»Ich habe ihm gesagt, er könne sich meine Dienstmarke dorthin stecken, wo die Sonne nie scheint«, sagte Feldwebel Colon, als sie über die Messingbrücke schritten.

»Ja«, brummte Mumm. »Gut gemacht.«

»Ich hab’s ihm direkt ins Gesicht gesagt. ›Dorthin, wo die Sonne nie scheint.‹ Das waren meine Worte.« Colons Tonfall ließ die Frage offen, ob er Stolz empfand oder erschrocken war.

»Ich fürchte, das Recht ist auf der Seite von Lord Rust«, sagte Karotte.

»Ach?«

»Ja, Herr Mumm. Die Sicherheit der Stadt kommt an erster Stelle. Deshalb übernimmt das Militär die Macht, wenn Krieg herrscht.«

»Ha!«

»Wo die Sonne nie scheint«, wiederholte Colon. »Das habe ich ihm gesagt. Mitten ins Gesicht.«

»Ich kehre heim«, kündigte Mumm an.

»Wir sind fast da«, sagte Karotte.

»Nach Hause, meine ich. Ich brauche Schlaf.«

»Ja, Herr Mumm. Was soll ich den anderen sagen?«

»Was du willst.«

»Ich habe ihm in die Augen gesehen und gesagt, daß er sich meine Dienstmarke dorthin stecken kann, wo die Sonne nie scheint…«, überlegte Colon laut.

»Du möchtest vielleicht, daß ich hole einige der Jungs und mich später kümmere um Rust?« fragte Detritus. »Er bestimmt schuldig ist, auf die andere oder eine Weise, kein Problem.«

»Nein!«

Mumm fühlte sich sonderbar leicht. Er glaubte, so hoch zu schweben, daß er den Boden nicht einmal mit einem Seil berühren konnte. Vor dem Wachhaus am Pseudopolisplatz ließ er die anderen zurück, neigte den Kopf nach vorn und ließ sich von ihm den Hügel hinaufziehen, um die Ecke herum und ins Haus, vorbei an seiner erstaunten Frau, die Treppe hoch und ins Schlafzimmer, wo er der Länge nach aufs Bett fiel und eingeschlafen war, noch bevor er die Matratze berührte.

 

Um neun Uhr am nächsten Morgen marschierten die ersten Rekruten von Lord Venturiis Schwerer Infanterie über den Breiten Weg.

Die Wächter gingen nach draußen und sahen zu. Mehr gab es für sie ohnehin nicht zu tun.

»Ist das nicht Herrn Mumms Diener?« fragte Angua und deutete auf Willikins, der steifbeinig in der ersten Reihe marschierte.

»Ja, und der Küchenjunge schlägt die Trommel«, sagte Nobby.

»Du bist… beim Militär gewesen, nicht wahr, Fred?« erkundigte sich Karotte, als die Truppen vorbeiparadierten.

»Ja, Herr Hauptmann. Hab bei der Schweren Infanterie des Herzogs von Eorle gedient. Den Fasanrupfern.«

»Wie bitte?« entfuhr es Angua.

»So lautete der Spitzname des Regiments. Schon seit langer, langer Zeit. Damals schlugen die Leute ihr Lager in der Nähe eines Anwesens auf, fanden einen Pferch mit Fasanen und… Nun, sie mußten gewissermaßen vom Land leben und so. Tja, und deshalb trugen wir immer eine Fasanenfeder am Helm. Tradition nennt man so was.«

In Freds Gesicht erschien die Melancholie eines ehemaligen Soldaten, der sich nicht mehr an die heranstürmenden Horden erinnerte, nur noch an die romantischen Lagerfeuerabende.

»Wir hatten sogar ein Marschlied«, fuhr er fort. »Und man mußte sich sehr bemühen, um es richtig zu singen. Ich… Stimmt was nicht?«

»Oh, schon gut, Feldwebel«, sagte Angua. »Es passiert mir oft, daß ich einfach so zu lachen beginne.«

Fred Colon blickte erneut verträumt ins Nichts. »Vorher gehörte ich zur Mittelschweren Infanterie des Herzogs von Quirm. War viel los, damals.«

»Daran zweifle ich nicht«, erwiderte Karotte, während Angua zynischen Gedanken nachhing und sich fragte, wie groß der Abstand gewesen sein mochte, aus dem Fred Colon die damaligen Ereignisse beobachtet hatte. »Du scheinst viele angenehme Erinnerungen mit deiner langen militärischen Laufbahn zu verbinden.«

»Den Frauen gefiel die Uniform«, sagte Fred Colon mit dem unausgesprochenen Hinweis, daß ein heranwachsender Bursche jede Hilfe brauchte, die er bekommen konnte. »Und außerdem… äh…«

»Ja, Feldwebel?«

Colon wirkte verlegen, als bildete die gesammelte Unterwäsche der Vergangenheit plötzlich einen dicken Klumpen im Schritt der Erinnerung.

»Damals war es… einfacher, Herr Hauptmann. Ein Wächter zu sein, meine ich. Beziehungsweise ein Soldat. Man stand hier, und die anderen Burschen dort drüben waren der Feind. Man marschiert irgendwo auf, an einem Ort, wo genug Platz ist. Anschließend bezieht die Truppe Aufstellung in Form von Rechtecken, und dann gibt jemand mit bunten Federn am Helm den Angriffsbefehl, woraufhin aus den Rechtecken große Pfeile werden, und dann…«

»Bei den Göttern, geschieht so etwas tatsächlich? Ich dachte immer, so zeichnet man Schlachtpläne!«

»Nun, der alte Herzog ging immer wie nach dem Lehrbuch vor… Wie dem auch sei: Letztendlich geht es darum, sich den Rücken freizuhalten und auf jeden Burschen einzudreschen, der die falsche Uniform trägt. Aber…« Colon verzog gequält das Gesicht. »Wenn man Polizist ist… dann fällt es manchmal sehr schwer, die Guten von den Bösen zu unterscheiden, jawohl.«

»Es gibt doch auch militärische Gesetze, oder?« fragte Angua.

»Nun, ja. Doch wenn’s in Strömen regnet und man bis zu den Ei… bis zur Hüfte in toten Pferden steckt und wenn man unter solchen Umständen einen Befehl bekommt… dann kann man nicht in irgendeinem Regelbuch nachsehen, Verehrteste. Außerdem geht es in den meisten militärischen Gesetzen darum, wann es erlaubt ist, erschossen oder erschlagen zu werden.«

»Oh, ich bin sicher, daß noch mehr dahintersteckt, Feldwebel.«

»Da hast du vermutlich recht«, räumte Colon diplomatisch ein.

»Bestimmt geht es bei den betreffenden Gesetzen auch darum, keine feindlichen Soldaten zu töten, die sich ergeben haben.«

»Oh, ja, natürlich, das stimmt, Herr Hauptmann. Aber es kann natürlich nicht verboten sein, sie ein wenig hart ranzunehmen und ihnen etwas zu geben, an das sie sich später erinnern.«

»Du meinst doch nicht etwa Folter?« fragte Angua.

»Oh, nein. Aber…« Für Fred Colon führte die Straße der angenehmen Erinnerungen jetzt durch ein dunkles Tal. »Ich meine, wenn der beste Kumpel gerade einen Pfeil ins Auge bekommen hat und wenn überall um einen herum Pferde wiehern und Männer schreien und wenn man die Hosen voll hat vor Angst, ich meine, wenn man wirklich voller Angst steckt und dann auf den Feind stößt… Unter solchen Umständen verspürt man manchmal den Wunsch, ihm einen… kleinen Stups zu geben, sozusagen. Damit er in zwanzig Jahren an kalten Tagen ein dumpfes Prickeln im Bein spürt und sich an das erinnert, was er angestellt hat.«

Colon kramte in der Tasche, holte ein ziemlich kleines Buch hervor und hob es hoch.

»Dies gehörte meinem Urgroßvater«, sagte er. »Er nahm an dem kleinen Streit teil, den wir mit Pseudopolis hatten. Und meine Urgroßmutter gab ihm dieses Gebetbuch für Soldaten, weil ein Soldat alle Gebete gebrauchen kann, die es gibt, glaubt mir, und er steckte es in die oberste Tasche seiner Jacke – einen Brustharnisch konnte er sich nicht leisten –, und am nächsten Tag beim Kampf… Plötzlich kam ein Pfeil aus dem Nichts – zack! –, bohrte sich ins Buch und hielt erst an der letzten Seite. Das Loch ist ganz deutlich zu erkennen.«

»Eine Art Wunder«, kommentierte Karotte.

»Ja, ich glaube, so kann man es nennen«, pflichtete ihm Colon bei. Er blickte kummervoll auf das kleine Buch hinab. »Bei den anderen siebzehn Pfeilen hatte mein Urgroßvater nicht soviel Glück.«

Das Trommeln verklang in der Ferne. Die Wächter vermieden es, sich anzusehen.

Dann ertönte eine gebieterische Stimme: »Warum trägst du keine Uniform, junger Mann?«

Nobby drehte sich um. Die Worte stammten von einer älteren Frau, deren Gesicht an einen Truthahn erinnerte. Ihr strenger Blick schien bereit zu sein, die Todesstrafe zu verhängen.

