»Du hast diesen Ort bewundert«, sagte Ahmed. »Taktikus’ Männer erbauten die Stadt, als er versuchte, Klatsch zu erobern. Nach heutigen Maßstäben wäre es natürlich keine ›Stadt‹. Sie war eine Botschaft: ›Hier sind wir, und hier bleiben wir.‹ Und dann wehte der Wind aus einer anderen Richtung.«

»Du hast Schneetreiben Schuppert umgebracht, nicht wahr?«

»Es war eine Hinrichtung. Ich kann dir das Geständnis zeigen, das er vorher unterschrieben hat.«

»Aus freiem Willen?«

»Mehr oder weniger.«

»Wie bitte?«

»Nun, ich erklärte ihm, welche Alternativen es statt der Unterzeichnung des Geständnisses gab. Freundlicherweise habe ich den Notizblock für dich zurückgelassen. Um dein Interesse wachzuhalten. Und sieh mich nicht so an, Sir Samuel. Ich brauchte dich.«

»Woher willst du wissen, auf welche Weise ich dich ansehe?«

»Ich kann es mir vorstellen. Wie dem auch sei: Die Assassinengilde hatte einen Vertrag für ihn. Und zufälligerweise bin ich Gildenmitglied.«

»Du?« Das Wort verließ Mumms Mund, bevor er es zurückhalten konnte. Und dann dachte er: Warum nicht? Man schickte Jungen tausend Meilen weit, damit sie die Schule der Assassinengilde besuchten…

»Oh, ja. Die besten Jahre meines Lebens. So heißt es jedenfalls. Ich wohnte im Viper-Haus. Zur Schule! Zur Schule! Zur Schule!« Ahmed seufzte wie ein Prinz und spuckte wie ein Kameltreiber. »Wenn ich die Augen schließe… dann kann ich mich an die besondere Vanillesoße erinnern, die wir montags bekamen. Meine Güte, es regen sich auch andere Erinnerungen… Ganz deutlich sehe ich die nassen Straßen vor mir. Verkauft Herr Schnapper in der Sirupminenstraße noch immer seine gräßlichen Würstchen?«

»Ja.«

»Es ist der gleiche alte Schnapper, wie?«

»Und es sind die gleichen Würstchen.«

»Einmal probiert, nie vergessen.«

»Stimmt.«

»Beweg dich nicht so schnell, Sir Samuel. Sonst wäre ich gezwungen, dich von deinem Kopf zu trennen. Du vertraust mir nicht, und ich vertraue dir nicht.«

»Warum hast du mich hierhergezerrt?«

»Gezerrt? Ich mußte mein eigenes Schiff sabotieren, um dir zu ermöglichen, mich einzuholen!«

»Ja, aber du… weißt, wie ich reagiere.« Kummer breitete sich in Mumm aus. Alle wußten, wie er reagierte.

»Ja. Möchtest du eine Zigarette, Sir Samuel?«

»Ich dachte, du kaust lieber Gewürznelken.«

»In Ankh-Morpork, ja. Ganz gleich, wo man sich aufhält: Es ist immer gut, sich ein wenig… ausländisch zu verhalten, denn alle wissen, daß Ausländer dumm sind. Außerdem sind diese Zigaretten ziemlich gut.«

»Frisch aus der Wüste?«

»Ha! Es ist allgemein bekannt, daß klatschianische Zigaretten aus Kameldung bestehen.« Ein Streichholz flammte in der Dunkelheit auf, und Mumm sah eine krumme Nase, als sich Ahmed die Zigarette anzündete. »Nun, ich muß gestehen, daß zumindest in diesem Fall die Vorurteile nicht weit von der Wahrheit entfernt sind. Wie dem auch sei: Diese Zigaretten stammen von Sumtri. Es heißt, die Frauen dieser Insel hätten keine Seelen. Ich persönlich bezweifle das.«

Mumm erkannte eine Hand und darin ein Päckchen. Ein oder zwei Sekunden fragte er sich, ob er Ahmed packen konnte…

»Wie steht es mit deinem Glück?« fragte der Klatschianer.

»Nicht besonders gut, nehme ich an.«

»In der Tat. Ein Mann sollte wissen, wie sehr er sein Glück beanspruchen kann. Soll ich dir sagen, woher ich weiß, daß du ein guter Mann bist, Sir Samuel?« Im Licht des aufgehenden Mondes beobachtete Mumm, wie Ahmed eine Zigarettenspitze hervorholte und die bereits angezündete Zigarette hineinschob.

»Ich bin ganz Ohr.«

»Nach dem Attentat auf den Prinzen verdächtigte ich jeden. Aber dein Argwohn galt nur den Angehörigen deines eigenen Volkes. Du brachtest es einfach nicht fertig, in Erwägung zu ziehen, daß Klatschianer dahinterstecken. Du hast befürchtet, dich durch solche Überlegungen auf eine Stufe mit Feldwebel Colon und den anderen Klatschianische-Zigaretten-bestehen-aus-Kameldung-Idioten zu stellen.«

»Wessen Polizist bist du?«

»Drücken wir es so aus: Ich bekomme mein Geld als Wali von Prinz Cadram.«

»Derzeit dürfte er nicht sehr zufrieden mit dir sein. Immerhin solltest du seinen Bruder beschützen.« Ich hatte die gleiche Aufgabe, fügte Mumm in Gedanken hinzu. Und wenn schon…

»Ja. Und wir dachten auf die gleiche Weise. Du hast geglaubt, der Täter stamme aus Ankh-Morpork, und ich war sicher, daß er aus Klatsch kam. Der Unterschied zwischen uns beiden besteht darin, daß ich recht behielt. Der Anschlag auf Khufurah wurde in Klatsch geplant.«

»Ach, tatsächlich? Das sollte die Wache glauben…«

»Nein, Sir Samuel. Der eigentlich wichtige Aspekt dieser Angelegenheit ist, was jemand dich glauben lassen wollte.«

»Wirklich? Nun, da irrst du dich. Die Sache mit dem Glas und dem Sand auf dem Boden… Ich habe es… sofort… durchschaut…«

Seine Stimme verklang.

Nach einer Weile sagte Ahmed fast mitfühlend: »Ja, das hast du.«

»Verdammt.«

»Oh, in gewisser Weise hattest du recht. Ostie wurde ursprünglich in Ankh-Morpork-Dollar bezahlt. Später dann brach jemand bei ihm ein, vertauschte das Geld und sorgte dafür, daß die meisten Glassplitter draußen lagen. Bei der Gelegenheit ließ er den Sand zurück. Nun, ich muß sagen: Das mit dem Sand fand ich übertrieben. Niemand wäre so dumm. Aber es sollte sichergestellt werden, daß alles nach einem verpfuschten Versuch aussah.«

»Wer war es?« fragte Mumm.

»Oh, ein kleiner Dieb. Herribert Hartjojo. Er wußte nicht einmal, warum er den Auftrag erhielt – es genügte ihm, daß er dafür bezahlt wurde. Ich gratuliere dir zu deiner Stadt, Herr Mumm. In Ankh-Morpork findet man immer jemanden, der für genug Geld zu allem bereit ist.«

»Jemand muß ihn bezahlt haben.«

»Ein Mann, dem er in einer Taverne begegnete.«

Mumm nickte bedrückt. Er fand es immer wieder erstaunlich, wie viele Leute bereit waren, sich auf Geschäfte mit jemandem einzulassen, dem sie in einer Taverne begegneten.

»Ja, das klingt plausibel«, sagte er.

»Wenn der respektable Kommandeur Mumm, führenden Klatschianern als ein durch und durch ehrlicher Mann bekannt, dem es nur ein wenig an Intelligenz mangelt… Wenn Mumm also zu dem Schluß gelangt, daß jemand aus Ankh-Morpork hinter der Tat steckt… Nun, die Welt sieht zu. Und die Welt sollte die ›Wahrheit‹ erfahren. Einen Krieg wegen irgendeines Felsens beginnen? Das erzeugt Unbehagen in anderen Ländern, vor deren Küste es ebenfalls Felsen gibt. Aber einen Krieg beginnen, weil irgendein ausländischer Mistkerl jemanden getötet hat, der in einer Mission des Friedens unterwegs war… Ich glaube, das würde die Welt verstehen.«

»Mangel an Intelligenz?« brummte Mumm.

»Ach, sei nicht zu betrübt, Kommandeur. Die Sache mit dem Feuer in der Botschaft. Das war eine dumme Heldentat.«

»Es war der reinste Wahnsinn!«

»Nun, der Unterschied ist ohnehin nicht besonders groß. Wie dem auch sei: Damit hatte ich nicht gerechnet.«

Auf dem Billardtisch hinter Mumms Stirn rollte die schwarze Kugel in ein Loch.

»Aber mit dem Feuer hast du gerechnet?«

»Das Gebäude hätte praktisch leer sein sollen…«

Mumm bewegte sich. Ahmed verlor den Boden unter den Füßen und wurde an eine Säule gepreßt, Mumms Hände am Hals.

»Eine Frau saß dort in der Falle!«

»Es… war… notwendig!« brachte Ahmed heiser hervor. »Ein… Ablenkungsmanöver. Sein… Leben war… in Gefahr. Ich sah keine… andere Möglichkeit, als… ihn fortzubringen. Von… der Frau… erfuhr ich erst… als es schon… zu spät war. Ich… gebe dir mein Wort…«

Durch den roten Schleier des Zorns spürte Mumm etwas in der Magengegend. Er blickte nach unten und sah ein Messer, das wie durch Magie in Ahmeds Hand erschienen war.

»Hör mir… zu«, krächzte der Klatschianer. »Prinz Cadram wollte seinen Bruder umbringen lassen… Die Welt sollte erfahren, wie… heimtückisch die Würstchenfresser sind… daß sie einen Friedensboten umbringen…«

»Sein eigener Bruder? Und das soll ich dir glauben?«

»Mitteilungen wurden der… Botschaft übermittelt… verschlüsselt…«

»Mitteilungen für den alten Botschafter? Nein, das glaube ich gewiß nicht.«

Ahmed blieb einige Sekunden unbewegt.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte er. »Sei großzügig, Sir Samuel. Behandle wirklich alle Menschen gleich. Gib Klatschianern das Recht, ebenso verschlagen und gemein zu sein wie die Bürger von Ankh-Morpork. Der Botschafter ist nur ein aufgeblasener Idiot. Deine Stadt hat kein Monopol auf solche Leute. Aber sein Stellvertreter sieht die Mitteilungen zuerst. Er ist… ein junger Mann mit viel Ehrgeiz…«

Mumm lockerte seinen Griff. »Der stellvertretende Botschafter? Hab ihn sofort für einen zwielichtigen Burschen gehalten, als ich ihn zum erstenmal sah!«

»Aber gleichzeitig hast du einen Klatschianer in ihm gesehen, und deshalb fiel es dir schwer, ihn ganz zu durchschauen.«

Mumm ging nicht darauf ein. »Und du konntest die verschlüsselten Mitteilungen lesen?«

»Oh, ich bitte dich. Wenn du vor dem Schreibtisch des Patriziers stehst… liest du dann nicht seine Dokumente, obwohl sie falsch herum liegen? Außerdem bin ich Prinz Cadrams Polizist…«

»Er ist also dein Boß?«

»Wer ist dein Boß, Sir Samuel? Wenn es darauf ankommt?«

Die beiden Männer sahen sich an. Ahmed schnaufte leise. Mumm trat zurück. »Die Mitteilungen… Hast du sie?«

»Ja. Mit seinem Siegel.« Ahmed rieb sich den Hals.

»Meine Güte. Die Originale? Ich hätte gedacht, daß sie hinter Schloß und Riegel liegen.«

»Dem war auch so. In der Botschaft. Doch bei dem Brand wurden viele Hände gebraucht, um wichtige Dokumente in Sicherheit zu bringen. Es war ein sehr… nützliches Feuer.«

»Ein Hinrichtungsbefehl für den eigenen Bruder… So etwas läßt sich vor Gericht kaum rechtfertigen…«

»Vor welchem Gericht? Der König ist das Gesetz.« Ahmed setzte sich. »Wir sind nicht wie ihr. Ihr bringt Könige um.«

»Wir befreien das Volk von ihnen«, sagte Mumm. »Außerdem ist dies erst einmal geschehen, und zwar vor langer Zeit. Hast du mich deshalb hierhergebracht? Warum soviel Aufhebens? Wir hätten dieses Gespräch auch in Ankh-Morpork führen können.«

»Du bist ein mißtrauischer Mann, Kommandeur Mumm. Hättest du mir geglaubt? Außerdem mußte ich Prinz Khufurah fortbringen, bevor er, ahah, ›seinen Verletzungen erlag‹.«

»Wo ist der Prinz jetzt?«

»In der Nähe. Und in Sicherheit. In der Wüste droht ihm weniger Gefahr als in Ankh-Morpork, glaub mir.«

»Wie geht es ihm?«

»Er erholt sich allmählich. Eine Alte, der ich vertraue, kümmert sich um ihn.«

»Deine Mutter?«

»Bei den Göttern, nein! Meine Mutter ist eine D’reg! Sie wäre sehr enttäuscht, wenn ich ihr vertrauen würde. Dann müßte sie glauben, daß sie mich falsch erzogen hat.«

Diesmal konnte er Mumms Gesichtsausdruck erkennen. »Du hältst mich für einen gebildeten Barbaren, nicht wahr?«

»Nun, ich hätte mich damit begnügt, Schneetreiben Schuppert aus Ankh-Morpork zu verjagen.«

»Tatsächlich? Sieh dich um, Sir Samuel. Dein… Revier… ist eine Stadt, die man in einer halben Stunde zu Fuß durchqueren kann. Meins besteht aus zwei Millionen Quadratmeilen Wüste und Bergen. Meine Gefährten sind ein Schwert und ein Kamel, und ehrlich gesagt: Als Gesprächspartner lassen beide zu wünschen übrig. In den Ortschaften gibt es natürlich Wächter, sozusagen. Sie denken in einfachen, unkomplizierten Bahnen. Meine Aufgabe besteht darin, Banditen und Mördern in Regionen nachzustellen, wo mich fünfhundert Meilen von Hilfe trennen. Deshalb brauche ich die Furcht als Verbündete. Und ich muß sofort zuschlagen, weil ich keine zweite Chance bekomme. Ich halte mich für einen ehrlichen Mann, zumindest in gewisser Weise. In Ankh-Morpork habe ich sieben Jahre in einer Privatschule überlebt, und während dieser Zeit wurde ich von den Söhnen der feinen Leute immer herablassend behandelt. Ich versichere dir: Im Vergleich damit hat das Leben bei den D’regs überhaupt keinen Schrecken. Ich sorge für Gerechtigkeit, schnell und gründlich.«

»Ich habe gehört, wodurch du deinen Namen bekommen hast…«

Ahmed zuckte mit den Schultern. »Der Mann hatte das Wasser vergiftet. Dadurch starben fünf Männer, sieben Frauen, dreizehn Kinder und einunddreißig Kamele. Und einige der Kamele waren sehr wertvoll, möchte ich betonen. Ich bekam eindeutige Hinweise von dem Mann, der ihm das Gift verkauft hatte, außerdem von einem vertrauenswürdigen Zeugen, der ihn in der fraglichen Nacht beim Brunnen gesehen hatte. Warum hätte ich unter solchen Umständen noch eine weitere Stunde warten sollen?«

»Gelegentlich findet bei uns etwas statt, das wir Gerichtsverfahren nennen«, sagte Mumm munter.

»Ja. Dabei entscheidet euer Lord Vetinari. Aber mitten im Nichts bin ich das Gesetz.« Ahmed winkte mit einer Hand. »Oh, der Mann hätte bestimmt mildernde Umstände vorgebracht, eine unglückliche Kindheit oder ein besonderes Leiden namens Krankhafter-Drang-Brunnen-zu-vergiften. Nun, ich habe den krankhaften Drang, feige Mörder zu köpfen.«

Mumm gab auf. Er konnte Ahmeds Standpunkt verstehen. Sogar sehr gut.

»Ich schätze, unterschiedliche Kulturen erfordern unterschiedliche Maßnahmen«, sagte er.

»Nach meinen Erfahrungen sind diese Maßnahmen besonders dann erfolgreich, wenn man dabei scharfen Stahl einsetzt«, erwiderte Ahmed. »Verzieh nicht gleich das Gesicht, es war nur ein Scherz. Ich wußte von den Plänen des Prinzen, und ich dachte: Das ist nicht richtig. Wenn er irgendeinen Lord aus Ankh-Morpork umgebracht hätte, so wäre das alles nur Politik gewesen. Aber dies… Und ich dachte: Warum verfolge ich Verbrecher in den Bergen, wenn ich selbst Teil eines großen Verbrechens bin? Der Prinz will ganz Klatsch vereinen. Ich persönlich mag die vielen kleinen Stämme und Länder, selbst ihre kleinen Kriege. Ich finde es auch nicht weiter schlimm, wenn sie gegen Ankh-Morpork kämpfen, weil sie das wollen, weil sie eure gräßlichen Angewohnheiten nicht ausstehen können oder weil sie genug haben von eurer gedankenlosen Arroganz. Doch eine Lüge sollte nicht der Grund dafür sein.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Mumm.

»Aber was kann ich allein ausrichten? Soll ich vielleicht den Prinzen verhaften? Ich bin sein Polizist, so wie du der Vetinaris bist.«

»Nein. Ich gehorche nicht Vetinari, sondern dem Gesetz.«

»Ich meine nur, es sollte selbst für Könige Polizisten geben.«

Mumm sah nachdenklich über die vom Mondschein erhellte Wüste.

Irgendwo dort draußen stand das Heer von Ankh-Morpork, wenn man es überhaupt als »Heer« bezeichnen durfte. Und irgendwo dort draußen wartete die klatschianische Streitmacht. Tausende von Männern, die vielleicht Freunde geworden wären, würden bald übereinander herfallen und sich gegenseitig umbringen. Und nach dem ersten Waffengang gab es Gründe genug, weitere folgen zu lassen.

Mumm erinnerte sich daran, daß er als Kind gehört hatte, wie drei Alte über den Krieg sprachen. Er kannte den Krieg nicht aus eigener Erfahrung. Zu seinen Lebzeiten versuchten die Stadtstaaten der Sto-Ebene nur, sich gegenseitig in den wirtschaftlichen Ruin zu treiben, oder die Assassinengilde löste die Konflikte auf einer persönlichen Basis. Die meiste Zeit zankten die Leute einfach nur. Das erzeugte Ärger genug, aber es war weitaus besser als ein Schwert in der Leber.

Die Alten hatten von großen Pfützen aus Blut und umherfliegenden Gliedmaßen erzählt, doch einen ganz besonderen Eindruck auf den jungen Mumm hatte ein Hinweis am Schluß der Erlebnisberichte gemacht: »Und wenn man mit dem Fuß an etwas hängenblieb, so sah man besser nicht hin, wenn man die letzte Mahlzeit im Magen behalten wollte.« Diesen Worten hatten sie keine Erklärung hinzugefügt. Die beiden anderen Alten schienen genau zu wissen, was damit gemeint war. Doch nichts konnte schlimmer sein als die Erklärungen, die sich Mumm selbst ausmalte. Er erinnerte sich an noch etwas. Die Alten, die den größten Teil des Tages damit verbrachten, auf einer Bank in der Sonne zu sitzen, hatten zusammen fünf Arme, fünf Augen, viereinhalb Beine und zweidreiviertel Gesichter. Hinzu kamen siebzehn Ohren – der Irre Winston zeigte seine Sammlung gern einem braven Jungen, der angemessen furchterfüllt wirkte.

»Er will einen Krieg führen…« Mumm mußte den Mund öffnen, sonst wäre in seinem Kopf nicht genug Platz für eine derart absurde Vorstellung gewesen. Der Prinz, den alle für ehrlich, ehrenwert und gut hielten, wollte einen Krieg.

»Oh, natürlich«, sagte Ahmed. »Nichts eint ein Volk besser als ein hübscher kleiner Krieg.«

Wie sollte man gegen jemanden vorgehen, der auf diese Weise dachte? fragte sich Mumm. Wenn es um einen gewöhnlichen Mörder ging… dann gab es mehrere Möglichkeiten. Mit einem gewöhnlichen Mörder konnte man mit gewöhnlichen Mitteln fertig werden. Es gab Verbrecher, und es gab Polizisten; zwischen ihnen bestand ein sonderbares Gleichgewicht. Aber ein Mann, der sich hinsetzte und beschloß, einen Krieg zu beginnen… Bei den sieben Höllen, womit sollte man ihn ausgleichen? Dazu brauchte man einen Polizisten von der Größe eines Landes.

