein Ohr. Niemandem mangelte es an Narben. Und alle verfügten über lange, spitze Zähne.

»Wartet hier«, sagte der Schwarze Roger.

»Versucht nicht wegzulaufen«, zischte Schlächter. »Sonst könnte es passieren, daß euch jemand die Eingeweide aus dem Leib reißt.«

Angua senkte den Kopf, bis er sich auf einer Höhe mit Gaspodes befand. Der kleine Hund zitterte.

»In welche Situation hast du mich gebracht?« fragte sie leise. »Dies ist die Hundegilde, nicht wahr? Und sie besteht aus Streunern?«

»Pscht! Sag das bloß nicht! Das sind keine Streuner.« Gaspode sah sich um. »Die Gilde besteht nicht aus irgendwelchen Hunden. Nein. Diese Hunde hier sind…« Er senkte die Stimme. »… böse gewesen.«

»Böse?«

»Ja. Böse Hunde. Du weißt schon. Ungezogener Bursche! Willst du wieder den Pantoffel spüren?« Bei Gaspode klang es wie eine schreckliche Litanei. »Alle Hunde, die du hier siehst… Jeder einzelne von ihnen ist von zu Hause abgehauen. Sie sind ihren Eigentümern entwischt.«

»Das ist alles?«

»Ob das alles ist? Alles? Ja. Natürlich. Du bist kein Hund in dem Sinne. Deshalb kannst du das kaum verstehen. Du weißt nicht, wie es ist. Aber der Große Fido… hat es ihnen erklärt. Streift eure Würgeketten ab, sagt er. Beißt in die Hand, die euch füttert. Steht auf und heult. Er gibt ihnen Stolz«, betonte Gaspode mit einer Mischung aus Furcht und Faszination. »Ja, er erklärt ihnen alles. Und wenn ein Hund nicht mit ganzem Herzen nach Freiheit strebt, dann ist er bald ein toter Hund. In der vergangenen Woche hat er einen Dobermann umgebracht, und zwar nur deshalb, weil er mit dem Schwanz wedelte, als ein Mensch vorbeikam.«

Angua sah zu einigen der größeren Hunde, die ungepflegt und auf eine sonderbare Art unhündisch erschienen. Sie bemerkte einen kleinen, zierlichen weißen Pudel, dessen Fell noch immer den letzten Trimm verriet, und einen Schoßhund, an dem die Überbleibsel eines karierten Jäckchens hingen. Die Tiere liefen nicht etwa bellend und jaulend umher. Sie standen stumm und still, strahlten eine Entschlossenheit aus, die Angua schon einmal gesehen hatte, allerdings nicht bei Hunden.

Gaspode zitterte immer heftiger. Angua näherte sich dem Pudel, der ein glitzerndes Halsband trug – der Glanz verlor sich fast in seinem schmutzverkrusteten Fell.

»Ist der Große Fido eine Art Wolf oder so?« fragte sie.

»Im Grunde ihres Wesens sind alle Hunde Wölfe«, antwortete der Pudel. »Aber die Manipulationen der Menschen haben viele von uns auf grausame und zynische Weise von unserer wahren Bestimmung getrennt.«

Es klang wie ein Zitat. »Hat das der Große Fido gesagt?« spekulierte Angua.

Der Pudel drehte den Kopf, und zum erstenmal sah sie seine Augen. In ihnen brannte das rote Feuer der Hölle. Ein Geschöpf mit solchen Augen konnte jedes andere Geschöpf töten, denn Wahnsinn – wahrer Wahnsinn – ist imstande, eine Faust durch dickes Holz zu rammen.

»Ja«, erwiderte der Große Fido.

 

Einst war er ein normaler Hund gewesen. Er hatte gebellt, sich auf den Rücken gerollt und fortgeworfene Gegenstände zurückgeholt. Er erinnerte sich ans Gassigehen, jeden Abend um die gleiche Zeit.

Als es geschah, kam es nicht wie ein Lichtblitz oder dergleichen. Er lag in seinem Körbchen, wie sonst auch, und dachte an seinen Namen, der außen am Korb stand. Er dachte an die Decke, in die »Fido« eingestickt war, und an den Freßnapf mit der Aufschrift »Fido«. Er grübelte auch über das Halsband nach, das ebenfalls den Namen »Fido« trug. Irgendwann machte es tief in ihm Klick, woraufhin er die Decke fraß, sein Herrchen anfiel und anschließend durchs Küchenfenster floh. Draußen stand ein Labradorhund, mindestens viermal so groß wie Fido, und lachte über das Halsband. Dreißig Sekunden später machte er sich winselnd auf und davon.

So begann alles.

Die Hundehierarchie war eine einfache Angelegenheit. Fido brauchte nur zu fragen, meistens mit relativ undeutlicher Stimme, weil er das Bein eines Rivalen zwischen den Zähnen hatte. Schon nach kurzer Zeit fand er den Anführer der größten Meute von wilden Hunden in der Stadt. Die Leute – beziehungsweise Hunde – sprachen noch immer über den Kampf zwischen Fido und dem Bellenden Irren Arthur, einem Rottweiler, der nur ein Auge und permanente schlechte Laune hatte. Die meisten Tiere kämpfen nicht um Leben und Tod, sondern nur um Sieg und Niederlage. Und Fido ließ sich einfach nicht besiegen. Im Kampf wurde er zu einem hin und her huschenden Schemen mit Halsband. Er biß sich so lange an Teilen des Bellenden Irren Arthur fest, bis dieser schließlich aufgab. Und dann, zu seinem großen Erstaunen, hatte ihn Fido getötet. Die Determination des Pudels war ebenso rätselhaft wie unerschütterlich. Selbst wenn man ihn fünf Minuten lang mit einem Sandstrahler bearbeitete – was von ihm übrigblieb, würde nicht kapitulieren und jede Möglichkeit zu einem neuen Angriff nutzen.

Denn der Große Fido hatte einen Traum.

 

»Gibt es ein Problem?« fragte Karotte.

»Der Troll hat einen Zwerg beleidigt«, sagte der Zwerg Starkimarm.

»Ich habe gehört, daß Oberobergefreiter Detritus dem Obergefreiten… Hrolf Pyjama einen Befehl erteilt hat«, erwiderte Karotte. »Gibt es daran etwas auszusetzen?«

»Er ist ein Troll

»Und?«

»Er hat einen Zwerg beleidigt!«

»Nun, er hat sich militärisch ausgedrückt«, erklärte Feldwebel Colon.

»Dieser verdammte Troll hat mir heute das Leben gerettet!« rief Knuddel.

»Weshalb?«

»Weshalb? Weshalb? Weil es mein Leben ist, deshalb. Und zufälligerweise hänge ich daran.«

»Ich meine…«

»Sei still, Abba Starkimarm! Was weißt du schon von diesen Dingen? Immerhin bist du nur ein Zivilist! Wie kann man nur so dumm sein?«

Ein Schatten manifestierte sich in der Tür. Um Kohlenfresse zu beschreiben, mußte man von Breite statt von Größe sprechen. Er wirkte wie eine massive, verwitterte Felswand, in der rote, argwöhnisch blickende Augen glühten.

»Ihr habt ihn freigelassen!« stöhnte ein Zwerg.

»Weil es keinen Grund gibt, ihn gefangenzuhalten«, erläuterte Karotte. »Wer auch immer Herrn Hammerhock umgebracht hat: Er war klein genug, um eine Zwergentür zu passieren. Ein Troll von diesen Ausmaßen hätte das nie geschafft.«

»Aber alle wissen, daß er ein böser Troll ist!« rief Starkimarm.

»Ich nie nichts getan«, sagte Kohlenfresse.

»Wir können ihn jetzt nicht gehen lassen«, flüsterte Colon. »Die Zwerge fallen bestimmt über ihn her.«

»Ich nie nichts getan.«

»Guter Hinweis, Feldwebel. Oberobergefreiter Detritus?«

»Herr?«

»Nimm ihn als Freiwilligen in die Wache auf.«

»Ich nie nichts getan.«

»Das ist ausgeschlossen!« empörte sich ein Zwerg.

»Will nich’ sein in keiner Wache«, grollte Kohlenfresse.

Karotte beugte sich zu ihm vor. »Da drüben stehen Hunderte von Zwergen«, sagte er leise. »Mit großen Äxten.«

Kohlenfresse blinzelte.

»Will sein in Wache.«

»Vereidige ihn, Oberobergefreiter.«

»Bitte um Erlaubnis, einen weiteren Zwerg aufzunehmen, Herr. Wegen der gleichen Anzahl.«

»Meinetwegen, Oberobergefreiter Knuddel.«

Karotte nahm den Helm ab und wischte sich Schweiß von der Stirn.

»Ich glaube, das wär’s dann wohl«, sagte er.

Die Menge starrte ihn an.

Er lächelte.

»Niemand braucht hierzubleiben«, verkündete er. »Ihr dürft alle gehen.«

»Ich nie nichts getan.«

»Ja, aber, hör mal…«, erwiderte Starkimarm. »Wenn Kohlenfresse den alten Hammerhock nicht umgebracht hat – wer dann?«

»Ich nie nichts getan.«

»Wir ermitteln nach wie vor.«

»Du weißt nicht, wer der Mörder ist?«

»Ich finde es bald heraus.«

»Ach? Und wann, bitteschön, weißt du, wer Hammerhock getötet hat?«

»Morgen.«

Der Zwerg zögerte.

»Oh«, sagte er widerstrebend. »Ah. Morgen. Nun… hoffentlich kannst du uns morgen wirklich den Namen des Schuldigen nennen.«

»Ja«, entgegnete Karotte schlicht.

Die Leute gingen auseinander. Besser gesagt, die Abstände zwischen den einzelnen Individuen vergrößerten sich ein wenig. Ob Trolle, Zwerge oder Menschen: Die Bürger von Ankh-Morpork kehrten nie heim, solange das Straßentheater noch nicht zu Ende war.

Oberobergefreiter Detritus’ Brust war vor Stolz so sehr angeschwollen, daß seine Fingerknöchel kaum den Boden berührten, als er die Truppe inspizierte.

»Jetzt gut zuhören, ihr schrecklichen Trolle!«

Er wartete, während die nächsten Gedanken ihre Plätze einnahmen.

»Ihr jetzt richtig gut zuhören, jawohl!« fuhr Detritus fort. »Ihr in der Wache! Das sein Dschob mit guten Schohnßen. Ich erst seit zehn Minuten dabei, und schon man mich befördert! Außerdem man bekommt hier ordentliche Bildung für nachher gute Arbeit als Zivilist.

Dies sein eure Keule mit Nagel drin. Ihr sie essen. Ihr darauf schlafen. Wenn Detritus sagen springen, dann ihr antworten… welche Farbe! Wir hierbei benutzen Zahlen. Und ich kenne jede Menge Zahlen!«

»Ich nie nichts getan.«

»Du da, Kohlenfresse, du bald klüger werden. Du den Knüppel eines Feldmarschalls im Rucksack hast!«

»Ich auch nie nichts genommen.«

»Du dich sofort hinlegen und machen zwei-und-dreißig Liegestützen! Nein! Du machen vier-und-sechzig!«

Feldwebel Colon rieb sich den Nasenrücken. Wir leben noch, dachte er. Ein Troll hat einen Zwerg vor vielen anderen Zwergen beleidigt. Kohlenfresse, ich meine Kohlenfresse… im Vergleich zu ihm ist Detritus ein lieber netter Kerl. Und jetzt ist Kohlenfresse nicht nur frei, sondern auch ein Mitglied der Wache. Karotte hat Mayonnaise Schrulle seines Amtes enthoben und versprochen, bis morgen den Mörder zu finden. Und es ist bereits Abend. Und trotz allem leben wir noch.

Korporal Karotte muß verrückt sein.

Hör sich einer die Hunde an. Die Hitze – alle sind gereizt und nervös.

 

Angua vernahm das Heulen der Hunde und dachte an Wölfe.

Einige Male war sie mit einem Rudel unterwegs gewesen und wußte deshalb über Wölfe Bescheid. Diese Hunde waren keine Wölfe. Wölfe liebten den Frieden und das Unkomplizierte. Als Angua jetzt darüber nachdachte… Der Anführer hatte ähnliche Wesenszüge gehabt wie Karotte. Der junge Korporal paßte in die Stadt wie das Rudeloberhaupt in den Wald.

Hunde waren intelligenter als Wölfe. Wölfe brauchten keine Intelligenz. Ihnen standen andere Dinge zur Verfügung. Aber Hunde hatten Intelligenz von den Menschen erhalten. Ob es ihnen gefiel oder nicht. Darüber hinaus waren sie gemeiner und hinterhältiger als Wölfe. Auch diese Eigenschaft stammte von den Menschen.

Fido hingegen verwandelte den Haufen Streuner in etwas, das Unwissende für ein Wolfsrudel hielten: in eine pelzbesetzte Tötungsmaschine.

Angua sah sich um.

Große Hunde, kleine Hunde, dicke Hunde, dürre Hunde. Sie alle lauschten mit glänzenden Augen, während der Pudel sprach.

Über Schicksal.

Über Disziplin.

Über die natürliche Überlegenheit der Spezies Hund.

Über Wölfe. Doch die Vorstellungen, die sich der Große Fido von Wölfen machte, unterschieden sich von der Angua bekannten Realität. Die Wölfe in den Träumen des Großen Fido waren größer, wilder und klüger. Er beschrieb sie als Könige des Waldes, als Schrecken der Nacht. Ihre Namen lauteten Schnellbeiß und Silberrücken. Sie stellten etwas dar, das sich jeder Hund wünschte.

Der Große Fido hatte Angua akzeptiert. Sie sah einem Wolf sehr ähnlich, wie er meinte.

Wie gebannt hörten die versammelten Hunde einem kleinen weißen Pudel zu, der nervös furzte, während er seine Rede fortsetzte, und behauptete, Hunde seien nach ihrer Natur eigentlich größer. Angua hätte am liebsten laut gelacht; sie blieb nur deshalb stumm, weil sie wußte, daß sie kaum mit dem Leben davongekommen wäre.

Sie beobachtete, was mit einer kleinen, rattenartigen Promenadenmischung geschah, die von einigen Terriern zur Mitte des freien Bereichs gezerrt wurde. Ihr wurde vorgeworfen, einen weggeworfenen Stock geholt zu haben. Die Strafe… Nicht einmal Wölfe taten sich so etwas an. Bei Wölfen gab es keine Verhaltensregeln. Das war auch gar nicht nötig. Wölfe brauchten keine Vorschriften, die richtiges Wolfsein betrafen.

Nach der Exekution kehrte Angua zu Gaspode zurück, der in einer Ecke hockte und versuchte, möglichst unauffällig zu sein.

»Verfolgen sie uns, wenn wir jetzt verschwinden?« fragte sie.

»Das glaube ich nicht. Die Versammlung ist vorbei.«

»Gut. Dann komm.«

Sie schlenderten in eine Gasse – und liefen los, als sie sicher sein konnten, daß niemand auf sie achtete.