»Meinst du mich? Ich habe bereits eine.« Nobby deutete auf seinen verbeulten Helm.

»Eine richtige Uniform«, sagte die Frau scharf und reichte ihm eine weiße Feder. »Was willst du unternehmen, wenn die Klatschianer kommen und uns in unseren Betten schänden?«

Sie bedachte den Rest der Wache mit einem finsteren Blick und eilte weiter. Angua bemerkte einige weitere Frauen ihrer Art unter den Zuschauern. Hier und dort blitzte es weiß.

»In einem solchen Fall wäre ich bereit, die Klatschianer für sehr mutig zu halten«, sagte Karotte. »Übrigens, Nobby: Die weiße Feder soll dich beschämen und dazu bringen, ebenfalls Soldat zu werden.«

»Oh, wenn nicht mehr dahintersteckt…«, erwiderte Nobby, der sich von Natur aus nicht schämen konnte. »Was soll ich damit anfangen?«

»Da fällt mir ein…«, hub Feldwebel Colon aufgeregt an. »Habe ich euch schon erzählt, welche Worte Lord Rust von mir zu hören bekam?«

»Schon siebzehnmal«, erwiderte Angua und beobachtete die Frau mit den Federn. Wie im Selbstgespräch fügte sie hinzu: »›Kehr mit deinem Schild oder darauf zurück.‹«

»Ob die Frau wohl bereit ist, mir noch mehr Federn zu geben?« fragte Nobby.

»Wie war das?« fragte Karotte.

»Diese Federn«, erklärte Nobby. »Offenbar sind’s echte Gänsefedern. Die könnten recht nützlich sein, wenn ich noch mehr davon bekäme…«

»Nein, ich meine, was hat Angua gerade gesagt?« fragte Karotte erneut.

»Was? Oh… damit verabschiedeten Frauen ihre Männer, wenn sie in den Krieg zogen. Kehr mit deinem Schild oder darauf zurück.«

»Auf dem Schild?« wiederholte Nobby. »Du meinst… ihn als Schlitten oder so benutzen?«

»Nein, ich meine ›tot‹«, sagte Angua. »Es bedeutet: Kehre als Sieger oder gar nicht zurück.«

»Nun, ich bin immer mit meinem Schild heimgekehrt«, sagte Nobby. »Kein Problem.«

Colon seufzte. »Du bist nicht nur mit deinem Schild heimgekehrt, sondern auch mit den Schilden aller anderen, einem Beutel voller Zähne und fünfzehn Paar noch warmer Stiefel. In einem Karren.«

»Nun, es hat doch nur dann Sinn, in den Krieg zu ziehen, wenn man weiß, daß man auf der Gewinnerseite steht«, entgegnete Nobby und steckte sich die weiße Feder an den Helm.

»Du bist immer auf der Gewinnerseite, Nobby. Weil du dich am Rand des Schlachtfelds herumtreibst und beobachtest, wer den Sieg erringt. Und dann befreist du irgendeinen armen Gefallenen von der richtigen Uniform und ziehst sie an. Angeblich lassen die Generäle beobachten, welche Uniform du trägst – um auf diese Weise zu erfahren, welchen Verlauf die Schlacht nimmt.«

»Viele Soldaten haben in vielen verschiedenen Regimentern gedient«, sagte Nobby.

»Ja, das stimmt«, räumte Colon ein. »Aber nicht während der gleichen Schlacht.«

Sie betraten das Wachhaus. Die meisten anderen Wächter der aktuellen Schicht hatten sich den Tag freigenommen. Niemand von ihnen wußte, wer die Einsatzbefehle erteilte, und ohne diese Anweisungen gab es nichts zu tun. Die einzigen noch anwesenden Angehörigen der Wache waren diejenigen, die sich immer im Dienst glaubten – und die neuen Rekruten, die noch voller Enthusiasmus steckten.

»Herrn Mumm fällt bestimmt etwas ein«, sagte Karotte. »Nun, ich begleite die Goriffs zurück zu ihrem Lokal. Herr Goriff meinte, daß er packen und die Stadt verlassen will. Viele Klatschianer machen sich auf den Weg. Verdenken kann man’s ihnen nicht.«

 

Träume stiegen wie Blasen auf, als Mumm aus den schwarzen Tiefen des Schlafs zurückkehrte.

Normalerweise wußte er den Augenblick des Erwachens sehr zu schätzen. Dann sah er die Lösungen für seine Probleme. Teile seines Gehirns schienen auch nachts die Arbeit fortzusetzen, um ihm das Ergebnis ihrer Bemühungen zu präsentieren, sobald er die Augen öffnete.

Doch jetzt kamen nur Erinnerungen. Mumm verzog das Gesicht. Er entsann sich an etwas anderes und stöhnte. Wieder hörte er ein bestimmtes Geräusch, verursacht von seiner Dienstmarke auf dem Tisch in der Rattenkammer. Er fluchte leise.

Er schlug die Decke zurück und streckte die Hand nach dem Nachtschränkchen aus.

»Bimmel-bimmel-bamm!«

»O nein… Na schön, wie spät ist es?«

»Ein Uhr mittags! Hallo, hier Namen einfügen!«

Mumm starrte verschlafen zum Disorganizer. Eines Tages, so wußte er, würde ihm tatsächlich nichts anderes übrigbleiben, als zu versuchen, das Handbuch des verdammten Dings zu verstehen. Entweder das, oder er würde es von einer hohen Klippe werfen.9

»Was…«, begann er und stöhnte erneut. Er erinnerte sich gerade an ein dumpfes Knirschen, das vom Stoff des entrollten Turbans ausging, als er ihn mit seinem Gewicht belastete.

»Sam?« Die Schlafzimmertür öffnete sich, und Sybil kam mit einer Tasse herein.

»Ja, Schatz?«

»Wie fühlst du dich?«

»Ich habe blaue Flecken auf den blauen Fle…« Noch eine Erinnerung kletterte aus der Grube der Schuld. »Lieber Himmel, habe ich ihn wirklich einen Haufen Sch… genannt?«

»Ja«, bestätigte seine Frau. »Fred Colon kam heute morgen vorbei und hat mir alles erzählt. Seine Beschreibungen waren sehr anschaulich. Ich bin mal mit Ronnie Rust ausgegangen. Gehört zur kühlen Sorte.«

Noch eine Erinnerung platzte wie eine Blase Sumpfgas in Mumms Kopf.

»Hat Fred dir erzählt, daß er Rust aufgefordert hat, sich seine Dienstmarke dorthin zu stecken, wo die Sonne nie scheint?«

»Ja. Dreimal. Diese Tatsache schien einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Nun, wie ich Ronnie kenne, braucht er einen Hammer dazu.«

Mumm hatte sich schon vor einer ganzen Weile daran gewöhnt, daß sich die Angehörigen der Aristokratie gegenseitig beim Vornamen nannten.

»Und hat dir Fred sonst noch etwas gesagt?« fragte er zaghaft.

»Ja. Er erzählte auch vom Lokal, dem Feuer und so weiter. Ich bin stolz auf dich.« Sybil gab ihm einen Kuß.

»Was mache ich jetzt?« brachte Mumm hervor.

»Trink erst einmal deinen Tee. Anschließend wäschst und rasierst du dich.«

»Ich sollte zum Wachhaus gehen und…«

»Waschen und Rasieren! Im Krug ist warmes Wasser.«

Als Sybil gegangen war, stand Mumm auf und wankte ins Badezimmer. Auf dem marmornen Becken stand tatsächlich ein großer Krug mit warmem Wasser.

Er betrachtete das Gesicht im Spiegel. Unglücklicherweise gehörte es ihm. Wenn er sich zuerst rasierte… dann konnte er jene Teile wegspülen, die übrigblieben.

Fragmente der vergangenen Nacht zogen immer wieder an seinem inneren Auge vorbei. Das mit dem klatschianischen Wächter tat ihm leid, aber manchmal konnte man sich nicht genug Zeit nehmen, die Dinge zu erklären…

Er bedauerte jetzt, daß er sich einfach so von seiner Dienstmarke getrennt hatte. Die Zeiten hatten sich geändert. Er trug jetzt Verantwortung. Er hätte im Amt bleiben und dafür sorgen sollen, daß alles etwas weniger schlimm wurde…

Nein. So etwas funktionierte nie.

Er schaffte es, den Seifenschaum im Gesicht zu verteilen. Die Aufruhrakte! Bei den Göttern… Vorsichtig ließ er die Rasierklinge über die Wange gleiten. Rusts trübe Augen blickten aus seinen Erinnerungen. Mistkerl! Männer wie er hielten die Wache tatsächlich für eine Art Schäferhund, dessen Gebell den Schafen den richtigen Weg zeigte und der es auf keinen Fall wagte, den Schäfer zu beißen…

O ja. Mumm wußte ganz genau, wo der Feind steckte.

Aber…

Ohne seine Dienstmarke war er kein Wächter mehr und konnte nichts ausrichten…

Noch eine Erinnerung regte sich, etwas später als die anderen.

Seifenschaum tropfte auf Mumms Hemd, als er Vetinaris versiegelten Brief hervorholte und ihn mit dem Rasiermesser öffnete.