Den Soldaten konnte man nichts vorwerfen. Sie warteten nur darauf, daß man ihnen die Richtung zeigte.

Etwas klackte an eine der umgestürzten Säulen. Mumm blickte nach unten und zog den Schlagstock aus der Tasche. Er glänzte im Mondschein.

Was nützte so ein Ding? Es zeigte nur, daß es ihm erlaubt war, kleine Verbrecher zu jagen, die kleine Verbrechen begingen. Damit konnte er nichts gegen Verbrecher unternehmen, die so groß waren, daß man sie überhaupt nicht sah. Man lebte in ihnen. Bleib bei den kleinen Verbrechen, Sam Mumm. Das ist sicherer.

»ALSO GUT, JUNGS! SPIESST SIE AUF UND HAUT SIE IN STÜCKE!«

Gestalten sprangen über die geborstenen Säulen.

Es surrte leise, als Ahmed sein Schwert aus der Scheide zog.

Mumm sah, wie sich ihm eine Hellebarde näherte – eine Hellebarde aus Ankh-Morpork! –, und er reagierte mit den Reflexen, die ihn die Straßen der Stadt gelehrt hatten. Er verlor keine Zeit, über jemanden zu lachen, der dumm genug war, eine Pike gegen einen Fußsoldaten zu verwenden. Statt dessen wich er der Klinge aus, griff nach dem Schaft und zog so fest daran, daß der Hellebardier nach vorn stolperte, seinem erhobenen Stiefel entgegen.

Eine halbe Sekunde später sprang Mumm zur Seite und versuchte, sein Schwert unter dem Umhang hervorzuziehen. Er wich einer weiteren Klinge aus und stieß mit dem Ellenbogen an etwas, das hart genug war, um Schmerz zu verursachen.

Als er den Kopf drehte, sah er ins Gesicht eines Mannes, der sein Schwert erhoben hatte…

Ein seidenes Geräusch erklang…

Der Mann taumelte zurück, und sein Gesicht zeigte Überraschung, als der Schädel herunterfiel.

Mumm riß sich den Turban vom Kopf.

»Ich bin aus Ankh-Morpork, ihr verdammten Idioten!«

Eine große Gestalt ragte vor ihm auf, mit einem Schwert in jeder Hand.

»ICH SCHNEIDE DIR DIE WEICHTEILE AB, DU SCHMIERIGER… Oh, bist du das, Sir Samuel?«

»Wie bitte? Willikins?«

»Ja, ich bin es wirklich, Herr.« Der Diener straffte seine Gestalt.

»Willikins

»Bitte entschuldige mich einen Augenblick, Herr – HÖRT AUF, IHR DREIMAL VERFLUCHTEN HURENSÖHNE – ich wußte nicht, daß du hier bist, Herr!«

»Dieser hier wehrt sich, Feldwebel!«

Ahmed stand mit dem Rücken an einer Säule. Ein Mann lag bereits vor ihm auf dem Boden, und drei weitere versuchten, näher an den Wali heranzukommen und dabei gleichzeitig eine sichere Distanz zu der surrenden Barriere seines hin und her zuckenden Schwertes zu wahren.

»Ahmed!« rief Mumm. »Diese Leute sind auf unserer Seite!«

»Ach, tatsächlich? Oh, Entschuldigung

Ahmed ließ sein Schwert sinken und nahm die Zigarettenspitze aus dem Mund. Er nickte einem der Soldaten zu, die ihn hatten angreifen wollen. »Guten Abend.«

»Bist du auch einer von uns?«

»Nein, ich bin…«

»Er gehört zu mir«, sagte Mumm scharf. »Wie kommst du hierher, Willikins? Feldwebel Willikins, wie ich sehe.«

»Wir waren auf Patrouille, und plötzlich griffen einige klatschianische Gentlemen an. Nach den daraus resultierenden Unerfreulichkeiten…«

»Du hättest es sehen sollen, Herr«, brummte ein Soldat. »Einem der Burschen hat er glatt die Nase abgebissen, jawohl!«

»Es stimmt, daß ich versucht habe, den guten Namen von Ankh-Morpork in Ehren zu halten, Herr. Nun, nachdem wir…«

»Und einem anderen stach er in…«

»Ich bitte dich, Gefreiter Burk«, sagte Willikins. »Ich versuche gerade, Sir Samuel einen Überblick über die jüngsten Ereignisse zu geben.«

»Der Feldwebel sollte eine Medaille bekommen!«

»Die wenigen Überlebenden unserer Gruppe versuchten zurückzukehren, Herr, aber wir mußten uns vor anderen Patrouillen verbergen und erwogen gerade, die Nacht in diesen Ruinen zu verbringen, als wir dich und diesen Gentleman erblickten.«

Ahmed starrte ihn mit offenem Mund an.

»Aus wie vielen Kriegern bestand die klatschianische Patrouille, Feldwebel?« fragte Mumm.

»Es waren insgesamt neunzehn, Herr.«

»Da habt ihr trotz der Dunkelheit ziemlich genau gezählt.«

»Wir haben nachher gezählt, Herr.«

»Soll das heißen, sie wurden alle getötet?«

»Ja, Herr«, bestätigte Willikins ruhig. »Wir selbst haben fünf Männer verloren, Herr. Die Gefreiten Hoppla und Wippich nicht mitgezählt, Herr – unglücklicherweise haben sie aufgrund unseres sehr bedauerlichen Mißverständnisses das Leben verloren. Mit deiner Erlaubnis, Herr, schaffe ich sie fort.«

»Arme Teufel«, sagte Mumm. Er spürte, daß diese Worte nicht genügten, aber andere hätten ebenfalls nicht ausgereicht.

»So ist das eben im Krieg, Herr. Gefreiter Hoppla, von seinen Freunden Hoppel genannt, war neunzehn und wohnte in der Ättermützenstraße, wo er bis vor kurzer Zeit Schnürsenkel herstellte.« Willikins griff nach den Armen des Toten und zog. »Er warb um die Gunst einer jungen Dame namens Grace, von der er mir gestern abend freundlicherweise ein Bild zeigte. Soweit ich weiß, handelt es sich um eine Magd in den Diensten von Lady Venturii. Wenn du mir bitte seinen Kopf reichen könntest, Herr, dann erledige ich auch den Rest – SCHMUDDEL WER HAT DIR GESAGT DASS DU DICH HINSETZEN SOLLST STEH SOFORT AUF HOL DEINE SCHAUFEL UND NIMM DEN HELM AB ZEIG GEFÄLLIGST ETWAS RESPEKT!«

Rauch trieb an Mumms Ohr vorbei.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Ahmed. »Aber dies ist Krieg, Sir Samuel. Wach auf und nimm den Geruch des Blutes wahr.«

»Aber… eben haben sie noch gelebt…«

»Dein Freund hier weiß, wie es um diese Dinge bestellt ist. Du hast keine Ahnung.«

»Aber er ist… ich meine, er war mein Diener!«

»Na und? Auch für Diener heißt es: töten oder getötet werden. Du bist kein geborener Krieger, Sir Samuel.«

Mumm hielt ihm den Schlagstock vor die krumme Nase.

»Ich bin kein geborener Killer! Siehst du das hier? Kannst du die Aufschrift entziffern? Meine Aufgabe besteht darin, den Frieden zu wahren! Wenn ich dazu Personen umbringen muß, habe ich das falsche Handbuch gelesen!«

Willikins kehrte zurück, um die zweite Leiche zu holen. »Leider hatte ich nicht das Privileg, viel über diesen Mann zu erfahren«, sagte er, als er den Toten hinter einen Felsen trug. »Wir nannten ihn Spinne, Herr«, fuhr er fort und richtete sich wieder auf. »Er spielte ziemlich schlecht Mundharmonika und sprach sehnsüchtig von zu Hause. Möchtest du eine Tasse Tee, Herr? Gefreiter Schmied kocht welchen. Äh…« Der Diener hüstelte verlegen.

»Ja, Willikins?«

»Ich spreche dieses Thema nur ungern an, Herr…«

»Heraus damit, Mann!«

»Hast du vielleicht Kekse dabei, Herr? Es widerstrebt mir, Tee ohne Kekse anzubieten, und wir haben seit zwei Tagen nichts gegessen.«

»Aber ihr wart doch auf Patrouille!«

»Mit dem Auftrag, Proviant zu beschaffen.« Willikins wirkte beschämt.

Mumm musterte ihn verwirrt. »Soll das heißen, Lord Rust hat nicht einmal lange genug gewartet, um Verpflegung mitzunehmen?«

»Oh, doch, Herr. Aber wie sich herausstellte…«

»Wir wußten, daß etwas nicht mit rechten Dingen zuging, als die ersten Tonnen mit Hammelfleisch explodierten«, brummte Gefreiter Burk. »Auch die Kekse erwiesen sich als ziemlich lebendig. Ganz offensichtlich hat der blöde Rust jede Menge Zeugs gekauft, das nicht einmal Handtuchköpfe anrühren würden…«

»Und wir essen alles«, sagte 71-Stunden-Ahmed ernst.

»GEFREITER BURK DAS IST UNERHÖRT WIE KANNST DU SO VON DEINEM OBERBEFEHLSHABER SPRECHEN DAFÜR WIRST DU EINE DISZIPLINARSTRAFE BEKOMMEN – bitte entschuldige, Herr, aber wir fühlen uns alle ein wenig schwach.«

»Die letzte Nase liegt schon eine ganze Weile zurück, wie?« fragte 71-Stunden-Ahmed.

»Ahahaha, Herr«, erwiderte Willikins.

Mumm seufzte. »Wenn ihr fertig seid, Willikins… dann möchte ich, daß du mich mit deinen Männern begleitest.«

»In Ordnung, Herr.«

Mumm nickte Ahmed zu.

»Das gilt auch für dich«, sagte er. »Es kommt jetzt darauf an.«

 

Fahnen wehten im heißen Wind. Die Speere reflektierten den Sonnenschein. Lord Rust beobachtete sein Heer und sah, daß es gut war, wenn auch ein wenig klein.

Er beugte sich zu seinem Adjutanten vor.

»Wir sollten nicht vergessen, daß selbst General Taktikus zahlenmäßig unterlegen war, als er den Paß von Al-Ibi eroberte«, sagte er.

»Ja, Herr«, bestätigte Leutnant Hornett. »Allerdings glaube ich, daß seine Männer damals auf Elefanten saßen. Und sie waren gut mit Proviant versorgt«, fügte er bedeutungsvoll hinzu.

»Schon möglich, schon möglich. Doch Lord Nadelwehs Kavallerie griff einst das große Heer von Pseudopolis an, um sich in Liedern und Geschichten zu verewigen.«

»Aber sie kamen alle ums Leben, Herr.«

»Ja, ja, aber es war trotzdem ein berühmter Angriff. Und jedes Kind kennt die Geschichte von den hundert Ephebianern, die die ganze Streitmacht von Tsort besiegten. Ein grandioser Sieg, stimmt’s?«

»Ja, Herr«, entgegnete der Adjutant bedrückt.

»Du gibst es also zu?«

»Ja, Sir. Einige Kommentatoren meinen allerdings, daß auch das Erdbeben eine gewisse Rolle spielte.«

»Aber du kannst nicht leugnen, daß die sieben Helden von Hergen das Großfußvolk besiegten, obwohl sie hundert zu eins in der Minderzahl waren!«

»Ja, Herr. Es ist eine Geschichte, die man Kindern erzählt, Herr. In Wirklichkeit hat sich so etwas nie zugetragen.«

»Nennst du mich etwa einen Lügner, Junge?«

»Nein, Herr«, antwortete Leutnant Hornett hastig.

»Dann mußt du zugeben, daß Baron Mimbeldrohn ganz allein die Heere des Plumpuddinglands besiegte und die dortige Sultanin verspeiste?«

»Ich beneide ihn, Herr.« Der Leutnant sah wieder zu den Soldaten. Die Männer waren sehr hungrig, obgleich Rust sie sicher als rank und schlank bezeichnet hätte. Die Situation wäre noch viel ernster gewesen, wenn es unterwegs keine gekochten Austern geregnet hätte. »Äh… da wir ein wenig Zeit haben, Herr, sollten wir vielleicht über die Aufstellung der Truppe sprechen.«

»Sie stehen doch schon. Warten nur auf den Befehl zum Angriff.«

»Ja, Herr. Ich… äh… dachte dabei eher an die Position…«

»Ist doch alles in Ordnung damit, Mann. In Reih und Glied, wie es sich gehört. Ha! Eine Wand aus Stahl, bereit, ins schwarze Herz des klatschianischen Aggressors zu stoßen!«

»Ja, Herr. Aber… äh… die Wahrscheinlichkeit dafür ist natürlich sehr gering, Herr, aber während wir ins Herz des klatschianischen Aggressors vorstoßen…«

»… ins schwarze Herz…«, berichtigte Lord Rust.

»Während wir ins schwarze Herz des klatschianischen Aggressors vorstoßen, Herr, könnten die hier und hier stationierten Kompanien des klatschianischen Aggressors auf die Idee kommen, uns mit einem klassischen Zangenmanöver zu umschließen.«

»Die ins Herz des Feindes vorstoßende Wand aus Stahl hat uns beim zweiten Krieg gegen Quirm gute Dienste geleistet!«

»Wir haben ihn verloren, Herr.«

»Aber wir hätten ihn fast gewonnen.«

»Trotzdem endete er mit einer Niederlage.«

»Womit warst du als Zivilist beschäftigt, Leutnant?«

»Ich habe als Landvermesser gearbeitet, Herr, und ich verstehe die klatschianische Schriftsprache. Deshalb hast du mich zum Offizier ernannt.«

»Du weißt also nicht, wie man kämpft?«

»Dafür kann ich gut zählen, Herr.«

»Pah! Zeig ein bißchen mehr Mut, Mann. Obwohl das vermutlich gar nicht nötig ist. Der gewöhnliche Klatschianer neigt zur Feigheit. Bestimmt fliehen die Handtuchköpfe, sobald sie unseren kalten Stahl zu schmecken bekommen!«

»Ich höre deine Worte, Herr«, erwiderte der Adjutant, der die klatschianischen Truppen beobachtet und sich eine eigene Meinung gebildet hatte.

Er ging von folgenden Überlegungen aus: In den vergangenen Jahren hatte das klatschianische Heer gegen viele verschiedene Feinde gekämpft. Also mußten die aktuellen Truppen des Gegners aus Soldaten bestehen, die dazu neigten, am Ende einer Schlacht noch am Leben zu sein. Darüber hinaus verfügten sie über jede Menge Erfahrung – die dummen und ungeschickten Krieger waren längst tot.

Das gegenwärtige Heer von Ankh-Morpork hingegen hatte noch nie zuvor gegen einen Feind gekämpft, obwohl die alltäglichen Erfahrungen in der Stadt – vor allem in den unangenehmeren Vierteln – einen gewissen Ausgleich schufen. Wie General Taktikus glaubte auch Leutnant Hornett, daß Mut, Tapferkeit und unerschütterliche Entschlossenheit zwar begrüßenswerte Eigenschaften waren, jedoch an Bedeutung verloren, wenn man ihnen die Kombination aus Mut, Tapferkeit, Determination und zahlenmäßiger Überlegenheit gegenüberstellte.

In Ankh-Morpork hatte alles ganz einfach geklungen, dachte Hornett. Wir segeln nach Klatsch, und bis zum Nachmittag nehmen wir Al-Khali ein. Anschließend trinken wir im Rhoxie Brause mit freundlichen jungen Damen. Die Klatschianer werfen nur einen Blick auf unsere Waffen und ergreifen die Flucht.

An diesem Morgen hatten die Klatschianer ausreichend Gelegenheit bekommen, sich die Waffen des Gegners anzusehen. Doch niemand von ihnen machte Anstalten zu fliehen. Statt dessen kicherten sie viel.

 

Mumm rollte mit den Augen. Es klappte. Aber warum?

Er hatte viel von guten Rednern gehört, und Karotte gehörte sicher nicht zu ihnen. Er zögerte, verlor den Faden, wiederholte sich und brachte alles durcheinander.

Und doch…

Mumm beobachtete die Gesichter der Leute, die Karotte beobachteten. Er sah D’regs, einige Klatschianer, die zurückgeblieben waren, Willikins und seine geschrumpfte Truppe. Alle hörten wie gebannt zu.

Es schien eine Art Magie zu sein. Karotte teilte den Zuhörern mit, sie seien im Grunde ihres Herzens brave Jungs. Sie wußten natürlich, daß sie keine braven Jungs waren, aber irgend etwas in seiner Stimme veranlaßte sie dazu, ihm wenigstens vorübergehend zu glauben. Er hielt andere Personen für anständig und ehrenvoll, und aus irgendeinem Grund war es undenkbar, ihn zu enttäuschen. Er war ein rhetorischer Spiegel und reflektierte das, was man hören wollte. Und er meinte alles ernst.

Trotzdem sahen einige Männer gelegentlich zu Mumm und Ahmed, und der Kommandeur erriet ihre Gedanken. Sie dachten: »Es dürfte alles in Ordnung sein, wenn sie dabei sind.« Beschämt mußte Mumm eingestehen, daß dies ein Vorteil von Heeren war: Die Leute hielten nach jemandem Ausschau, der ihnen Anweisungen erteilte.

»Ist das ein Trick?« fragte Ahmed.

»Nein«, erwiderte Angua. »Er wendet keine Tricks an. Nie. Oh, oh…«

Es gab Unruhe in den Reihen.

Karotte trat vor und griff nach unten, hob den Gefreiten Burk und einen D’reg hoch. Er hielt sie beide mit einer großen Faust am Kragen.

»Was ist los mit euch?«

»Er hat mich ›Bruder eines Schweins‹ genannt, Herr!«

»Lügner! Du hast mich einen schmierigen Tischtuchkopf genannt!«

Karotte schüttelte den Kopf. »Und wir kamen doch so gut miteinander zurecht«, sagte er betrübt. »Solch ein Verhalten ist wirklich nicht nett. Hashel und Vincent, ich möchte, daß ihr euch die Hand gebt. Entschuldigt euch. Wir alle haben eine anstrengende Zeit hinter uns, aber ich weiß, daß ihr im Grunde eures Herzens brave Jungs seid…«

Mumm hörte, wie Ahmed murmelte: »Oh, jetzt ist es vorbei…«

»… wenn ihr euch jetzt die Hände reicht, vergessen wir den unerfreulichen Zwischenfall.«

Mumm sah zu 71-Stunden-Ahmed, dessen Gesicht eine Art wächsernes Grinsen angenommen hatte.

Gefreiter Burk und der D’reg streckten so vorsichtig die Hände aus, als befürchteten sie, daß ein Funke die Lücke zwischen ihnen übersprang.

»Und nun, Vincent: Entschuldige dich bei Herrn Hashel…«

Ein widerstrebendes »‘digung« erklang.

»Und was tut uns leid?« fragte Karotte.

»… tut mir leid, daß ich ihn einen schmierigen Tischtuchkopf genannt habe…«

»Ausgezeichnet. Und jetzt du, Hashel. Entschuldige dich beim Gefreiten Burk.«

Die Augen des D’regs drehten sich in den Höhlen hin und her, suchten nach einem Ausweg, der es auch dem Rest des Körpers ermöglichte zu entkommen. Schließlich gab der Mann auf.

»‘digung.«

»Und dir tut leid, daß du…?«

»… daß ich ihn ›Bruder eines Schweins‹ genannt habe…«

Karotte ließ beide Männer auf den Boden sinken.

»Gut! Ich bin sicher, ihr kommt bestens miteinander aus, sobald ihr euch näher kennt…«

»Habe ich das wirklich gesehen?« fragte Ahmed. »Hat er gerade wie ein Schullehrer zu Hashel gesprochen, der einmal einen Mann so hart schlug, daß dessen Nase im einen Ohr steckte?«

»Ja, du hast es tatsächlich gesehen«, bestätigte Angua. »Und beobachte die beiden jetzt.«

Als die allgemeine Aufmerksamkeit zu Karotte zurückkehrte, musterten sich Hashel und Burk wie zwei Männer, die die gleiche Taufe aus feuriger Verlegenheit hinter sich gebracht hatten.