»Meine Güte«, sagte Angua, als mehrere Straßen zwischen ihnen und der Meute lagen. »Er ist wahnsinnig, nicht wahr?«

»Nein«, widersprach Gaspode. »Wahnsinn bedeutet Schaum vorm Mund. Der Große Fido ist vollkommen ausgerastet. Und das bedeutet Schaum im Gehirn.«

»All der Unsinn über Wölfe…«

»Ich nehme an, jeder Hund hat das Recht, ein wenig zu träumen«, erwiderte Gaspode.

»Aber Wölfe sind ganz anders! Sie haben keine Namen!«

»Jeder hat einen Namen

»Wölfe nicht. Warum auch? Sie wissen, wer sie sind, und sie wissen auch, aus wem der Rest des Rudels besteht. Sie erkennen sich mit… den Sinnen. Geruch, Gefühl, Gehör. Wölfe haben nicht einmal ein Wort für Wölfe! Bei ihnen ist das ganz anders. Namen sind eine Erfindung der Menschen!«

»Hunde haben Namen«, meinte Gaspode. »Ich habe einen. Er lautet Gaspode. Ja, das ist mein Name«, fügte er leise und ein wenig verlegen hinzu.

»Nun, ich kann’s nicht erklären«, entgegnete Angua. »Aber Wölfe haben keine Namen.«

 

Der Mond stand hoch an einem Himmel, der so schwarz war wie ein Becher mit nicht sehr schwarzem Kaffee.

Sein Licht verwandelte die Stadt in ein Netz aus Linien und Schatten.

Der Kunstturm hatte einst die Mitte der Stadt markiert, aber Städte wandern langsam, und jetzt befand sich das Zentrum von Ankh-Morpork einige hundert Meter entfernt. Doch der Turm dominierte die Metropole nach wie vor. Dunkel ragte er in den Abendhimmel und versuchte, schwärzer auszusehen, als es gewöhnliche Schatten zuließen.

Das leise Klicken von Metall auf Gestein erklang. Wer in unmittelbarer Nähe des Turms stand und in die richtige Richtung sah, konnte erkennen, daß ein Fleck aus besonders finsterer Finsternis der Spitze des Turms entgegenstrebte.

Für einen Sekundenbruchteil spiegelte sich der Mondschein in einem langen, dünnen Metallrohr, das sich die Gestalt an einem Riemen über die Schulter gehängt hatte. Unmittelbar darauf verschwanden Metallrohr und Gestalt wieder in der Dunkelheit.

 

Die Fenster waren geschlossen und verriegelt.

»Sie hat sie immer offengelassen«, winselte Angua.

»Heute abend nicht«, stellte Gaspode fest. »Wahrscheinlich dachte sie, daß sich zu viele seltsame Leute herumtreiben.«

»Aber sie kennt seltsame Leute«, wandte Angua ein. »Die meisten von ihnen wohnen in ihrem Haus!«

»Ich schätze, du mußt dich in einen Menschen zurückverwandeln und die Scheibe einschlagen.«

»Unmöglich! Dann wäre ich nackt!«

»Das bist du jetzt auch, oder?«

»Jetzt bin ich ein Wolf! Und für einen Wolf sieht das mit der Nacktheit ganz anders aus.«

»Ich habe nie Kleidung getragen oder irgendeinen Gedanken daran verschwendet.«

»Das Wachhaus«, murmelte Angua. »Dort gibt es bestimmt etwas. Ein Kettenhemd. Oder ein Laken. Und die Tür schließt nicht richtig. Komm.«

Sie lief durch die Straße, und Gaspode folgte ihr schnaufend.

Jemand sang.

»Meine Güte!« entfuhr es Gaspode. »Sieh dir das an.«

Vier Wächter stapften vorbei. Zwei Trolle und zwei Zwerge. Gaspode erkannte Detritus.

»Zack-zack! Ihr seid die schrecklichsten Rekruten ich je hatte! Hoch mit Füße!«

»Ich nie nichts getan.«

»Jetzt du tun zum erstenmal etwas in deinem schrecklichen Leben, Obergefreiter Kohlenfresse! Du sein Mann der Wache!«

Die Truppe verschwand hinter einer Ecke.

»Was ist hier los?« fragte Angua.

»Keine Ahnung. Ich könnte mehr herausfinden, wenn einer von ihnen stehenbleibt und pinkelt.«

Am Wachhaus auf dem Pseudopolisplatz hatte sich eine kleine Menge eingefunden, ebenfalls Wächter, wie es schien. Feldwebel Colon stand im flackernden Schein einer Öllampe, kritzelte etwas auf sein Heftbrett und sprach mit jemandem, der einen langen Schnurrbart hatte.

»Und wie heißt du?«

»SILAS! LÄSTIGVIEL!«

»Bist früher Ausrufer gewesen, nicht wahr?«

»DAS STIMMT!«

»Na schön. Gebt ihm den Königsshilling. Oberobergefreiter Knuddel? Einer für deine Gruppe.«

»WER IST OBEROBERGEFREITER KNUDDEL?« fragte Lästigviel.

»Hier unten.«

Der Mann senkte den Kopf.

»ABER DU BIST! EIN ZWERG! ICH HABE NIE…«

»Nimm gefälligst Haltung an, wenn du mit einem vorvorgesetzten Offizier sprichst!« donnerte Knuddel.

»In der Wache gibt es keine Zwerge, Trolle oder Menschen«, erklärte Colon. »Nur Wächter. Verstehst du? Das meint jedenfalls Korporal Karotte. Wenn du dich lieber Oberobergefreiter Detritus’ Gruppe anschließen möchtest…«

»ICH MAG… ZWERGE«, versicherte Lästigviel hastig. »HABE SIE IMMER GEMOCHT: OBWOHL ES IN DER WACHE NATÜRLICH KEINE GIBT«, fügte er nach kaum merklichem Zögern hinzu.

»Du lernst schnell«, sagte Knuddel. »Könntest es bei uns weit bringen. Vielleicht findest du eines Tages den Knopf eines Feldmarschalls in deiner Hosentasche. Keeehrt Maaarsch! Und im Laaaufschritt, zack-zack…«

»Das ist der fünfte Freiwillige«, sagte Colon zu Korporal Nobbs, als Knuddel und sein neuer Rekrut in der Dunkelheit verschwanden. »Selbst der Dekan der Unsichtbaren Universität wollte Wächter werden. Erstaunlich.«

Angua sah zu Gaspode, der mit den Achseln zuckte.

»Detritus sorgt dafür, daß seine Jungs spuren«, stellte Colon fest. »Nach zehn Minuten sind sie wie… wie Knete unter seinen Fäusten. Das wundert mich nicht. Ich meine, bei solchen Fäusten… Der Bursche erinnert mich an meinen Ausbilder beim Heer.«

»Ein harter Bursche?« fragte Nobbs und zündete eine Zigarette an.

»Ein harter Bursche? Hart? Potzblitz! Dreizehn Wochen des Elends mußten wir überstehen! Jeden Morgen fünfzehn Kilometer laufen. Fast immer steckten wir bis zum Hals im Schlamm. Und die ganze Zeit über verfluchte uns der Kerl. Ließ sich immer neue Schimpfwörter einfallen. Einmal mußte ich die Latrine mit ‘ner Zahnbürste reinigen. Dauerte die ganze Nacht. Morgens schwang er einen Stock mit Dornen, um uns zu wecken. Er ließ uns nach seiner Pfeife tanzen. Wir haßten den verdammten Kerl und hätten es ihm am liebsten heimgezahlt, aber dazu brachte niemand von uns den Mut auf. Drei Monate lang machte er uns das Leben zur Hölle. Doch bei der Abschlußfeier, als wir in Uniform Aufstellung bezogen und sahen, was aus uns geworden war, richtige Soldaten und so… Nun, ich will ganz offen sein.« Die Hunde beobachteten, wie Colon sich etwas aus dem Auge wischte, das eine Träne sein mochte. »Tonker Haurein, Hoggy Kartoffel und ich… Wir haben dem Burschen anschließend in einer Gasse aufgelauert und ihn windelweich geschlagen. Meine Fingerknöchel schmerzten drei Tage lang.« Colon putzte sich die Nase. »Ach, das waren noch Zeiten. Möchtest du ein Bonbon, Nobby?«

»Ja, gern, Fred.«

»Gib dem kleinen Hund auch einen«, sagte Gaspode. Colon gab ihm tatsächlich einen und wunderte sich darüber.

»Siehst du?« Gaspode zermalmte den Bonbon zwischen seinen gräßlichen Zähnen. »Es klappt praktisch immer. Toll, nicht wahr?«

»Du solltest besser aufpassen«, riet ihm Angua. »Wenn der Große Fido dahinterkommt…«

»Oh, von dem habe ich nichts zu befürchten. Es wird es nicht wagen, etwas gegen mich zu unternehmen. Weil ich die Macht habe.« Gaspode kratzte sich eifrig am Ohr. »Hör mal, niemand zwingt dich, ins Wachhaus zurückzukehren. Wir könnten…«

»Nein.«

»Die Geschichte meines Lebens«, verkündete Gaspode. »Da ist Gaspode. Gebt ihm einen Tritt.«

»Ich dachte, du bist jederzeit bei deiner großen, glücklichen Familie willkommen«, erwiderte Angua und schob die Tür auf.

»Wie? Oh. Ja, natürlich«, sagte Gaspode hastig. »Nun, mir gefällt meine… äh… Unabhängigkeit. Aber im Prinzip hast du recht. Eine große, glückliche Familie wartet auf mich.«

Angua sprang die Treppe hoch und drückte mit der Pfote die Klinke der nächsten Tür.

Es war Karottes Zimmer. Sein Geruch – das farbliche Äquivalent war eine Mischung aus Goldgelb und Rosarot.

An der einen Wand hing ein Bild, das eine Zwergenmine zeigte. An der anderen bemerkte Angua ein weiteres Blatt Papier: Viele sorgfältige Bleistiftstriche formten eine Karte der Stadt; bestimmte Stellen waren nachträglich geändert worden.

Vor dem Fenster stand ein kleiner Tisch – genau der richtige Platz, um möglichst viel Licht zu bekommen und Kerzen zu sparen. Papier lag darauf, und Stifte steckten in einem kleinen Topf. Vor dem Tisch stand ein alter Stuhl. Unter einem Bein lag ein Stück Pappe, damit er nicht wackelte.

Das war’s auch schon, abgesehen von einer Truhe mit Kleidungsstücken. Angua fühlte sich an Mumms Zimmer erinnert. Dieser Ort diente nur zum Schlafen; niemand wohnte hier.

Sie fragte sich, ob Wächter wirklich einmal ganz und gar dienstfrei hatten. Es fiel ihr sehr schwer, sich Feldwebel Colon in ziviler Kleidung vorzustellen. Wenn man Mitglied der Wache wurde, war man es rund um die Uhr. Für die Stadt war das ein gutes Geschäft, da sie nicht etwa für vierundzwanzig Stunden bezahlte, sondern nur für zehn.

»Na schön«, sagte Angua. »Ich nehme mir ein Laken. Schließ die Augen.«

»Warum?« fragte Gaspode.

»Anstandshalber.«

Gaspode schwieg einige Sekunden. »Oh, natürlich. Völlig klar. Ich verstehe. Es gehört sich nicht, daß ich eine nackte Frau sehe. Das könnte mich auf dumme Gedanken bringen. Lieber Himmel!«

»Du weißt, was ich meine.«

»Nein, das kann ich nicht behaupten. Ich weiß es nicht. Kleidung war für mich als Hund nie etwas, das man als ein dingsda Dingsbums bezeichnen könnte.« Gaspode kratzte sich einmal mehr am Ohr. »Das sind gleich zwei metasyntaktische Variablen. Entschuldige.«

»Bei dir ist das etwas anderes. Du weißt, wer ich bin. Außerdem sind Hunde von Natur aus nackt.«

»Menschen ebenfalls.«

Angua verwandelte sich.

Gaspode legte die Ohren an und winselte.

Angua streckte sich.

»Weißt du, was besonders unangenehm ist?« fragte sie. »Die Haare. Nachher kriege ich kaum die Knoten raus. Und dann die schmutzigen Füße…«

Sie zog ein Laken vom Bett und improvisierte daraus eine Art Toga.

»Na bitte«, sagte sie. »Auf der Straße sieht man täglich Leute, die schlechter gekleidet sind. Gaspode?«

»Ja?«

»Du kannst die Augen jetzt wieder öffnen.«

Gaspode blinzelte. Angua in der einen oder der anderen Gestalt zu sehen – kein Problem. Doch die Phase dazwischen, wenn das morphische Signal die Reise zwar begonnen, den Bestimmungsort aber noch nicht erreicht hatte… So etwas sollte man besser nicht mit vollem Magen beobachten.

»Ich dachte, du rollst knurrend und heulend auf dem Boden umher…«

Die Fähigkeit, im Dunkeln sehen zu können, verflüchtigte sich nicht sofort, und Angua nutzte sie, um ihr Spiegelbild zu betrachten.

»Warum?«

»Die Veränderung… tut sie weh?«

»Es ist, wie mit dem ganzen Körper zu niesen. Man sollte eigentlich meinen, daß Karotte einen Kamm hat, nicht wahr? Ich meine, jeder hat einen Kamm.«

»Wie ein… besonders starkes Niesen?«

»Ich gäbe mich auch mit einer Kleiderbürste zufrieden.«

Gaspode und Angua erstarrten, als sich die Tür knarrend öffnete.

Karotte kam herein. In der Finsternis merkte er gar nicht, daß sich jemand im Zimmer befand. Flackerndes Licht erglühte, und es roch nach Schwefel, als der junge Mann ein Streichholz entzündete und die Flamme an einen Kerzendocht hielt.

Er nahm den Helm ab und sackte in sich zusammen, als wäre ihm plötzlich ein schweres Gewicht von den Schultern genommen.

»Es ergibt keinen Sinn«, sagte er.

»Was ergibt keinen Sinn?« fragte Angua.

Karotte drehte sich ruckartig um.

»Was machst du hier?«

»Man hat deine Uniform gestohlen, während du bei den Assassinen Informationen gesammelt hast«, murmelte Gaspode.

»Jemand hat meine Uniform gestohlen«, sagte Angua. »Während ich bei den Assassinen gewesen bin, um dort Informationen zu sammeln.« Karotte starrte sie immer noch an. »Ein alter Mann war in der Nähe«, fügte sie hinzu. »Er brummte dauernd vor sich hin…«

»In einer Sprache, die nur er selbst versteht?«

»Ich glaube schon.«

»Der Stinkende Alte Ron.« Karotte seufzte. »Wahrscheinlich hat er die Uniform gegen was Hochprozentiges eingetauscht. Aber ich weiß, wo er wohnt. Erinnere mich daran, mit ihm zu reden, sobald ich Zeit habe.«

»Frag Angua besser nicht, was sie trug, als sie bei den Assassinen war«, sagte Gaspode, der unters Bett gekrochen war.

»Sei still!« zischte Angua.

»Wie bitte?« fragte Karotte.