Im Innern befand sich ein leeres Blatt Papier. Er drehte es hin und her – weder auf der einen noch auf der anderen Seite stand etwas geschrieben. Verwundert betrachtete Mumm den Umschlag.

Sir Samuel Mumm, Ritter.

Nett von dem Patrizier, so genau zu sein, dachte er. Aber welchen Sinn hatte es, eine Mitteilung zu schicken, die überhaupt nichts mitteilte? Andere Leute hätten vielleicht geistesabwesend ein leeres Blatt in den Umschlag gesteckt, aber Lord Vetinari sicher nicht. Warum schickte er einen Brief, in dem er Mumm daran erinnerte, daß er ein Ritter war? Diese peinliche Tatsache war ihm durchaus bewußt…

Eine weitere Erinnerungsblase zerplatzte, nicht lauter als bei einer Maus, die während eines Orkans Luft aus ihrem Darm entweichen ließ.

Wer hatte davon gesprochen? Jeder Gentleman…

Mumm starrte ins Nichts. Er hatte doch den Status eines Gentlemans, oder? Es war offiziell.

Er gab keinen Schrei von sich, und er lief nicht los. Statt dessen beendete er die Rasur, wusch sich und wechselte in aller Ruhe die Unterwäsche.

Unten hatte Sybil eine Mahlzeit für ihn vorbereitet. Sie war keine besonders gute Köchin, doch für Mumm gab es daran nichts auszusetzen, denn er war auch kein besonders guter Esser. Nachdem er sich ein Leben lang auf und manchmal auch von der Straße ernährt hatte, bevorzugte sein Magen kleine, knusprige und braune Dinge, die Nahrungsgruppe der Götter. Und bei Sybil konnte er sich darauf verlassen, daß sie die Pfanne immer zu lange auf dem Drachen ließ.

Sie musterte ihn aufmerksam, als er angebranntes Rührei aß und dabei ins Leere blickte. Sie verhielt sich wie eine Person, die ein tragbares Sicherheitsnetz bei sich hatte und einem Drahtseilakrobaten zusah.

Nach einer Weile nahm sich Mumm das Würstchen vor und fragte: »Haben wir Bücher übers Rittertum, Schatz?«

»Hunderte, Sam.«

»Gibt es auch eins, in dem steht, was es damit auf sich hat? Ich meine, was man als Ritter tun muß, zum Beispiel? Welche Verantwortung man trägt und so weiter?«

»Ich schätze, die meisten geben darüber Auskunft.«

»Gut. Ich glaube, ich lese ein wenig.« Mumm bohrte die Gabel in den Schinken, der mit einem angemessenen Knirschen splitterte.

Nach dem Essen begab er sich in die Bibliothek. Zwanzig Minuten später kehrte er zurück, um einen Stift und Papier zu holen.

Zehn Minuten danach brachte ihm Lady Sybil eine Tasse Kaffee. Mumm saß halb verborgen hinter einem großen Stapel Bücher und schien ganz in Das Leben der Ritter vertieft zu sein. Stumm verließ sie das Zimmer und suchte ihr Arbeitszimmer auf, um dort die Unterlagen der Drachenzucht auf den neuesten Stand zu bringen.

Eine Stunde später hörte sie, wie ihr Mann in den Flur trat.

Er summte leise, und sein verträumter Gesichtsausdruck wies darauf hin, daß ihm die Idee gekommen war, die nun den größten Teil seiner zerebralen Kapazität beanspruchte. Darüber hinaus offenbarte er wieder jene Aura zorniger Unschuld, die einen integralen Bestandteil seiner Mummhaftigkeit darstellte.

»Gehst du in die Stadt, Sam?«

»Ja. Und ich habe vor, gewissen Leuten ordentlich in den Hintern zu treten.«

»Oh, gut. Gib nur acht, daß du warm angezogen bist.«

 

Die Goriffs folgten Karotte stumm.

»Ich bedaure das mit deinem Lokal, Herr Goriff«, sagte Karotte.

Der Klatschianer schwankte unter der schweren Last, die er trug. »Wir können woanders ein neues einrichten«, erwiderte er.

»Wir behalten es im Auge, das verspreche ich dir«, meinte Karotte. »Und… du kannst zurückkehren, wenn alles vorbei ist.«

»Danke.«

Goriffs Sohn sagte etwas auf Klatschianisch, dem ein kurzer Familienstreit folgte.

»Ich verstehe eure Gefühle«, sagte Karotte und lief rot an. »Obwohl die Ausdrucksweise etwas… deftig ist.«

»Meinem Sohn tut es leid«, entgegnete Goriff sofort. »Er vergaß, daß du Klatschianisch sprichst…«

»Nein, es tut mir nicht leid!« widersprach der Junge. »Warum laufen wir weg? Wir wohnen hier! Ich bin nie in Klatsch gewesen!«

»Dann dürfte der dortige Aufenthalt für dich besonders interessant sein«, sagte Karotte. »Wie ich hörte, gibt es in Klatsch viele interessante…«

»Bist du dumm?« fragte Janil. Er schüttelte die Hand seines Vaters ab und wandte sich an Karotte. »Es ist mir gleich! Komm mir bloß nicht mit Unsinn in der Art von ›Der Mond geht über den Bergen der Sonne auf‹ und so. Das habe ich oft genug gehört. Ich bin hier zu Hause!«

»Nun, du solltest besser auf deine Eltern hören…«

»Warum? Mein Vater hat immerzu gearbeitet, und jetzt verjagt man ihn! Das ist nicht richtig! Wir sollten bleiben und verteidigen, was uns gehört!«

»Äh… es ist falsch, das Gesetz selbst in die Hand zu nehmen…«

»Warum denn?«

»Dazu sind wir da…«

»Aber ihr Wächter laßt zu, daß alles immer ungerechter wird!«

Ein Schwall klatschianischer Worte kam aus Herrn Goriffs Mund.

»Mein Vater meint, daß ich mich entschuldigen muß«, sagte Janil verdrießlich. »Es tut mir leid.«

»Mir auch«, erwiderte Karotte.

Herr Goriff zuckte mit den Schultern, und zwar auf jene recht komplizierte Art, mit der Erwachsene auf Probleme reagieren, die Heranwachsende betreffen.

»Ihr kehrt zurück, da bin ich ganz sicher«, sagte Karotte.

»Wir werden sehen.«

Die Familie ging hinunter zum Kai und näherte sich dort einem wartenden klatschianischen Schiff. An der Reling standen Menschen, die aus der Stadt flohen, mit so vielen Dingen, wie sie tragen konnten. Sie wollten nicht warten, bis sie nur noch mit dem fliehen mußten, was sie am Leib trugen. Die Wächter empfingen feindselige Blicke.

»Rust vertreibt die Klatschianer doch nicht aus ihren Häusern, oder?« fragte Angua.

»Wir wissen, aus welcher Richtung der Wind weht«, erwiderte Goriff ruhig.

Karotte schnupperte in der salzigen Luft. »Er weht von Klatsch«, stellte er fest.

»Für dich vielleicht«, sagte Goriff.

Hinter ihnen knallte eine Peitsche, und sie traten beiseite, als eine Kutsche übers Pflaster klapperte. Eine Gardine am Fenster wurde kurz beiseite gezogen, und zum Vorschein kam ein Gesicht, das aus Bart, Goldzähnen und Narben bestand. Eine Sekunde später verwehrte die Gardine wieder den Blick ins Innere der Kutsche.

»Das ist er, nicht wahr?«

Angua brummte. Sie hatte die Augen geschlossen, wie immer, wenn sie versuchte, allein mit der Nase zu sehen…

»Gewürznelken«, murmelte sie und griff nach Karottes Arm.

»Lauf nicht hinterher! Es sind Bewaffnete an Bord. Wie würden sie wohl reagieren, wenn sie einen Soldaten sähen, der auf sie zuläuft?«

»Ich bin kein Soldat!«

»Wieviel Zeit nähmen sich die Klatschianer, um den Unterschied herauszufinden?«

Die Kutsche bahnte sich einen Weg durch die Menge der Wartenden am Dock. Hinter ihr schloß sich die entstandene Schneise wieder.

»Kisten werden entladen. Leider kann ich keine Einzelheiten erkennen.« Karotte hielt sich die Hand über die Augen. »Die Leute würden es bestimmt verstehen, wenn…«

71-Stunden-Ahmed betrat den Kai und sah zu den Wächtern zurück. Es schimmerte kurz, als er lächelte. Sie beobachteten, wie er die Hand zur Schulter hob und nach dem großen krummen Schwert griff.

»Ich kann ihn nicht einfach so entkommen lassen«, sagte Karotte. »Er ist ein Verdächtiger! Und jetzt lacht er über uns!«

»Er genießt diplomatische Immunität«, erwiderte Angua. »Und er weiß viele Bewaffnete in der Nähe.«

»Ich verfüge über die Kraft von zehn, weil ich reinen Herzens bin«, verkündete Karotte.

»Tatsächlich? Das dort unten sind elf.«

71-Stunden-Ahmed warf das Schwert hoch in die Luft. Es drehte sich zweimal mit einem Geräusch, das nach Wumm-wumm klang. Dann streckte er die Hand aus und fing das herabfallende Schwert am Heft auf.