Gefreiter Burk bot Hashel vorsichtig eine Zigarette an.

»Es funktioniert nur, wenn Karotte in der Nähe ist«, sagte Angua. »Aber dann funktioniert es.«

Hoffentlich funktioniert es auch weiterhin, dachte Mumm.

Karotte schritt zu einem knienden Kamel und stieg auf.

»Das ist ›Gemeiner Schwager eines Schakals‹«, sagte Ahmed. »Jabbars Kamel! Es beißt jeden, der sich auf seinen Rücken schwingen will!«

»Ja, aber das ist Karotte.«

»Es beißt sogar Jabbar!«

»Und hast du bemerkt, daß er genau weiß, wie man auf ein Kamel steigt?« fragte Mumm. »Und er trägt den Burnus wie ein Einheimischer. Ganz gleich, wo er sich befindet: Er kommt sofort zurecht. Er ist bei Zwergen aufgewachsen, und nach nur einem Monat kannte er meine eigene verdammte Stadt besser als ich.«

Das Kamel stand auf. Und jetzt die Fahne, dachte Mumm. Gib ihm die Fahne. Wenn man in den Krieg zieht, braucht man eine Fahne.

Obergefreiter Schuh reichte Karotte einen Speer mit einem zusammengerollten Tuch daran. Schuh wirkte sehr stolz. Er hatte das Ding unter größter Geheimhaltung vor einer halben Stunde zusammengenäht. Bei einem Zombie konnte man erwarten, daß er immer Nadel und Faden dabeihatte.

Aber entroll sie nicht, dachte Mumm. Die anderen sollen sie nicht sehen. Es genügt ihnen zu wissen, daß sie unter einer Fahne marschieren.

Karotte hob den Speer.

»Und ich verspreche euch dies!« rief er. »Wenn wir Erfolg haben, wird sich niemand daran erinnern. Und wenn wir versagen, wird es niemand vergessen!«

Vermutlich war es einer der schlimmsten Schlachtrufe seit General Pittlichs »Zum Angriff, Jungs, auf daß man uns allen die Kehle durchschneidet!«. Aber die Reaktion war tosender Jubel. Erneut dachte Mumm daran, daß hier eine ganz besondere Magie wirkte. Die Leute folgten Karotte aus Neugier.

»Na schön, du hast also eine Streitmacht«, sagte Ahmed. »Und was jetzt?«

»Ich bin Polizist. Und du ebenfalls. Es wird ein Verbrechen verübt. In den Sattel, Ahmed.«

71-Stunden-Ahmed salamte. »Es freut mich, die Befehle eines weißen Offiziers befolgen zu dürfen, Offendi.«

»Ich wollte nicht…«

»Hast du jemals ein Kamel geritten, Sir Samuel?«

»Nein!«

»Ach?« Ahmed lächelte dünn. »Nun, ein Klaps mit dem Stock, und es setzt sich in Bewegung. Und wenn man anhalten will… schlägt man fester zu und ruft ›Huthuthut!‹«

»Man schlägt mit dem Stock, damit es anhält?«

»Kennst du eine andere Möglichkeit?« fragte 71-Stunden-Ahmed.

Sein Kamel sah Mumm an und spuckte ihm ins Auge.

 

Prinz Cadram und seine Generäle beobachteten von Pferderücken aus den fernen Feind. Die einzelnen klatschianischen Truppenteile hatten vor Gebra Aufstellung bezogen. Im Vergleich wirkten die Regimenter aus Ankh-Morpork wie eine Touristengruppe, die ihre Kutsche verpaßt hatte.

»Das ist alles?« fragte Cadram.

»Ja, Gebieter«, bestätigte General Ashal. »Weißt du, der Gegner glaubt, das Glück sei auf der Seite des Tapferen.«

»Und deshalb will er mit einer so lächerlich kleinen Streitmacht gegen uns antreten?«

»Außerdem ist er davon überzeugt, daß wir sofort die Flucht ergreifen, sobald wir kalten Stahl zu schmecken bekommen.«

Der Prinz sah zu den fernen Fahnen. »Warum?«

»Keine Ahnung, Gebieter. Offenbar ist es ein Glaubensprinzip.«

»Seltsam.« Der Prinz nickte einem seiner Leibwächter zu. »Holt mir kalten Stahl.«

Es gab eine leise, hastig geführte Diskussion, dann hob jemand mit großer Vorsicht ein Schwert, um es Cadram mit dem Heft voran darzubieten.

Der Prinz betrachtete die Waffe, hob sie zum Mund und leckte daran. Die Soldaten beobachteten ihn dabei und lachten.

»Nein«, sagte er schließlich. »Nein, ich kann nicht behaupten, daß dieser Geschmack Furcht in mir weckt. Ist es wirklich authentischer kalter Stahl?«

»Ich nehme an, Lord Rust meinte seine Worte im übertragenen Sinne, Gebieter.«

»Ah. Ja, ich glaube, damit kann man bei ihm rechnen. Nun, reiten wir zu ihm. Immerhin sollten wir uns zivilisiert verhalten.«

Cadram trieb sein Pferd an. Die Generäle folgten ihm.

Nach einer Weile wandte sich der Prinz erneut an General Ashal.

»Warum sollen wir ihm gegenübertreten, bevor die Schlacht beginnt?«

»Es ist eine Geste des… guten Willens, Gebieter. Krieger erweisen sich gegenseitig die Ehre.«

»Aber der Mann ist doch absolut unfähig!«

»Ja, Gebieter.«

»Und unsere kampferprobten Krieger sollen gegen seine unerfahrenen Soldaten kämpfen?«

»Ja, Gebieter.«

»Und was will mir der Irre mitteilen? Möchte er vielleicht darauf hinweisen, daß er mir nichts übelnimmt?«

»Ganz im allgemeinen gesprochen… Ja, Gebieter. Ich glaube, sein Motto lautet: ›Es kommt nicht auf Sieg oder Niederlage an. Hauptsache, wir sind dabeigewesen.‹«

Die Lippen des Prinzen bewegten sich, als er die Worte lautlos wiederholte und sie zu verstehen versuchte. Schließlich erwiderte er: »Und die Soldaten nehmen Befehle von ihm entgegen, obwohl sie dieses Motto kennen?«

»So scheint es, Gebieter.«

Prinz Cadram schüttelte den Kopf. Wir können von Ankh-Morpork lernen, hatte sein Vater gesagt. Manchmal können wir lernen, was wir besser nicht tun sollten.

Und so begann Cadram zu lernen.

Er erfuhr, daß Ankh-Morpork einst über einen recht großen Teil von Klatsch geherrscht hatte. Der Prinz erinnerte sich, daß er die Ruinen einer Kolonie gesehen hatte, und dort erfuhr er auch den Namen des Mannes, der damals als Eroberer so erfolgreich gewesen war. Anschließend schickte er Agenten nach Ankh-Morpork, um so viel wie möglich über den Betreffenden herauszufinden.

General Taktikus lautete sein Name. Prinz Cadram hatte viel gelesen und erinnerte sich an alles. Die »Taktik« wurde zu einem wichtigen Werkzeug bei der Erweiterung des Reiches. Natürlich gab es auch Nachteile. Irgendwo verlief eine Grenze, und über diese Grenze kamen… Räuber. Also schickte man eine Streitmacht aus, um weitere Überfälle zu verhindern. Und um den Räubern das Handwerk zu legen, mußte man ihr Land besetzen, was dazu führte, daß man sich schon bald um die Verwaltung eines weiteren unruhigen Vasallenstaates kümmern mußte. Der hatte ebenfalls eine Grenze, und jenseits davon, so sicher wie der nächste Sonnenaufgang, gab es andere Leute, die auf eine günstige Gelegenheit für Überfälle warteten. Die neuen Steuerzahler verlangten Schutz vor den anderen Räubern. Manchmal »vergaßen« sie vielleicht, einen Teil der Steuern abzuführen, und gelegentlich gingen sie selbst auf den einen oder anderen Raubzug, um ihr Einkommen ein wenig aufzubessern. Also blieb einem nichts anderes übrig, als erneut eine Streitmacht zusammenzustellen, ob man wollte oder nicht…

Cadram seufzte. Für den ernsthaften Erbauer eines Reiches gab es keine letzte Grenze. Für ihn ergaben sich immer neue Probleme. Wenn die Leute das doch endlich verstehen würden…

Es existierte auch kein Spiel namens Krieg. General Taktikus hatte das gewußt. Bringe die Größe der gegnerischen Truppen in Erfahrung, und respektiere auch die Fähigkeiten des Feindes, sofern er welche hat. Aber gehe nie davon aus, daß du dich anschließend bei einem gemütlichen Gläschen treffen kannst, um die Einzelheiten der Schlacht noch einmal Revue passieren zu lassen.

»Vielleicht ist er verrückt, Gebieter«, sagte General Ashal.

»Oh, gut.«

»Allerdings habe ich gehört, daß er unlängst die Klatschianer als die besten Soldaten auf der ganzen Welt bezeichnet hat, Gebieter.«

»Ach?«

»Er fügte hinzu: ›Wenn sie ihre Anweisungen von weißen Offizieren bekommen‹, Gebieter.«

»Oh?«

»Wir bieten ihm ein Frühstück an, Gebieter. Es wäre sehr unhöflich von ihm, ein solches Angebot abzulehnen.«

»Eine gute Idee. Haben wir genug Schafsaugen?«

»Ich habe mir erlaubt, die Köche anzuweisen, einen ausreichenden Vorrat für diese Gelegenheit anzulegen, Gebieter.«

»Dann soll er sie so bald wie möglich bekommen. Immerhin ist er unser Ehrengast. Wir sollten auf angemessene Weise vorgehen. Bitte versuch den Eindruck zu erwecken, daß du den Geschmack von kaltem Stahl verabscheust.«

Auf dem Sand zwischen den beiden Heeren hatten die Klatschianer ein Zelt mit offenen Seiten errichtet. Ein niedriger Tisch stand dort im Schatten. Daran saßen Lord Rust und seine Begleiter – sie warteten bereits seit einer guten halben Stunde.

Als Prinz Cadram hereinkam, standen sie auf und verbeugten sich steif. Die im Zelt anwesenden Ehrenwachen aus Klatsch und Ankh-Morpork wechselten argwöhnische Blicke und hielten gegenseitig nach schwachen Punkten Ausschau.

»Und nun… spricht einer der Herren Klatschianisch?« fragte Cadram nach einer recht langen Vorstellungszeremonie.

Lord Rusts Lächeln erstarrte auf seinen Lippen. »Hornett?« zischte er.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, was er gesagt hat, Herr«, erwiderte der Leutnant nervös.

»Ich dachte, du kannst Klatschianisch!«

»Ich kann Klatschianisch lesen, Herr. Das ist etwas anderes…«

»Oh, keine Sorge«, warf der Prinz ein. »Wie man bei uns sagt: Dieser Narr führt ein Heer?«

Die klatschianischen Generäle im Zelt setzten plötzlich Pokermienen auf.

»Hornett?«

»Etwas über… besitzen oder kontrollieren, Herr…«

Cadram sah Lord Rust an und lächelte. »Mit diesem Brauch bin ich nicht sehr vertraut«, sagte er. »Trittst du deinen Feinden immer vor einer Schlacht gegenüber?«

»Es gilt als ehrenvoll«, erklärte Lord Rust. »Um nur ein Beispiel zu nennen: Am Abend vor der berühmten Schlacht von Pseudopolis trafen sich Offiziere von beiden Seiten auf einem Ball bei Lady Selachii.«

Cadram sah zu General Ashal, der nickte.

»Wirklich? Offenbar müssen wir noch viel lernen. Wie der Prophet Mosheda sagte: Dieser Mann ist unglaublich.«

»Ah, ja«, sagte Lord Rust. »Klatschianisch ist eine sehr poetische Sprache.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Herr«, ließ sich Leutnant Hornett vernehmen.

»Was ist denn, Mann?«

»Es…äh… geht etwas vor…«

Eine Staubwolke erhob sich in der Ferne. Jemand näherte sich ziemlich schnell.

»Einen Augenblick«, sagte General Ashal.

Als er wenige Sekunden später vom Sattel seines Kamels zurückkehrte, hielt er ein mit verschnörkelten klatschianischen Schriftzeichen verziertes Metallrohr in den Händen. Er richtete es auf die Staubwolke und blickte durch das eine Ende.

»Reiter«, sagte er »Kamele und Pferde.«

»Das ist ein Macht-Dinge-größer-Apparat, nicht wahr?« fragte Lord Rust. »Meine Güte, ihr seid modern. Man hat sie erst im letzten Jahr erfunden.«

»Ich habe dies nicht gekauft, sondern von meinem Großvater geerbt, Lord.« Der General blickte erneut durchs Fernrohr. »Etwa vierzig Männer, würde ich sagen.«

»Meine Güte«, murmelte Prinz Cadram. »Verstärkung, Lord Rust?«

»Der… Reiter ganz vorn… trägt eine Fahne, glaube ich. Sie ist noch zusammengerollt…«

»Unerhört!« entfuhr es Lord Rust. Hinter ihm seufzte Lord Selachii.

»Ah, jetzt entrollt er sie. Es… es ist eine… weiße Fahne, Gebieter.«

»Jemand möchte sich ergeben?«

Der General ließ das Fernrohr sinken. »Ich weiß nicht, Gebieter… Wer auch immer die Fremden sind: Sie scheinen es sehr eilig zu haben.«

»Schick ihnen eine Gruppe entgegen, mit dem Befehl, sie zu ergreifen«, sagte Prinz Cadram.

»Wir schicken ebenfalls eine Gruppe«, stieß Lord Rust hastig hervor und nickte dem Leutnant zu.

»Oh, eine gemeinsame Aktion«, kommentierte der Prinz.

Kurze Zeit später verließen Männer die beiden Heere und ritten auf Abfangkurs los.

Alle sahen, wie es in der näher kommenden Wolke aufblitzte – dort wurden Waffen gezogen.

»Mit der Kapitulationsfahne in den Kampf ziehen?« Lord Rust konnte es kaum fassen. »Das ist… unmoralisch

»Es dürfte zumindest neu sein«, meinte der Prinz.

Die drei Gruppen wären sich begegnet, wenn nicht auch Experten Probleme gehabt hätten, die Geschwindigkeit eines galoppierenden Kamels richtig einzuschätzen. Als die Anführer der beiden ausgeschickten Gruppen begriffen, daß sie den Kurs ändern mußten, hätten sie den Kurs bereits geändert haben müssen.

»Offenbar haben deine Leute die Dinge falsch beurteilt, Prinz«, sagte Lord Rust.

»Ich wußte, daß es besser gewesen wäre, sie von weißen Offizieren führen zu lassen«, erwiderte Cadram. »Allerdings… Deine Leute scheinen ebenfalls Pech zu haben…«

Er unterbrach sich. Es entstand Verwirrung. Die beiden Gruppen waren mit klaren Anweisungen aufgebrochen, doch niemand hatte ihnen gesagt, wie sie sich verhalten sollten, wenn sie der jeweils anderen Gruppe begegneten – die immerhin aus kampfbereiten Männern bestand, aus heimtückischen Handtuchköpfen und hinterhältigen Würstchenfressern. Und sie befanden sich auf einem Schlachtfeld. Und alle fürchteten sich, was Zorn in ihnen weckte. Und alle waren bewaffnet.

Sam Mumm hörte die Schreie hinter sich, aber derzeit galt seine Aufmerksamkeit anderen Dingen. Es ist unmöglich, auf dem Rücken eines schnell laufenden Kamels zu hocken, ohne sich dabei auf Leber und Nieren zu konzentrieren und zu hoffen, daß sie nicht aus dem Körper herausgeschleudert werden.

Mumm war sicher, daß sich die Beine des Tiers nicht auf die richtige Weise bewegten. Nichts auf normalen Beinen konnte ihn so durchschütteln. Der Horizont sauste vor und zurück und gleichzeitig nach oben und unten.

Was hatte Ahmed gesagt?

Mumm schlug fest mit dem Stock zu und rief: »Huthuthut!«

Das Kamel beschleunigte. Die einzelnen Erschütterungen flossen ineinander, und das Ergebnis war eine Art permanenter Ruck.

Mumm schlug erneut zu und versuchte, »Huthuthut!« zu rufen, doch es klang eher nach »Hnghnghng!« Das Kamel schien irgendwo zusätzliche Knie zu finden.

Noch mehr Schreie ertönten hinter ihm. Er drehte den Kopf so weit, wie er es wagte, und stellte fest, daß einige D’regs zurückfielen. Mumm glaubte, auch Karottes Stimme zu hören, aber er war nicht ganz sicher, weil sein eigenes Schreien in seinen Ohren widerhallte.

»Bleib stehen, du Mistvieh!« heulte er.

Das Zelt raste ihm entgegen. Mumm schlug mit dem Stock und zerrte an den Zügeln. Das Kamel schien einen besonderen Sinn für Momente zu haben, die dem Reiter ein Maximum an Verlegenheit bescherten – einen solchen Augenblick sah es nun gekommen und blieb stehen. Mumm glitt nach vorn und schlang die Arme um einen Hals, der sich anfühlte, als bestünde er aus alten Türmatten. In einer Mischung aus Fallen und Rutschen landete er schließlich im Sand.

Um ihn herum kamen andere Kamele zum Stehen. Karotte griff nach Mumms Arm und half ihm auf die Beine.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Herr Kommandeur? Das war bemerkenswert! Du hast die D’regs mit deinen Schreien sehr beeindruckt! Und du hast das Kamel noch immer angetrieben, als es längst schon galoppierte!«

»Gngn?«

Die Wächter am Zelt zögerten, aber bestimmt nicht mehr lange.

Der Wind ließ die weiße Fahne an Karottes Speer flattern.

»Es ist doch alles in Ordnung, Herr Kommandeur? Ich meine, normalerweise dient eine weiße Fahne dazu…«

»Wir sollten ruhig zeigen, wofür wir kämpfen, oder?«

»Ich denke schon, Herr Kommandeur.«

D’regs umringten das Zelt. Die Luft war voller Staub und lauter Stimmen.

»Was ist dort drüben passiert?«

»Es gab ein kleines Durcheinander, Herr Kommandeur. Unsere…« Karotte zögerte und korrigierte sich. »Soldaten aus Ankh-Morpork und Klatschianer kämpften gegeneinander, Herr Kommandeur. Und die D’regs fielen über beide Seiten her.«

»Was, vor dem offiziellen Beginn der Schlacht? Kann man dafür nicht disqualifiziert werden?«

Mumm sah zu den Wächtern und deutete dann auf die Fahne.

»Wißt ihr, was diese Fahne bedeutet?« fragte er. »Nun, ich möchte, daß ihr…«

»Bist du nicht Herr Mumm?« fragte einer der Morporkianer. »Und das ist doch Hauptmann Karotte, oder?«

»Oh, hallo, Herr Kleinbrett«, erwiderte Karotte. »Geht es dir gut?«

»Ja, Herr!«

Mumm rollte mit den Augen. Typisch Karotte – er kannte jeden. Und der Mann hatte ihn »Herr« genannt.

»Wir müssen diese Sache hier erledigen«, sagte Karotte. »Es dauert nicht lange.«

»Nun, Herr, die Handtu…« Kleinbrett zögerte. Manche Ausdrücke kommen einem nicht leicht über die Lippen, wenn die Personen, auf die sie sich beziehen, in der Nähe sind und recht eindrucksvoll wirken. »Die Klatschianer stehen hier ebenfalls Wache, Herr, und…«

Eine dünne blaue Rauchwolke strich an Mumms Ohr vorbei.

»Guten Morgen, meine Herren«, sagte 71-Stunden-Ahmed. Er hielt eine D’reg-Armbrust in jeder Hand. »Es dürfte eurer Aufmerksamkeit nicht entgehen, daß auch die Soldaten hinter mir gut bewaffnet sind. Nun, ich bin 71-Stunden-Ahmed. Ich erschieße den Mann, der seine Waffe als letzter fallen läßt. Darauf gebe ich euch mein Wort.«

Die Morporkianer wirkten verwirrt. Die Klatschianer flüsterten nervös miteinander.

»Weg damit, Jungs«, sagte Mumm.

Die Morporkianer trennten sich rasch von ihren Schwertern. Die Klatschianer hielten ihre etwas länger fest.