»Ich habe mehr über das Zimmer herausgefunden«, meinte die junge Frau. »Es war die Unterkunft eines gewissen…«

»Edward d’Eath?« Karotte setzte sich aufs Bett, und die alten Federn sangen Klong-kloing-klong.

»Woher weißt du das?«

»Ich glaube, d’Eath hat das Gewehr gestohlen. Vermutlich brachte er auch Beano um. Aber… Assassinen töten nicht, ohne dafür bezahlt zu werden. Es ist schlimmer als mit Zwergen und ihren Werkzeugen. Auch schlimmer als Clowns und ihre Gesichter. Professor Kreuz soll außer sich sein. Er läßt den Jungen überall in der Stadt von seinen Assassinen suchen.«

»Oh. Gut. Ich möchte nicht in Edwards Haut stecken, wenn sie ihn finden.«

»Ich möchte nicht einmal jetzt in seiner Haut stecken. Weil es die Haut einer Leiche ist.«

»Ach? Haben die Assassinen ihn bereits gefunden?«

»Nein. Jemand anders. Und anschließend fanden ihn Knuddel und Detritus. Alles deutet darauf hin, daß Edward schon seit einigen Tagen tot ist. Und das ergibt einfach keinen Sinn. Ich habe die Beano-Schminke fortgewischt und ihm auch die rote Nase abgenommen – an der Identität des Toten gibt es keinen Zweifel. Außerdem bestand die Perücke aus dem roten Haar, das ich bei Hammerhock gefunden habe.«

»Aber… jemand hat auf Detritus geschossen. Und das Bettlermädchen umgebracht.«

»Ja.«

Angua setzte sich ebenfalls aufs Bett.

»Edward kann’s nicht gewesen sein…«

»Ha!« Karotte legte den Brustharnisch beiseite und streifte das Kettenhemd ab.

»Also suchen wir jemand anderen. Einen dritten Mann.«

»Und es gibt nicht den geringsten Hinweis. Irgendwo in der Stadt treibt sich jemand mit dem Gfähr herum! Irgendwo! Und ich bin müde!«

Das Kloing der Federn wiederholte sich, als Karotte aufstand und zum Tisch wankte. Dort nahm er Platz, griff nach einem Stift, spitzte ihn mit seinem Schwert an, überlegte kurz und begann zu schreiben.

Angua beobachtete ihn stumm. Unter dem Kettenhemd trug Karotte ein kurzärmeliges Lederwams. Ein Muttermal zierte den linken Oberarm – es sah aus wie eine Krone.

»Notierst du alles, so wie Hauptmann Mumm?« fragte sie nach einer Weile.

»Nein.«

»Was schreibst du dann?«

»Einen Brief an meine Eltern.«

»Im Ernst?«

»Ich schreibe ihnen immer. Das habe ich versprochen. Außerdem hilft es mir beim Nachdenken. Wenn ich über etwas nachdenke, setze ich mich hin und schreibe einen Brief. Mein Vater gibt mir viele nützliche Ratschläge.«

Ein kleiner Kasten aus Holz stand auf dem Tisch; er enthielt Briefe. Karottes Vater hatte die Angewohnheit, die Briefe seines Adoptivsohns auf der Rückseite desselben Papiers zu beantworten – tief in einer Zwergenmine bekommt man kaum Papier.

»Nützliche Ratschläge?« wiederholte Angua. »Welcher Art?«

»Die meisten betreffen die Arbeit in den Bergwerken. Wie man richtig gräbt und richtig abstützt. In Stollen darf man sich keine Fehler erlauben.«

Die Spitze des Stifts kratzte übers Blatt.

Die Tür stand noch immer einen Spalt offen, doch jemand klopfte recht zaghaft an. Damit wies der Betreffende taktvoll darauf hin, daß er Karotte in Gesellschaft einer spärlich bekleideten Frau sah und eigentlich gar nicht gehört werden wollte.

Feldwebel Colon hüstelte. Er ließ leisen Spott darin mitschwingen.

»Ja, Feldwebel?« fragte Karotte, ohne sich umzudrehen.

»Hast du weitere Anweisungen, Herr?«

»Stell Patrouillengruppen zusammen, Feldwebel. Jeder müssen mindestens ein Mensch, ein Troll und ein Zwerg angehören.«

»Ja, Herr. Was ist die Aufgabe der Gruppen?«

»Sie sollen gesehen werden, Feldwebel.«

»In Ordnung, Herr. Herr? Wir haben einen neuen Freiwilligen. Heißt Bleich. Kommt aus der Ulmenstraße. Eigentlich ist er ein Vampir, aber er arbeitet im Schlachthaus, und deshalb…«

»Dank ihm für seine Bereitschaft und schick ihn heim, Feldwebel.«

Colon sah zu Angua.

»Ja, Herr, in Ordnung«, sagte er widerstrebend. »Weißt du, eigentlich gibt es mit ihm gar keine Probleme, er braucht nur zusätzliche Homogoblins im Blut…«

»Nein!«

»Na schön. Ich… äh… sage ihm also, daß er nach Hause gehen soll.«

Colon schloß die Tür. Sie knarrte spöttisch.

»Man nennt dich ›Herr‹«, meinte Angua. »Ist dir das aufgefallen?«

»Ja. Und es ist nicht richtig. Es wäre besser, wenn die Leute für sich selbst denken würden. Diesen Standpunkt vertritt Hauptmann Mumm. Das Problem mit den Leuten ist, daß sie nur dann für sich selbst denken, wenn man sie dazu auffordert. Wie schreibst du ›Eventualität‹?«

»Ich würde darauf verzichten, ein solches Wort zu schreiben.«

»Gut.« Karotte drehte sich noch immer nicht um. »Ich schätze, wir können die Ruhe in der Stadt auch für den Rest der Nacht gewährleisten. Alle sind zur Vernunft gekommen.«

Nein, das sind sie nicht, widersprach Angua in Gedanken. Sie haben dich gesehen. Und das ist wie Hypnose.

Die Leute versuchen, deiner Vision gerecht zu werden. Du träumst wie der Große Fido. Doch es gibt einen wichtigen Unterschied: Fido träumt einen Alptraum, und du träumst für alle. Du bist wirklich davon überzeugt, daß jeder von Natur aus gut ist. Und die Leute glauben es ebenfalls, solange sie in deiner Nähe sind.

Draußen erklang rhythmisches Knirschen. Detritus’ Truppe drehte eine weitere Runde.

Angua gab sich einen inneren Ruck. Früher oder später mußte er Bescheid wissen.

»Karotte?«

»Hmm?«

»Weißt du, warum Knuddel, der Troll und ich zur Wache kamen?«

»Ja, natürlich. Ihr repräsentiert Minderheiten: ein Troll, ein Zwerg und eine Frau.«

»Oh.« Angua zögerte. Draußen schien noch immer der Mond. Sie konnte Karotte alles sagen, anschließend hinauslaufen, sich verwandeln und bis zum Morgengrauen ein ganzes Stück von der Stadt entfernt sein. Mit der Flucht aus Städten hatte sie Erfahrung.

»Die Sache ist ein wenig anders«, sagte sie. »Weißt du, es gibt viele Untote in der Stadt, und der Patrizier meinte…«

»Gib ihr einen Kuß«, warf der unterm Bett liegende Gaspode ein.

Angua erstarrte. In Karottes Gesicht zeigte sich die typische Verwirrung eines Mannes, der etwas gehört hat, das sein Gehirn für unmöglich hält. Seine Wangen röteten sich.

»Gaspode« entfuhr es Angua auf Hundisch.

»Keine Sorge, ich kenne mich aus mit solchen Dingen«, lautete die Antwort. »Ein Mann, eine Frau. Es ist praktisch Schicksal.«

»Ich muß jetzt gehen«, sagte Angua.

»Äh. Bitte bleib…«

»Nimm sie in die Arme«, ließ sich Gaspode vernehmen.

Es geht nicht gut, fuhr es Angua durch den Sinn. Es kann nicht gutgehen. Werwölfe brauchen die Gesellschaft anderer Werwölfe, weil nur sie verstehen…

Da sie aber ohnehin weglaufen mußte…

Sie hob die Hand.

»Einen Augenblick«, sagte sie, griff unters Bett und packte Gaspode im Genick.

»Du brauchst mich!« winselte der Hund, als Angua ihn zur Tür trug. »Er hat doch überhaupt keine Ahnung. Seine Vorstellung von Vergnügen besteht darin, dir den Koloß von Morpork zu zeigen. Laß mich…«

Die Tür fiel ins Schloß, und Angua lehnte sich dagegen.

Vermutlich endet es genauso wie in Pseudopolis und Quirm und…

»Angua?« fragte Karotte.

Sie drehte sich um.

»Sag nichts«, kam sie ihm zuvor. »Dann klappt’s vielleicht.«

Nach einer Weile quietschten die Federn des Bettes.

Noch etwas später bewegte sich die Scheibenwelt für Korporal Karotte. Und sie wollte gar nicht wieder zur Ruhe kommen.

 

Korporal Karotte erwachte gegen vier Uhr, zu jener geheimen Stunde, die nur den Bewohnern der Nacht bekannt ist: Verbrechern, Polizisten und anderen Außenseitern. Er drehte sich auf seiner Hälfte des schmalen Bettes um und starrte an die Wand.

Es lag zweifellos ein sehr interessantes Erlebnis hinter ihm.

Er verdiente es tatsächlich, als schlicht und einfach beschrieben zu werden, doch das durfte man nicht mit Dummheit verwechseln: Er kannte die mechanischen Aspekte dieser Angelegenheit. Er hatte verschiedene junge Damen kennengelernt und mit ihnen weite, gesunde Spaziergänge zu den vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt unternommen – seltsamerweise erlahmte das Interesse seiner Begleiterinnen regelmäßig nach einer gewissen Zeit. Er hatte auch im Bereich der Bordelle patrouilliert, der bald einen neuen Namen bekommen sollte: Frau Palm und die Gilde der Näherinnen wollten ihn vom Patrizier in »Straße käuflicher Zuneigung« umbenennen lassen. Bisher war er nicht imstande gewesen, zwischen den ihm dort bekannten Frauen und sich selbst eine direkte Beziehung, welcher Art auch immer, zu erkennen.

Jetzt sah die Sache anders aus.

Karotte überlegte, ob er seinen Eltern darüber schreiben sollte. Er entschied sich schließlich dagegen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wußten sie über diese Dinge Bescheid.

Er schlüpfte aus dem Bett. Wegen der zugezogenen Vorhänge war es drückend heiß im Zimmer.

Hinter ihm rutschte Angua in die Mulde, die sein Körper hinterlassen hatte.

Er hob beide Hände und schob energisch die Vorhänge beiseite. Das weiße Licht des Vollmonds perlte herein.

Hinter ihm seufzte Angua im Schlaf.

Gewitterwolken schwebten über der Ebene. Karotte beobachtete, wie Blitze aus ihnen herabzuckten, und er roch Regen. Doch die Luft in der Stadt blieb unbewegt und schwül. Angesichts des bevorstehenden Unwetters schien sie noch heißer zu sein.

Vorn ragte der Kunstturm auf. Karotte sah ihn jeden Tag. Er dominierte die halbe Stadt.

Hinter ihm machte das Bett Kloing.

»Ich glaube, wir…«, begann Karotte und drehte sich um.

Er nahm nicht mehr wahr, daß sich der Mondschein oben auf dem Kunstturm in einem metallenen Objekt spiegelte.

 

Feldwebel Colon saß auf der Bank vor dem Wachhaus, um ein wenig kühlere Luft zu atmen.

Drinnen klopfte und pochte es immer wieder. Vor zehn Minuten war Knuddel gekommen, mit Werkzeugen, zwei Helmen und jeder Menge Entschlossenheit im Gesicht. Colon hatte nicht die geringste Ahnung, woran der kleine Kerl arbeitete.

Erneut zählte er und hakte dabei die Namen auf der Liste ab.

Kein Zweifel. Inzwischen bestand die Nachtwache aus fast zwanzig Personen. Es mochten sogar noch mehr sein. Detritus war inzwischen richtig in Schwung und hatte weitere Rekruten vereidigt: zwei Menschen, einen Troll und die Holzpuppe vor Korkensockes Kleidungsladen.28 Wenn es so weiterging, konnten sie bald wieder die alten Wachhäuser an den Haupttoren besetzen, wie in der guten alten Zeit.

Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann die Nachtwache zuletzt zwanzig Mann stark gewesen war.

Es erwies sich als gute Idee. So blieb die Situation immerhin unter Kontrolle. Aber am nächsten Morgen würde der Patrizier davon erfahren, und bestimmt versäumte er es nicht, den ranghöchsten Offizier zu sich zu bestellen.

Feldwebel Colon wußte nicht genau, wer derzeit der ranghöchste Offizier war. Irgend etwas teilte ihm mit, daß es Hauptmann Mumm sein sollte, oder aber – aus welchen Gründen auch immer – Korporal Karotte. Doch der Hauptmann glänzte durch Abwesenheit, und der Korporal blieb ein Korporal. Dieser Umstand erklärte Feldwebel Colons wachsendes Unbehagen. Wenn der Patrizier am kommenden Morgen nach dem ranghöchsten Offizier schickte, so befürchtete Fred Colon, das er sich ironische Fragen in der Art von »Ach, und wer soll den Sold der neuen Rekruten bezahlen?« anhören mußte.

Ein anderes Problem kam hinzu: Ihnen gingen allmählich die Ränge aus. Es gab nur vier Ränge unter dem des Feldwebels. Nobby wollte nicht, daß noch jemand zum Korporal befördert wurde, und deshalb gab es an manchen Stellen erhebliches Gedrängel auf der Karriereleiter. Außerdem hatten es sich einige Wächter in den Kopf gesetzt, daß man befördert wurde, wenn man weitere Wächter rekrutierte. Detritus war dabei so erfolgreich, daß er sicher bald zum Oberobergeneralmajor aufstieg.

Wie seltsam, daß Karotte noch immer nur…

Colon blickte auf, als er das Klirren von Glas hörte. Ein goldbrauner Schemen raste durch ein weiter oben gelegenes Fenster, landete im Schatten und floh, bevor der Feldwebel erkennen konnte, was das gewesen war.

Die Tür des Wachhauses schwang auf, und Karotte trat mit dem Schwert in der Hand nach draußen.

»Wohin ist es gelaufen? Wohin?«

»Keine Ahnung. Was war’s überhaupt?«

Karotte zögerte.

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Karotte?«

»Feldwebel?«

»Du solltest dir was anziehen, Junge.«

Karotte starrte in die Dunkelheit.

»Ich habe mich umgedreht, und ganz plötzlich sah ich…«

Er blickte auf das Schwert hinab und schien es erst jetzt richtig zur Kenntnis zu nehmen.

»Oh, verdammt!« stöhnte er.

Rasch kehrte er in sein Zimmer zurück und griff dort nach seiner Hose. Als er sie anzog, durchfuhr ihn ein Gedanke, so klar wie klares Eis.