»Genau das hat Herr Mumm gemacht«, brachte Karotte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Er verspottet uns…«

»Wenn du das Schiff betrittst, bist du so gut wie tot«, sagte der hinter ihnen stehende Herr Goriff. »Ich kenne den Mann.«

»Tatsächlich? Woher?«

»Man fürchtet ihn in ganz Klatsch. Das ist 71-Stunden-Ahmed!«

»Ja, aber warum…«

»Du hast noch nichts von ihm gehört? Außerdem ist er ein D’reg!« Frau Goriff zupfte am Ärmel ihres Mannes.

»D’reg?« wiederholte Angua.

»Ein kriegerischer Wüstenstamm«, sagte Karotte. »Sehr gefährlich. Legt großen Wert auf Ehre. Es heißt, wenn man einen D’reg zum Freund hat, so hat man ihn für den Rest des Lebens zum Freund.«

»Und wenn er kein Freund ist?«

»Ein solcher Zustand währt höchstens fünf Sekunden.«

Karotte zog sein Schwert. »Trotzdem«, beharrte er. »Wir dürfen ihn nicht entkommen lassen…«

»Ich habe bereits zuviel gesagt«, meinte Herr Goriff. »Wir müssen jetzt gehen.« Die Familie griff nach ihren Bündeln.

»Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, mehr über ihn herauszufinden.« Angua deutete zur Kutsche.

Zwei geschmeidige, langhaarige und ausgesprochen anmutig wirkende Hunde zerrten an ihren Leinen, als man sie über den Landungssteg führte.

»Klatschianische Jagdhunde«, sagte Angua. »Beim klatschianischen Adel sehr beliebt, soweit ich weiß.«

»Sie sehen fast aus wie…« Karotte unterbrach sich, als der Groschen fiel. »Nein, ich kann nicht zulassen, daß du allein an Bord gehst. Wenn es dort einen Zwischenfall gibt…«

»Meine Chancen wären weitaus größer als deine, glaub mir«, erwiderte Angua rasch. »Wie dem auch sei: Bestimmt läuft das Schiff erst mit der Flut aus.«

»Es ist zu gefährlich.«

»Nun, angeblich sind es unsere Feinde.«

»Ich meine für dich

»Wieso?« fragte Angua. »Ich habe nie von Werwölfen in Klatsch gehört. Die Klatschianer wissen wahrscheinlich gar nicht, was uns in Schwierigkeiten bringen könnte.«

Sie löste das Lederhalsband, an dem ihre Dienstmarke baumelte, und reichte es Karotte.

»Sei unbesorgt«, fügte sie hinzu. »Wenn es zum Schlimmsten kommt, springe ich einfach über Bord.«

»In den Fluß

»Selbst der Ankh kann keinen Werwolf umbringen.« Angua blickte in das trübe Wasser. »Hoffe ich jedenfalls.«

 

Feldwebel Colon und Korporal Nobbs waren auf Streife. Sie wußten nicht genau, warum sie Streife gingen und was sie unternehmen sollten, wenn sie ein Verbrechen wahrnahmen – glücklicherweise waren sie durch jahrelange Erfahrung in der Lage, selbst große Verbrechen zu übersehen. Es war reine Angewohnheit: Sie waren Wächter, und deshalb gingen sie Streife. Ein bestimmtes Ziel gab es dabei nicht. Es war gewissermaßen die Essenz des Streifegehens. Nobby wurde dabei von einem ziemlich großen, in Leder gebundenen Buch behindert, das er in beiden Armen trug.

»Ein Krieg kann der Stadt bestimmt nicht schaden«, sagte Feldwebel Colon nach einer Weile. »Das gibt den Leuten wieder mehr Rückgrat. Heutzutage ist alles vor die Hunde gekommen.«

»Nicht so wie damals, als wir Kinder waren, Feldwebel.«

»Da hast du ganz recht, Nobby. Nicht so wie damals, als wir Kinder waren.«

»Damals vertrauten sich die Leute gegenseitig, stimmt’s, Feldwebel?«

»Ja, die Leute begegneten sich mit Vertrauen, Nobby.«

»Und sie brauchten ihre Türen nicht abzuschließen, habe ich recht?«

»Das stimmt, Nobby. Und die Leute waren immer bereit, Hilfe zu leisten. Sie gingen in den Häusern anderer Leute ein und aus.«

»Ja, Feldwebel«, sagte Nobby mit Nachdruck. »Ich weiß, daß in unserer Straße niemand die Tür abschloß.«

»Genau das meine ich. Darum geht’s.«

»Weil die verdammten Mistkerle sogar die Schlösser klauten.«

Colon dachte darüber nach.

»Ja, aber wenigstens beklauten sie sich gegenseitig. Ich meine, es waren keine Ausländer, die stahlen.«

»Ja.«

Sie schlenderten weiter, und eine Zeitlang hing jeder seinen eigenen Gedanken nach.

»Feldwebel?«

»Ja, Nobby?«

»Was bedeutet ›Mariage‹?«

»Mariage?«

»Ich schätze, es ist ein Ort. Ein ziemlich warmer noch dazu, glaube ich.«

»Oh, Mariage«, sagte Colon und ließ seiner Phantasie freien Lauf. »Ja. Natürlich. So nennt man einen Ort in Klatsch. Dort gibt es jede Menge Sand. Und Berge. Wichtigster Exportartikel sind Datteln. Wieso fragst du?«

»Oh… nur so.«

»Nobby?«

»Ja, Feldwebel?«

»Warum schleppst du das große Buch mit dir herum?«

»Ha, tolle Idee, Feldwebel. Ich hab gehört, was du über das Buch deines Urgroßvaters erzählt hast, und deshalb habe ich beschlossen, mir das hier vom alten Waschtopf auszuleihen – für den Fall, daß es zum Kampf kommt. Das Buch Om. So heißt es. Und es ist fast fünfzehn Zentimeter dick.«

»Für die Brusttasche einer Uniformjacke scheint es mir ein wenig zu groß zu sein. Ehrlich gesagt: Es ist sogar zu groß für einen Karren

»Ich will ein Gestell bauen, um es zu tragen. Selbst wenn jemand mit einem Langbogen auf mich schießt – ich wette, der Pfeil käme höchstens bis zu den Apokryphen.«

Die beiden Wächter sahen auf, als sie ein vertrautes Knarren hörten.

Der Kopf eines Klatschianers schwang im Wind hin und her.

»Was hältst du von einem Bier?« fragte Feldwebel Colon. »Der Große Anjie braut eins, das es in sich hat.«

»Darauf sollten wir besser verzichten, Feldwebel. Herrn Mumms Stimmung ist derzeit ziemlich mies.«

Colon seufzte. »Ja, du hast recht.«

Nobby blickte erneut zu dem Kopf empor. Er bestand aus Holz. Im Lauf der Jahrhunderte war er immer wieder neu bemalt worden. Der Klatschianer lächelte sehr fröhlich für jemanden, der sich nie wieder ein Hemd kaufen mußte.

»Zum klatschianischen Kopf«, sagte Colon. »Mein Großvater erzählte mir, daß sich sein Großvater noch an eine Zeit erinnerte, als ein echter Kopf über der Tür hing. War damals natürlich längst auf die Größe eine Walnuß geschrumpft.«

»Eigentlich ein bißchen scheußlich«, sagte Nobby. »Ich meine, einen Kopf aufzuspießen und ihn über den Eingang einer Taverne zu hängen.«

»Nein, Nobby. Kriegsbeute, verstehst du? Jemand kehrte aus einem der damaligen Kriege mit einem Souvenir heim, befestigte es an einem Pfahl und eröffnete eine Taverne. Zum klatschianischen Kopf. Sollte ihnen eine Lehre sein.«

»Ich bekam schon Schwierigkeiten damit, nur weil ich ein paar Stiefel mitgehen ließ«, meinte Nobby.

»Damals konnte man sich mehr erlauben«, erklärte Colon. »Die Zeiten waren… robuster.«

»Bist du jemals einem Klatschianer begegnet, Feldwebel?« fragte Nobby, als sie durch die stille Straße schritten. »Ich meine, einem wilden.«

»Äh… nein… Aber weißt du, was? Jeder von ihnen darf drei Frauen haben! Das ist kriminell, jawohl!«

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Nobby. »Immerhin habe ich überhaupt keine.«

»Und sie essen komisches Zeugs. Mit Curry und so.«

Nobby dachte darüber nach. »So wie wir, wenn wir spät abends noch unterwegs sind?«

»Nun… äh… ja, aber die Klatschianer kochen das Zeug nicht richtig…«

»Du meinst, bei ihnen ist es nicht ohrschmalzgelb, und es enthält auch keine Erbsen und Rosinen, so wie bei deiner Mutter?«

»Genau! In klatschianischem Curry kann man so lange herumstochern, wie man will – man findet kein einziges Kohlrübenstück.«

»Außerdem habe ich gehört, daß sie Schafsaugen essen«, meinte Nobby, der internationale Gastro-Gnom.