»Unentschieden zwischen dem Herrn auf der linken Seite und dem großen Schieler dort drüben«, sagte 71-Stunden-Ahmed und hob beide Armbrüste.

»He«, warf Mumm ein, »du kannst doch nicht…«

Die Sehnen der Armbrüste surrten. Beide Männer gingen zu Boden und schrien schmerzerfüllt.

»Aber mit Rücksicht auf Kommandeur Mumms Zartgefühl«, sagte Ahmed, reichte die Armbrüste einem D’reg hinter ihm und nahm gleichzeitig eine geladene entgegen, »gebe ich mich mit Schüssen in Oberschenkel und Fuß zufrieden. Immerhin ist dies eine Friedensmission.«

Er wandte sich an Mumm. »Tut mir leid, Sir Samuel, aber die Leute sollen wissen, wo sie mit mir stehen.«

»Die beiden Burschen stehen nicht mehr«, erwiderte Mumm.

»Aber sie leben.«

Mumm schob sich etwas näher an den Wali heran.

»Huthuthut?« flüsterte er. »Du hast behauptet, damit hält man an…«

»Ich dachte, daß du allen ein gutes Beispiel gibst, wenn du an der Spitze reitest«, entgegnete Ahmed ebenso leise. »Die D’regs folgen stets einem Mann, der es nicht abwarten kann, sich in den Kampf zu stürzen.«

Lord Rust trat in den Sonnenschein und warf Mumm einen finsteren Blick zu.

»Mumm? Was hat das zu bedeuten?«

»Es bedeutet, daß ich meinen Pflichten gerecht werde, Lord.«

Mumm trat an ihm vorbei in den Schatten des Zelts. Prinz Cadram saß noch immer am Tisch. Und es waren viele Bewaffnete anwesend. Sie wirkten nicht wie gewöhnliche Soldaten, stellte Mumm fest. Sie sahen gefährlicher aus, wie treu ergebene Leibwächter.

»Du kommst bewaffnet und mit der Fahne des Friedens?« fragte Cadram.

»Bist du Prinz Cadram?« erwiderte Mumm.

Der Prinz schenkte ihm keine Beachtung. »Und du ebenfalls, Ahmed?«

Ahmed nickte und schwieg.

Nein, nicht jetzt, dachte Mumm. Zäh wie Leder und gemein wie eine Wespe. Doch jetzt befindet er sich in der Gegenwart seines Königs…

»Du bist verhaftet«, sagte er.

Der Prinz gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Husten und Lachen lag.

»Ich bin was

»Ich verhafte dich wegen eines Mordkomplotts, das zum Tod deines Bruders führen sollte. Und vielleicht füge ich weitere Anklagen hinzu.«

Der Prinz hob die Hände vors Gesicht und ließ sie dann langsam zum Kinn sinken – die Geste eines müden Mannes, der sich bemühte, mit einer anstrengenden Situation fertig zu werden.

»Herr…?«, begann er.

»Sir Samuel Mumm von der Stadtwache Ankh-Morporks«, sagte Mumm.

»Nun, Herr Mumm, wenn ich die Hand hebe, schneiden dich die Männer hinter mir in…«

»Ich töte den ersten, der sich rührt«, warf Ahmed ein.

»Und der zweite wird dich töten, Verräter!« rief der Prinz.

»Dann muß er sehr schnell sein«, sagte Karotte und zog sein Schwert.

»Möchte jemand der dritte Mann sein?« fragte Mumm. »Nun?«

General Ashal bewegte sich, aber ganz vorsichtig – sein Hand kroch in die Höhe. Die Leibwächter entspannten sich ein wenig.

»Was bedeutet die… Lüge hinsichtlich des Mordkomplotts?« fragte er.

»Bist du übergeschnappt, Ashal?« entfuhr es dem Prinzen.

»Bevor ich solchen bösartigen Lügen keinen Glauben schenken kann, Gebieter, muß ich erst einmal wissen, worum es dabei geht.«

»Du hast wohl den Verstand verloren, Mumm?« ereiferte sich Lord Rust. »Du kannst doch nicht den Oberbefehlshaber eines Heeres verhaften!«

»Ich glaube, dazu sind wir durchaus berechtigt, Herr Mumm«, sagte Karotte. »Übrigens können wir nicht nur den Oberbefehlshaber verhaften, sondern auch sein Heer. Warum eigentlich nicht? Wir werfen den Leuten zum Beispiel ein Verhalten vor, das den Frieden gefährdet, Herr Kommandeur. Ich meine, immerhin stellt der Krieg eine erhebliche Gefahr für den Frieden dar.«

Ein irres Grinsen dehnte sich in Mumms Gesicht aus. »Das gefällt mir.«

»Aber um fair zu bleiben: Auch unsere Streitmacht, ich meine, die Soldaten aus Ankh-Morpork…«

»Wir verhaften sie ebenfalls«, sagte Mumm. »Wir verhaften alle. Komplott mit der Absicht, Krawalle zu schaffen.« Er zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Tragen von Ausrüstung, die dazu dient, ein Verbrechen zu begehen. Behinderung. Bedrohliches Gebaren. Vorsätzliches Herumlungern. Unerlaubtes Zelten in der Wüste. Reisen mit dem Ziel, ein Verbrechen zu verüben. Arglistige Herumtreiberei. Tragen von versteckten Waffen.«

»Nun, der letzte Punkt…«, begann Karotte skeptisch.

»Ich kann sie nicht sehen«, sagte Mumm.

»Ich befehle dir, unverzüglich Vernunft anzunehmen, Mumm!« donnerte Lord Rust. »Bist du zu lange in der Sonne gewesen?«

»Bei Seiner Lordschaft kommt als Anklagepunkt aggressives Verhalten mit Beleidigungsabsicht hinzu«, teilte Mumm Karotte mit.

Der Blick des Prinzen galt noch immer dem Kommandeur der Wache.

»Glaubst du wirklich, daß du ein Heer verhaften kannst?« fragte er. »Hast du vielleicht ein größeres Heer?«

»Oh, das brauche ich gar nicht«, sagte Mumm. »Macht an einem Punkt – darauf hat Taktikus hingewiesen. Und derzeit befindet sich dieser Punkt am vorderen Ende von Ahmeds Armbrust. D’regs würden sich davon kaum beeindrucken lassen, aber du… Ich schätze, du denkst nicht wie sie. Sag deinen Kriegern, daß sie die Waffen niederlegen sollen. Ich möchte, daß du sofort entsprechende Anweisungen erteilst.«

»Selbst Ahmed würde seinen Prinzen nicht kaltblütig erschießen«, sagte Prinz Cadram.

Mumm griff nach der Armbrust. »Das verlange ich auch gar nicht von ihm!« Er zielte. »Gib den Befehl!«

Cadram starrte ihn an.

»Ich zähle bis drei!« rief Mumm.

General Ashal beugte sich zum Prinzen vor und flüsterte etwas. Cadrams Züge verhärteten sich, als sein Blick zum Kommandeur der Wache zurückkehrte.

»Ganz recht«, bestätigte Mumm. »Es liegt in der Familie.«

»Es wäre Mord!«

»Tatsächlich? Im Krieg? Ich komme aus Ankh-Morpork. Du müßtest also mein Feind sein. Wer im Krieg tötet, macht sich nicht des Mordes schuldig. Ich schätze, das steht irgendwo geschrieben.«

Erneut beugte sich der General vor und flüsterte.

»Eins«, sagte Mumm.

Der leise Wortwechsel wurde schneller.

»Zwei.«

»Meinprinzmöchtedirmitteilen…«, begann der General.

»Du kannst ruhig langsamer sprechen«, sagte Mumm.

»Ich lasse den Befehl überbringen, falls es dich glücklich macht«, meinte der General. »Wenn du gestattest, daß die Kuriere aufbrechen…«

Mumm nickte und ließ die Armbrust sinken. Der Prinz rutschte voller Unbehagen zur Seite.

»Die Regimenter aus Ankh-Morpork werden ebenfalls entwaffnet.«

»Verdammt, Mumm, du bist auf unserer Seite…«, protestierte Rust.

»Bei den Göttern, ich erschieße heute noch jemanden, und vielleicht entscheide ich mich für dich, Rust«, knurrte Mumm.

»Herr?« Leutnant Hornett zupfte an Lord Rusts Jacke. »Wenn ich dich kurz sprechen könnte…«

Lord und Leutnant flüsterten kurz miteinander. Dann brach der jüngere Mann auf.

»Na schön, wir sind alle entwaffnet und verhaftet«, sagte Rust. »Und was nun?«

»Ich sollte ihnen ihre Rechte vorlesen, Herr Kommandeur«, meinte Karotte.

»Wovon redest du da?« fragte Mumm.

»Von den Männern dort draußen, Herr Kommandeur.«

»Oh, ja. In Ordnung. Meinetwegen.«

Lieber Himmel, ich habe ein ganzes Schlachtfeld verhaftet, dachte Mumm. So etwas ist unmöglich.

Aber ich habe es trotzdem fertiggebracht. Und im Wachhaus haben wir nur sechs Zellen, und in einer davon bewahren wir die Kohlen auf.

Es ist unmöglich…

War dies das Heer, das deine Heimat überfallen hat, Gnäfrau? Nein, ich glaube, es war etwas größer…

Und dies hier? Ich bin mir nicht sicher… Könnten die Soldaten ein wenig auf und ab marschieren?

Draußen ertönte Karottes gedämpft klingende Stimme.

»Und nun… Könnt ihr mich alle hören? Auch die Herren ganz hinten? Wer mich nicht hören kann, soll bitte die Hand heben…Na schön, hat jemand ein Sprachrohr? Oder ein Stück Pappe, das ich zusammenrollen kann? Nun, dann muß ich eben besonders laut sprechen…«

»Was jetzt?« fragte der Prinz.

»Ich bringe dich nach Ankh-Morpork…«

»Das glaube ich nicht. Das käme einer Kriegserklärung gleich.«

»Du machst alles zu einer Farce, Mumm!« hielt Lord Rust dem Kommandeur vor.

»Dann bin ich ja auf dem richtigen Weg.« Mumm nickte Ahmed zu.

»Du wirst dich hier für deine Verbrechen verantworten müssen, Gebieter.«

»Vor welchem Gericht?« fragte der Prinz.

Ahmed beugte sich zu Mumm. »Was sieht dein Plan von dieser Stelle an vor?« flüsterte er.

»So weit bin ich mit der Planung überhaupt nicht gekommen!«

»Ah. Nun… es war zumindest recht interessant, Sir Samuel.«

Prinz Cadram sah Mumm an und lächelte. »Möchtest du etwas Kaffee, während du über deine nächsten Schritte nachdenkst?« Seine einladende Geste galt einer verzierten silbernen Kanne auf dem Tisch.

»Wir haben Beweise«, sagte Mumm. Gleichzeitig spürte er, wie die Welt unter ihm schrumpfte und sich aufzulösen drohte. Es mag durchaus einen Sinn haben, alle Brücken hinter sich abzubrechen, aber dabei sollte man besser nicht auf ihnen stehen.

»Tatsächlich? Faszinierend. Und wem willst du die Beweise zeigen, Sir Samuel?«

»Wir müssen ein Gericht finden.«

»Interessant. Vielleicht ein Gericht in Ankh-Morpork? Oder eines hier?«

»Jemand hat mich darauf hingewiesen, daß die Welt zusieht«, sagte Mumm.

Es war still, abgesehen von Karottes dumpfer Stimme und dem gelegentlichen Summen einer Fliege.

»… Bimmel-bimmel-bamm…« In der Stimme des Disorganizers ließ sich jetzt kein munteres Quieken mehr vernehmen. Sie klang müde und verwirrt.

Köpfe drehten sich.

»Sieben Uhr morgens… Verteidigung am Flußtor organisieren… Sieben Uhr fünfundzwanzig… Nahkampf in der Pfirsichblütenstraße… Sieben Uhr achtundvierzig… undvierzig… undvierzig… Überlebende auf dem Hiergibt’salles-Platz versammeln… Heutige Aufgaben: Barrikaden bauen bauen bauen…«

Mumm fühlte Bewegung hinter sich, und kurz darauf nahm er leichten Druck wahr. Ahmed stand Rücken an Rücken mit ihm.

»Worüber redet das Ding da?«

»Keine Ahnung. Klingt nach einer anderen Welt.«

Er spürte, wie die Ereignisse einer fernen Mauer entgegenrasten. Schweiß brannte ihm in den Augen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letztenmal richtig geschlafen hatte. In seinen Beinen zuckte es. Seine Arme schmerzten, und das Gewicht der schweren Armbrust drückte sie nach unten.

»… bimmel… Acht Uhr zwei, Tod von Korporal Kleinpopo… Acht Uhr drei… Tod von Feldwebel Detritus… Acht Uhr dreidreidrei und sieben Sekunden… Tod von Obergefreiter Besuch… Acht Uhr drei und neunneunneun Sekunden… Tod von Tod von Tod von…«

»Es heißt, einer deiner Vorfahren hätte in Ankh-Morpork einen König getötet«, sagte der Prinz. »Und auch mit ihm nahm es kein gutes Ende.«

Mumm hörte gar nicht zu.

»… Tod von Obergefreiter Dorfl… Acht Uhr drei und vierzehnzehnzehn Sekunden…«

Die Gestalt auf dem Thron schien sich zu dehnen und die ganze Welt zu füllen.

»… Tod von Hauptmann Karotte Eisengießersohn… bimmel…«

Und Mumm dachte: Fast hätte ich mich nicht auf den Weg gemacht. Fast wäre ich in Ankh-Morpork geblieben.

Er hatte sich immer gefragt, was Altes Steingesicht an jenem kalten Morgen empfunden haben mochte, als er die Axt nahm, die ohne den Segen der Justiz blieb, weil der König nicht einmal dann ein Gericht anerkannt hätte, wenn irgendein Richter bereit gewesen wäre, seinen Fall zu verhandeln. Welche Gefühle regten sich an jenem kalten Morgen in Altes Steingesicht Mumm, als er sich anschickte, das zu durchtrennen, was viele Leute für eine Verbindung zwischen Menschen und dem Göttlichen hielten…?

»… bimmel… Aufgaben heute Aufgaben heute: Sterben…«

Die Empfindung floß ihm wie warmes Blut durch die Adern. Solche Gefühle stellten sich ein, wenn einem die Gesetze ausgingen, wenn man in das spöttische Gesicht jenseits davon blickte und den Eindruck gewann, unmöglich weiterleben zu können, wenn man nicht über die Linie trat und erledigte, was erledigt werden mußte…

Stimmen erklangen draußen. Mumm blinzelte den Schweiß fort.

»Ah… Kommandeur Mumm…«, sagte jemand, den er an diesem Ort gewiß nicht erwartet hätte.

Er blickte weiterhin den Prinzen an. »Ja?«

Eine Hand zuckte vor und nach unten und nahm den Bolzen aus der Rille. Mumm blinzelte erneut, und sein Zeigefinger zog ganz automatisch den Auslöser. Die Sehne der Armbrust surrte. Und der Gesichtsausdruck des Prinzen, so wußte Mumm, würde ihm in kalten Nächten Wärme spenden. Falls es jemals wieder kalte Nächte für ihn gab.

Er hatte gehört, wie sie alle starben. Aber sie waren nicht tot. Doch das verdammte Ding hatte jeweils den genauen Zeitpunkt genannt…

Lord Vetinari ließ den Bolzen fallen, wie etwas, das ihn mit Abscheu erfüllte. So verhielten sich Damen der Gesellschaft, wenn sie mit etwas Klebrigem fertig werden mußten.

»Gute Arbeit, Mumm. Wie ich sehe, hast du den Esel bis zur Spitze des Minaretts geführt. Guten Morgen, meine Herren.« Der Patrizier bedachte die Anwesenden mit einem freundlichen Lächeln. »Allem Anschein nach bin ich nicht zu spät dran.«

»Vetinari?« brachte Rust hervor und schien zu erwachen. »Was machst du hier? Dies ist ein Schlachtfeld…«

»Wirklich?« Der Patrizier gönnte ihm ein eigenes kurzes Lächeln. »Draußen sitzen Leute herum. Viele von ihnen scheinen damit beschäftigt zu sein, Tee oder Kaffee zu kochen. Und Hauptmann Karotte organisiert ein Fußballspiel.«

»Er organisiert was?« brachte Mumm hervor und ließ die Armbrust sinken. Plötzlich gewann die Welt die Realität zurück. Wenn Karotte so aktiv wurde, war wieder alles normal.

»Ich fürchte, bisher hat es ziemlich viele Fouls gegeben. Aber von einem Schlachtfeld würde ich deshalb nicht sprechen.«

»Wer führt?«

»Ankh-Morpork, glaube ich. Mit zwei gebrochenen Schienbeinen und einer blutigen Nase.«

Zum erstenmal seit langer Zeit verspürte Mumm so etwas wie Patriotismus. Alles andere mochte seinen Platz im Abort haben, aber wenn es darum ging, ordentlich zuzutreten… dann wußte er, auf welche Seite er gehörte.

»Außerdem scheint mir, daß ziemlich viele Leute verhaftet worden sind«, fuhr der Patrizier fort. »Ganz offensichtlich herrscht kein Kriegszustand; es läßt sich höchstens ein Fußballzustand feststellen. Deshalb halte ich es für angebracht, wieder die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Entschuldigt bitte, aber es dauert nicht lange.«

Er hob den Metallzylinder und begann das eine Ende abzuschrauben.

Aus irgendeinem Grund fühlte sich Mumm versucht, einige Schritte zurückzuweichen. »Was ist das?«

»Ich dachte mir, daß ich es vielleicht brauche«, sagte Vetinari. »Die Vorbereitungen haben einige Zeit gedauert, aber es dürfte die Mühe wert sein. Hoffentlich ist noch alles gut lesbar. Wir haben versucht, es vor Feuchtigkeit zu schützen.«

Eine dicke Papierrolle rutschte aus dem Zylinder und fiel zu Boden.

»Gibt es nichts für dich zu tun, Kommandeur?« fragte der Patrizier. »Vielleicht braucht man dich draußen als Schiedsrichter.«

Mumm hob die Rolle auf und las die ersten Zeilen.

»In Anbetracht der Tatsache… beigefügte Dokumente und so weiter… Stadt Ankh-Morpork… Kapitulation

»Was?« entfuhr es Rust und dem Prinzen gleichzeitig.

»Ja, Kapitulation«, sagte Vetinari fröhlich. »Ein kleines Stück Papier, und die Sache ist vorbei. Ihr werdet feststellen, daß alles in Ordnung ist.«

»Du kannst nicht…«, begann Rust.

»Du kannst nicht…«, sagte der Prinz.

»Bedingungslos?« fragte General Ashal scharf.

»Ja, ich denke schon«, erwiderte Vetinari. »Wir erheben keinen Anspruch mehr auf Leshp. Wir ziehen alle unsere Truppen aus Klatsch zurück und sorgen außerdem dafür, daß unsere Zivilisten die Insel verlassen. Was Reparationen betrifft… Sollen wir uns auf zweihundertfünfzigtausend Ankh-Morpork-Dollar einigen? Zusätzlich besondere Handelsvereinbarungen, wie zum Beispiel die Meistbegünstigungsklausel und so weiter und so fort. Es ist alles niedergeschrieben. Ihr könnt es in Ruhe lesen.«

Er reichte das Dokument über den Kopf des Prinzen hinweg dem General, der es entgegennahm und mit großem Interesse darin blätterte.

»Aber wir haben doch gar nicht soviel…«, begann Mumm. Vielleicht bin ich tot und weile jetzt im Jenseits, dachte er. Oder ich habe einen ziemlich harten Schlag auf den Kopf bekommen, weshalb mir die Phantasie bestimmte Dinge vorgaukelt…

»Ein Trick!« brachte der Prinz hervor. »Das Dokument ist gefälscht!«

»Nun, dieser Mann scheint Lord Vetinari zu sein, und ich sehe hier das offizielle Siegel von Ankh-Morpork«, erwiderte der General. »›In Anbetracht… Hiermit wird erklärt… Ohne irgendwelche Bedingungen… Ratifizierung innerhalb von vier Tagen… Handelsvereinbarungen…‹ Ja, alles macht einen sehr authentischen Eindruck.«

»Ich lehne es strikt ab!«

»Ich verstehe, Gebieter. Allerdings sind in dem Dokument alle Punkte enthalten, von denen du in der letzten Woche gesprochen hast, Gebieter…«

»Ich bin ganz und gar nicht bereit, eine solche Vereinbarung zu treffen!« rief Rust. Sein Zeigefinger zielte auf die Nase des Patriziers. »Dafür wirst du verbannt!«

Wir haben nicht so viel Geld, wiederholte Mumm in Gedanken. Wir sind eine reiche Stadt, was aber nicht heißt, daß wir über Geld verfügen. Der Reichtum von Ankh-Morpork besteht aus den Bürgern. Und die Bürger klammern sich an ihren Vermögen fest.