Du bist doch wirklich ein Blödmann. Hast ganz automatisch das Schwert gezückt. Wie dumm von dir! Jetzt ist sie weggelaufen, und wahrscheinlich siehst du sie nie wieder!

Er drehte sich um. Ein kleiner grauer Hund stand in der Tür und beobachtete ihn aufmerksam.

Nach einem solchen Schock verwandelt sie sich vielleicht nie zurück, fuhren die Gedanken fort. Was spielt es für eine Rolle, daß sie ein Werwolf ist? Bis vor kurzem hat es dich überhaupt nicht gestört, oder? Wenn du übrigens irgendwelche Kekse hast, kannst du sie dem kleinen grauen Hund in der Tür geben. Allerdings stehen die Chancen dafür, daß du derzeit Kekse bei dir hast, ziemlich schlecht, denn in nicht existierenden Taschen lassen sie sich wohl kaum verstauen. Wie dem auch sei: Du hast die Sache ganz schön vermasselt.

… dachte Karotte.

»Wuff, wuff«, sagte der Hund.

Karotte runzelte die Stirn.

»Die Worte stammen von dir, nicht wahr?« Er deutete mit dem Schwert auf die Promenadenmischung.

»Von mir?« erwiderte Gaspode. »Hunde können nicht sprechen. Ich muß es wissen – ich bin einer.«

»Sag mir sofort, wo sie hingelaufen ist! Sonst…«

»Sonst was?« Gaspode seufzte. »Weißt du, was die erste Erinnerung in meinem Leben ist? Die allererste? Man hat mich in den Fluß geworfen. In einem Sack. Mit einem Backstein. Mich. Ich meine, ich habe richtig niedlich gewatschelt. Und ich hatte ein lustig umgeknicktes Ohr. Und ich bin flauschig gewesen. Der Sack landete im Ankh, besser gesagt, darauf. Ich konnte ans Ufer gehen. Aber so begann es, und später wurde es nicht besser. Ich meine, ich bin in dem Sack ans Ufer gegangen und habe den Backstein hinter mir hergezogen. Drei Tage brauchte ich, um mich durch das Leinen zu kauen. Na los. Droh mir ruhig.«

»Bitte?« fragte Karotte.

Gaspode kratzte sich am Ohr.

»Vielleicht könnte ich ihrer Fährte folgen«, räumte er ein. »Mit dem richtigen Ansporn.«

Er wackelte erwartungsvoll mit den Ohren.

»Wenn du sie findest, erfülle ich dir jeden Wunsch«, sagte Karotte.

»Oh, ich verstehe. Wenn. Ja. Schön und gut, das Wenn. Aber wie wär’s mit einem Vorschuß? Sieh dir nur diese Pfoten an. Sie sind völlig abgenutzt. Und diese Nase hier riecht nicht von allein. Sie ist ein Präzisionsinstrument.«

»Wenn du nicht sofort mit der Suche beginnst, sorge ich persönlich dafür, daß du…« Karotte zögerte. Noch nie in seinem Leben war er grausam zu einem Tier gewesen.

»… überlasse ich die Angelegenheit Korporal Nobbs«, beendete er den Satz.

»Das nenne ich den richtigen Ansporn«, kommentierte Gaspode bitter.

Er drückte seine schrumpelige Schnauze an den Boden. Das war eigentlich gar nicht nötig; Anguas Geruch hing wie ein Regenbogen in der Luft.

»Du kannst wirklich sprechen?« fragte Karotte.

Gaspode rollte mit den Augen.

»Natürlich nicht«, antwortete er.

 

Die Gestalt erreichte das Ende des Turms.

Überall in der Stadt brannten Lampen und Kerzen. Zehntausend kleine, an den Boden gebundene Sterne erstreckten sich tief unten, und er konnte jeden einzelnen von ihnen auslöschen. Er hatte die Macht eines Gottes.

Es war erstaunlich, wie viele Geräusche man hier oben hören konnte. Auch dadurch fühlte man sich wie ein Gott. Er vernahm das Bellen von Hunden und sogar die Stimmen von Menschen. Gelegentlich übertönte eine die anderen und reckte sich dem Nachthimmel entgegen.

Dies war Macht. Jene andere Macht, die ihm dort unten gehörte, die es ihm erlaubte, Anweisungen zu erteilen… Sie gehörte in die Sphäre der Menschen. Diese Macht war etwas anderes. Sie gebührte den Göttern.

Er hob das Gfähr, schob ein Schußmagazin in die Halterung und zielte auf verschiedene Lichter. Er wählte sie ganz nach Belieben aus.

Er hätte nicht zulassen sollen, daß das Gfähr die Bettlerin erschoß. Der Plan verlangte etwas ganz anderes. Gildenoberhäupter – so sah es die Strategie des armen kleinen Edward vor. Zuerst die Gildenoberhäupter. Man nehme der Stadt die Anführer und stürze sie dadurch ins Chaos. Im Anschluß daran wende man sich an den ahnungslosen jungen Mann und sage zu ihm: Regiere – das Schicksal hat dich dazu bestimmt.

Diese Denkweise war eine alte Krankheit. Man bekam sie von Kronen und törichten Geschichten. Man glaubte – ha! – an irgendeine Gabe, die für das Amt des Königs qualifizierte. Zum Beispiel die Sache mit dem Schwert und dem Stein. Lächerlich! Das Gfähr war viel magischer.

Er legte sich hin, strich zärtlich über das Gfähr und wartete.

 

Ein neuer Tag begann.

»Ich nie nichts getan«, sagte Kohlenfresse im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite.

Detritus schlug ihn mit der Keule.

»Aufgestanden, Soldaten! Nicht dauernd liegen auf faulem Stein! Es sein ein weiterer herrlicher Tag in der Wache! Obergefreiter Kohlenfresse, auf die Beine mit dir, du schrecklicher kleiner Mann!«

Zwanzig Minuten später inspizierte ein müder Feldwebel Colon die Truppe. Zusammengesunken hockten die Wächter auf den Sitzbänken, nur Oberobergefreiter Detritus saß kerzengerade, in eine Aura aus offizieller und erwartungsvoller Hilfsbereitschaft gehüllt.

»In Ordnung, Männer«, begann Colon. »Ihr…«

»Ihr Männer jetzt gut zuhören!« donnerte Detritus.

»Danke, Oberobergefreiter Detritus«, sagte Colon und seufzte innerlich. »Hauptmann Mumm heiratet heute, und wir nehmen als Ehrenwache an der Zeremonie teil. Das war früher immer so, wenn ein Wächter heiratete. Ich möchte also, daß Helme und Brustharnische blitzsauber sind. Alles soll hübsch glänzen. Nirgends darf auch nur der kleinste Schmutzfleck zu sehen sein… Wo ist Korporal Nobbs?«

Mit einem Boing prallte die salutierende Hand des Oberobergefreiten Detritus von seinem neuen Helm ab.

»Schon seit Stunden verschwunden sein!« berichtete er.

Colon rollte mit den Augen.

»Einige von euch sollen heute… Wo ist Obergefreite Angua?«

Boing. »Seit gestern abend niemand mehr sie gesehen hat.«

»Na schön. Wir haben die Nacht überstanden; irgendwie bringen wir auch den Tag rum. Korporal Karotte meinte, wir sollten einen guten Eindruck machen.«

Boing. »Jawohl!«

»Oberobergefreiter Detritus?«

»Ja?«

»Was hast du da auf dem Kopf?«

Boing. »Oberobergefreiter Knuddel das gebaut für mich. Es sein besonderer mechanischer Denkhelm.«

Knuddel hüstelte. »Diese großen Teile hier sind Kühlrippen, siehst du? Ich habe sie schwarz gestrichen, damit sie die Wärme leichter abgeben. Von meinem Vetter habe ich einen aufziehbaren Mechanismus bekommen, und dieser Ventilator hier bläst kühlende Luft über…« Er unterbrach sich, als er Colons Gesichtsausdruck bemerkte.

»Daran hast du die ganze Nacht gearbeitet?«

»Ja. Weil ich glaube, daß Trollgehirne zu h…«

Der Feldwebel brachte ihn mit einem Wink zum Schweigen.

»Wir haben jetzt also einen aufziehbaren Soldaten«, brummte Colon. »Meine Güte, wir sind wirklich eine tolle Truppe.«

 

Gaspode war in geographische Verlegenheit geraten. Er wußte vage, wo er sich befand. Sein gegenwärtiger Aufenthaltsort lag irgendwo hinter den Schatten, in einem Labyrinth aus Hafenbecken, Kaianlagen und Viehhöfen. Zwar glaubte er, daß die ganze Stadt ihm gehörte, doch in diesem Revier fühlte er sich fremd. Die Ratten hier konnten es von der Größe her mit ihm aufnehmen, und seine Gestalt erinnerte zumindest grob an die eines Terriers – zum Glück verwechselten ihn die Ratten mit einem. Inzwischen war er schon von zwei Pferden getreten und fast von einem Karren überfahren worden. Und er hatte die Fährte verloren. Vor allem deshalb, weil Angua nicht verfolgt werden wollte. Ihre Spur führte einmal in diese und dann in jene Richtung. Sie hatte Dutzende von Dächern und mehrmals den Fluß überquert. Werwölfe waren gut auf der Flucht – immerhin stammten die lebenden Exemplare von Vorfahren ab, denen es gelungen war, zornigen Mengen zu entkommen. Wer sich von aufgebrachten Leuten einholen ließ, hatte keine Gelegenheit mehr, Nachkommen zu zeugen – und in den meisten Fällen auch kein Grab.

Einige Male endete die Spur an Mauern oder an Hütten mit niedrigen Dächern. Dann schlurfte Gaspode hin und her, bis er sie wiederfand.

Wirre Gedanken zogen durch sein schizophrenes Hunde-Selbst.

»Kluger Hund brachte Rettung«, murmelte er. »Braves Hündchen, sagen alle. Aber ich bin gar nicht brav. Ich mache das nur, weil man mich dazu zwingt. Die Wundernase. Ich wollte es überhaupt nicht. Du Wirst Einen Leckeren Knochen Bekommen. Ich bin nur Treibgut auf dem Meer des Lebens. Braves Hündchen… Halt die Klappe.«

Die Sonne kroch am Firmament empor. Weiter unten kroch Gaspode durch die Stadt.

 

Willikins zog die Vorhänge beiseite, und heller Sonnenschein strömte herein. Mumm stöhnte und setzte sich langsam im zerwühlten Bett auf.

»Lieber Himmel«, brachte er hervor. »Wie spät ist es?«

»Fast neun Uhr morgens, Herr«, antwortete der Diener.

»Neun Uhr morgens? Und um solche Zeit soll ich aufstehen? Normalerweise krieche ich erst aus den Federn, wenn der Nachmittag alt geworden ist.«

»Aber jetzt braucht der Herr nicht mehr zu arbeiten, Herr.«

Mumm sah auf das Durcheinander aus Decken und Laken. Einige hatten sich ihm um die Beine gewickelt.

Dann fiel ihm der Traum ein.

Er war durch die Stadt gewandert.

Eigentlich war es nicht in dem Sinne ein Traum, eher eine Erinnerung – schließlich wanderte er jede Nacht durch Ankh-Morpork. Etwas in ihm gab nicht auf. Ein Teil seines Ichs lernte Zivilist zu sein, doch ein älterer Aspekt seines Wesens marschierte – nein, patrouillierte – in einem anderen Takt. Jetzt wußte er, warum ihm die Stadt im Traum so sonderbar leer erschienen war.

»Möchte sich der Herr selbst rasieren, oder soll ich das für ihn erledigen?«

»Ich werde nervös, wenn mir jemand Klingen vors Gesicht hält«, sagte Mumm. »Aber wenn du so freundlich wärst, das Pferd vor den Wagen zu spannen… Dann versuche ich, mich ins Bad zu begeben.«

»Sehr lustig, Herr.«

Mumm badete noch einmal – der Reiz des Neuen. Gewisse Hintergrundgeräusche deuteten darauf hin, daß die allgemeinen Aktivitäten in der Villa nun in die kritische Phase eintraten: Der Zeitpunkt H wie Hochzeit stand unmittelbar bevor. Lady Sybil widmete den diesbezüglichen Vorbereitungen die gleiche Aufmerksamkeit wie dem Bemühen, Sumpfdrachen durch selektive Zucht von Schlappohren zu befreien. Sechs Köche arbeiteten seit drei Tagen in der Küche, brieten dort einen ganzen Ochsen und stellten erstaunliche Dinge mit exotischen Früchten an. Bisher hatte sich Samuel Mumm unter einer besonders guten Mahlzeit Fleisch ohne Sehnen und Knorpel vorgestellt. Die Haute cuisine waren für ihn aufgespießte Käsestücke, deren Stäbchen in einer Pampelmuse steckten.

Er ahnte, daß angehende Bräutigame am Hochzeitsmorgen nicht ihre mutmaßliche Braut sehen durften – dadurch sollten sie vermutlich an der Flucht gehindert werden. Mumm bedauerte das. Er hätte gern mit jemandem gesprochen. Wenn er mit jemandem sprechen konnte, ergab vielleicht alles einen Sinn.

Er griff nach der Rasierklinge, starrte in den Spiegel und erblickte das Gesicht von Hauptmann Samuel Mumm.

 

Colon salutierte und sah Karotte groß an.

»Ist alles in Ordnung mit dir? Du scheinst recht müde zu sein.«

Diverse Glocken in der Stadt wiesen mehr oder weniger synchron darauf hin, daß es zehn Uhr geworden war. Karotte wandte sich vom Fenster ab.

»Ich bin unterwegs gewesen und habe gesucht«, erwiderte er.

»Heute morgen haben wir schon drei neue Rekruten bekommen«, sagte Colon. Die betreffenden Personen hatten darum gebeten, sich »Herrn Karottes Truppe« anschließen zu dürfen – das beunruhigte den Feldwebel ein wenig.

»Gut.«

»Detritus kümmert sich um die Grundausbildung«, fuhr Colon fort. »Es klappt gut. Nachdem er die Leute eine Stunde lang angeschrien hat, befolgen sie alle meine Anweisungen.«

»Ich möchte, daß möglichst viele Wächter auf den Dächern zwischen dem Palast und der Universität postiert werden«, sagte Karotte.

»Dort treiben sich bereits Assassinen herum«, entgegnete Colon. »Und die Diebesgilde hat einige ihrer Mitglieder auf die Dächer geschickt.«

»Es sind Diebe und Assassinen. Wir sind Wächter. Schick auch jemanden zum Kunstturm…«

»Herr?«

»Ja, Feldwebel?«

»Wir haben uns beraten, die Jungs und ich. Und… nun…«

»Ja?«

»Es würde uns allen viel Mühe ersparen, wenn wir die Zauberer bitten…«

»Hauptmann Mumm hat den Einsatz von Magie immer abgelehnt.«

»Aber…«

»Nein. Keine Zauberei, Feldwebel.«

»Ja, Herr.«

»Ist mit der Ehrenwache alles klar?«

»Ja, Herr. Brustharnische, Helme und der ganze Rest: alles blitzblank, Herr.«

»Tatsächlich?«

»Ja, Herr. Blitzblanke Brustharnische sind sehr wichtig. Weil der Feind darin sein Spiegelbild sieht und so sehr erschrickt, daß er flieht.«

»Gut.«

»Äh. Korporal Nobbs scheint verschwunden zu sein, Herr.«

»Ist das ein Problem?«

»Eigentlich nicht, Herr. Es bedeutet, daß die Ehrenwache etwas besser aussieht.«

»Ich habe ihn mit einer Sonderaufgabe beauftragt.«

»Obergefreite Angua ist ebenfalls nicht da.«

»Feldwebel?«

Colon versteifte sich unwillkürlich. Draußen verklang das Läuten der Glocken.