»Stimmt.«

»Und sie rühren keine ganz gewöhnlichen Dinge an wie zum Beispiel Schafshoden oder Bries?«

»Äh… nein.«

Colon hatte den Eindruck, daß er irgendwie auf den Arm genommen wurde.

»Hör mal, Nobby: Letztendlich läuft es darauf hinaus, daß die Klatschianer nicht die richtige Hautfarbe haben, und damit hat es sich.«

»Gut, daß du das herausgefunden hast, Fred!« Nobby klang so erfreut, daß Colon fast glaubte, er könnte es tatsächlich ernst meinen.

»Nun, ist doch ganz klar«, erwiderte er.

»Äh… und was ist die richtige Hautfarbe?« fragte Nobby.

»Weiß natürlich!«

»Nicht Ziegelsteinrot? Dein Gesicht…«

»Willst du mich vielleicht aufziehen, Korporal Nobbs?«

»Käme mir nie in den Sinn, Feldwebel. Äh… welche Hautfarbe habe ich?«

Feldwebel Colon betrachtete ihn eingehend. An Korporal Nobbs konnte man Farben finden, die für alle Klimazonen der Scheibenwelt geeignet waren. Einige weitere wurden nur in medizinischen Fachbüchern erwähnt.

»Bei der weißen Hautfarbe geht es in erster Linie um… um… eine innere Einstellung«, behauptete Colon. »So wie… einer ordentlichen Arbeit nachgehen und ein anständiges Leben führen. Und sich regelmäßig waschen.«

»Nicht auf der faulen Haut liegen und so.«

»Genau.«

»Oder… rund um die Uhr schuften, so wie Goriff.«

»Nobby…«

»Und seine Kinder sieht man nie mit schmutziger Kleidung…«

»Versuchst du etwa, dich über mich lustig zu machen, Nobby? Du weißt doch, daß wir besser sind als die Klatschianer. Ich meine, was hätte es sonst für einen Sinn, gegen sie zu kämpfen? Und außerdem: Wenn es tatsächlich zum Krieg kommt, könntest du für solch verräterisches Gerede verhaftet werden.«

»Willst du gegen die Klatschianer kämpfen, Fred?«

Fred Colon kratzte sich am Kinn. »Nun, als jemand, der über umfassende militärische Erfahrung verfügt, bleibt mir wohl gar nichts anderes übrig…«

»Was hast du vor? Willst du dich einem Regiment anschließen und an die Front ziehen?«

»Nun… ich dachte eher daran, meine umfassenden militärischen Erfahrungen für die Ausbildung zu nutzen. Ja, ich sollte besser hierbleiben und aus disziplinlosen Rekruten gute Soldaten machen.«

»Du möchtest also gegen die Klatschianer kämpfen, indem du hier in der Stadt bleibst, wo nicht gekämpft wird?«

»Jeder von uns muß seine Pflicht erfüllen, Nobby. Wenn es nach mir ginge, würde ich mit den Truppen nach Klatsch reisen und die Handtuchköpfe kalten Stahl schmecken lassen.«

»Hättest du überhaupt keine Angst vor ihren rasiermesserscharfen Schwertern?«

»Ich würde verächtlich über sie lachen, Nobby.«

»Aber angenommen, die Klatschianer greifen Ankh-Morpork an. Dann wäre die Front hier, wo du dich befindest. Und dann wäre es dort ruhig, wo eigentlich die Front sein müßte.«

»Vielleicht sollte ich mich um einen Posten in der Mitte bewerben…«

»Meinst du die Mitte der Front oder…«

»Meine Herren?«

Die beiden Wächter drehten sich um und stellten fest, daß ihnen jemand gefolgt war: ein mittelgroßer Mann mit erstaunlichem Kopf. Er war nicht etwa kahl. Im Gegenteil: Das lange, lockige Haar reichte dem Fremden bis auf die Schulter, und sein Bart bot Platz genug, um eine ganze Kükenschar darin zu verbergen. Doch sein Kopf stieg durch die Mähne auf wie eine Kuppel, die immer weiter nach oben anschwoll.

Er lächelte freundlich.

»Stehe ich zufälligerweise dem heldenhaften Feldwebel Colon und dem…« Der Mann musterte Nobby, und der Ausdruck in seinem heiteren Gesicht brachte innerhalb von zwei oder drei Sekunden das ganze Spektrum von Erstaunen über Abscheu und Interesse bis zu Anteilnahme hinter sich. »Und dem Korporal Nobbs gegenüber?« beendete er den Satz.

»Das sind wir, Bürger«, bestätigte Colon.

»Ah, gut. Ich habe extra nach euch gesucht. Wißt ihr, es ist wirklich bemerkenswert. Niemand ist jemals ins Bootshaus eingebrochen, obwohl ich zugeben muß, daß ich die Schlösser gut konzipiert habe. Und ich mußte nur die Ledersachen an den Verbindungsstellen zurechtrücken und alles ölen und… Oh, entschuldigt bitte, ich hab’s schon wieder zu eilig. Nun, wie lautete die Nachricht, die ich euch überbringen sollte…? Worum ging es dabei? Ich glaube, um eure Hände oder so…« Er griff in den großen Leinenbeutel zu seinen Füßen und holte ein langes Rohr hervor, das er Nobby reichte.

»Ich bitte um Verzeihung«, fuhr er fort, zog ein kleineres Rohr aus dem Beutel und gab es Colon. »Ich muß mich sehr beeilen, es war einfach nicht genug Zeit, um das Projekt auf angemessene Weise abzuschließen, und ehrlich gesagt: Das Material ließ zu wünschen übrig…«

Colon betrachtete das Rohr. Am einen Ende lief es spitz zu.

»Das ist eine Feuerwerksrakete«, sagte er. »Sieh nur, hier steht ›Ein prächtiges Durcheinander aus bunten Kugeln und Sternen‹…«

»Ja, ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte der Mann und zog einen komplexen Apparat aus Holz und Metall aus dem Beutel. »Wenn ich das Rohr bitte zurückhaben könnte, Korporal…« Er nahm es entgegen und schraubte den Apparat an das eine Ende. »Danke… ich fürchte, ohne meine Drehbank und die Esse mußte ich ein wenig improvisieren und mit dem zurechtkommen, was gewissermaßen herumlag. Wenn ich jetzt bitte auch die Rakete zurückhaben könnte… Herzlichen Dank.«

»Ohne einen Stock funktioniert sie nicht richtig«, sagte Nobby.

»Oh, doch, es geht auch ohne«, erwiderte der Mann. »Dann sind sie nur nicht ganz so präzise.«

Er hob das Rohr an die Schulter und blickte durch ein kleines Drahtgitter.

»Ich glaube, das genügt«, sagte er.

»Außerdem sollte man in Deckung gehen, nachdem man die Lunte angezündet hat«, fügte Nobby hinzu. »Man kann kaum kontrollieren, wohin die Dinger fliegen.«

»Oh, das ist sehr wohl möglich«, widersprach Leonard von Quirm und wandte sich den beiden Wächtern zu.

Colon sah die Spitze der Rakete in den Tiefen des Rohrs. Seine Phantasie zeigte ihm jähe Bilder von bunten Sternen und Kugeln.

»Nun, offenbar sollt ihr beide diese Gasse hier betreten und mich begleiten«, sagte Leonard. »Es tut mir sehr leid, aber Seine Exzellenz hat mir in allen Einzelheiten erklärt, warum die Bedürfnisse einer Gesellschaft manchmal wichtiger sind als die Rechte einzelner Personen. Oh, und jetzt erinnere ich mich wieder: Ihr sollt die Hände heben.«

 

Sand bedeckte den großen Tisch in der Rattenkammer.

Lord Rust empfand fast so etwas wie Wohlbehagen, als er darauf hinabblickte. Kleine Quadrate symbolisierten Städte und Siedlungen; aus Holz geschnitzte Palmen symbolisierten die bekannten Oasigen. Zwar fühlte Lord Rust ein wenig Unbehagen bei dem Wort »Oasigen«, aber er betrachtete die Darstellung und sah, daß sie gut war. Immerhin handelte es sich um eine Karte von Klatsch, und alle wußten, daß Klatsch zum größten Teil aus Sand bestand, was der ganzen Sache einen besonders befriedigenden Aspekt verlieh, und zwar auf existentielle Art und Weise. Obwohl der Sand vom Haufen hinter der Töpferei des Trolls Kreidig stammte und nicht nur Zigarettenstummel enthielt, sondern auch Katzendreck, der in einer echten Wüste vermutlich nicht vorhanden war, zumindest nicht in dieser Größenordnung, wenn man den Maßstab berücksichtigte.

»Dies wäre eine gute Stelle, um die Truppen an Land zu bringen«, sagte Lord Rust und zeigte mit dem Stock darauf.