Er spürte, wie der Wind aus einer anderen Richtung wehte.

Vetinari beobachtete ihn.

Und in den Augen von General Ashal stand eine gewisse Sehnsucht…

»Ich schließe mich Lord Rusts Standpunkt an«, sagte Mumm. »Dadurch wird der gute Name von Ankh-Morpork in den Schmutz gezogen.« Zu seiner großen Überraschung schaffte er es, diese Worte auszusprechen, ohne dabei zu lächeln.

»Wir verlieren nichts, Gebieter«, betonte General Ashal. »Der Gegner zieht sich aus Klatsch und von Leshp zurück…«

»Kommt überhaupt nicht in Frage!« heulte Lord Rust.

»Ganz meiner Meinung«, sagte Mumm. »Soll etwa die ganze Welt erfahren, daß wir besiegt worden sind? Daß man uns überlistet hat?«

Er beobachtete den Prinzen, dessen Blick von Gesicht zu Gesicht glitt. Gelegentlich starrte er ins Leere und schien dabei etwas tief in seinem Innern zu betrachten.

»Zweihundertfünfzigtausend genügen nicht«, sagte der Prinz.

Lord Vetinari zuckte mit den Schultern. »Wir können darüber verhandeln.«

»Es gibt viele Dinge, die ich kaufen muß.«

»Vermutlich Dinge, die zu einem großen Teil aus scharfem Metall bestehen«, entgegnete Vetinari. »Nun, wenn wir nicht von Geld sprechen, sondern von Warenlieferungen… Da ist durchaus Raum für eine gewisse… Flexibilität…«

Bald bekommt er Waffen von uns, dachte Mumm.

»In einer Woche jagen wir dich aus der Stadt!« rief Rust.

Mumm glaubte zu sehen, wie der General kurz lächelte. Ankh-Morpork ohne Vetinari, von Leuten wie Rust regiert… Er freute sich auf eine glänzende Zukunft.

»Natürlich muß das Kapitulationsdokument in der Anwesenheit von Zeugen ratifiziert werden«, sagte Ashal.

»Darf ich Ankh-Morpork vorschlagen?« meinte Lord Vetinari.

»Neutrales Territorium wäre geeigneter«, erwiderte der General.

»Aber wo gibt es einen solchen Ort, zwischen Klatsch und Ankh-Morpork?« fragte Vetinari.

»Nun, wie wäre es mit Leshp?« gab Ashal nachdenklich zurück.

»Eine ausgezeichnete Idee«, lobte der Patrizier. »Darauf wäre ich nicht gekommen.«

»Die Insel gehört uns ohnehin!« sagte der Prinz scharf.

»Sie wird uns gehören, Gebieter, sie wird uns gehören«, wandte sich der General in beruhigendem Tonfall an ihn. »Wir nehmen sie in Besitz. Auf ganz legale Art und Weise. Während die Welt zusieht.«

»Und damit hat es sich?« warf Mumm ein. »Was ist mit den Verhaftungen? Ich…«

»Dies sind Staatsangelegenheiten«, sagte Vetinari. »Und außerdem gibt es… diplomatische Erwägungen. Ich fürchte, bei der Neugestaltung der internationalen Ordnung können wir keine Rücksicht darauf nehmen, wie du das Verhalten eines einzelnen Mannes beurteilst.«

Erneut hatte Mumm das Gefühl, daß es einen Unterschied gab zwischen den Worten, die er hörte, und denen, die tatsächlich ausgesprochen wurden.

»Ich werde nicht zulassen…«, begann er.

»Es geht hier um wichtigere Dinge.«

»Aber…«

»Trotzdem hast du erstklassige Arbeit geleistet.«

»Es gibt große und kleine Verbrechen, nicht wahr?« fragte Mumm.

»Warum gönnst du dir nicht ein wenig Ruhe, Sir Samuel?« Lord Vetinari zeigte eins seiner blitzschnellen Lächeln. »Du bist ein Mann der Tat, daran gewöhnt, Verbrecher zu verfolgen, mit Schwertern und Fakten umzugehen. Doch für diese Angelegenheit sind Männer des Wortes zuständig, die sich auf den Umgang mit Versprechen, Mißtrauen und Meinungen verstehen. Für dich ist der Krieg vorbei. Genieß den Sonnenschein. Bald kehren wir alle heim. Du solltest noch ein wenig bleiben, Lord Rust…«

Mumm begriff, daß ihn der Patrizier fortgeschickt hatte. Ruckartig drehte er sich um und verließ das Zelt.

Ahmed folgte ihm. »Das ist dein Herr, nicht wahr?«

»Nein! Er ist nur der Mann, der mich bezahlt!«

»Es ist oft sehr schwer, den Unterschied auszumachen«, sagte Ahmed voller Anteilnahme.

Mumm setzte sich in den Sand. Er wußte gar nicht, wie er sich bisher auf den Beinen gehalten hatte. Es gab jetzt eine gewisse Zukunft. Er wußte nicht, was sie ihm und allen anderen bescheren mochte, aber es gab eine. Noch vor fünf Minuten hatte die Sache ganz anders ausgesehen. Er verspürte den Wunsch, mit jemandem zu reden – damit er nicht über die Todesbotschaften des Disorganizers nachdenken mußte. So genaue Angaben…

»Was wird mit dir geschehen?« fragte er, um den letzten Gedanken zu vertreiben. »Wenn dies vorbei ist, meine ich. Dein Boß ist bestimmt nicht sehr zufrieden mit dir.«

»Oh, die Wüste kann mich verschlucken.«

»Bestimmt läßt er dich verfolgen. Er scheint mir ganz der Typ zu sein.«

»Die Wüste wird auch alle Verfolger verschlucken.«

»Ohne zu kauen?«

»Glaub mir.«

»So sollte es nicht laufen!« rief Mumm und blickte gen Himmel. »Weißt du, manchmal träume ich davon, daß wir uns auch um die großen Verbrechen kümmern können, daß es für Länder ebenfalls Gesetze gibt, nicht nur für Personen. Dann würde man Leute wie ihn…«

Ahmed klopfte ihm auf die Schulter.

»Ich weiß, wie es ist«, sagte er. »Ich träume ebenfalls.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Meistens von Fischen.«

Die Menge jubelte.

»Offenbar ist jemandem ein überzeugendes Foul gelungen«, sagte Mumm.

Sie rutschten und wankten den Hang einer Düne hinauf, um Ausschau zu halten.

Jemand löste sich aus dem Gewirr von Spielern, stieß mit den Ellenbogen zu, trat um sich und näherte sich dem klatschianischen Tor.

»Ist das nicht dein Diener?« fragte Ahmed.

»Ja.«

»Einer deiner Soldaten meinte, er hätte jemandem die Nase abgebissen.«

Mumm hob und senkte die Schultern. »Ich weiß nur eins: Er wirkt ziemlich pikiert, wenn ich den Würfelzucker mit der Hand nehme, anstatt die Zange zu benutzen.«

Eine in Weiß gekleidete Gestalt marschierte, von Autorität begleitet, übers Spielfeld und blies in eine Pfeife.

»Und der Mann ist euer König, nicht wahr?«

»Nein.«

»Wirklich nicht? Dann bin ich Königin Punjitrum von Sumtri.«

»Karotte ist ebenso Polizist wie ich.«

»Ein solcher Mann könnte mit einer Handvoll müder Krieger ein ganzes Land erobern.«

»Meinetwegen. An seinem freien Tag kann er tun und lassen, was er will.«

»Und er nimmt Befehle von dir entgegen? Du bist ein erstaunlicher Mann, Sir Samuel. Aber ich glaube, du hättest den Prinzen nicht getötet.«

»Nein. Ich nehme an, du hättest mich umgebracht, wenn ich wirklich bereit gewesen wäre, Cadram zu erschießen.«

»Oh, natürlich. Mord vor Zeugen. Darauf muß ein Polizist reagieren.«

Sie erreichten die Kamele. Eines drehte sich um, als Ahmed aufsteigen wollte, bemerkte ein besseres Ziel und spuckte nach Mumm. Mit großer Treffsicherheit.

Ahmed sah noch einmal zu den Fußballspielern.

»Oben in Klatschistan kennen die Nomaden ein ähnliches Spiel«, sagte er. »Allerdings sitzen sie dabei auf Pferden und versuchen, ein Objekt ins Tor zu treiben.«

»Ein Objekt?«

»Es ist besser, bei dem Begriff ›Objekt‹ zu bleiben, Sir Samuel. Und nun… Ich sollte jetzt losreiten. Es gibt Diebe in den Bergen. Und die Luft ist dort sehr klar. Für Polizisten gibt es immer Arbeit, wie du weißt.«

»Denkst du daran, irgendwann einmal nach Ankh-Morpork zurückzukehren?«

»Möchtest du mich wiedersehen, Sir Samuel?«

»Die Stadt steht allen Besuchern offen. Melde dich im Wachhaus am Pseudopolisplatz, wenn du eintriffst.«

»Damit wir über die alten Zeiten sprechen können?«

»Nein. Damit du mir dein Schwert geben kannst. Natürlich erhältst du eine Quittung und bekommst es zurück, wenn du die Stadt wieder verläßt.«

»Das erfordert ein hohes Maß an Überredungskunst, Sir Samuel.«

»Oh, ich glaube, ich würde dich nur einmal auffordern.«

Ahmed lachte, nickte Mumm zu und ritt fort.

Einige Minuten lang war er eine Gestalt am Fuß einer Staubsäule, dann wurde er zu einem zitternden Fleck im Hitzedunst. Schließlich verschluckte ihn die Wüste.

 

Der Tag ging weiter. Klatschianische Offiziere und mehrere Repräsentanten der Regimenter von Ankh-Morpork wurden zum Zelt bestellt. Mumm näherte sich einige Male und hörte Stimmen verhandeln und streiten.

Unterdessen richteten sich die Heere ein. Jemand hatte bereits einen Wegweiser aufgestellt, dessen Arme zur Heimat einiger Soldaten wiesen. Da praktisch alle aus Ankh-Morpork kamen, zeigten die Arme alle in die gleiche Richtung.

Die meisten Wächter saßen auf der windabgewandten Seite einer Düne und leisteten dort einer verhutzelten Klatschianerin Gesellschaft, die über einem kleinen Feuer eine komplizierte Mahlzeit zubereitete. Alle schienen vollkommen lebendig zu sein, mit der Ausnahme von Reg Schuh.

»Wo bist du gewesen, Feldwebel Colon?« fragte Mumm.

»Kann ich leider nicht sagen, Herr Kommandeur. Seine Exzellenz hat mich zur Verschwiegenheit verpflichtet.«

»Na schön.« Mumm ließ es dabei bewenden. Informationen von Colon zu bekommen… ähnelte dem Bemühen, die Feuchtigkeit aus einem Waschlappen zu entfernen. Es konnte warten. »Und Nobby?«

»Hier, Herr Kommandeur!« Die verhutzelte Klatschianerin salutierte. Armreifen klirrten.

»Du bist das?«

»Ja, Herr Kommandeur! Ich erledige die schmutzige Arbeit, wie es die Rolle der Frau im Leben verlangt. Obwohl Wächter zugegen sind, die einen niedrigeren Rang bekleiden, Herr!«

»Ich bitte dich, Nobby«, sagte Colon. »Grinsi kann nicht kochen. Reg kommt nicht in Frage, weil wir damit rechnen müssen, daß Teile von ihm in die Pfanne fallen. Und Angua…«

»… kocht nicht«, beendete Angua den Satz. Sie lag mit geschlossenen Augen auf einem Felsen, der sich als Detritus erwies.

»Außerdem hast du mit dem Kochen begonnen, als fühltest du dich dafür zuständig«, meinte Colon.

»Kebab, Herr?« fragte Nobby. »Es ist genug da.«

»Wo hast du den Proviant aufgetrieben?« fragte Mumm erstaunt.

»Beim klatschianischen Quartiermeister, Herr«, erwiderte Nobby und lächelte hinterm Schleier. »Ich habe meinen ganzen sexuellen Charme eingesetzt, Herr.«

Mumms Kebab verharrte auf halbem Weg zum Mund, und Lammfett tropfte ihm auf die Beine. Er sah, wie Angua die Augen aufriß und entsetzt gen Himmel starrte.

»Ich habe gedroht, mich auszuziehen und zu schreien, wenn er nicht was Eßbares herausrückt, Herr.«

»Damit hast du ihm zweifellos einen großen Schrecken eingejagt«, sagte Mumm.

Angua wagte es, den angehaltenen Atem wieder entweichen zu lassen.

»Ja, ich schätze, wenn ich richtig vorgehe, könnte ich zu einer von diesen fatalen Frauen werden«, sagte Nobby. »Ich brauche einem Mann nur zuzuwinken, und schon rennt er weg. Könnte sehr nützlich sein.«

»Ich habe ihn aufgefordert, die Uniform wieder anzuziehen, aber er meinte, er fühle sich in seiner gegenwärtigen Kleidung ganz wohl«, flüsterte Colon Mumm zu. »Um ganz ehrlich zu sein, Herr: Allmählich mache ich mir Sorgen.«

Damit komme ich nicht klar, dachte Mumm. Dafür gibt es keine Regeln, die man in irgendeinem Buch nachschlagen kann.

»Äh… wie soll ich es erklären…«, begann er.

»Bitte erspart mir irgendwelche Hinweise darauf, was sich angeblich gehört und was nicht«, sagte Nobby. »Ich meine nur: Es kann manchmal ganz lehrreich sein, in andere Schuhe zu schlüpfen.«

»Nun, solange sich die Sache auf Schuhe beschränkt…«

»Ich habe einfach die sensible Seite meines Selbst kennengelernt«, fuhr Nobby fort. »Kann es etwa schaden, wenn man versucht, die Dinge aus dem Blickwinkel des anderen Mannes zu sehen – auch wenn der ›andere Mann‹ eine Frau ist?«

Nobby blickte in die verschiedenen Gesichter und machte eine vage Geste. »Schon gut, schon gut. Ich ziehe meine Uniform an, sobald ich das Lager aufgeräumt habe. Seid ihr jetzt zufrieden?«

»Hier duftet es gut!«

Karotte näherte sich und ließ den Fußball dabei auf und ab hüpfen. Schweiß glänzte an seinem nackten Oberkörper. Die Pfeife baumelte an einer Schnur, die er um den Hals trug.

»Es ist Halbzeit«, sagte er und nahm Platz. »Ich habe einige Männer mit dem Auftrag nach Gebra geschickt, viertausend Orangen zu holen. Die einzelnen Kapellen der Regimenter von Ankh-Morpork bilden inzwischen ein Orchester, werden bald einen zackigen Rückmarsch hinlegen und dabei allseits beliebte militärische Melodien erklingen lassen.«

»Hat das… äh… Orchester den Rückmarsch geprobt?« fragte Angua.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Dann dürfte die Vorstellung recht interessant werden.«

»Ich möchte nicht zu neugierig erscheinen, Karotte«, sagte Mumm, »aber wo hast du mitten in der Wüste einen Fußball aufgetrieben?« Irgendwo tief in ihm flüsterte eine Stimme: Du hast gehört, wie er starb. Du hast gehört, wie sie alle starben… irgendwo anders.

»Oh, ich habe immer einen dabei, der nur aufgepumpt werden muß, Herr Kommandeur. Ein Fußball eignet sich gut dazu, Frieden zu stiften. Äh… stimmt etwas nicht, Herr Kommandeur?«

»Wie? Was? Oh. Ja. Bin nur ein wenig… müde. Nun, wer liegt in Führung?« Mumm klopfte auf seine Taschen und entdeckte eine letzte Zigarre.

»Im großen und ganzen steht es noch Unentschieden. Ich mußte vierhundertdreiundsiebzig Männer vom Platz verweisen. Und ich fürchte, Klatsch führt bei den Fouls, Herr Kommandeur.«

»Sport als Ersatz für den Krieg, wie?« fragte Mumm. Er stocherte in der Asche von Nobbys Feuer und entdeckte eine halb verbrannte… Nun, es half, sich das Ding als eine Art Wüstenkohle vorzustellen.

Karotte bedachte ihn mit einem ernsten Blick. »Ja, Herr Kommandeur. Niemand setzt Waffen ein. Und hast du bemerkt, daß das klatschianische Heer kleiner wird? Die Oberhäupter ferner Stämme führen ihre Leute fort. Sie meinen, es hätte keinen Sinn, noch länger an diesem Ort zu verweilen, wenn es nicht zu einem Kampf kommt. Ich glaube, sie wollten gar nicht hier sein. Und ich bezweifle, daß sie bereit wären, hierher zurückzukehren…«

Laute Stimmen erklangen hinter ihnen. Männer kamen aus dem Zelt und stritten miteinander, unter ihnen auch Lord Rust. Er blickte sich um und sprach mit seinen Begleitern. Dann entdeckte er Mumm und raste ihm entgegen.

»Mumm!«

Der Kommandeur sah auf, eine Hand auf halbem Weg zur Zigarre.

»Wir hätten gesiegt«, knurrte Rust. »Ja, wir hätten gesiegt! Aber man hat uns dicht vor dem Triumph verraten!«

Mumm starrte ihn groß an.

»Und es ist deine Schuld, Mumm! In Klatsch lacht man über uns! Du weißt ja, wie wichtig es für diese Leute ist, das Gesicht zu wahren – wir haben es verloren! Vetinari ist erledigt, und das gilt auch für dich! Und für die ganze verdammte feige Wache! Na, was sagst du dazu, Mumm? Nun?«

Die Wächter saßen wie erstarrt und warteten darauf, daß Mumm antwortete. Oder sich von der Stelle rührte.

»Mumm?«

Rust schnüffelte. »Was ist das für ein Geruch?«

Mumm senkte langsam den Blick und sah auf seine Finger hinab. Rauch löste sich von ihnen. Etwas zischte leise.

Er stand auf und hob die Hand vor Rusts Gesicht.

»Nimm das«, sagte er.

»Das ist… nur ein Trick…«

»Nimm es«, wiederholte Mumm.

Wie hypnotisiert leckte sich Rust die Finger und nahm die Kohle entgegen. »Es tut überhaupt nicht weh…«

»O doch«, widersprach Mumm.

»Ich spüre nur… Aargh!«

Rust sprang zurück, ließ die Kohle fallen und hob die verbrannten Finger zum Mund.

»Der Trick besteht darin, dem Schmerz einfach keine Beachtung zu schenken«, sagte Mumm. »Geh jetzt.«

»Du bist nicht mehr lange Kommandeur der Wache«, stieß Rust zornig hervor. »Warte nur, bis wir wieder in der Stadt sind. Warte nur. « Er stolzierte davon und hielt sich dabei die schmerzende Hand.

Mumm kehrte zur Feuerstelle zurück und nahm wieder Platz. Nach einer Weile fragte er: »Wo ist er jetzt?«

»Bei seinen Soldaten, Herr Kommandeur. Ich glaube, er gibt ihnen den Befehl heimzukehren.«

»Kann er uns sehen?«

»Nein.«

»Bist du sicher?«

»Es stehen viele Leute zwischen ihm und uns, Herr Kommandeur.«

»Gut.« Mumm steckte sich die Finger in den Mund. Schweiß strömte ihm übers Gesicht. »Verdammt, verdammt, verdammt! Hat jemand kaltes Wasser?«

 

Es war Kapitän Jenkins gelungen, sein Schiff zu reparieren und ins Meer zurückzubringen. Die Besatzungsmitglieder hatten viel graben und anschließend sorgfältige Arbeit mit Stützbalken leisten müssen. Wertvolle Hilfe kam von einem klatschianischen Kapitän, der sich von seinem Patriotismus nicht davon abhalten ließ, Geld zu verdienen.

Jenkins und seine Leute ruhten sich am Ufer aus, als in der Ferne eine Stimme erklang.

Der Käpt’n blinzelte in die Sonne.