»Wußtest du, daß sie ein Werwolf ist?«

»Äh… Hauptmann Mumm deutete es an, Herr…«

»Auf welche Weise?«

Colon trat einen Schritt zurück.

»Mit folgenden Worten, Herr: ›Sie ist ein verdammter Werwolf, Fred. Es gefällt mir genausowenig wie dir, aber Vetinari besteht darauf, daß auch ein Untoter zur Wache gehört. Tja, ein Werwolf ist immer noch besser als ein Vampir oder ein Zombie.‹ So lautete der diskrete Hinweis des Hauptmanns, Herr.«

»Ich verstehe

»Äh. Es tut mir leid, Herr.«

»Nun, bringen wir den Tag hinter uns, Fred. Das wäre alles…«

Abing, abing, a-bing-bong…

»Wir haben vergessen, dem Hauptmann die Uhr zu geben«, sagte Karotte und zog sie aus der Tasche. »Vielleicht denkt er jetzt, wir scheren uns nicht um ihn. Vermutlich freute er sich darauf, eine Uhr zu bekommen. Immerhin ist das eine Tradition der Wache.«

»Einige ereignisreiche Tage liegen hinter uns, Herr. Wir können dem Hauptmann die Uhr nach der Trauung geben.«

Karotte schob sie in die Tasche zurück.

»Ja, du hast recht. Und jetzt… an die Arbeit, Feldwebel.«

 

Korporal Nobbs stapfte durch die Dunkelheit unter der Stadt. Inzwischen hatten sich seine Augen an die Düsternis gewöhnt. Er sehnte sich nach einer Zigarette, aber Karotte hatte ihm ausdrücklich verboten, an diesem Ort zu rauchen. Er sollte einen Sack nehmen, der Spur folgen und die Leiche holen. Ohne ihr eventuelle Wertgegenstände wie Schmuck abzunehmen.

 

Der Große Saal der Unsichtbaren Universität füllte sich allmählich.

Mumm hatte darauf bestanden, diesbezüglich lehnte er jeden Kompromiß ab. Er war kein Atheist in dem Sinn – Atheismus konnte recht gefährlich sein auf einer Welt, die mehrere tausend Götter kannte. Doch er mochte die heiligen Entitäten nicht besonders, und die Tatsache, daß er nun heiratete, ging sie seiner Meinung nach nichts an. Aus diesem Grund hatte er es abgelehnt, sich in einer Kapelle oder Kirche trauen zu lassen. Der Große Saal hier wirkte dem Anlaß angemessen kathedralenartig. Die Präsenz von Göttern war nicht erforderlich, aber falls doch welche kamen, sollten sie sich wenigstens zu Hause fühlen.

Mumm suchte den Saal schon sehr früh auf, denn es gibt nichts Überflüssigeres auf der Welt als einen Bräutigam kurz vor der Hochzeit. Austauschbare Emmas hatten das Haus übernommen.

Einige Platzanweiser walteten bereits ihres Amtes und fragten die Leute, auf welcher Seite sie standen.

Es waren auch mehrere Zauberer zugegen. Bei solchen Anlässen gehörten sie automatisch zu den Eingeladenen; sie nahmen nicht nur an der eigentlichen Zeremonie teil, sondern vor allem an dem Festschmaus. Ein gebratener Ochse genügte vermutlich nicht.

Mumm begegnete der Magie mit ausgeprägtem Mißtrauen, aber er mochte die Zauberer. Sie verursachten keine Probleme. Zumindest keine Probleme, die in seinen Zuständigkeitsbereich fielen. Zugegeben, dann und wann schufen sie Risse im Raum-Zeit-Kontinuum oder steuerten das Kanu der Realität zu weit in die Stromschnellen des Chaos. Doch sie brachen nie das Gesetz.

»Guten Morgen, Erzkanzler«, sagte er.

Erzkanzler Mustrum Ridcully, Oberhaupt aller Zauberer in Ankh-Morpork (sofern sie sich daran erinnerten), nickte fröhlich.

»Guten Morgen, Hauptmann«, erwiderte er. »Du hast dir einen schönen Tag ausgesucht.«

»Hahaha, einen schönen Tag hast du dir ausgesucht!« schrillte der Quästor.

»Meine Güte«, brummte Ridcully. »Er ist schon wieder daneben. Ich kann das überhaupt nicht verstehen. Hat jemand getrocknete Froschpillen dabei?«

Mustrum Ridcully war von der Natur dazu bestimmt, im Freien zu leben und alles zu jagen, was sich im Gebüsch bewegte. Es war ihm ein Rätsel, warum der Quästor – den die Natur dazu bestimmt hatte, irgendwo in einem Zimmer zu sitzen und Zahlen zu addieren – zu derartiger Nervosität neigte. Ridcully versuchte immer wieder, ihn »auf Vordermann« zu bringen, wie er es nannte. Zu den therapeutischen Methoden des Erzkanzlers gehörte es zum Beispiel, dem Quästor irgendwo aufzulauern und ganz plötzlich mit der Maske von Willi Vampir vor dem Gesicht hinter Türen hervorzuspringen. Aber selbst damit war es ihm bisher nicht gelungen, den Quästor zu kurieren.

Die Trauungszeremonie sollte vom Dekan durchgeführt werden, der dafür sorgfältige Vorbereitungen getroffen hatte. Für die standesamtliche Heirat gab es in Ankh-Morpork kein traditionelles Ritual. Man beschränkte sich dabei auf Bemerkungen wie: »Na schön, wenn ihr unbedingt wollt…«

Der Dekan wandte sich Mumm zu und strahlte.

»Wir haben die Orgel extra geputzt«, sagte er.

»Hahaha, Orgel!« kommentierte der Quästor.

»Es ist eine besonders große und eindrucksvolle Orgel…« Ridcully winkte zwei jüngere Zauberer zu sich. »Bringt den Quästor fort und sorgt dafür, daß er sich ein wenig hinlegt. Ich glaube, er hat wieder Fleisch gegessen.«

Am anderen Ende des Großen Saals zischte es, dann erklang ein ersticktes Quieken. Mumm sah zu einer Anordnung geradezu monströser Pfeifen hoch.

»Acht Schüler bedienen die Blasebälge«, sagte Ridcully, während dumpfes Schnaufen ertönte. »Das Ding hat drei Tastaturen und hundert zusätzliche Knöpfe, darunter zwölf mit einem ›?‹.«

»Es scheint unmöglich, von einem einzelnen Menschen gespielt werden zu können«, erwiderte Mumm höflich.

»Nun, wir hatten da ein wenig Glück…«

Neue Geräusche hallten so laut durch den Saal, daß die Hörnerven sicherheitshalber abschalteten. Als sich die Ohren jenseits der Schmerzschwelle reaktivierten, vernahm Mumm die verzerrte Anfangsmelodie von Fondels »Hochzeitsmarsch«. Sie wurde mit unüberhörbarer Begeisterung von jemandem gespielt, der gerade entdeckt hatte, daß die Orgel nicht nur über drei Tastaturen verfügte, sondern auch über faszinierende akustische Spezialeffekte, von »Blähungen« bis hin zu »spaßiges Gackern«. Gelegentlich schallte ein anerkennendes »Ugh!« durch den Lärm.

Mumm hockte unter einem Tisch und rief Ridcully zu: »Bemerkenswert! Wer hat die Orgel konstruiert?«

»Auf dem Deckel steht ›A. B. Johnson‹!«

Ein wimmerndes Heulen kletterte die Tonleiter herab, darauf erklang ein Leierkasten. Dann war es wieder still.

»Zwanzig Minuten lang haben die Schüler Luft in die Druckkammern gepumpt.« Ridcully erhob sich und klopfte Staub vom Mantel. »Paß mit Vox Dei auf, in Ordnung?«

»Ugh!«

Der Erzkanzler sah Mumm an, dessen Gesicht die für werdende Ehemänner typische wächserne Grimasse zeigte. Inzwischen hielten sich schon recht viele Personen im Saal auf.

»Ich bin kein Fachmann für solche Dinge«, sagte er. »Aber hast du den Ring dabei?«

»Ja.«

»Wer ist der Brautvater?«

»Sybils Onkel Wirrenhaus. Er ist ein bißchen plemplem, aber sie bestand darauf.«

»Und der Brautführer?«

»Was?«

»Der Brautführer. Du weißt schon. Er reicht dir den Ring und muß die Braut heiraten, wenn du wegläufst. Der Dekan hat sich darüber informiert, nicht wahr, Dekan?«

»O ja«, bestätigte der Dekan, der den vergangenen Tag damit verbracht hatte, Lady Deirdre Wagens Etikettenbuch zu lesen. »Sobald sie hier erschienen ist, muß die Braut jemanden heiraten. Unverheiratete Bräute dürfen nicht einfach so durch die Gegend laufen, weil sie eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen.«

»Den Brautführer habe ich völlig vergessen!« entfuhr es Mumm.

Der Bibliothekar saß noch immer an der Orgel und wartete darauf, daß sich die Druckkammern wieder mit Luft füllten. Jetzt drehte er sich hoffnungsvoll um.

»Ugh?«

»Besorg dir einen«, sagte Ridcully. »Du hast noch reichlich Zeit. Mindestens eine halbe Stunde.«

»So einfach ist das nicht! Brautführer wachsen wohl kaum auf Bäumen.«

»Uugh?«

»Wer käme in Frage?«

»Uugh

Der Bibliothekar wollte gern Brautführer sein. Als Brautführer durfte man die Braut küssen, und sie durfte nicht weglaufen. Deshalb war er sehr enttäuscht, daß Mumm ihn ignorierte.

 

Oberobergefreiter Knuddel stieg die Stufen im Kunstturm hinauf und brummte leise vor sich hin. Eigentlich hatte er keinen Grund, sich zu beschweren. Sie hatten das Los entscheiden lassen, denn Karotte war der Ansicht, daß man von den Männern nichts verlangen durfte, zu dem man nicht selbst bereit war. Knuddel zog dabei den kürzeren – er mußte auf das höchste Gebäude. Das bedeutete: Wenn’s unten in der Stadt Remmidemmi gab, fand das ohne ihn statt.

Er achtete nicht auf das dünne Seil, das von der Falltür weiter oben herabhing. Selbst wenn er es bemerkt hätte… Es war doch nur ein Seil…

 

Gaspode spähte in die Schatten.

Irgendwo in der Dunkelheit knurrte es. Gewöhnliche Hunde knurrten nicht auf diese Weise. Höhlenmenschen hatten solche Geräusche gehört.

Gaspode setzte sich. Sein Stummelschwanz zitterte unsicher.

»Ich wußte, daß ich dich früher oder später finden würde«, meinte er. »Auf meine Nase ist eben Verlaß. Ein Präzisionsinstrument, wie ich schon sagte.«

Das Knurren wiederholte sich. Gaspode winselte leise.

»Du fragst dich sicher, warum ich dir gefolgt bin«, fuhr er fort. »Nun, wenn du’s wissen willst, wenn du’s ganz genau wissen willst…«

Wer ein solches Knurren hörte, bekam kaum Gelegenheit, später davon zu erzählen.

»Äh, ich habe den Eindruck, daß du derzeit nicht sprechen möchtest«, sagte Gaspode. »Aber wenn du wirklich wissen willst, warum ich dir gefolgt bin… Man hat mich darum… äh… gebeten. Oh, jetzt denkst du sicher: Was, Gaspode gehorcht einem Menschen

Gaspode warf einen Blick über die Schulter – als könnte sich hinter ihm etwas Schlimmeres befinden als vor ihm.

»Das ist eben der Mist, wenn man ein Hund ist«, sagte er. »Und das will der Große Fido einfach nicht begreifen. Du hast die Hunde der Gilde gesehen. Du hast sie heulen gehört. O ja, Tod den Menschen und so. Klingt alles ganz nett. Doch was verbirgt sich dahinter? Furcht. Furcht vor der Stimme, die ›böser Hund‹ sagt. Sie dringt nicht nur von außen an die Ohren, sie erklingt auch im Innern, kommt direkt aus den Knochen. Weil der Mensch den Hund geschaffen hat. Ich weiß es. Es wäre mir lieber, wenn dem nicht so wäre, aber leider kann ich mich keinen Illusionen hingeben. Dieses Wissen macht die Macht aus. Ich habe Bücher gelesen… und sogar gekaut.«

Die Dunkelheit schwieg.

»Du bist zur selben Zeit ein Wolf und ein Mensch. Schwierige Sache. Eine Art Dichotomie. Du wirst dadurch in gewisser Weise zu einem Hund. Denn Hunde sind zur einen Hälfte Wolf und zur anderen Mensch. In dieser Beziehung hattest du vollkommen recht. Wir haben sogar Namen. Ha! Unser Körper sagt dies, unser Kopf sagt das. Als Hund führt man ein wahres Hundeleben. Und ich wette, du kannst nicht einmal vor ihm weglaufen. Zumindest nicht auf Dauer. Er ist dein Herr.«

Die Dunkelheit schwieg noch etwas mehr. Gaspode glaubte, Bewegungen zu hören.

»Er möchte, daß du zurückkehrst. Wenn er dich findet. Dann spricht er zu dir, und du mußt ihm gehorchen. Aber wenn du aus eigenem Antrieb zu ihm zurückgehst, ist es deine Entscheidung. Dann wärst du glücklicher – als Mensch. Ich meine, was kann ich dir schon bieten, abgesehen von Ratten und Flöhen? Eigentlich ist es gar kein so großes Problem. Du mußt nur sechs oder sieben Nächte pro Monat daheim bleiben…«

Angua heulte.

Die wenigen Haare, die noch auf Gaspodes Nacken wuchsen, richteten sich auf. Er versuchte, sich daran zu erinnern, zu welchem Körperteil die Hauptschlagader gehörte.

»Ich möchte nicht dort hineingehen, um dich zu holen«, sagte er. Wahrheit sprach aus jedem einzelnen Wort.

»Aber… aber… mir bleibt keine Wahl«, fügte er mit zitternder Stimme hinzu. »Ich muß zu dir kommen, um dich zu holen. Weil ein Hund zu gehorchen hat. Verdammter Mist.«

Gaspode dachte einige Sekunden nach und seufzte.

»Jetzt fällt’s mir wieder ein«, murmelte er. »Die Hauptschlagader liegt im Hals.«

 

Mumm trat in den Sonnenschein. Besser gesagt: Er trat dorthin, wo bis vor kurzer Zeit Sonnenschein gewesen war. Jetzt glitten Wolken über den Himmel, und weitere zogen heran.