Sein persönlicher Adjutant versuchte sich nützlich zu machen. »Die Halbinsel El Kinte«, sagte er. »Dort ist der Abstand zwischen Ankh-Morpork und Klatsch am geringsten.«

»Genau! Was für uns bedeutet, daß die Überfahrt nicht so lange dauert.«

»Ausgezeichnet, Herr«, sagte Leutnant Hornett. »Aber… meinst du nicht, daß uns der Feind dort erwartet? Immerhin ist es ein offensichtlicher Landungsplatz.«

»Für den geübten militärischen Denker ist er keineswegs offensichtlich!« entgegnete Lord Rust. »Der Feind wird uns nicht dort erwarten, weil es so offensichtlich ist, daß er uns dort erwarten sollte, verstehst du?«

»Soll das heißen… die Klatschianer glauben, nur ein Vollidiot wäre fähig, seine Truppen ausgerechnet dort an Land gehen zu lassen?«

»Genau! Und die Klatschianer wissen natürlich, daß wir keine Idioten sind, und deshalb rechnen sie bestimmt nicht damit, daß wir dort an Land gehen. Vermutlich erwarten sie uns…« Rusts Stock bohrte sich in den Sand,»… hier.«

Hornett sah genauer hin. Draußen auf der Straße begann jemand zu trommeln.

»Oh, du meinst Eritor«, sagte er. »Dort gibt es einen gut verborgenen Bereich zur Landung, und nach einem zweitägigen Gewaltmarsch durch geschütztes Gelände wäre unsere Streitmacht im Herzen des gegnerischen Reiches, Herr.«

»Genau!«

»Eine Landung bei El Kinte hingegen würde einen dreitägigen Marsch über Sanddünen und vorbei an der befestigten Stadt Gebra bedeuten…«

»Genau. Weite, offene Bereiche, in denen wir die Kunst des Krieges praktizieren können.« Lord Rust sprach lauter, um das Trommeln zu übertönen. »So regelt man diese Dinge. Eine entscheidende Schlacht. Wir auf der einen Seite, die Klatschianer auf der anderen. SO GEHT MAN VOR, UM…«

Er warf den Zeigestock beiseite. »Welcher Narr macht einen derartigen Lärm?«

Der Adjutant ging zum Fenster und sah hinaus. »Es ist jemand, der Rekruten anwirbt, Herr.«

»Aber wir sind doch alle hier!«

Der Adjutant zögerte wie jemand, der jähzornigen Männern schlechte Nachrichten bringen muß.

»Es ist Mumm, Herr…«

»Er rekrutiert für die Wache

»Äh… nein, Herr. Für ein Regiment. Auf der Fahne steht: ›Sir Samuel Mumms Erste Infanterie‹.«

»So eine Unverschämtheit. Geh und… nein, ich kümmere mich selbst darum!«

Draußen auf der Straße hatten sich inzwischen ziemlich viele Leute eingefunden. In der Mitte dieser Menge ragte die große Gestalt des Obergefreiten Dorfl auf. Wenn ein Golem zu trommeln begann, so wagte es niemand, zu ihm zu gehen und ihn zu bitten, damit aufzuhören. Lord Rust bildete die einzige Ausnahme. Er trat an Dorfl heran und riß ihm die Trommelstöcke aus den tönernen Händen.

»Ja, in der Ersten Infanterie ihr könnt führen ein ganz neues Leben!« donnerte Detritus, der nicht zur Kenntnis nahm, was sich hinter ihm abspielte. »Ihr einen Beruf lernt! Und ihr auch lernt Selbstachtung! Ihr bekommt hübsche Uniform und außerdem so viel Stiefel, wie ihr könnt essen… Hier, das meine Fahne ist!«

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Rust, nahm die in Heimarbeit gefertigte Fahne und warf sie zu Boden. »Jetzt gehst du zu weit, Mumm!«

Von der Mauer löste sich eine Gestalt, die das Geschehen bisher interessiert beobachtet hatte.

»Das glaube ich eigentlich nicht«, sagte Mumm. Er reichte Rust einen Zettel. »Ich habe alles notiert. Mit Zitaten von den höchsten Stellen, falls du irgendwelche Zweifel hast.«

»Mit Zitaten von…«

»Es geht um die Rolle eines Ritters, Herr. Eigentlich sogar um die ritterlichen Pflichten. Vieles davon ist ziemlich dumm, zum Beispiel das Herumreiten auf einem Pferd mit Gardinen, aber es heißt auch, daß ein Ritter in Zeiten der Not – du wirst lachen, wenn du das hörst – eine Streitmacht zusammenstellen und unterhalten muß. Ich versichere dir: Niemand kann überraschter gewesen sein als ich selbst! Offenbar bleibt mir keine andere Wahl, als mich nach geeigneten Leuten für ein Regiment umzusehen. Nun, die meisten Angehörigen der Wache haben sich rekrutieren lassen. Kein Wunder, du weißt ja, wie das ist, disziplinierte Jungs, die es gar nicht abwarten können, ihre Pflicht zu erfüllen. Dadurch ist mir viel Mühe erspart geblieben. Nur Nobby Nobbs konnte sich noch nicht entscheiden, Soldat der Ersten Infanterie zu werden. Er meinte, wenn er damit bis Donnerstag wartet, hat er genug weiße Federn für eine Matratze zusammen.«

Rusts Gesichtsausdruck hätte Fleisch für ein Jahr konservieren können.

»Das ist doch Unfug«, erwiderte er. »Du bist überhaupt kein Ritter, Mumm. Nur ein König kann…«

»Eine ganze Reihe von Leuten in der Stadt sind vom Patrizier in den Adelsstand erhoben worden«, sagte Mumm. »Zum Beispiel dein Freund Lord Witwenmacher. Was wolltest du gerade sagen?«

»Wenn du darauf bestehst, solche Spielchen zu treiben… Bevor ein Ritter zum Ritter wird, muß er eine Nacht über seine Rüstung wachen…«

»Hab praktisch jede Nacht meines Lebens auf diese Weise verbracht«, meinte Mumm. »Wer hier nachts nicht auf seine Rüstung achtet, hat am nächsten Morgen keine mehr.«

»Außerdem hat er dabei zu beten…«, sagte Rust scharf.

»Klingt ganz wie eine Beschreibung von mir«, erwiderte Mumm. »Es verging praktisch keine Nacht, in der ich nicht dachte: ›Oh, ihr Götter, bitte laßt mich dies lebend überstehen.‹«

»… und er muß sich auf dem Schlachtfeld bewiesen haben. Im Kampf gegen andere aufrechte Männer, Mumm. Damit ist kein schäbiges Halunkenpack gemeint.«

Mumm begann, den Riemen seines Helms zu lösen.

»Nun, ich könnte mir bessere Umstände vorstellen, Herr, aber wenn jemand bereit wäre, deinen Mantel fünf Minuten zu halten…«

In Mumms Augen erkannte Rust den feurigen Glanz brennender Schiffe.

»Ich weiß, was du vorhast, und ich gehe nicht darauf ein«, sagte er und trat einen Schritt zurück. »Außerdem bist du im Umgang mit Waffen überhaupt nicht richtig ausgebildet.«

»Das stimmt«, gab Mumm zu. »In diesem Punkt kann ich nicht widersprechen. Niemand hat mich den Umgang mit Waffen gelehrt. Da kann ich von Glück sagen.« Er beugte sich vor und senkte die Stimme, so daß die vielen Zuschauer ihn nicht hören konnten. »Ich weiß, was du mit ›im Umgang mit Waffen ausgebildet‹ meinst, Ronald. Seit einer halben Ewigkeit hat kein richtiger Krieg mehr stattgefunden, und deshalb übt man mit gepolsterten Jacken und Schwertern, an deren Spitzen kleine Kugeln stecken… damit niemand verletzt wird. Aber auch in den Schatten wurde niemand für den Umgang mit Waffen ausgebildet. Dort könnte niemand einen Degen von einem Säbel unterscheiden. Dafür gibt es dort Leute, die sehr wohl wissen, was man mit einer zerbrochenen Flasche in der einen und einem Knüppel in der anderen Hand anfangen kann. Wenn man es mit solchen Burschen zu tun bekommt, Ronnie, dann steht keine vergnügliche Übungsstunde bevor, an die sich ein Besuch in der nächsten feinen Taverne anschließt. Diesen Leuten geht es nämlich darum, dich zu töten. Verstehst du, Ron? Sie wollen dich umbringen. Und wenn du mit deinem hübsch glänzenden Breitschwert ausholst, haben sie dir bereits Name und Adresse in den Bauch geschnitten. Unter solchen Umständen habe ich den Umgang mit Waffen gelernt. Bei meiner ›Ausbildung‹ ging es hauptsächlich darum, was man mit Fäusten, Knien, Zähnen und Ellenbogen anstellen kann.«

»Du bist kein Gentleman«, sagte Rust.

»Ich wußte, daß es an mir etwas gibt, das ich mag.«

»Ist dir nicht einmal klar, daß man keine Zwerge und Trolle in ein Regiment von Ankh-Morpork aufnehmen darf?«

»In den Vorschriften ist nur von ›Bewaffneten‹ die Rede, und Zwerge bringen ihre eigenen Äxte mit. Dadurch spart man eine Menge. Und wenn man sie im Kampf gesehen hat, wünscht man sich, immer auf ihrer Seite zu stehen.«

»Mumm…«

»Sir Samuel, Herr.«

Rust dachte kurz nach.