Die Seefahrer erstarrten.

»Laßt uns an Bord gehen, und zwar sofort

Eine Gestalt kam die Düne herab. Sie bewegte sich ziemlich schnell, viel schneller, als es jemandem im lockeren Sand möglich sein konnte. Außerdem rutschte sie im Zickzack hin und her. Als sie näher kam, erkannten sie einen Mann auf einem Schild.

Schild und Mann verharrten dicht vor dem verblüfften Jenkins.

»Wie freundlich von dir, daß du auf uns gewartet hast, Kapitän«, sagte Karotte. »Herzlichen Dank! Die anderen kommen gleich.«

Jenkins sah zur Düne. An ihrem Hang zeichneten sich nun weitere Gestalten ab.

»Das sind D’regs!« entfuhr es ihm.

»O ja. Nette Leute. Bist du ihnen schon einmal begegnet?«

Jenkins starrte Karotte groß an. »Ihr habt gewonnen?« brachte er hervor.

»Ja. Durch Elfmeterschießen.«

 

Grünblaues Licht glühte durch die kleinen Fenster des Bootes.

Lord Vetinari zog die Steuerungshebel, bis er einigermaßen sicher war, daß sie sich einem geeigneten Schiff näherten.

»Was rieche ich da, Feldwebel Colon?« fragte er.

»Es ist Be… Nobby, Herr«, sagte Colon und trat kräftig in die Pedale.

»Korporal Nobbs?«

Nobby errötete fast. »Ich habe eine kleine Duftflasche gekauft, Herr. Für meine junge Dame.«

Lord Vetinari hüstelte. »Wen meinst du mit ›meine junge Dame‹?« fragte er.

»Äh… wenn ich eine habe«, sagte Nobby.

»Oh.« Diesmal klang selbst Lord Vetinari erleichtert.

»Weil, bestimmt bekomme ich bald eine, ich meine, immerhin habe ich jetzt meine sexuelle Natur gründlich erforscht und bin mit mir in Einklang, sozusagen«, erklärte Nobby.

»Du fühlst dich in Einklang mit dir selbst?«

»Ja, Herr!« bestätigte Nobby zufrieden.

»Und wenn du die glückliche Dame gefunden hast, gibst du ihr die kleine Flasche mit…«

»Das Parfüm heißt ›Kasbanächte‹, Herr.«

»Interessant. Ziemlich intensiver… Blütenduft, nicht wahr?«

»Ja, Herr. Weil Jasmin drin ist. Und viele seltene Kräuter.«

»Ein erstaunlich… durchdringender Geruch.«

Nobby lächelte. »Da habe ich wirklich etwas für mein Geld bekommen, Herr. Man braucht nur wenig zu nehmen, und es hält lange.«

»Vielleicht zu lange?«

Nobbys Begeisterung blieb unerschütterlich. »Ich hab’s aus dem gleichen Laden, in dem der Feldwebel den Höcker gekauft hat.«

»Ah… ja.«

Das Boot bot nicht viel Platz, und den größten Teil davon beanspruchten Feldwebel Colons Souvenirs. Vetinari hatte ihm eine kurze Einkaufstour gestattet, »um etwas mit nach Hause zu bringen, Herr, denn sonst kriege ich jahrelang Vorwürfe von meiner Frau zu hören«.

»Frau Colon findet bestimmt großen Gefallen an einem ausgestopften Kamelhöcker, nicht wahr, Feldwebel?« meinte der Patrizier skeptisch.

»Ja, Herr. Sie kann Dinge darauf abstellen, Herr.«

»Und der Satz Messingtische, die ineinander passen?«

»Bestens geeignet, um Dinge darauf abzustellen, Herr.«

»Und das hier?« Es klapperte. »Einige Ziegenglocken, eine verzierte Kaffeekanne, ein kleiner Kamelsattel und… und ein seltsames Glasrohr mit Streifen aus unterschiedlich gefärbtem Sand? Wozu dienen diese Objekte?«

»Es sind Gesprächsgegenstände, Herr.«

»Du rechnest vermutlich damit, daß Besucher Fragen stellen wie ›Was hat es mit diesen Dingen auf sich‹?«

»Siehst du, Herr? Wir sprechen bereits darüber.«

»Bemerkenswert.«

Feldwebel Colon hustete demonstrativ und nickte zu Leonard, der im Heck hockte und seinen Kopf mit beiden Händen stützte.

»Er ist ziemlich still, Herr«, sagte Colon leise. »Hat schon seit einer ganzen Weile keinen Ton mehr von sich gegeben.«

»Ihm geht viel durch den Kopf«, erwiderte der Patrizier.

Eine Zeitlang traten die Männer schweigend in die Pedale, doch die Stille dauerte nicht sehr lange. In der Enge des Bootes zusammenzusitzen… schuf eine Atmosphäre der Vertrautheit, die an Land unmöglich gewesen wäre.

»Es tut mir leid, daß man dir den Laufpaß geben will, Herr«, sagte Colon.

»Schon gut«, erwiderte Lord Vetinari.

»Ich würde dich wählen. Wenn es zu einer Wahl käme, meine ich.«

»Prächtig.«

»Ich bin der Ansicht, das Volk will die Daumenschrauben einer strengen Regierung.«

»Gut.«

»Dein Vorgänger, Lord Schnappüber… Bei ihm saß wirklich eine Schraube locker. Aber wie ich immer sage: Die Leute wissen, wo sie mit Lord Vetinari stehen…«

»Ausgezeichnet.«

»Allerdings… Einigen Leuten gefällt es vielleicht nicht, wo sie mit dir stehen, Herr…«

Lord Vetinari sah auf. Sie befanden sich jetzt unter einem Schiff, das in der richtigen Richtung unterwegs zu sein schien. Er steuerte das Boot näher heran, bis er ein dumpfes Pochen hörte, als Rumpf an Rumpf stieß. Dann drehte er das Gewinde einige Male.

»Man will mir also den Laufpaß geben?« fragte er und setzte sich wieder.

»Nun…äh… du hast Lord Rust gehört. Wenn du das Dokument rat… rati…«

»Man spricht in diesem Zusammenhang von Ratifizierung«, erklärte Lord Vetinari.

»Nun, wenn die Ratifizierung des Kapitulationsdokuments in der nächsten Woche stattfindet, sollst du aus der Stadt verbannt werden, Herr.«

»In der Politik kann eine Woche sehr lang dauern, Feldwebel.«

In Colons Gesicht erschien etwas, das er für ein wissendes Lächeln hielt. Er klopfte sich an den Nasenflügel.

»Ah, Politik. Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Wer zuletzt lacht, lacht am besten, wie?« warf Nobby ein.

»Bestimmt hast du einen geheimen Plan«, vermutete Colon. »Du weißt, wo sich das Huhn versteckt, jawohl.«

»Offenbar beobachtet ihr den Karneval des Lebens sehr genau, so daß ich euch nichts vormachen kann«, sagte Lord Vetinari. »Ja, ich habe tatsächlich etwas vor.«

Er rückte den vermeintlichen Kamelhöcker zurecht, der nach Ziege roch und aus dem bereits Sand rieselte, und streckte sich dann aus.

»Ich habe vor, überhaupt nichts zu tun. Weckt mich, wenn etwas Interessantes passiert.«

 

Nautische Dinge geschahen. Der Wind drehte sich so oft, daß man mit einem Wetterhahn hätte Korn mahlen können. Einmal regnete es Sardellen.

Kommandeur Mumm versuchte zu schlafen. Jenkins hatte ihm eine Hängematte gezeigt, und Mumm erkannte darin ein weiteres Schafsauge: In einem solchen Ding konnte niemand schlafen. Die Seeleute hängten sie vermutlich nur zur Schau auf und hatten irgendwo versteckt richtige Betten aufgestellt.

Er machte es sich im Frachtraum einigermaßen bequem und döste dort, während die anderen in einer Ecke miteinander sprachen. Sie bemühten sich, leise zu sein.

»… hat Seine Exzellenz doch nicht wirklich vor, die Insel einfach so aufzugeben, oder? Wofür haben wir dann gekämpft?«

»Eins steht fest: Nach dieser Sache dürfte es ihm ziemlich schwer fallen, weiterhin im Amt zu bleiben. Wie Herr Mumm sagte: Der gute Name von Ankh-Morpork wird in den Schmutz gezogen.«

»Ankh-Morpork ist an Schmutz gewöhnt«, warf Angua ein. »Davon hat die Stadt jede Menge.«

»Wenigstens alle noch atmen können.« Diese Worte stammten eindeutig von Detritus.

»Das ist eine vitalisierende Bemerkung…«

»Entschuldigung, Reg. Warum du dich so kratzt?«

»Ich fürchte, ich habe mir irgendeine abscheuliche ausländische Krankheit geholt.«

»Wie bitte?« fragte Angua. »Woran kann ein Zombie denn erkranken?«

»So etwas solltest du nicht sagen…«

»Du sprichst mit einer Person, die jedes Flohpulver kennt, das in Ankh-Morpork verkauft wird, Reg.«

»Nun, wenn du es unbedingt wissen willst… Es sind Mäuse. Sie bringen mich in große Verlegenheit. Ich achte sehr auf Sauberkeit, aber die Biester finden immer wieder einen Weg…«

»Hast du alles versucht?«

»Ja, nur keine Frettchen eingesetzt.«

»Wenn Lord Vetinari die Stadt verläßt… Wer tritt dann seine Nachfolge an?« fragte Grinsi Kleinpo. »Etwa Lord Rust?«

»Er könnte die Stadt höchstens fünf Minuten lang regieren.«

»Vielleicht schließen sich die Gilden zusammen und…«

»Sie würden übereinander herfallen wie…«

»… Frettchen«, sagte Reg. »Manchmal ist das Heilmittel schlimmer als die Krankheit.«

»Kopf hoch, die Wache wird es weiterhin geben«, warf Karotte ein.

»Ja, aber Herr Mumm fliegt raus. Wegen der Politik.«

Mumm hielt die Augen geschlossen.

 

Eine stumme Menge wartete am Kai. Die Leute beobachteten, wie Mumm und seine Begleiter über den Landungssteg schritten. Hier und dort erklang verlegenes Hüsteln, und dann rief jemand:

»Bitte sag, daß es nicht stimmt, Herr Mumm!«

Am Ende des Landungsstegs salutierte Dorfl.

»Lord Rusts Schiff Ist Heute Morgen Eingetroffen, Herr«, sagte der Golem.

»Hat jemand Vetinari gesehen?«

»Nein, Herr.«

»Hat wahrscheinlich Angst, sich in der Stadt zu zeigen!« rief jemand.

»Lord Rust Meinte, Daß Du Deine Pflicht Erfüllen Sollst Verdammt Noch Mal«, sagte Dorfl. Golems neigten dazu, alles wortwörtlich zu wiederholen.

Er reichte Mumm ein Blatt Papier. Der Kommandeur las die ersten Zeilen.

»›Notstandsrat‹? Was soll denn das bedeuten? Und was steht hier? Verrat? Gegen Vetinari? Ich weigere mich, solchen Anweisungen zu gehorchen!«

»Darf ich mal sehen, Herr Kommandeur?« fragte Karotte.

Angua bemerkte die Welle, während alle anderen nur den Haftbefehl sahen. Die Ohren eines Werwolfs sind sehr empfindlich.

Sie kehrte zum Kai zurück und blickte flußabwärts.

Eine mehr als fünfzig Zentimeter hohe Mauer aus schäumendem Wasser bewegte sich ziemlich schnell flußaufwärts und hob unterwegs die Boote an.

Die Welle rauschte an Angua vorbei, saugte am Kai und ließ Jenkins’ Schiff schaukeln. Irgendwo an Bord schepperte Geschirr.

Das Wasser beruhigte sich wieder, als die weiße Front den Weg zur nächsten Brücke fortsetzte. Einige Sekunden roch es nicht wie sonst nach dem Eau de latrine des Ankh, sondern nach Seewind und Salz.

Jenkins trat an Deck und blickte über die Reling.

»Was war das?« rief Angua nach oben. »Wechselnde Gezeiten?«

»Wir sind mit der Flut gekommen«, erwiderte Jenkins. »Seltsame Sache. Eins von diesen Phänomenen, nehme ich an.«

Angua kehrte zur Gruppe zurück. Mumms Gesicht war bereits rot angelaufen.

»Das Dokument ist von den offiziellen Repräsentanten der wichtigsten Gilden unterschrieben, Herr Kommandeur«, sagte Karotte gerade. »Alle sind vertreten, bis auf die Gilde der Bettler und Näherinnen.«

»Tatsächlich? Und wenn schon! Wie können sie sich erdreisten, mir eine solche Anweisung zu erteilen?«

Angua beobachtete, wie ein Schatten von Schmerz über Karottes Miene huschte.

»Äh… jemand muß solche Befehle herausgeben, Herr Kommandeur. Es steht uns nicht zu, in diesem Punkt eigene Entscheidungen zu treffen. Dieser Aspekt hat… äh… zentrale Bedeutung.«

»Ja, aber… derartige Anweisungen…«

»Außerdem nehme ich an, daß darin der Wille des Volkes zum Ausdruck kommt…«

»Des Volkes? Komm mir bloß nicht mit dem Unsinn! Man hätte uns alle niedergemetzelt, wenn es zu einem Kampf gekommen wäre! Dann gäbe es jetzt niemanden mehr, der irgendwen verhaften könnte…«

»Rechtlich gesehen scheint hiermit alles in Ordnung zu sein, Herr Kommandeur.«

»Das ist doch… lächerlich!«

»Es ist keineswegs so, daß wir irgendwelche Vorwürfe gegen ihn erheben, Herr Kommandeur. Wir müssen nur dafür sorgen, daß er in der Rattenkammer erscheint. Nun, Herr Kommandeur, du hast eine sehr anstrengende Zeit hinter dir…«

»Aber… Vetinari verhaften? Ich kann nicht…«

Mumm verharrte, denn plötzlich verstand er. Darum ging es ja gerade. Wenn man jeden verhaften konnte, so blieb einem nichts anderes übrig, als tatsächlich jeden zu verhaften. Man konnte nicht sagen, »aber ihn nicht«. Ahmed hätte jetzt sicher gekichert, dachte Mumm. Und Altes Steingesicht drehte sich vielleicht in seinen fünf Gräbern um.

»Ich kann doch, oder?« brachte er kummervoll hervor. »Oh, na schön. Gib einen Steckbrief heraus, Dorfl.«

»Das Ist Nicht Nötig, Herr Kommandeur.«

Die Menge wich beiseite, als Lord Vetinari den Kai entlangging, gefolgt von Nobby und Colon. Besser gesagt: Wenn es nicht Colon war, mußte es ein sonderbar deformiertes Kamel sein.

»Ich glaube, ich habe die wichtigsten Dinge gehört, Kommandeur«, sagte der Patrizier. »Bitte walte deines Amtes.«

»Du brauchst nur den Palast aufzusuchen, Herr. Ich schlage vor, wir…«

»Willst du mir keine Handschellen anlegen?«

Mumms Kinnlade klappte nach unten. »Warum sollte ich das?«

»Verrat ist ein sehr schlimmes Verbrechen, Sir Samuel. Ich glaube, ich sollte Handschellen verlangen

»Na schön, wenn du darauf bestehst.« Mumm nickte Dorfl zu. »Leg ihm Handschellen an.«

»Du hast nicht zufällig Ketten dabei?« fragte der Patrizier, als Dorfl der Aufforderung des Kommandeurs nachkam. »Wir sollten nach der Tradition vorgehen…«

»Nein. Wir haben keine Ketten.«

»Ich wollte behilflich sein, Sir Samuel. Gehen wir jetzt?«

Die Menge jubelte nicht. Die Leute warteten einfach, wie ein Publikum, das beobachten wollte, wie der Trick funktionierte. Sie wichen beiseite, als Lord Vetinari in Richtung Stadtmitte ging.

Nach einigen Schritten blieb er stehen und drehte sich um.

»Wie war das andere noch… Ah, ja. Ich werde nicht an eine Hürde gebunden und durch die Stadt gezogen?«

»Das ist nur bei einer Hinrichtung nötig, Herr«, erwiderte Karotte munter. »Traditionell werden Verräter tatsächlich an eine Hürde gebunden und daran zum Exekutionsort geschleift. Anschließend werden sie gehängt, gestreckt und gevierteilt.« Karotte zögerte kurz. »Eigentlich braucht sich der Verurteilte nur vor dem Hängen zu fürchten. Den Rest spürt er nicht mehr.«

»Das beruhigt mich sehr«, erwiderte Lord Vetinari. »Habt ihr eine Hürde?«

»Nein!« schnappte Mumm.

»Ach? Nun, ich glaube, in der Glatten Gasse gibt es ein Sportgeschäft. Nur für den Fall, Sir Samuel.«

 

Eine Gestalt trat durch den Sand in der Nähe von Gebra und blieb stehen, als dicht über dem Boden eine hoffnungsvolle Stimme erklang. »Bimmel-bimmel-bamm?«

Der Disorganizer spürte, wie er aufgehoben wurde.

WAS BIST DU FÜR EIN DING?

»Ich bin der Disorganizer Mk II, mit vielen nützlichen und schwer zu benutzenden Funktionsmerkmalen. Hier Name Einfügen.«

ZUM BEISPIEL?

Selbst im kleinen Selbst des Disorganizers keimte ein wenig Unbehagen. Die Stimme, mit der er sprach, klang irgendwie nicht richtig.

»Ich weiß, wie spät es überall ist«, erwiderte der Apparat versuchsweise.

ICH EBENFALLS.

»Äh… ich kann ein Adressenverzeichnis führen und immer aktuell halten…« Der Disorganizer spürte Bewegungen, die darauf hindeuteten, daß sich sein neuer Besitzer auf den Rücken eines Pferds geschwungen hatte.

TATSÄCHLICH? ICH KENNE VIELE ADRESSEN.

»Na bitte«, sagte der Dämon und versuchte, an seinem schnell schwindenen Enthusiasmus festzuhalten. »Ich kann Erinnerungsnotizen für Adressen anfertigen, und wenn du dich noch einmal mit den betreffenden Personen in Verbindung setzen mußt…«

DAS IST IN DEN MEISSTEN FÄLLEN NICHT NOTWENDIG. FAST IMMER GENÜGT ES, WENN ICH IHNEN EINEN EINZIGEN BESUCH ABSTATTE.

»Nun… hast du Termine?« Der Dämon hörte das Pochen von Hufen, danach nur noch das Rauschen des Winds.

MEHR ALS DU DIR VORSTELLEN KANNST. NEIN, ICH GLAUBE, DEINE BESONDEREN TALENTE SIND WOANDERS NÜTZLICHER…

Nach stärkerem Rauschen platschte es.

 

Die Rattenkammer war überfüllt. Die Oberhäupter von Gilden hatten ein Recht darauf, anwesend zu sein, und dazu kamen viele andere, die sich eine interessante Vorstellung erhofften. Zu den Anwesenden gehörten sogar einige hochrangige Zauberer. Alle wollten ihren Enkeln mitteilen können: »Ich war dabei.«17

»Ich bin ziemlich sicher, daß ich auch Ketten tragen sollte«, sagte Vetinari, als sie in der Tür stehenblieben und zur Menge der Versammelten sahen.

»Nimmst du diese Sache ernst, Herr?« fragte Mumm.

»Sogar sehr ernst, Kommandeur, das versichere ich dir. Sollte ich zufälligerweise überleben, beauftrage ich dich hiermit, Ketten zu kaufen. Bei diesen Dingen sollte man alles richtig machen.«

»Ich werde dafür sorgen, daß in Zukunft welche bereitliegen.«

»Gut.«

Der Patrizier nickte Lord Rust zu, der zwischen Herrn Boggis und Lord Witwenmacher stand.