»Detritus?«

Boing. »Ja, Hauptmann Mumm, Herr

»Wer sind all diese Leute?«

»Wächter, Herr.«

Mit wachsender Verwunderung musterte Mumm die verschiedenen Mitglieder der Wache.

»Wer bist du?«

»Obergefreiter Hrolf Pyjama, Herr.«

»Und d… Kohlenfresse

»Ich nie nichts getan.«

»Ich nie nichts getan, Herr!« donnerte Detritus.

»Kohlenfresse? Und du bist in der Wache

Boing. »Korporal Karotte meint, in jedem ein guter Kern steckt, auch wenn er manchmal sehr verborgen«, sagte er.

»Und was ist deine Aufgabe, Detritus?«

Boing. »Bin Spezialist für Bergwerke im Kopf. Grabe tiefe mentale Stollen, um zu finden Flöz mit manchmal mehr verborgenem guten Kern.«

Mumm kratzte sich an der Schläfe.

»Das war ein Scherz, nicht wahr?« spekulierte er.

»Es ist neuer Helm, den Knuddel für mich gebaut, Herr. Ha! Jetzt Leute können nicht mehr sagen, da geht dummer Troll. Jetzt sie sagen: Was das doch sein für ein gutaussehender militärischer Troll, er bereits Oberobergefreiter, hat eine große Zukunft hinter sich; Schicksal bei ihm steht geschrieben überall wie mit Schrift.«

Mumm verarbeitete diesen Vortrag, während Detritus stolz strahlte.

»Und wo ist Feldwebel Colon?«

»Hier, Hauptmann.«

»Ich brauche einen Brautführer, Fred.«

»Ja, Herr. Ich hole Korporal Karotte. Er überprüft die Dächer…«

»Fred! Ich kenne dich seit mehr als zwanzig Jahren! Du brauchst nur hier zu stehen. Darin bist du gut, Fred.«

Karotte näherte sich im Laufschritt.

»Entschuldige bitte, daß ich so spät komme, Hauptmann. Äh. Eigentlich sollte dies eine Überraschung sein…«

»Wie bitte? Was sollte eine Überraschung sein?«

Karotte griff in die Tasche. »Nun, Hauptmann… im Namen der Wache, das heißt, im Namen des größten Teils der Wache…«

»Einen Augenblick«, sagte Colon. »Da kommt Seine Exzellenz.«

Klappernde Hufe und rasselndes Zaumzeug kündigten Lord Vetinaris Kutsche an.

Karotte warf einen kurzen Blick in die entsprechende Richtung. Dann sah er noch einmal hin. Sein Blick wanderte nach oben.

Metall glänzte auf dem Dach des Kunstturms.

»Wer ist auf dem Turm, Feldwebel?« fragte Karotte.

»Knuddel, Herr.«

»Oh. Gut.« Er räusperte sich. »Nun, Hauptmann… Wir haben zusammengelegt und…« Er zögerte. »Oberobergefreiter Knuddel?«

»Ja. Auf ihn ist Verlaß.«

Die Kutsche des Patriziers hatte den Hier-gibt’s-alles-Platz fast erreicht. Karotte sah eine dürre, schwarze Gestalt auf dem Rücksitz.

Erneut sah er an der grauen Masse des Turms empor.

Er lief los.

»Was ist denn?« fragte Colon. Mumm setzte sich ebenfalls in Bewegung.

Detritus’ Fingerknöchel knallten auf den Boden, als er sich in die Position eines Trollsprinters brachte.

Und dann spürte es auch Colon: ein seltsames Prickeln, als hätte ihm jemand aufs nackte Gehirn gepustet.

»Oh, Mist«, stöhnte er leise.

 

Krallen kratzten über das Pflaster.

»Er hat sein Schwert gezogen!«

»Was hast du denn erwartet? Im einen Augenblick wähnt sich der Junge im siebten Himmel, sieht das Leben aus einem ganz neuen Blickwinkel, erkennt, daß es noch schönere Dinge gibt als Spaziergänge. Dann dreht er sich um und sieht… einen Wolf. Du hättest ihm vielleicht einen Hinweis geben sollen, etwa. Um diese Zeit des Monats wachsen mir immer Haare. Du kannst es ihm wohl kaum vorwerfen, daß er überrascht war.«

Gaspode stand auf. »Kommst du nun mit? Oder zwingst du mich, von dir fürchterlich zugerichtet zu werden?«

 

Lord Vetinari erhob sich, als er einige Wächter sah, die ihm entgegeneilten. Aus diesem Grund traf ihn der erste Schuß in den Oberschenkel und nicht in die Brust.

Dann erreichte Karotte die Tür der Kutsche und warf sich auf den Patrizier. Deshalb traf ihn der nächste Schuß.

 

Ein goldbrauner Leib schob sich langsam aus der Dunkelheit.

Gaspodes Anspannung ließ nach.

»Ich kann nicht zurück«, sagte Angua. »Ich…«

Sie erstarrte. Ihre Ohren zuckten.

»Was?«

»Er ist verletzt!«

Angua sauste davon.

»He, warte auf mich!« bellte Gaspode. »Dort geht’s in die Schatten!«

 

Der dritte Schuß riß ein Stück aus Detritus, der gegen die Kutsche prallte und sie umstieß. Dadurch lösten sich mehrere Riemen, und die Pferde galoppierten davon. Der Kutscher verglich seine gegenwärtigen Arbeitsbedingungen mit der Bezahlung. Das Ergebnis ließ ihn in der Menge der Schaulustigen verschwinden.

Mumm warf sich hinter der umgestürzten Kutsche zu Boden. Ein vierter Bleiklumpen prallte von den Kopfsteinen dicht neben seinem Arm ab.

»Detritus?«

»Hauptmann?«

»Wie geht es dir?«

»Ich nässe ein wenig.«

Der fünfte Schuß traf das Kutschenrad über Mumms Kopf, so daß es sich drehte.

»Karotte?«

»Glatt durch die Schulter, Hauptmann.«

Mumm stemmte sich auf den Ellenbogen hoch. »Guten Morgen, Euer Exzellenz«, sagte er und kam sich vor wie ein Irrer. Er sank zurück und holte eine krumme Zigarre hervor. »Hast du Feuer?«

Der Patrizier öffnete die Augen.

»Ah, Hauptmann Mumm. Und was geschieht jetzt?«

Mumm lächelte. Eigentlich komisch, dachte er. Ich fühle mich erst dann richtig lebendig, wenn jemand versucht, mich umzubringen. Dann merke ich, daß der Himmel blau ist. Derzeit kann man ihn beim besten Willen nicht blau nennen – dort oben schweben jede Menge Wolken. Aber ich bemerke sie.

»Wir warten noch einen Schuß ab«, sagte er. »Dann rennen wir los und suchen uns bessere Deckung.«

»Offenbar… verliere ich ziemlich viel Blut«, meinte Lord Vetinari.

»Wer hätte gedacht, daß du überhaupt welches hast«, kommentierte Mumm mit der unverblümten Offenheit eines Mannes, der nur geringe Überlebenschancen sieht. »Was ist mit dir, Karotte«

»Ich kann die Hand bewegen. Es… tut verdammt weh, aber… du siehst schlimmer aus.«

Mumm blickte an sich hinunter.

Überall klebte Blut an seiner Jacke.

»Irgendein Steinsplitter muß mich getroffen haben«, sagte er. »Hab’s nicht mal gespürt.«

Er konzentrierte sich auf das Bild des Gfährs.

Sechs kleine Röhren hintereinander angebracht. Jede gefüllt mit Blei und Pulver Nummer eins. Man schob das Ding in das Gfähr wie den Bolzen in die Armbrust. Mumm fragte sich, wie lange es dauerte, den Schußapparat zu wechseln…

Wie dem auch sei: Wir haben den Burschen jetzt, wo wir ihn wollten! Es gibt nur eine Möglichkeit, den Turm zu verlassen!

Ja, wir sitzen hier unten fest, während uns der Kerl mit Bleiklumpen bedroht, aber wir haben ihn genau dort, wo wir ihn wollten!

 

Gaspode schnaufte und furzte nervös, als er durch die Schatten hastete. Das Herz rutschte ihm noch tiefer, als er mehrere Hunde wahrnahm.

Er kroch durch einen Wald aus Beinen.

Angua steckte in einem Kreis aus Zähnen.

Das Bellen verklang. Zwei massige Hunde wichen beiseite, und der Große Fido trat vor.

»Was wir hier haben, ist also gar kein Hund«, sagte er. »Vielleicht ein Spion? Der Feind lauert überall. An jedem Ort. Er mag wie ein Hund aussehen, aber tief in seinem Innern ist er etwas ganz anderes. Was hast du hier gemacht?«

Angua knurrte.

Lieber Himmel! fuhr es Gaspode durch den Sinn. Mit ein paar von ihnen könnte sie fertig werden, aber der Rest… Dies sind Straßenhunde.

Er zwängte sich an einigen muskulösen Körpern vorbei in den Kreis. Der Große Fido sah ihn mit seinen roten Augen an.

»Und auch Gaspode ist hier«, sagte der Pudel. »Hätte ich mir denken können.«

»Laß sie in Ruhe«, brummte Gaspode.

»Ach?« erwiderte der Große Fido spöttisch. »Willst du für sie kämpfen? Gegen uns alle?«

»Ich habe die Macht«, warnte Gaspode. »Das weißt du. Und ich werde nicht zögern, sie einzusetzen.«

»Wir haben keine Zeit für diesen Unsinn!« knurrte Angua.

»Du wagst es nicht«, zischte der Große Fido.

»Du wirst es erleben.«

»Alle Hundepfoten werden sich gegen dich erheben…«

»Ich habe die Macht. Zurück mit euch.«

»Welche Macht?« fragte Schlächter. Er sabberte.

»Der Große Fido weiß Bescheid«, entgegnete Gaspode. »Er kennt sich aus. Angua und ich gehen jetzt, ganz ruhig und friedlich.«

Die Hunde sahen den Großen Fido an.

»Packt sie«, sagte er.

Angua bleckte die Zähne.

Die Hunde zögerten.

»Wolfskiefer sind viermal so stark wie die eines Hundes«, dozierte Gaspode. »Und das gilt für einen gewöhnlichen Wolf…«

»Was ist los mit euch?« fragte der Große Fido scharf. »Ihr seid das Rudel! Keine Gnade! Packt sie

Aber ein Rudel Wölfe reagierte anders. Angua hatte es erklärt. Ein Rudel bestand aus unabhängigen, freien Individuen. Es sprang nicht, weil man es dazu aufforderte. Ein Rudel sprang nur dann, wenn alle Individuen eine entsprechende Entscheidung trafen.

Zwei große Hunde duckten sich…

Angua drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, bereit für den ersten Angriff…

Irgendwo kratzten Krallen über den Boden.

Gaspode holte tief Luft und brachte seine Schnauze in die richtige Position.

Die Hunde sprangen.

»SITZ!« sagte Gaspode auf menschlich.

Der Befehl hallte mehrmals von den Wänden der Gasse wider, und fünfzig Prozent der Tiere gehorchten. Der Gehorsam wirkte vor allem auf den rückwärtigen Teil des Körpers: Mitten im Sprung merkten die Hunde, daß ihnen plötzlich die Hinterbeine einknickten…

»BÖSER HUND!«

… gefolgt von tiefer Scham, die dazu führte, daß sich die Tiere duckten. Während des Fluges ist das nicht besonders günstig.

Gaspode sah zu Angua, um die herum es verdutzte Hunde regnete.

»Glaubst du mir nun, daß ich die Macht habe?« fragte er. »Lauf!«

Hunde sind nicht wie Katzen, die Menschen nur solange tolerieren, bis jemand einen Dosenöffner erfindet, den man auch mit den Pfoten bedienen kann. Menschen erschufen Hunde. Sie nahmen Wölfe und gaben ihnen menschliche Dinge: unnötige Intelligenz, Namen, den Wunsch, an einen ganz bestimmten Ort – und jemandem – zu gehören, einen bohrenden Minderwertigkeitskomplex. Alle Hunde geben sich Wolfsträumen hin und träumen davon, ihren Schöpfer zu beißen. Tief in seinem Herzen weiß jeder Hund, daß er ein böser Hund ist…

Das wütende Bellen des Großen Fido brach den Bann.

»Packt sie!«

Angua raste über das Kopfsteinpflaster. Am anderen Ende der Gasse stand ein Karren, dahinter ragte eine Mauer auf.

»Nicht dorthin!« jaulte Gaspode.

Die Hunde folgten ihnen. Angua sprang auf den Karren.

»Ich kann nicht da rauf!« klagte Gaspode. »Nicht mit meinem kranken Bein!«

Angua kam wieder herunter, hob die kleine graue Promenadenmischung am Genick hoch, sprang erneut auf den Wagen und von dort auf das Dach eines Schuppens. Ein Satz auf einen Sims – einige Schindeln lösten sich, rutschten und fielen in die Gasse –, dann ein Haus…

»Mir ist schlecht!«

»Fei ftill!«

Angua lief über das Dach, hechtete auf der anderen Seite über die Gasse hinweg und landete auf einem uralten Strohdach.

»Aargh!«

»Fei ftill!«

Die Hunde folgten ihnen immer noch. In den Schatten waren die Gassen nicht sehr breit.

Eine weitere schmale Straße huschte unter ihnen vorbei.

Gaspode schwang im Maul des Werwolfs hin und her.

»Sie sind noch immer hinter uns!«

Er wimmerte, als Angua die Muskeln spannte.

»O nein! Nicht die Sirupzechenallee!«

Auf eine jähe Beschleunigung folgte eine kurze Phase der Ruhe. Gaspode kniff die Augen zu…

Angua landete. Einige Sekunden lang suchten ihre Pfoten auf dem nassen Dach vergeblich nach Halt. Schiefertafeln zerbrachen unten auf den Kopfsteinen und dann hastete der Werwolf zum Dachfirst empor.

»Du kannst mich jetzt absetzen«, sagte Gaspode. »Ich meine, jetzt sofort! He, da kommen sie!«

Die ersten Hunde erreichten das Dach auf der anderen Seite, sahen die breite Lücke und versuchten rechtzeitig zu bremsen. Ihre Krallen kratzten über den Schiefer.

Angua drehte sich um und schnappte nach Luft. Sie hatte den Atem angehalten – aus Furcht, daß ihr Gaspode in die Lunge geriet.

Der Große Fido bellte zornig.

»Feiglinge! Es sind nicht einmal sechs Meter! Eine Kleinigkeit für einen Wolf!«

Die Hunde starrten auf die Leere zwischen den beiden Dächern. Gelegentlich hat ein Hund das Recht, sich zu fragen: Zu welcher Spezies gehöre ich?

»Es ist ganz einfach! Ich zeige es euch! Paßt auf!«

Der Große Fido nahm Anlauf, sauste los und… sprang.