»Na schön«, sagte er. »Du und dein… Regiment… Ihr steht unter meinem Kommando.«

»Da muß ich dich leider enttäuschen«, erwiderte Mumm. »Das Kommando könnte nur der König oder ein von ihm selbst bestimmter Stellvertreter übernehmen – nachzulesen in Scavones ›Ritterliche Gesetze und Gepflogenheiten‹. Einen solchen Stellvertreter gibt es nicht, seit irgendein Mistkerl den letzten König einen Kopf kürzer gemacht hat. Oh, die Stadt wurde von verschiedenen Personen regiert, aber nach der ritterlichen Tradition…«

Rust hörte erneut auf zu denken. Er wirkte wie ein Rasenmäher, kurz nachdem das Gras ein Arbeitskollektiv gebildet hat. In seinem Gesicht deutete etwas auf folgendes hin: Tief in seinem Innern wußte er, daß sich die derzeitigen Ereignisse überhaupt nicht zutragen konnten – es konnte nicht geschehen, weil so etwas nicht geschehen durfte. Alle gegenteiligen Indizien wurden ignoriert. Allerdings mußte er trotzdem gewisse Dinge pro forma erledigen.

»Du wirst sicher feststellen, daß dein Standpunkt in rechtlicher Hinsicht…«, begann er. Seine Augen traten kurz aus den Höhlen, als Mumm ihn fröhlich unterbrach.

»Oh, vielleicht gibt es das eine oder andere Problem, zugegeben. Aber wenn du Herrn Schräg fragst, so antwortet er vermutlich: ›Ein interessanter Fall.‹ Und du weißt ja, was das in der Anwaltssprache bedeutet: ›Tausend Ankh-Morpork-Dollar pro Tag plus Spesen, und vermutlich nimmt der Fall Monate in Anspruch.‹ Ich überlasse es dir, rechtliche Schritte einzuleiten, weil ich nämlich viele andere Dinge zu erledigen habe. Inzwischen dürften die Textilmuster der neuen Uniformen in meinem Büro eingetroffen sein, es ist ja wichtig, auf dem Schlachtfeld gut auszusehen, nicht wahr?«

Rust durchbohrte Mumm mit einem letzten Blick und ging davon.

Detritus nahm neben Mumm Haltung an, und sein Helm schepperte laut, als er salutierte.

»Was wir jetzt machen sollen, Herr?«

»Ich schätze, wir können unsere Sachen packen und diesen Ort verlassen. Haben alle Angehörigen der Wache beschlossen, sich uns anzuschließen?«

»Ja, Herr!«

»Hast du sie darauf hingewiesen, daß es nicht obligatorisch ist?«

»Ja, Herr! Ich ihnen gesagt habe: Es nicht obliga’risch sein, aber ihr müßt.«

»Ich wollte Freiwillige, Detritus.«

»Ja, Herr. Alle sich freiwillig gemeldet haben. Ich dafür gesorgt.«

Mumm seufzte, als er in Richtung Wachhaus schritt. Vermutlich drohte keine Gefahr. Er war ziemlich sicher, daß man ihm in rechtlicher Hinsicht nichts anhaben konnte, und wenn er Rust richtig einschätzte, respektierte der Lord die Buchstaben des Gesetzes. Leute wie er zeichneten sich durch diesen ganz besonderen Starrsinn aus. Und wenn man berücksichtigte, was in Bewegung geraten war, spielten dreißig Wächter kaum eine Rolle. Eigentlich brauchte Rust ihnen überhaupt keine Beachtung zu schenken.

Plötzlich steht ein Krieg bevor, dachte Mumm, und alles kehrt zurück. Die normale Ordnung wird auf den Kopf gestellt, weil es Regeln gibt. Und Leute wie Rust finden sich ganz oben auf dem Haufen wieder. Jahrelang faulenzen die Aristokraten, und auf einmal wird die alte Rüstung abgestaubt und das Schwert von seinem Platz über dem Kamin genommen. Sie glauben, daß der Krieg unvermeidlich ist, und ihnen fällt nur ein, daß man ihn entweder gewinnen oder verlieren kann…

Jemand steckt dahinter. Jemand möchte, daß es zu einem Krieg kommt. Jemand hat dafür bezahlt, Ostie und Schneetreiben umbringen zu lassen. Jemand wollte den Tod des Prinzen. Das darf ich nicht vergessen. Dies ist kein Krieg, sondern ein Verbrechen.

Und dann merkte er, daß er sich fragte, ob es dieselben Leute waren, die auch den Anschlag auf Goriffs Laden verübt hatten, und ob diese Leute auchdie Botschaft in Brand gesteckt hatten.

Und dann begriff er, warum er auf diese Weise dachte.

Weil er an die Existenz von Verschwörern glauben wollte. Es war viel einfacher, sich Männer in irgendeinem verrauchten Zimmer vorzustellen, von Privilegien und Macht um den Verstand gebrachte Personen, die voller Zynismus steckten und beim Brandy Intrigen spannen. An einem solchen Vorstellungsbild klammerte er sich fest. Sonst mußte er sich der unangenehmen Tatsache stellen, daß schlimme Dinge passierten, weil ganz gewöhnliche Leute – Menschen, die den Hund bürsteten und ihren Kindern Gutenachtgeschichten erzählten – fähig waren, auf die Straße zu gehen und Schreckliches mit anderen ganz gewöhnlichen Leuten anzustellen. Ja, es war viel einfacher, Verschwörern die Schuld zu geben. Wie deprimierend, in diesem Zusammenhang »Wir« zu denken. Wenn Sie dahinterstecken… dann trifft uns überhaupt keine Schuld. Aber wenn das Wir der Wahrheit entspricht… Was bedeutet das für das Ich? Immerhin gehöre ich zu den Wir. Es käme mir nie in den Sinn, mich für einen von Ihnen zu halten. Niemand glaubt, einer von Ihnen zu sein. Jeder von Uns ist ein Teil des Wir. Für die schlimmen Dinge sind Sie verantwortlich.

Früher hätte Mumm etwa an dieser Stelle eine Flasche geöffnet und keinen Gedanken an ihren Inhalt verschwendet, solange die Flüssigkeit bewirkte, daß Lack Blasen warf…

»Ugh?«

»Oh, hallo. Was kann ich für dich… Oh, ja, ich habe um Bücher über Klatsch gebeten. Das ist alles?«

Der Bibliothekar hob verlegen ein kleines, recht mitgenommenes grünes Buch in die Höhe. Mumm hatte etwas Größeres erwartet, aber er nahm es trotzdem entgegen. Es zahlte sich aus, einen Blick in jedes Buch zu werfen, das man vom Bibliothekar bekam. Er schien genau zu wissen, welche Lektüre zu einem paßte. Mumm vermutete, daß es ein spezielles berufliches Geschick war, so wie die Fähigkeit eines Leichenbestatters, Größen genau abzuschätzen.

Auf dem Rücken des Buches bildeten verblichene goldene Buchstaben die Worte: »VENI VIDI VICI. Ein Soldatenleben von Gen. A. Taktikus«.

 

Nobby und Feldwebel Colon schoben sich durch die Gasse.

»Ich habe ihn erkannt!« flüsterte Colon. »Das ist Leonard von Quirm, jawohl! Er verschwand vor fünf Jahren!«

»Er heißt also Leonard und stammt aus Quirm«, erwiderte Nobby. »Na und?«

»Er ist ein geniales Genie!«

»Er ist irre.«

»Ja, mag sein. Es heißt, vom Genie zum Wahnsinn sei es nur ein kleiner Schritt…«

»Diesen Schritt hat er hinter sich gebracht.«

Hinter ihnen erklang erneut Leonards Stimme: »Meine Güte, es hat keinen Zweck…? Ich muß gestehen, daß du recht hast, bei mittleren und größeren Entfernungen läßt die Präzision sehr zu wünschen übrig. Wenn ihr euch dazu entschließen könntet, kurz stehenzubleiben…«

Die beiden Wächter drehten sich um. Leonard hatte bereits damit begonnen, das Rohr zu demontieren.

»Bitte halt dies fest, Korporal… Und du, Feldwebel, wenn du das hier halten könntest… Man müßte Stabilisierungsflächen hinzufügen, dann sollte es eigentlich klappen. Ich bin sicher, daß ich irgendwo ein passendes Stück Holz habe…« Leonard klopfte auf seine Taschen.

Die Wächter stellten sich einer sonderbaren Erkenntnis: Der Mann, der sie gewissermaßen entführt hatte, gestaltete nun seine Waffe neu. Und er ließ sich von ihnen helfen, während er nach einem Schraubenzieher suchte.

So etwas geschah nicht sehr oft.

Nobby nahm stumm die Rakete von Colon entgegen und schob sie ins Rohr.

»Wozu dient das hier?« fragte er.

Leonard klopfte noch immer auf seine Taschen und sah kurz auf.

»Oh, das ist der Auslöser«, sagte er. »Er reibt den Feuerstein, hier, und…«

»Gut.«

Eine Flamme leckte aus dem einen Ende des Rohrs, gefolgt von schwarzem Qualm.

»Meine Güte«, sagte Leonard.

Die Wächter drehten sich um wie zwei Männer, die damit rechneten, keine besonders angenehmen Dinge zu sehen. Die Rakete war nicht nur durch die Gasse gerast, sondern auch durchs Fenster eines Hauses.