»Guten Morgen«, sagte er. »Können wir diese Angelegenheit schnell erledigen? Ein langer und arbeitsreicher Tag wartet auf uns alle.«

»Offenbar findest du Gefallen daran, Ankh-Morpork auch weiterhin der Lächerlichkeit preiszugeben«, erwiderte Rust. Er sah kurz zu Mumm und entfernte ihn dann aus seinem Wahrnehmungsuniversum. »Dies ist keine formelle Verhandlung, Lord Vetinari. Es handelt sich vielmehr um eine Anklageerhebung – alle sollen wissen, was man dir zur Last legt. Von Herrn Schräg habe ich erfahren, daß es noch einige Wochen dauern wird, bis der Prozeß stattfinden kann.«

»Vermutlich recht teure Wochen«, sagte Vetinari. »Laßt uns beginnen.«

»Herr Schräg verliest gleich die Anklageschrift«, kündigte Rust an. »Aber im großen und ganzen läuft es auf Verrat hinaus, Havelock – wie wir alle wissen. Du hast auf höchst unwürdige Weise kapituliert…«

»Habe ich nicht.«

»… und außerdem ohne jede Befugnis auf unsere Souveränität über das Land namens Leshp verzichtet…«

»Diesen Ort gibt es gar nicht.«

Lord Rust zögerte. »Bist du übergeschnappt?«

»Das Kapitulationsdokument sollte auf der Insel Leshp unterzeichnet werden, Lord Rust. Doch eine solche Insel existiert nicht.«

»Auf dem Weg hierher sind wir an ihr vorbeigesegelt, Mann!«

»Hat das jemand in letzter Zeit überprüft?«

Angua berührte Mumm an der Schulter.

»Kurz nach unserer Ankunft ist eine seltsame Welle flußaufwärts gerollt…«

Die Zauberer flüsterten aufgeregt miteinander, und schließlich stand Erzkanzler Ridcully auf.

»Hier scheint es ein kleines Problem zu geben, Eure Lordschaften. Der Dekan meint, daß die Insel tatsächlich nicht mehr da ist.«

»Wir reden hier von einer Insel. Willst du etwa andeuten, jemand hätte sie gestohlen? Weißt du überhaupt, wo sie liegt?«

»Wir wissen, wo sie lag, und jetzt ist sie nicht mehr da«, sagte der Dekan kühl. »Dafür schwimmt an jenem Ort viel Tang und Treibholz.« Er stand auf und hob eine kleine Kristallkugel. »Wir haben sie fast jeden Abend beobachtet. Wegen der Kämpfe und so. Aufgrund der großen Entfernung läßt die Qualität des Bildes leider zu wünschen übrig…«

Rust starrte ihn groß an. Der Dekan hatte zuviel Masse, als daß er sich einfach ignorieren ließ.

»Aber eine Insel kann doch nicht einfach verschwinden«, sagte Rust.

»Rein theoretisch können Inseln auch nicht einfach so erscheinen, Lord. Doch bei dieser ist das geschehen.«

»Vielleicht ist sie wieder im Meer versunken«, spekulierte Karotte.

Rust bedachte Vetinari mit einem durchdringenden Blick.

»Hast du davon gewußt?« fragte er.

»Wie kann ich das im voraus gewußt haben?« erwiderte der Patrizier.

Mumms Blick glitt über die verschiedenen Gesichter.

»Du hast etwas davon gewußt!« stieß Rust hervor. Er sah zu Herrn Schräg, der eilig in einem ziemlich dicken Buch blätterte.

»Ich weiß nur eins, Lord: Prinz Cadram hat zu einem in politischer Hinsicht für ihn sehr kritischen Zeitpunkt einen wichtigen militärischen Vorteil für eine Insel aufgegeben, die allem Anschein nach im Meer versunken ist«, sagte Lord Vetinari. »Die Klatschianer sind sehr stolz. Was sie wohl davon halten?«

Vor seinem inneren Auge sah Mumm General Ashal, der neben dem Thron des Prinzen stand. Klatschianer mögen erfolgreiche Herrscher, dachte er. Ich frage mich, was mit den nicht so erfolgreichen passiert. Nun, ich weiß, was wir unternehmen, wenn wir glauben…

Jemand gab ihm einen Stoß.

»Wir sind’s«, sagte Nobby. »Es gibt keine Hürden im Sportgeschäft, aber dafür bietet man dort einen Pingpongtisch für nur zehn Dollar an. Wir haben ein kleines Trampolin entdeckt, auf dem man ihn ziehen könnte, aber der Feldwebel meinte, das sähe lächerlich aus.«

Mumm verließ den Raum, zog Nobby hinter sich her und drückte ihn an die Wand.

»Wo seid ihr mit Vetinari gewesen, Korporal? Und denk daran: Ich kann erkennen, wenn du lügst. Dann bewegen sich deine Lippen.«

»Wir… wir… wir begaben uns auf eine kleine Reise, Herr Kommandeur. Er meinte, wir sollten dir nicht sagen, daß wir unter der Insel gewesen sind!«

»Ihr seid also… was, unter Leshp?«

»Nein, Herr Kommandeur! Wir sind nicht dort unten gewesen! Hat viel zu sehr gestunken! Nach faulen Eiern! Und die Höhle war so groß wie eine Stadt, glaub mir!«

»Du bist bestimmt froh, daß du nicht dort drinnen gewesen bist.«

Nobby nickte erleichtert. »Ja, das bin ich wirklich, Herr Kommandeur.«

Mumm schnupperte. »Benutzt du ein Rasierwa…« Er unterbrach sich. »Ich meine, benutzt du etwas anstelle eines Rasierwassers, Nobby?«

»Nein, Herr Kommandeur?«

»Hier riecht’s nach vergammelten Blumen.«

»Oh, es ist nur ein Souvenir aus dem Ausland. Äh… die Wirkung hält ziemlich lange an.«

Mumm zuckte mit den Schultern und kehrte in die Rattenkammer zurück.

»… weise ich ganz entschieden den Vorwurf zurück, ich hätte mit Seiner Hoheit verhandelt, obgleich ich wußte… Ah, Sir Samuel. Den Schlüssel für die Handschellen, bitte.«

»Du wußtest es!« rief Rust. »Du wußtest es die ganze Zeit!«

»Erhebt jemand Anklage gegen Lord Vetinari?« fragte Mumm.

»Nein, ich glaube nicht…«, antwortete Herr Schräg widerstrebend.

»Aber man wird Anklage gegen ihn erheben!« stellte Lord Rust in Aussicht.

»Nun, gib mir Bescheid, wenn es soweit ist, damit ich ihn verhaften kann«, sagte Mumm und löste die Handschellen.

Draußen erklang Jubel – in Ankh-Morpork blieb nichts lange geheim. Die verdammte Insel existierte nicht mehr. Und irgendwie hatte alles ein gutes Ende genommen.

Er sah Vetinari an. »Da kannst du von Glück sagen«, sagte er.

»Oh, es gibt immer ein Huhn, Sir Samuel. Man muß nur schauen.«

 

Der Tag erwies sich als fast so anstrengend wie ein Krieg. Mindestens ein fliegender Teppich traf von Klatsch ein, und es wurden permanent Nachrichten zwischen Palast und Botschaft ausgetauscht. Vor dem Palast wartete noch immer eine Menschenmenge. Die Leute wollten alles beobachten, für den Fall, daß sich Geschichte ereignete.

Mumm ging nach Hause. Zu seiner großen Überraschung wurde die Tür von Willikins geöffnet. Er hatte die Ärmel hochgerollt und trug eine grüne Schürze.

»Du?« brachte Mumm hervor. »Wie bist du so schnell zurückgekehrt? Oh, entschuldige, ich wollte nicht unhöflich sein…«

»Ich war so frei, mich im allgemeinen Durcheinander an Bord von Lord Rusts Schiff zu begeben, Herr. Ich wollte vermeiden, daß hier das Chaos Einzug hält. Das Tafelsilber befindet sich in einem entsetzlichen Zustand, Herr. Der Gärtner weiß einfach nicht, wie man richtig damit umgeht. Ich möchte mich schon jetzt für das Besteck entschuldigen.«

»Vor ein paar Tagen hast du anderen Leuten die Nase abgebissen!«

»Oh, du solltest den Schilderungen des Gefreiten Burk mit angemessenem Zweifel begegnen, Herr«, erwiderte der Diener, als Mumm das Haus betrat. »Es war nur eine Nase.«

»Und jetzt bist du zurückgekehrt, um das Tafelsilber zu putzen?«

»Man muß ein gewisses Niveau wahren, Herr.« Willikins blieb stehen. »Herr?«

»Ja?«

»Haben wir den Sieg errungen?«

Mumm blickte in das runde, rosarote Gesicht.

»Äh… wir haben keine Niederlage erlitten«, erwiderte er.

»Wir konnten doch nicht zulassen, daß ein ausländischer Despot die Hand gegen Ankh-Morpork erhob, oder?« fragte der Diener.

»Nein, ich schätze, das konnten wir nicht…«

»Also haben wir uns richtig verhalten?«

»Ich denke schon…«

»Der Gärtner meinte, Lord Vetinari hätte die Klatschianer ausgetrickst.«

»Nicht nur die Klatschianer, sondern auch alle anderen.«

»Freut mich sehr, Herr. Lady Sybil hält sich im Leicht Rosaroten Salon auf, Herr.«

Sie strickte dort ungeschickt. Als Mumm hereinkam, stand sie auf und gab ihm einen Kuß.

»Ich habe die Neuigkeiten gehört«, sagte Sybil. »Ausgezeichnet.« Sie musterte ihren Mann von Kopf bis Fuß. Soweit sie das erkennen konnte, schien er in einem Stück zu sein.

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir gewonnen haben…«

»Daß du lebend zurückgekehrt bist, zählt als Sieg, Sam. Obwohl ich das im Beisein von Lady Selachii nicht sagen würde.« Sybil winkte mit dem Strickzeug. »Sie hat ein Komitee organisiert, das Socken für die tapferen Soldaten an der Front strickt. Doch jetzt bist du zurück, und ich habe noch nicht einmal herausgefunden, wie man die Ferse hinkriegt. Lady Selachii dürfte sehr verärgert sein.«

»Äh… für wie lang hältst du meine Beine?«

»Oh.« Sybil betrachtete das Ergebnis ihrer Strickbemühungen. »Kannst du einen Schal gebrauchen?«

Mumm hauchte ihr einen Kuß auf die Wange.

»Ich nehme jetzt ein Bad, und anschließend würde ich gern etwas essen«, sagte er.

Das Wasser war nur lauwarm. Mumm glaubte, den Grund dafür zu kennen. Wahrscheinlich ging Sybil von der Annahme aus, daß ein heißes Bad zu sehr entspannte, während ein Krieg stattfand.

Er lag mit der Nase dicht über der Wasseroberfläche, als er ferne Stimmen vernahm. Kurz darauf öffnete sich die Tür.

»Fred ist da«, sagte Sybil. »Vetinari möchte dich sprechen.«

»Schon? Wir haben noch nicht einmal mit dem Essen begonnen

»Wir gehen zusammen, Sam. Er muß endlich damit aufhören, dich zu jeder beliebigen Zeit zu sich zu rufen.«

Mumm versuchte, so ernst und würdevoll zu wirken, wie es mit einem Schwamm in der Hand möglich ist.

»Sybil, ich bin der Kommandeur der Wache, und er regiert diese Stadt. Er ist kein Lehrer, bei dem du dich darüber beschweren kannst, daß ich in Geographie keine guten Leistungen bringe…«

»Wir gehen zusammen, Sam.«

 

Das Boot glitt über die Gleise und verschwand im Wasser.

Leonard seufzte. Er hatte mit voller Absicht darauf verzichtet, den Korken in die Öffnung zu stopfen. Die Strömung konnte das Boot überallhin tragen. Bis zur tiefsten Stelle des Ozeans, hoffte Leonard.

Unerkannt wanderte er durch die Stadt und erreichte den Palast. Kurze Zeit später betrat er den Geheimgang und wich mühelos den verschiedenen Fallen aus – immerhin hatte er sie selbst entwickelt.

Vor der Tür des luftigen Zimmers blieb er stehen und schloß auf. Als er auf der anderen Seite stand, schloß er wieder ab und schob den Schlüssel unter der Tür durch. Und dann seufzte er erneut.

So ging es also in der Welt zu. Es war ganz offensichtlich ein verrückter Ort, bewohnt von vielen Verrückten. Manche Menschen neigten offenbar dazu, alles in eine Waffe zu verwandeln.

Er kochte sich Tee, und dieser Vorgang nahm etwas mehr Zeit in Anspruch als sonst, weil er einen kleinen Apparat konzipierte, der den Fluß von kochendem Wasser verbessern sollte.

Dann lehnte er sich in seinem speziellen Sessel zurück und zog einen Hebel. Gegengewichte sanken. Irgendwo strömte Wasser von einem Tank in einen anderen. Teile des Sessels knarrten, veränderten ihre Position und wurden dadurch bequemer.

Nachdenklich blickte Leonard aus dem Dachfenster. Einige Seevögel schwebten vor dem Hintergrund des blauen Himmels; sie flogen, obwohl sie kaum die Flügel bewegten…

Nach einer Weile begann Leonard zu zeichnen.

 

»Lady Sybil? Das ist eine Überraschung«, sagte Lord Vetinari. »Guten Abend, Sir Samuel. Du trägst einen hübschen Schal. Hauptmann Karotte… Bitte nehmt Platz. Wir haben viel zu besprechen.«

Sie setzten sich.

»Zunächst einmal…« fuhr der Patrizier fort. »Ich habe eine Proklamation für die Ausrufer vorbereitet. Es sind gute Neuigkeiten.«

»Der Krieg ist offiziell zu Ende?« fragte Karotte.

»Der Krieg, Hauptmann, hat nie stattgefunden. Es war alles ein… Mißverständnis.«

»Er hat nie stattgefunden?« wiederholte Mumm. »Es sind Menschen ums Leben gekommen!«

»In der Tat«, bestätigte Lord Vetinari. »Und deshalb sollten wir versuchen, uns so gut wie möglich zu verstehen.«

»Was ist mit dem Prinzen?«

»Oh, bestimmt können wir Vereinbarungen mit ihm treffen, Mumm!«

»Das bezweifle ich!«

»Du bist doch ganz gut mit Prinz Khufurah zurechtgekommen.«

»Wie bitte? Was ist mit dem anderen Prinzen passiert?«

»Offenbar hat er eine lange Reise durchs Land angetreten«, sagte der Patrizier. »Und zwar ganz plötzlich.«

»Meinst du jene Art von Reise, bei der man sich nicht einmal Zeit nimmt, die Koffer zu packen?«

»Ja, genau die Art meine ich. Allem Anschein nach hat er die Leute verärgert.«

»Wissen wir, welches Land er… äh… bereist?« fragte Mumm.

»Klatschistan, glaube ich. Entschuldige bitte, habe ich etwas Lustiges gesagt?«

»Oh, nein. Nein. Mir ist nur gerade etwas eingefallen, das ist alles.«

Vetinari lehnte sich zurück. »Und so breitet sich erneut die ruhige Decke des Friedens aus.«

»Vermutlich sind die Klatschianer nicht sehr glücklich.«

»Es liegt in der Natur der Völker, sich gegen Herrscher zu wenden, die kein Glück mehr haben«, sagte Vetinari. »Oh, zweifellos ergeben sich Probleme. Wir müssen sie eben… diskutieren. Prinz Khufurah ist ein umgänglicher Mann. In dieser Hinsicht ähnelt er vielen seiner Vorfahren. Eine Flasche Wein, ein Laib Brot, eine Menge Geld… dann interessiert er sich nicht zu sehr für Politik.«

»Die Klatschianer sind ebenso schlau wie wir«, warf Mumm ein.

»In dem Fall sollten wir ihnen immer ein Stück voraus sein«, erwiderte Vetinari.

»Eine Art Wettlauf mit dem Verstand«, sagte Mumm.

»Das ist besser, als die Waffen sprechen zu lassen«, meinte der Patrizier. »Außerdem auch viel billiger.« Er blätterte in den vor ihm liegenden Papieren. »Was wollte ich jetzt noch ansprechen…? Oh, ja, die Sache mit dem Verkehr.«

»Verkehr?« wiederholte Mumm und versuchte, seinen geistigen Kurs um hundertachtzig Grad zu ändern.

»Ja. In den alten Straßen unserer Stadt gibt es immer wieder Verkehrsstaus. Ich habe von einem Fuhrmann in der Königsstraße gehört, der eine Familie gründete, während er in einem Stau steckte. Die Straßen freizuhalten… Das ist eine der ältesten Pflichten der Wache.«

»Mag sein, Herr, aber heutzutage…«

»Du wirst also eine entsprechende Abteilung gründen, die sich um alle diesbezüglichen Dinge kümmert, Mumm. Damit meine ich nicht nur den Verkehr, sondern auch gestohlene Karren und dergleichen. Du wirst sicherstellen, daß es auf den wichtigsten Durchgangsstraßen nicht mehr zu Staus kommt. Deine Leute könnten zum Beispiel nach Fuhrleuten Ausschau halten, die zu lange parken und dadurch den Verkehrsfluß behindern. Ich glaube, Feldwebel Colon und Korporal Nobby wären bestens für diese Aufgabe geeignet, die sich übrigens selbst finanzieren sollte. Was meinst du dazu?«

Die Chance, sich »selbst zu finanzieren«, ohne daß jemand auf einen schießt, dachte Mumm. Colon und Nobby glauben bestimmt, im Paradies zu sein.

»Ist das eine Art Belohnung für sie, Herr?«

»Drücken wir es folgendermaßen aus, Mumm: Wenn man einen eckigen Pflock hat, sollte man nach einer eckigen Öffnung suchen.«

»Das dürfte in Ordnung gehen, Herr. Es bedeutet natürlich, daß ich jemanden befördern muß…«

»Die Details kann ich sicher dir überlassen. Übrigens halte ich einen kleinen Bonus für durchaus angemessen. Sagen wir zehn Dollar für jeden Angehörigen der Wache. Oh, da ist noch etwas, Mumm. Und ich bin froh, daß Lady Sybil anwesend ist; so kann sie es direkt von mir erfahren. Man hat mir nahegelegt, den Titel deines Amtes zu ändern.«

»Ach?«

»›Kommandeur‹ ist ein ziemlich langes Wort. Jemand hat mich daran erinnert, daß es ein kürzeres Wort mit ähnlicher Bedeutung gibt. Es lautet ›Dux‹.«

»Dux Mumm?« fragte Mumm. Er hörte, wie Sybil durchatmete.

Er spürte abwartende Stille um sich herum.

»Herzog?« fragte er schließlich. »O nein… Sybil, könntest du bitte draußen warten?«

»Warum, Sam?«

»Ich muß Seine Exzellenz sehr persönlich sprechen.«

»Du meinst, du willst mit ihm streiten?«

»Ich dachte an eine… Diskussion.«

Lady Sybil seufzte. »Na schön. Es liegt bei dir, Sam. Das weißt du.«

»Es gibt einige… Dinge, die damit in Zusammenhang stehen«, sagte Lord Vetinari, als sich die Tür hinter Sybil geschlossen hatte.

»Nein!«

»Vielleicht solltest du zunächst zuhören.«

»Nein! Du hast das schon einmal mit mir gemacht. Die Wache ist jetzt viel größer als früher. Der Witwen- und Waisen-Fonds hat solche Ausmaße erreicht, daß die Männer für gefährliche Einsätze Schlange stechen. Und unser Pfeilbrett ist fast neu! Diesmal kannst du mich nicht bestechen! Es gibt nichts, das ich mir wünsche!«

»Ich habe Steingesicht Mumm immer für einen oft verleumdeten Mann gehalten«, sagte Vetinari.

»Ich bin auf keinen Fall bereit… Was?« Verwirrung verdrängte einen großen Teil von Mumms Ärger.

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Karotte loyal.

Vetinari stand auf, trat zum Fenster und blickte zum Breiten Weg.

»Mir ist der Gedanke gekommen, daß es vielleicht Zeit wird, alte Vorurteile beiseite zu schieben«, meinte der Patrizier.

Die Bedeutung umhüllte Mumm wie kalter Dunst.

»Du bietest mir an, die Geschichte zu verändern?« fragte er. »Läuft es darauf hinaus?«

»Oh, die Geschichte verändert sich dauernd, Mumm. Sie wird immer wieder neu geprüft und neu bewertet – wie sollten wir sonst die vielen Historiker beschäftigt halten? Ihr Verstand funktioniert auf eine besondere Weise, und wir können nicht zulassen, daß solche Leute zuviel freie Zeit haben. Der Vorsitzende der Historikergilde vertritt wie ich den Standpunkt, daß die zentrale Rolle deines Vorfahren in der städtischen Geschichte neu… analysiert werden sollte.«

»Du hast mit ihm darüber gesprochen?« fragte Mumm.

»Nein, noch nicht.«

Mumms Mund öffnete und schloß sich mehrmals. Der Patrizier kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und nahm ein Blatt Papier.