Seine Flugbahn ließ sich kaum als Kurve bezeichnen. Der kleine Pudel raste in den nur von Luft gefüllten Raum. Seine Antriebsenergie rührte weniger von seinen Muskeln her als von seiner brennenden Seele.

Seine Vorderpfoten berührten Schiefer, tasteten ohne Halt hin und her. Der Große Fido rutschte zurück, über den Rand des Daches…

… und blieb dort hängen.

Er blickte nach oben, zu dem Hund, der ihn festhielt.

»Gaspode? Bist du das?«

»Ja«, lautete die mit vollem Mund gegebene Antwort.

Der Pudel schien kaum etwas zu wiegen, doch Gaspode auch nicht. Er hatte nach dem Pudel geschnappt und versuchte jetzt, sich irgendwo abzustützen, aber das Dach war viel zu glatt. Er schlitterte über die Schieferplatten, bis er mit den Vorderpfoten in der Regenrinne hängenblieb, die langsam nachgab.

Deutlich sah Gaspode die Straße drei Stockwerke unter sich.

»Oh, Mist!« kommentierte er die Situation.

Jemand hielt ihn am Schwanz fest.

»Laff ihn lof«, sagte Angua undeutlich.

Gaspode versuchte, den Kopf zu schütteln.

»Hör auf fu fappeln!« wies er den Pudel an. »Braver Hund, Retter in der Not! Tapferer Hund, Retter auf dem Dach! Nein!«

Die Regenrinne knirschte und knackte.

Es ist soweit, dachte Gaspode. Hier findet mein trauriges Leben ein trauriges Ende…

Der Große Fido wand sich hin und her.

»Woran hältst du mich fest?«

»Am Halsband«, preßte Gaspode zwischen den Zähnen hervor.

»Was? Verdammtes Ding!«

Der Pudel zappelte noch heftiger und trat nach leerer Luft.

»Hör endlich auf damit, du Blödmann!« knurrte Gaspode. »Wenn du fo weitermachft, ftürfen wir beide in die Tiefe.« Auf dem Dach gegenüber starrten die Hunde voller Entsetzen.

Erneut quietschte die Regenrinne.

Anguas Krallen hinterließen weiße Linien auf dem Schiefer.

Der Große Fido strampelte, krümmte sich zusammen und streckte sich wieder, kämpfte gegen den Griff des Halsbands.

Das schließlich riß.

»Frei!«

Und er fiel.

Gaspode wurde jäh nach hinten gerissen. Etwas höher auf dem Dach ließ das Zerren an seinem Stummelschwanz nach, und er schaffte es aus eigener Kraft zum First. Dort verharrte er und schnaufte hingebungsvoll.

Angua sprang über die nächste Gasse hinweg, bevor sich der rote Schleier vor Gaspodes Augen auflöste.

Der spuckte das Halsband des Großen Fido aus. Es rutschte die Schieferplatten hinunter und über den Dachrand.

»Oh, danke!« rief er. »Herzlichen Dank! Ja, laß mich ruhig allein! Obwohl ich ein krankes Bein habe! Mach dir nur keine Sorgen um mich! Wenn ich Glück habe, stürze ich in den Tod, bevor ich verhungere. Das ist die Geschichte meines Lebens! Du und ich, Mädchen! Wir hätten es zusammen geschafft!«

Er drehte sich um und sah hinüber zu den Hunden jenseits der Leere.

»Ihr da!« bellte er. »Verschwindet! Kehrt heim! BÖSER HUND!«

Vorsichtig trippelte er über die andere Seite des Daches. Auch dort gab es eine Gasse – und keine Möglichkeit, nach unten zu klettern. Gaspode setzte den Weg über die Schieferplatten fort, bis er das nächste Gebäude erreichte. Auch dort entdeckte er keine Treppe, aber eine Etage weiter unten einen Balkon.

»Spielerisches Denken«, murmelte er. »Darauf kommt’s an. Ein Wolf, ein ganz normaler Wolf springt. Und wenn er nicht springen kann, sitzt er fest. Mir dagegen steht überlegene Intelligenz zur Verfügung. Ich kann die Situation sorgfältig analysieren und dann mit Hilfe rationaler Gedanken eine Lösung finden.«

Gaspode stieß eine Steinfigur neben der Regenrinne an.

»At ill’t u?«

»Wenn du mir nicht da runter zu dem Balkon hilfst, pinkel ich dir ins Ohr.«

 

GROSSER FIDO?

»Ja?«

BEI FUSS.

 

Es entstanden zwei Theorien über den Tod des Großen Fido.

Die erste basierte auf den Beobachtungen von Gaspode. Sie ging davon aus, daß die sterblichen Überreste des Pudels vom Stinkenden Alten Ron gefunden und an einen Kürschner verkauft wurden. Es dauerte nicht lange, bis der Große Fido in die Welt zurückkehrte – in Form von Ohrwärmern und flauschigen Handschuhen.

An die zweite Theorie – man könnte sie gewissermaßen als Wunschwahrheit bezeichnen – glaubten alle anderen Hunde. Angeblich überlebte er den Sturz, floh aus der Stadt und erreichte die Berge, wo er kurze Zeit später ein Wolfsrudel anführte, das abgelegene Bauernhöfe überfiel. Diese Theorie machte es erträglicher, in Misthaufen zu wühlen und an Hintertüren zu warten, in der Hoffnung auf den einen oder anderen Bissen. Immerhin vertrieb man sich so nur die Zeit, bis der Große Fido zurückkehrte.

Sein Halsband wurde an einem geheimen Ort aufbewahrt, und die Hunde besuchten es regelmäßig – bis sie es vergaßen.

 

Feldwebel Colon schob die Tür mit der Pike auf.

Vor langer Zeit hatte es im Kunstturm einmal Etagen gegeben. Jetzt war er hohl bis ganz nach oben. Durch die alten Schießscharten schoben sich goldene Lichtbalken. Staubflocken funkelten darin.

Einer von ihnen schien auf etwas, das bis vor kurzer Zeit Oberobergefreiter Knuddel gewesen war.

Colon stieß den Körper behutsam an. Er rührte sich nicht. Wer sich in einem solchen Zustand befand, sollte sich auch gar nicht bewegen. Eine Axt mit gesplittertem Schaft lag neben ihm.

»O nein«, hauchte der Feldwebel.

Ein dünnes Seil – von der Art, wie es Assassinen verwendeten – hing von der Falltür ganz oben herab. Es erzitterte immer wieder. Colon hob den Blick und zog sein Schwert.

Er konnte bis ganz nach oben sehen und wußte daher, daß sich niemand an dem Seil festhielt. Das bedeutete…

Er drehte sich nicht um, was ihm das Leben rettete.

Colon warf sich zu Boden, gleichzeitig krachte hinter ihm das Gfähr. Nachher schwor er, deutlich gespürt zu haben, wie der Bleiklumpen dicht über seinen Kopf hinwegraste.

Eine Gestalt trat aus dem Rauch und schlug hart zu, bevor sie durch die Tür in den Regen entkam.

 

OBEROBERGEFREITER KNUDDEL?

Knuddel erhob sich und starrte auf sein leibliches Selbst herab.

»Oh«, sagte er. »Nach den ersten dreißig Metern kamen mir Zweifel, ob ich den Sturz überleben würde.«

DIE ZWEIFEL WAREN BERECHTIGT.

Die unwirkliche Welt der Lebenden löste sich bereits auf. Knuddel betrachtete das, was von seiner Axt übriggeblieben war. Sie schien ihn weitaus mehr zu beunruhigen als die Überreste eines Zwergs namens Knuddel.

»Die Axt stammt von meinem Vater«, brummte er. »Sieh nur, was aus ihr geworden ist. Damit blamiert man sich im Jenseits!«

BEGRÄBT MAN EUCH ETWA MIT WAFFEN?

»Weißt du das nicht? Du bist doch der Tod, oder?«

DAS MUSS NICHT UNBEDINGT HEISSEN, DASS ICH ÜBER ALLE BEISETZUNGSTRADITIONEN BESCHEID WEISS. FÜR GEWÖHNLICH BEGEGNE ICH DEN LEUTEN, BEVOR MAN SIE BEGRÄBT. VON DEN PERSONEN, DIE ICH ERST NACH IHREM BEGRÄBNIS BESUCHE… SIND DIE MEISTEN ZIEMLICH NERVÖS UND ABGENEIGT, GEWISSE DINGE ZU ERKLÄREN.

Knuddel verschränkte die Arme.

»Ohne ordentliches Begräbnis lehne ich es ab, ins Jenseits zu wechseln«, sagte er fest. »Meine gequälte Seele wird in Pein über die Welt wandeln.«

SIE MUSS ES NICHT.

»Aber sie kann, wenn sie will«, erwiderte der Geist von Knuddel scharf.

 

»Detritus! Du hast jetzt keine Zeit zu nässen! Zum Turm! Und nimm einige Männer mit!«

Mumm hatte sich den Patrizier über die Schulter gelegt und erreichte nun die Tür des Großen Saals, dicht gefolgt vom wankenden Karotte. Die Zauberer drängten sich vor dem Portal. Erste große Regentropfen zischten leise auf den heißen Steinen.

Ridcully rollte die Ärmel hoch.

»Heiliger Strohsack! Was ist mit seinem Bein passiert?«

»Das hat er dem Gfähr zu verdanken! Kümmere dich um ihn. Und auch um Korporal Karotte!«

»Nicht nötig«, sagte Lord Vetinari. Er lächelte und versuchte aufzustehen. »Es ist nur eine Fleischwun…«

Sein Bein gab unter ihm nach.

Mumm blinzelte. Damit hatte er nicht gerechnet. Der Patrizier war nie überrascht und wußte immer eine Antwort. Mumm ahnte, daß die Geschichte außer Rand und Band geriet, hin und her zappelte…

»Wir werden damit fertig«, meinte Karotte. »Ich habe Wächter auf die Dächer geschickt und…«

»Sei still! Du bleibst hier – das ist ein Befehl!« Mumm griff in die Tasche, holte seine Dienstmarke hervor und steckte sie an seine zerrissene Jacke. »He, du… Pyjama! Ich brauche ein Schwert!«

Pyjama wirkte mißmutig.

»Ich nehme nur Befehle von Korporal Karotte entgegen…«

»Gib mir sofort ein Schwert, du schrecklicher kleiner Mann! In Ordnung! Danke! Und jetzt zum Tu…«

Eine große Gestalt erschien in der Tür.

Detritus kam herein.

Mumm und die anderen sahen, was er in den Armen hielt.

Vorsichtig legte er es auf eine Sitzbank, schlurfte dann fort und hockte sich in einer Ecke nieder. Während die anderen auf die sterblichen Überreste des Oberobergefreiten Knuddel starrten, nahm der Troll den Kühlhelm ab und drehte ihn hin und her.

»Er lag auf dem Boden«, sagte Feldwebel Colon. Er lehnte am Türrahmen. »Er muß von ganz oben heruntergefallen sein. Und es war noch jemand im Turm. Er hat sich an einem Seil herabgehangelt und mir eins auf den Kopf verpaßt.«

»Es ist nicht richtig, für nur einen Königsshilling zu sterben«, murmelte Karotte.

Das mit dem Drachen war besser, dachte Mumm. Er tötete, aber er blieb ein Drache. Er suchte einen anderen Ort auf, doch es war ganz klar: Der Drache ist ein Drache. Er konnte nicht einfach über die Mauer springen und jemand anders werden. Man wußte immer, gegen was man kämpfte. Man brauchte nicht…

»Was hat Knuddel da in der Hand?« fragte er und begriff erst jetzt, daß er eine ganze Zeitlang darauf hinabgesehen hatte, ohne es zur Kenntnis zu nehmen.

Er zog daran und sah einen schwarzen Stoffstreifen.

»Assassinen tragen so etwas«, stellte Feldwebel Colon fest.

»Und viele andere Leute«, warf Ridcully ein. »Schwarz ist schwarz.«

»Ja«, bestätigte Mumm. »Auf dieser Grundlage etwas zu unternehmen, wäre sicher übereilt. Dafür könnte ich vom Dienst suspendiert werden.«

Er winkte mit dem Streifen vor Vetinaris Augen.

»Überall Assassinen«, sagte er. »Und sie wachen. Aber offenbar haben sie nichts bemerkt. Du hast ihnen das verdammte Gfähr gegeben, weil du glaubtest, bei ihnen wäre es besonders gut aufgehoben. Wieso bist du nie auf den Gedanken kommen, es der Wache zu überlassen?«

»Sollten wir nicht die Verfolgung aufnehmen, Korporal Karotte?« fragte Pyjama.

»Wen willst du verfolgen?« erwiderte Mumm. »Und wohin? Der Unbekannte hat den alten Fred niedergeschlagen und sich dann aus dem Staub gemacht. Vielleicht ist er um die nächste Ecke gelaufen, um das Gfähr über eine Mauer zu werfen. Wie sollen wir ihn dann identifizieren? Wir wissen nicht, wer für diese ganze Sache verantwortlich ist.«

»Ich weiß es«, sagte Karotte.

Er stand auf und hielt seine schmerzende Schulter.

»Laufen ist ganz einfach«, fuhr er fort. »Wir alle sind ziemlich viel gelaufen. Aber bei der Jagd verhält man sich anders: Man wartet an der richtigen Stelle. Hauptmann, ich halte es für angebracht, daß der Feldwebel überall erzählt, wir hätten den Mörder gefaßt.«

»Was?«

»Er heißt Edward d’Eath. Die Leute sollen glauben, daß er in Haft ist. Wir haben ihn gefaßt, schwer verletzt, aber lebend.«

»Aber das stimmt doch gar nicht!«

»Er ist ein Assassine.«

»Aber wir haben niemanden gefaßt…«

»Ich weiß, Hauptmann. Das Lügen gefällt mir auch nicht, aber in diesem Fall könnte es durchaus nützlich sein. Aber wie dem auch sei: Du brauchst dich mit diesem Problem nicht zu befassen.«

»Ach? Und warum nicht?«

»In einer knappen Stunde bist du im Ruhestand.«

»Aber jetzt bin ich noch immer Hauptmann, Korporal. Und deshalb wirst du mir alles erklären. Ich höre.«

»Dazu haben wir keine Zeit. Feldwebel Colon… Du weißt, worauf es ankommt.«

»Noch bin ich Befehlshaber der Wache, Karotte! Ich gebe hier die Anweisungen.«

Karotte senkte den Kopf.

»Natürlich, Hauptmann.«

»Gut. Wichtig ist vor allem, daß wir diesen Punkt geklärt haben. Feldwebel Colon?«

»Herr?«

»Erzähl den Leuten, daß wir Edward d’Eath verhaftet haben. Wer immer er sein mag.«

»Ja, Herr.«

»Und nun, Karotte?« fragte Mumm. »Was hast du jetzt vor?«

Karotte sah zu den Zauberern.

»Entschuldige bitte…«

»Ugh?«

»Zuerst einmal müssen wir in die Bibliothek…«

»Zuerst«, betonte Mumm, »möchte ich, daß mir jemand einen Helm leiht. Ohne Helm fühle ich mich nicht richtig im Dienst. Danke, Fred. Gut. Helm… Schwert… Dienstmarke. Jetzt kann’s losgehen.«

 

Es gab Geräusche unter der Stadt. Sie blieben undeutlich wie das Summen eines Bienenschwarms.

Dazu kam ein mattes Glühen. Das Wasser des Ankh (sofern diese Bezeichnung angemessen ist) hatte über Jahrhunderte hinweg die Wände der Tunnel gewaschen.

Jetzt erklangen neue Geräusche von Schritten im Schlamm. Man hörte sie nur, wenn sich die Ohren bereits auf den akustischen Hintergrund eingestellt hatten. Ein Schemen bewegte sich in der Düsternis und verharrte in einem Kreis aus Dunkelheit, der den Zugang zu einem anderen Tunnel markierte…

 

»Wie fühlst du dich, Euer Exzellenz?« fragte Korporal Nobbs.

»Wer bist du?«

»Korporal Nobbs, Herr!« erwiderte Nobby und salutierte.

»Gehörst du zur Wache?«

»Ja, Herr!«

»Ah, du bist der Zwerg, nicht wahr?«

»Nein, Herr. Du meinst den verstorbenen Knuddel, Herr! Ich bin einer der Menschen, Herr!«

»Hat man dich infolge… besonderer Maßnahmen in die Wache aufgenommen?«

»Nein, Herr«, sagte Nobby stolz.

»Bemerkenswert«, murmelte der Patrizier. Der Blutverlust machte ihn benommen. Darüber hinaus hatte er vom Erzkanzler einen Trunk bekommen, angeblich ein hervorragendes Heilmittel. Es blieb die Frage, was er heilte. Vermutlich Vertikalität. Lord Vetinari verzichtete jedoch darauf, sich hinzulegen. Er hielt es für besser, aufrecht zu sitzen, damit die Bürger sahen, daß er lebte. Viele neugierige Leute blickten durch die Tür, und der Patrizier wollte deutlich darauf hinweisen, daß Gerüchte von seinem Tod weit übertrieben waren.

Korporal Selbsternannter Mensch Nobbs und einige andere Wächter weilten auf Mumms Befehl hin in unmittelbarer Nähe Seiner Exzellenz. Einige der Gestalten schienen breiter zu sein, als Vetinari sie in Erinnerung hatte.

»He, du, guter Mann«, sagte er. »Hast du den Königsshilling genommen?«

»Ich nie nichts nehmen.«

»Prächtig. Gut gemacht.«

Dann kam jähe Bewegung in die Menge. Etwas Goldbraunes, das entfernt an einen Hund erinnerte, raste heran, knurrte und schnüffelte. Es verschwand sofort wieder und lief mit langen, geschmeidigen Sätzen in Richtung Bibliothek.

Der Patrizier hörte Stimmen.

»Fred?«

»Ja, Nobby?«

»Erschien dir das irgendwie vertraut?«

»Ich weiß, was du meinst.«

Nobby wand sich unruhig hin und her.

»Du hättest sie ausschimpfen müssen, weil sie keine Uniform trug«, meinte er.

»Leicht gesagt.«

»Wenn ich ohne Kleidung durch die Gegend liefe, würdest du bestimmt nicht zögern, mir einen halben Ankh-Morpork-Dollar Bußgeld abzuknöpfen…«

»Hier hast du einen halben Dollar, Nobby. Und jetzt sei still.«

Lord Vetinari sah die beiden Wächter an und strahlte. Ein dritter hockte in der Ecke – einer der großen und breiten…

»Ist noch immer alles in Ordnung mit dir, Euer Exzellenz?« fragte Nobby.

»Wer ist der Herr?«

Nobbs folgte dem Blick des Patriziers.

»Der Troll Detritus, Herr.«

»Warum hockt er so da?«

»Er denkt nach, Herr.«

»Er hat sich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gerührt.«

»Er denkt langsam, Herr.«

Detritus richtete sich auf. Die Bewegung erinnerte an einen großen Kontinent, der mit einer tektonischen Aktivität begann, die schließlich zur Entstehung eines gewaltigen, eindrucksvollen Gebirges führen würde. Die Zuschauer wußten nicht, wie Berge entstanden, doch jetzt gewannen sie eine ungefähre Vorstellung: Es ließ sich mit Detritus’ Aufstehen vergleichen. In der einen Hand des Trolls ruhte Knuddels Axt.

»Ja, er denkt langsam«, sagte Nobby. »Aber manchmal auch sehr gründlich.« Er hielt nach einem Fluchtweg Ausschau.

Detritus starrte die Leute an, als fragte er sich, was sie an diesem Ort zu suchen hatten. Mit schwingenden Armen ging er los.

»Oberobergefreiter Detritus, äh…« Colon zögerte kurz. »Rühren?«

Der Troll ignorierte ihn. Inzwischen bewegte er sich auf die gleiche trügerische Weise wie Lava.

Er erreichte die Wand und stieß sie beiseite.

»Hat ihm jemand Schwefel gegeben?« fragte Nobby.

Colon drehte sich zu den übrigen Wächtern um. »Obergefreiter Bauxit! Obergefreiter Kohlenfresse! Nehmt den Oberobergefreiten Detritus fest!«

Die beiden Trolle sahen erst Detritus nach, wechselten dann einen Blick und wandten sich an Colon.

Bauxit salutierte umständlich.

»Bitte um Erlaubnis, teilzunehmen am Begräbnis meiner Großmutter, Herr.«

»Warum?«

»Entweder ihr Begräbnis oder meins, Feldwebel.«

»Wir eingeschlagen bekommen unsere Goohuloog-Köpfe«, sagte Kohlenfresse, der weniger umständlich dachte.

 

Ein Streichholz wurde entzündet und brannte wie eine Nova in der Kanalisation.

Mumm steckte erst seine Zigarre an und hielt die Flamme dann an den Docht einer Öllampe.

»Professor Kreuz?« fragte er.

Das Oberhaupt der Assassinengilde erstarrte.

»Auch Korporal Karotte besitzt eine Armbrust«, sagte Mumm. »Ich bin nicht sicher, ob er fähig ist, sie zu gebrauchen. Er ist gutmütig. Ich hingegen bin müde, verärgert und gemein. Und du bist intelligent und hattest Zeit zum Nachdenken. Bitte beantworte mir eine Frage: Was führt dich hierher? Wenn du gekommen bist, um die Leiche des jungen Edward zu holen, muß ich dich enttäuschen: Korporal Nobbs hat sie heute morgen ins Wachhaus gebracht. Vermutlich nutzte er die gute Gelegenheit und nahm ihr alle Wertgegenstände ab, aber so ist er nun mal, unser Nobbs. Denkt wie ein Verbrecher. Allerdings möchte ich deutlich darauf hinweisen, daß seine Seele nicht kriminell ist.

Ich hoffe, er hat den armen Kerl auch von der Schminke befreit. Du hast Edward benutzt, nicht wahr? Er hat Beano umgebracht und sich dann das Gfähr geholt. Er war zugegen, als es Hammerhock tötete. An der Tür ließ er einige Haare von Beanos Perücke zurück. Und als er einen guten Rat gebrauchen konnte, zum Beispiel den, sich zu stellen… da hast du ihn ins Jenseits geschickt. Die interessante Sache ist, daß der junge Edward unmöglich auf dem Turm gewesen sein kann. Eine tiefe Stichwunde in der Brust – im Bereich des Herzens – hinderte ihn daran. Ich weiß natürlich, daß man selbst dann am Leben in dieser Stadt teilnehmen kann, wenn man tot ist, aber ich bezweifle, daß Edward d’Eath in letzter Zeit viel Aktivität entfaltete. Das mit dem Stoffstreifen war nicht schlecht, doch weißt du… An solche Dinge habe ich nie geglaubt. An Fußspuren im Blumenbeet, aufschlußreiche Knöpfe und dergleichen. Viele Leute sind davon überzeugt, daß es bei der Polizeiarbeit hauptsächlich um solche Dinge geht. Aber sie irren sich. Polizeiarbeit ist vor allem Glück und Schinderei. Nun, Edward starb vor knapp zwei Tagen, und hier unten ist es hübsch kühl. Du wolltest ihn später hochholen und ihn als Mörder des Patriziers präsentieren, und wahrscheinlich hätte niemand gemerkt, daß er schon seit einer ganzen Weile tot ist. Und selbst wenn jemand Verdacht geschöpft hätte… Zu dem Zeitpunkt wäre bereits Chaos in der Stadt ausgebrochen. Noch mehr Chaos als sonst. Ein Chaos, das weitere Personen umbringt…« Mumm legte eine kurze Pause ein. »Du hast noch nichts gesagt«, stellte er fest.

»Du ahnst nicht, worum es wirklich geht«, erwiderte Kreuz.

»Ach, wirklich nicht?«

»D’Eath hatte recht. Er war verrückt, aber er hatte recht.«

»Womit, Professor?«

Der Assassine verschwand in den Schatten.

»Mist«, hauchte Mumm.

Eine Stimme flüsterte durch die von Menschen geschaffene Höhle.

»Hauptmann Mumm? Als Assassine lernt man…«

Es krachte, und die Öllampe zerplatzte.

»… nie in der Nähe von Licht zu stehen.«

Mumm warf sich zu Boden und rollte zur Seite. Das Krachen wiederholte sich, und der Schuß verfehlte ihn um etwa dreißig Zentimeter. Kaltes Wasser spritzte hoch.

Auch unter dem Hauptmann gluckerte es.

Der Ankh stieg; sein Wasser gehorchte Gesetzen, die älter waren als diejenigen der Stadt – es floß durch die unterirdischen Tunnel.

»Karotte?« raunte Mumm.

»Ja?« Die Antwort kam von links aus der Finsternis.

»Ich sehe überhaupt nichts. Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen.«

»Es fließt immer mehr Wasser«, sagte Karotte.

»Wir…« begann Mumm und unterbrach sich, als ein Bild vor seinem inneren Auge entstand. Es zeigte Kreuz, der in die Richtung zielte, aus der er eine leise Stimme hörte. Ich hätte sofort schießen sollen, dachte der Hauptmann. Er ist ein Assassine!

Er stemmte sich ein wenig hoch, damit sein Gesicht nicht ins Wasser geriet.

Kurz darauf hörte er leises Platschen – Kreuz näherte sich.

Etwas kratzte, und dann wurde es hell: Der Professor hatte eine Fackel entzündet. Mumm hob den Kopf und sah eine dürre Gestalt, deren freie Hand das Gfähr hielt.

Mumm erinnerte sich an etwas, das er als junger Wächter gelernt hatte. Wenn einen die Umstände zwangen, das spitze Ende eines Pfeils anzusehen, wenn man völlig der Gnade eines Gegners ausgeliefert war, dann konnte man nur hoffen, daß dieser ein durch und durch böser Mann war. Die Bösen lieben Macht – Macht über andere Leute –, und sie weiden sich an Angst. Sie möchten, daß ihre Opfer von ihrem nahen Tod wissen. Und deshalb reden sie. Um den eigenen Triumph in vollen Zügen zu genießen.

Böse wollen sehen, wie man vor ihnen kriecht. Sie zögern den Augenblick des Tötens hinaus, wie ein Raucher damit wartet, eine gute Zigarre anzuzünden.

Deshalb sollte man hoffen, einem Bösen ausgeliefert zu sein. Denn der Gute löscht das Leben aus, ohne ein Wort zu verlieren.

Jähes Entsetzen erfaßte Mumm, als er hörte, wie Karotte aufstand.

»Professor Kreuz, ich verhafte dich wegen der Ermordung von Bjorn Hammerhock, Edward d’Eath, Beano, Nimmer Niedlich und Oberobergefreiter Knuddel von der Stadtwache.«

»Meine Güte, so viele Leute soll ich umgebracht haben? Was Bruder Beano betrifft… der wurde von Edward getötet. Es war seine Idee – obgleich er behauptete, es sei unabsichtlich geschehen. Und Hammerhock kam durch einen Unfall ums Leben. Er fummelte an dem Gfähr herum, und dadurch löste sich ein Schuß; die Kugel prallte vom Amboß ab und traf ihn. Ich weiß es von Edward. Er kam zu mir. War völlig außer sich, der arme Junge. Sprach sich alles von der Seele. Und nachdem er mir alles geschildert hatte, brachte ich ihn um. Was hätte ich sonst tun sollen? Er litt an unheilbarem Wahnsinn. Solche Leute kann man einfach nicht zur Vernunft bringen. Darf ich vorschlagen, daß du ein wenig zurücktrittst? Es wäre mir lieber, nicht auf dich schießen zu müssen. Ich drücke nur ab, wenn du mir keine Wahl läßt!«

Mumm hatte den Eindruck, daß Kreuz mit sich selbst stritt. Das Gfähr schwang hin und her.

»Er faselte wirres Zeug«, fuhr der Professor fort. »Meinte, das Gfähr hätte Hammerhock getötet. Ich fragte: Sprichst du von einem Versehen, von einem Unfall? Und er antwortete: Nein, das Gfähr brachte ihn um.«

Karotte trat noch einen Schritt vor. Kreuz schien ganz auf seine eigene Welt konzentriert zu sein.

»Nein! Das Gfähr hat auch die junge Bettlerin erschossen. Ich habe damit nichts zu tun! Was sollte ich davon haben, eine Bettlerin zu töten?«

Kreuz wich zurück, doch das Gfähr neigte sich nach oben und zielte auf Karotte. Es schien sich von ganz allein zu bewegen wie ein schnüffelndes Tier…

»Duck dich!« flüsterte Mumm und tastete nach seiner Armbrust.

»Er meinte, das Gfähr sei eifersüchtig. Hammerhock hätte weitere Gfähre gebaut. Bleib stehen!«

Karotte verkürzte die Distanz um einen weiteren Schritt.

»Ich mußte Edward töten! Er war hoffnungslos romantisch und hätte alles falsch angefaßt. Aber in einem Punkt hatte er recht: Ankh-Morpork braucht einen König!«

Das Gfähr erzitterte und schoß, als Karotte zur Seite sprang.

 

Die Helligkeit von Gerüchen erfüllte die Tunnel, insbesondere die grellen, beige- und orangefarbenen Töne von alten Abwasserkanälen. Hier unten wehte kein Wind, der die unterschiedlichen Duftspuren miteinander vermischte. Die von Professor Kreuz stammende Linie schlängelte sich ohne Unterbrechung durch die stehende Luft.

Dazu kam der Geruch des Gfährs, brennend wie Salz in einer Wunde.

Ich habe den Gfährgeruch auch in der Gilde wahrgenommen, dachte Angua. Als Kreuz an uns vorbeiging. Gaspode erklärte ihn mit der langen Präsenz des Gfährs im Gebäude. Aber es ist dort nicht abgefeuert worden. Ich habe es gerochen, weil jemand damit geschossen hat.

Sie lief durch das Wasser einer großen Höhle, und mit ihrer Nase sah sie drei Gestalten: die erste roch undeutlich nach Mumm; die zweite, liegende, identifizierte sie als Karotte. Und die dritte mit dem Gfähr…