»Natürlich müssen noch einige andere Dinge berücksichtigt werden«, sagte er.

»Zum Beispiel?« krächzte Mumm.

»Das Mumm-Wappen bekommt seine alte Gültigkeit zurück. Das ist völlig klar. Lady Sybil war geradezu außer sich, als sie erfuhr, daß du keinen Anspruch auf ein Wappen hast. Außerdem erhältst du eine Krone mit kleinen Buckeln…«

»Von mir aus kannst du die bucklige Krone nehmen und sie…«

»… von der ich hoffe, daß du sie bei offiziellen Anlässen trägst, zum Beispiel bei der Enthüllung der Statue, die der Stadt durch ihre Abwesenheit zu lange Schande bereitet hat.«

Diesmal gelang es Mumm, dem Gespräch ein wenig vorauszueilen.

»Es geht wieder um Altes Steingesicht, nicht wahr?« fragte er. »Das meinst du doch, oder? Eine Statue des Alten Steingesicht.«

»Da hast du völlig recht«, bestätigte der Patrizier. »Es kann kein Denkmal sein, das dich darstellt. Ich meine, eine Statue für jemanden zu errichten, der einen Krieg verhindern wollte… Das ist nicht besonders… äh… statuenhaft. Wenn du andererseits fünfhundert deiner Männer mit arroganter Fahrlässigkeit umgebracht hättest, so wären wir bereits damit beschäftigt, die Bronze zu gießen. Nein. Ich dachte dabei an den ersten Mumm, der versuchte, eine bessere Zukunft zu schaffen und statt dessen nur in die Geschichte einging. Vielleicht könnten wir die Statue in der Pfirsichblütenstraße aufstellen…«

Mumm und der Patrizier sahen sich an wie zwei Katzen.

»Am Ende des breiten Weges«, brachte Mumm heiser hervor. »Direkt vor dem Palast.«

Lord Vetinari sah aus dem Fenster. »Einverstanden. Der Anblick wird mir bestimmt gefallen.«

»Und dicht vor der Mauer. Vor dem Wind geschützt.«

»In Ordnung.«

Ein oder zwei Sekunden wirkte Mumm verdutzt. »Wir haben Männer verloren…«

»Insgesamt siebzehn«, sagte der Patrizier. »Sie kamen bei dem einen oder anderen Scharmützel ums Leben.«

»Ich möchte…«

»Es sind bereits finanzielle Vorkehrungen für die Witwen und Hinterbliebenen getroffen.«

Mumm gab auf.

»Ausgezeichnet, Herr!« sagte Karotte.

Der neue Herzog rieb sich das Kinn.

»Aber das bedeutet, ich muß mit einer Herzogin verheiratet sein«, sagte er. »Das ist ein großes, dickes Wort, Herzogin. An solchen Dingen ist Sybil nie sehr interessiert gewesen.«

»Ich verneige mich vor deinem Wissen über die weibliche Psyche«, sagte Vetinari. »Eben habe ich ihr Gesicht gesehen. Wenn sie das nächste Mal Tee mit ihren Freundinnen trinkt, zu denen auch die Herzogin von Quirm und Lady Selachii gehören, so wird sie völlig ungerührt und überhaupt nicht selbstgefällig sein.«

Mumm zögerte. Sybil war eine bemerkenswert ausgeglichene Frau, und diese Sache… Sie hatte alles ihm überlassen, oder? Bei einer solchen Angelegenheit würde sie bestimmt nicht… Sie würde natürlich nicht protzen, nein, das nicht. Aber bestimmt genoß sie das Gefühl, daß ihre Freunde wußten, daß sie wußte, daß sie wußten…

»Na schön«, sagte er. »Aber ich dachte immer, nur ein König sei imstande, jemanden zum Herzog zu ernennen. Es ist nicht wie mit Rittern und Baronen und so. Ich meine, da hat eigentlich alles nur politische Bedeutung. Aber wenn es um einen Herzog geht…«

Er sah Vetinari an. Und dann Karotte. Wie lauteten die Worte des Patriziers? Jemand hat mich daran erinnert…

»Wenn es jemals wieder einen König in Ankh-Morpork gibt, so wird er meine Entscheidung bestimmt bestätigen«, sagte Vetinari glatt. »Und wenn es nie wieder einen König gibt… nun, dann erübrigen sich solche Überlegungen.«

»Und damit bin auch ich ausgetrickst, nicht wahr?« fragte Mumm und schüttelte den Kopf.

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Vetinari.

»Du hast uns alle ausgetrickst. Selbst Rust. Und die armen Teufel, die aufbrachen, um sich umbringen zu lassen. Wir sind nur Figuren auf einem Spielbrett, die man nach Belieben hin und her schieben kann.«

Vetinari stand plötzlich vor Mumm.

»Glaubst du? Viele Männer brachen auf, Mumm. Und viele Männer kehrten zurück. Wie ruhmreich wären die Schlachten gewesen, bei denen sie nicht kämpfen mußten!« Der Patrizier legte eine kurze Pause ein und zuckte mit den Schultern. »Du sprichst von Tricks? Nun, vielleicht hast du recht. Aber sie haben es Tausenden ermöglicht zu überleben.« Ein kurzes Lächeln huschte über Lord Vetinaris Lippen und wies auf folgendes hin: Etwas, das eigentlich nicht sehr komisch war, hatte ihn amüsiert. »Veni, vici… Vetinari.«

 

Tang trieb in ziellosen Strömungen. Abgesehen von Treibholz, wies nichts auf die frühere Existenz von Leshp hin.

Möwen kreisten am Himmel, aber ihr Krächzen wurde von einem Streit dicht über dem Meeresspiegel übertönt.

»Das ist einzig und allein unser Holz, du flüchtige Bekanntschaft eines Hundes!«

»Ach? Wirklich? Und glaubst du etwa, daß wir uns hier auf eurer Seite der Insel befinden? Ich glaube es nicht

»Das Zeug ist plötzlich aufgetaucht!«

»Und woher wollt ihr wissen, daß wir auf unserer Seite der Insel kein Treibholz hatten? Ganz abgesehen davon: Wir haben noch immer ein Faß mit Trinkwasser, Kamelatem!«

»Na schön! Teilen wir! Ihr könnt die Hälfte des Floßes haben!«

»Aha! Aha! Jetzt wollt ihr plötzlich verhandeln! Wir haben euch mit dem Trinkwasser festgenagelt!«

»Können wir uns nicht endlich einigen, Vater? Ich hab’s satt, dauernd Wasser zu treten!«

»Und ihr müßt euch am Paddeln beteiligen.«

»Natürlich.«

Die Möwen zogen weiterhin ihre Kreise, wie weißes Gekritzel am klaren blauen Himmel.

»Nach Ankh-Morpork!«

»Nach Klatsch!«

Tief unten, wo der versunkene Berg Leshp zu seinem alten Platz auf dem Meeresgrund zurückfand, schwammen die Neugierigen Tintenfische wieder über sonderbare Straßen. Sie wußten nicht, warum die Stadt in großen Abständen gen Himmel verschwand, aber sie blieb nie sehr lange fort.

Ein Hai schwamm vorbei. Wäre jemand risikofreudig genug gewesen, ein Ohr an seinen Leib zu pressen, hätte er folgendes gehört: »Bimmel-bimmel-bamm! Drei Uhr nachmittags… Fressen, Hunger, Schwimmen. Aufgaben: Schwimmen, Hunger, Fressen. Drei Uhr und fünf Minuten: wilde Fresserei…«

 

Erstaunlicherweise hatte sich Feldwebel Colon selbst für den Streifendienst eingeteilt. Es war gut, wieder an die frische Luft zu kommen. Außerdem hatte sich herumgesprochen, daß man die Wache irgendwie mit etwas in Verbindung brachte, das eine Art Sieg zu sein schien. Wer die Uniform der Wache trug, durfte damit rechnen, in der einen oder anderen Taverne das eine oder andere Gratisbier trinken zu können.

Colon ging mit Korporal Nobbs auf Streife. Sie wanderten mit dem sicheren Schritt von Männern, die viel gesehen und erlebt hatten.

Ihr untrüglicher Instinkt führte sie an einem Lokal namens Banale Mahlzeiten vorbei. Herr Goriff putzte gerade das Fenster. Als er die beiden Wächter sah, verharrte er kurz und verschwand im Innern des Gebäudes.

»Das nenne ich Dankbarkeit«, schniefte Colon.

Kurz darauf kam Goriff wieder zum Vorschein und eilte mit zwei großen Paketen herbei.

»Das hat meine Frau extra für euch gekocht«, sagte er. »Angeblich wußte sie, daß ihr vorbeikommt«, fügte er hinzu.

Colon öffnete eins der Pakete.

»Potzblitz«, sagte er.

»Eine klatschianische Ankh-Morpork-Spezialität«, sagte Herr Goriff. »Bestehend aus gelbem Currypulver, großen Kohlrübenstücken, grünen Erbsen und weichen Sultaninen, so groß wie…«

»… so groß wie Eier!« entfuhr es Nobby.

»Herzlichen Dank«, erwiderte Colon. »Wie geht es deinem Sohn, Herr Goriff?«

»Er meint, ihr hättet ihm ein Beispiel gegeben. Er will ebenfalls Wächter werden, wenn er groß ist.«

»Oh, gut«, entgegnete Colon fröhlich. »Das wird Herrn Mumm freuen. Sag ihm…«

»In Al-Khali«, fuhr Goriff fort. »Er wohnt dort bei meinem Bruder.«

»Oh. Na schön. Äh… danke für das Essen.«

»Was für ein Beispiel meinte er wohl?« fragte Nobby, als sie weitergingen.

»Ein gutes, natürlich«, antwortete Colon und kaute ein mäßig gewürztes Kohlrübenstück.

»Oh, ja.«

Sie genossen die Mahlzeit, wanderten noch etwas langsamer und näherten sich den Docks.

»Ich schreibe Bana einen Brief«, sagte Korporal Nobby nach einer Weile.

»Ja, aber… sie hat dich für eine Frau gehalten, Nobby.«

»Stimmt. Sie… äh…hat mein inneres Selbst gesehen, frei von…« Nobbys Lippen bewegten sich lautlos, als er nach den richtigen Worten suchte. »Frei von allen Äußerlichkeiten. Das meinte Angua. Wie dem auch sei: Ich dachte, daß jetzt ihr Verlobter heimkehrt, und deshalb möchte ich großzügig sein und sie ihm überlassen.«

»Weil er sich als großer, ziemlich kräftig gebauter Bursche herausstellen könnte, nicht wahr?« fragte Feldwebel Colon.

»Das kam mir dabei nie in den Sinn«, behauptete Nobby.

Eine Zeitlang gingen sie schweigend.

»Eine so gute Tat habe ich nie zuvor vollbracht«, sagte Nobby.

»Ja«, erwiderte Feldwebel Colon. Nach einigen Sekunden besinnlicher Stille fügte er hinzu: »Natürlich ist das nicht besonders schwer.«

»Ich habe noch immer das Taschentuch, das sie mir gegeben hat.«

»Sehr hübsch, Nobby.«

»Aus echter klatschianischer Seide.«

»Ja, sieht wirklich gut aus.«

»Ich werd’s nie waschen, Feldwebel.«

»Du sentimentaler alter Knabe«, sagte Fred Colon.

Er beobachtete, wie sich Korporal Nobby die Nase putzte.

»Ich nehme an, von jetzt an benutzt du es nicht mehr«, bemerkte er skeptisch.

»Man kann’s noch immer biegen, sieh nur.« Nobby zeigte es ihm.

»Oh, ja. Wie dumm von mir, so etwas zu fragen.«

»Durch diese Erfahrung habe ich viel über Frauen gelernt«, sagte Nobby.

Der verheiratete Colon schwieg.

»Heute nachmittag bin ich bei Wilma Schubwagen gewesen«, fuhr Nobby fort. »Ich sagte zu ihr, wie wär’s, wenn wir heute abend ausgehen, und dein Schielen stört mich überhaupt nicht, und ich habe hier dieses exotische Parfüm, das vollkommen über deinen Geruch hinwegtäuscht, und sie meinte, hau ab, und außerdem hat sie mir einen Aal hinterhergeworfen.«

»Das klingt nicht sehr vielversprechend«, kommentierte Colon.

»Oh, ich weiß nicht, Feldwebel. Früher fluchte sie nur, wenn sie mich sah. Und ich habe einen Aal bekommen, der mindestens für eine Mahlzeit gut ist, und deshalb kann ich mich eigentlich nicht beklagen.«

»Wie du meinst. Du solltest nur versuchen, das Parfüm möglichst schnell loszuwerden, in Ordnung? Selbst die Leute auf der anderen Straßenseite beschweren sich.«

Ihre Füße steuerten geradewegs das Hafenviertel an. Dort sahen sie zum aufgespießten Kopf des Klatschianers auf.

»Der ist nur aus Holz«, sagte Colon.

Nobby schwieg.

»Und er ist Teil unseres Erbes an Traditionen, gewissermaßen«, fuhr Colon fort. Aber er zögerte dabei, als widerstrebte es ihm, seiner eigenen Stimme zu glauben.

Nobby putzte sich erneut die Nase, was angesichts vieler Arpeggios und Trompetenstöße einige Zeit dauerte.

Der Feldwebel gab nach. Einige Dinge waren nicht mehr so wie vorher, das mußte er zugeben. »Eigentlich hat’s mir hier nie richtig gefallen. Gehen wir zur Weintraube, einverstanden?«

Nobby nickte.

»Außerdem schmeckt hier das Bier nicht«, fügte Colon hinzu.

 

Lady Sybil trat vor ihren Mann und hob das Taschentuch.

»Spuck!« befahl sie.

Dann entfernte sie mit großer Sorgfalt einen winzigen Schmutzfleck von Mumms Wange.

»So. Jetzt siehst du…«

»… herzogisch aus«, sagte Mumm verdrießlich. »Ich dachte, wir hätten das schon hinter uns gebracht…«

»Nach dem ganzen Durcheinander hat man vergessen, das Convivium abzuhalten«, sagte Lady Sybil und entfernte mikroskopische Fusseln von Mumms Wams. »Es wird jetzt nachgeholt.«

»Man sollte meinen, daß ich als Herzog nicht dieses dämliche Kostüm tragen müßte, oder?«

»Nun, ich habe deinen Auftritt in der Paradeuniform des Herzogs vorgeschlagen, Schatz.«

»Ja, und es genügte mir, einen Blick darauf zu werfen. Weiße Seidenstrümpfe passen einfach nicht zu mir.«

»Du hast genau die richtigen Waden dafür…«

»Ich glaube, ich bleibe besser beim Kostüm des Kommandeurs«, sagte Mumm rasch.

Erzkanzler Ridcully eilte herbei. »Wir sind jetzt soweit, Lord Mu…«

»Nenn mich Sir Samuel«, sagte Mumm. »Daran bin ich einigermaßen gewöhnt.«

»Nun, wir haben den Quästor in einer der Dachkammern gefunden – dem Beginn der Zeremonie steht also nichts mehr im Wege. Wenn du nun so freundlich wärst, deinen Platz einzunehmen…«

Mumm schritt zur Spitze der Prozession, fühlte dabei alle Blicke auf sich ruhen und hörte flüsternde Stimmen. Konnte man aus dem Adel verstoßen werden? Er beschloß, bei nächster Gelegenheit in den Büchern nachzusehen. Doch wenn man daran dachte, was Lords in der Vergangenheit angestellt hatten… Vermutlich mußte man sich etwas sehr Schlimmes zuschulden kommen lassen, um wieder zu einem gewöhnlichen Bürger zu werden.

Die ersten Entwürfe der Statue sahen recht gut aus. Und Mumm wußte inzwischen auch, was demnächst in den Geschichtsbüchern stehen würde. Wie sich herausstellte, war es ganz einfach, Einfluß auf die Geschichte zu nehmen: Man mußte nur die richtigen Worte niederschreiben. Darauf lief alles hinaus: auf Worte in Büchern.

»Also gut!« rief Ridcully, um das vielstimmige Murmeln zu übertönen. »Wenn wir jetzt alle munter marschieren und Lord… Komman… Sir Samuel folgen, sollten wir spätestens bis halb zwei zum Mittagessen zurück sein. Ist der Chor bereit? Niemand tritt jemand anderem auf den Saum des Umhangs? Dann los!«

Mumm ging mit den obligatorischen langsamen Schritten und hörte, wie sich die Prozession hinter ihm in Bewegung setzte. Bestimmt gab es Probleme, wie immer bei solchen Anlässen; normalerweise hervorgerufen durch Alte und Taube sowie Junge und Dumme. Vermutlich waren einige Leute bereits in die falsche Richtung unterwegs.

Als er den Hiergibt’salles-Platz erreichte, ertönten Geräusche, die Spott und Blähungen ausdrückten – die übliche akustische Kulisse bei einer ausreichend großen Menschenmenge. Hinzu kamen traditionelle Bemerkungen wie »He, der Bursche sieht wie ein Idiot aus«. Doch hier und dort erklangen auch einige jubelnde Stimmen.

Mumm versuchte, starr geradeaus zu blicken.

Seidenstrümpfe. Mit Strumpfbändern. Nein, ausgeschlossen. Für Sybil war er zu vielem bereit, aber wenn es in ihrer Beziehung jemals Strumpfbänder geben sollte, dann auf jeden Fall nicht bei ihm. Außerdem hatte man ihn immer wieder darauf hingewiesen, daß er einen purpurnen Mantel mit Gezieferpelz tragen sollte. Auch das kam nicht in Frage.

Mumm hatte eine verzweifelte Stunde in der Bibliothek verbracht und über goldene Knöpfe, Seidenstrümpfe und ähnlichen Unsinn gelesen. Tradition? Er würde den Leuten zeigen, worin wahre Tradition bestand. So wie er die Sache sah, hatten die ersten und ursprünglichen Herzöge ordentliche Kettenhemden mit Blut daran getragen, vorzugsweise das ihrer Gegner…

Jemand schrie in der Menge. Mumm drehte den Kopf und bemerkte eine füllige Frau, die auf dem Boden saß und mit beiden Armen winkte.

»Er hat mir die Handtasche gestohlen! Ohne das Abzeichen der Diebesgilde zu zeigen!«

Die Prozession hielt an, als Mumm einer Gestalt nachsah, die über den Hiergibt’salles-Platz rannte.

»Bleib stehen, Sidney Greifzu!« rief er und stürmte los.

Nur wenige Leute wissen, was es mit der Tradition wirklich auf sich hat. Ihre innere Natur zeichnet sich durch eine gewisse geheimnisvolle Lächerlichkeit aus. Einst gab es einen Grund dafür, am Seelenkuchendienstag einen kleinen Strauß Schlüsselblumen zu tragen, aber heute macht man das nur noch, weil… weil es sich so gehört. Außerdem ist die Intelligenz des Wesens namens »Menschenmenge« nicht höher als die Quadratwurzel der Anzahl aller Personen.

Mumm lief, und der Universitätschor folgte ihm eilig. Die Leute hinter dem Chor beobachteten eine rasch breiter werdende Lücke und versuchten, sie zu schließen. Und dann liefen auch alle anderen, weil alle anderen liefen.

Ein gelegentliches Wimmern stammte von denen, deren Herzen, Lungen oder Beine solchen Belastungen nicht gewachsen waren. Außerdem ertönte eine Art donnerndes Schnaufen: Der Erzkanzler hatte versuchte, dem Ansturm standzuhalten, und nun mußte er erleben, wie sein Kopf immer wieder aufs Kopfsteinpflaster getreten wurde.

Sidney Greifzu, Lehrling in der Diebesgilde, rannte noch schneller, weil er einen Blick über die Schulter geworfen und festgestellt hatte, daß ihn die ganze Gesellschaft von Ankh-Morpork verfolgte – so etwas hinterläßt einen ziemlich nachhaltigen Eindruck auf einen Heranwachsenden.

Und Sam Mumm rannte. Er streifte den Umhang ab, warf den mit Federn ausgestatteten Helm fort und rannte und rannte.

Später mochten sich Probleme ergeben. Die Leute würden Fragen stellen. Aber das kam später. Jetzt gab es nur eins: Herrlich unkompliziert und wundervoll sauber, hoffentlich ohne Ende und unter einem blauen Himmel, in einer makellosen Welt, war er auf der Jagd.