»Äh«, sagte Leonard. »Die Rakete sollte besser den Hinweis ›Hier vorne‹ tragen. Dadurch wäre das Gerät ein gutes Stück sicherer. Wo habe ich denn mein Notizbuch…?«

»Ich glaube, wir sollten diesen Ort verlassen«, sagte Colon und wich zurück. »So schnell wie möglich.«

Im Innern des Hauses explodierten bunte Kugeln und Sterne, die eigentlich dazu dienen sollten, jung und alt zu erfreuen. Doch der Troll, der gerade die Tür geöffnet hatte, schien nicht sehr begeistert zu sein.

»Ach, tatsächlich«, erwiderte Leonard. »Nun, wenn hohe Geschwindigkeit erforderlich ist… Ich habe da ein interessantes Konzept entwickelt. Dabei geht es um ein mit zwei Rädern ausgestattetes…«

Die beiden Wächter agierten in stillschweigendem Einvernehmen: Zu beiden Seiten schoben sie eine Hand unter Leonards Schulter, hoben ihn hoch und liefen los.

»Meine Güte«, sagte Leonard, als er eine nach hinten gerichtete Beschleunigung erfuhr.

Die Wächter sprangen in eine Seitenstraße und eilten von dort aus routiniert durch mehrere Gassen. Schließlich lehnten sie Leonard an eine Mauer und spähten um die nächste Ecke.

»Alles klar«, sagte Nobby. »Sie haben den anderen Weg genommen.«

»Gut«, erwiderte Colon. »Und was machen wir jetzt? Ich meine, vielleicht bist du tatsächlich ein Genie, Herr da Quirm, aber wenn es darum geht, andere Leute zu bedrohen, bist du ebenso schlau wie ein aufblasbares Pfeilbrett.«

»Offenbar bin ich ein ziemlicher Trottel gewesen, nicht wahr?« meinte Leonard. »Wie dem auch sei: Ich bitte euch inständig, mich zu begleiten. Ich dachte nur, ihr würdet die Sprache der Gewalt besser verstehen, denn immerhin seid ihr Krieger…«

»Nun… äh… ja, wir sind tatsächlich Krieger«, sagte Feldwebel Colon. »Aber…«

»He, hast du noch eine Rakete?« fragte Nobby und hob das Rohr wieder zur Schulter. In seinen Augen zeigte sich der Glanz eines sehr kleinen Mannes, der plötzlich eine sehr große Waffe in den Händen hält.

»Ja, vielleicht«, entgegnete Leonard. In seinen Augen zeigte sich das Funkeln eines Mannes, der von Natur aus unschuldig ist und versucht, hinterhältig zu sein. »Ich schlage vor, wir sehen nach. Wißt ihr, man hat mich beauftragt, euch mit allen Mitteln zu holen.«

»Bestechung klingt nicht schlecht«, sagte Nobby. Er blickte durchs Visier des Rohrs und gab Geräusche von sich, die nach Wusch klangen.

»Wer hat dich aufgefordert, uns zu holen?« fragte Colon.

»Lord Vetinari.«

»Der Patrizier will mit uns reden?«

»Ich glaube, seine Absichten beschränken sich nicht nur auf ein Gespräch. Er meinte, ihr verfügt über besondere Fähigkeiten. Kommt, wir müssen uns beeilen.«

»Sollen wir den Palast aufsuchen? Ich dachte, Lord Vetinari hätte sich aus dem Staub gemacht.«

»O nein. Und er erwartet uns nicht im Palast, sondern bei den… bei den… Docks…«

»Besondere Fähigkeiten, wie?« wiederholte Colon.

»Äh… Feldwebel…«, begann Korporal Nobbs.

»Tja, Nobby«, sagte Colon, »es wird höchste Zeit, daß uns Anerkennung gezollt wird. Erfahrene Offiziere wie wir sind das Rückgrat der Truppe. Wenn du mich fragst«, fuhr er fort, »wenn du mich fragst, ist dies ein typischer Fall von ›der rechte Mann zur rechten Zeit‹.«

»Wer ist denn der rechte Mann?«

»Ich rede von uns. Von Männern mit besonderen Fähigkeiten.«

Nobby nickte, aber nicht ohne gewisses Widerstreben. In vielerlei Hinsicht dachte er wesentlich klarer als sein Vorgesetzter, und er machte sich Sorgen über die »besonderen Fähigkeiten«. Wenn man wegen »besonderer Fähigkeiten« ausgewählt wurde, so deutete alles auf einen besonderen Einsatz hin, mit dem besondere Gefahren verbunden sein konnten. Was war überhaupt so Besonderes an »besonderen Fähigkeiten«? Selbst Napfschnecken besaßen besondere Fähigkeiten.

»Geht es um eine geheime Mission?« fragte Colon. »Müssen wir uns wieder unter die Zivilisten mischen?«

Leonard blinzelte. »Nun… in der Angelegenheit gibt es einen stark ausgeprägten Unter-Aspekt. Das läßt sich nicht leugnen.«

»Feldwebel…«

»Sei still, Korporal.« Colon zog Nobby etwas näher. »Geheime Missionen bedeuten, daß man nicht aufs Schlachtfeld muß, um sich dort erstechen und erschießen zu lassen«, flüsterte er. »Und was ist die wichtigste Sache, die ein Berufssoldat vermeiden sollte?«

»Er sollte es vermeiden, sich erstechen oder erschießen zu lassen«, antwortete Nobby automatisch.

»Genau! Gehen wir, Herr Quirm! Wir folgen dem Ruf der Pflicht!«

»Bravo!« sagte Leonard. »Sag mal, Feldwebel, hast du dich jemals für das Nautische interessiert?«

Colon salutierte. »Nein, Herr! Bin glücklich verheiratet!«

»Ich meine, hast du nie die Wellen des Ozeans gepflügt?«

Colon bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick.

»Oh, darauf falle ich nicht herein, Herr«, sagte er. »Jeder weiß, daß die Pferde versinken würden.«

Leonard zögerte kurz und justierte sein Gehirn wieder auf die Frequenz von Radio Colon.

»Bist du irgendwann einmal auf dem Meer unterwegs gewesen, mit einem Schiff oder einem Boot?«

»Ich, Herr? Nein. Es liegt am Auf und Ab der Wellen, Herr. Kann den Anblick nicht ertragen.«

»Ach?« erwiderte Leonard. »Nun, das wird glücklicherweise kein Problem sein.«

 

Also gut, noch einmal von vorn…

Fakten zusammenfügen, bis sie ein einheitliches Bild ergaben. Darauf kam es an.

Die Welt sah zu. Jemand wollte, daß die Wache herausfand, hinter dem Attentat stecke eine klatschianische Verschwörung. Wer?

Jemand hatte Schneetreiben Schuppert enthauptet und ihn toter zurückgelassen als sechs Eimer Fischköder.

Vor Mumms innerem Auge entstand das Bild eines großen Krummschwerts. Es gehörte 71-Stunden-Ahmed.

Na schön. Stellen wir uns Ahmed als Khufurahs Diener oder Leibwächter vor. Angenommen, er hat etwas herausgefunden…

Nein, wie sollte das möglich sein? Wer könnte ihm einen Hinweis gegeben haben?

Nun, nehmen wir an, er fand es irgendwie heraus, was bedeutet, daß er auch wußte, wer den Mann bezahlt hatte…

Mumm lehnte sich zurück. Das Rätsel blieb ein Rätsel, aber er war fest entschlossen, es zu lösen, auf welche Weise auch immer. Er würde die Fakten zusammenfügen, sie vorurteilsfrei von allen Seiten betrachten und herausfinden, wie Lord Rust alles organisiert hatte.

Querkopf! Das brauchte er nicht einfach hinzunehmen, nicht von einem Mann, der »Haus« auf »Mäuse« reimte.

Sein Blick fiel auf das alte Buch. General Taktikus? Jedes Kind kannte seinen Namen. Ihm war es zu verdanken, daß Ankh-Morpork einst über ein riesiges Reich geherrscht hatte, ein großer Teil davon in Klatsch gelegen. Doch seltsamerweise hatte man sich nie bei ihm bedankt. Aus irgendeinem Grund, den Mumm nicht verstand, schien man sich in der Stadt des Generals zu schämen.

Vielleicht deshalb, weil er schließlich gegen Ankh-Morpork gekämpft hatte. Der Stadt Gennua gingen damals die Könige aus – durch lange Inzucht bestand der einzige übriggebliebene Repräsentant des Königtums hauptsächlich aus Zähnen. Was die ranghöchsten Höflinge zum Anlaß nahmen, Ankh-Morpork einen Brief zu schicken und um Hilfe zu bitten.

Mumm hatte erstaunt festgestellt, daß so etwas damals überhaupt nicht außergewöhnlich gewesen war. Die kleinen Königreiche der Sto-Ebene jagten sich immer wieder gegenseitig Mitglieder des königlichen Geschlechts ab. Der König schickte Taktikus aus reiner Verzweiflung los. Es ist schwierig, ein Reich richtig zu regieren, wenn man dauernd blutbefleckte Briefe bekommt, in denen es heißt: Lieber Gebieter, hiermit teile ich dir mit, daß wir Betrek, Smale und Uschistan erobert haben. Erbitte eine Nachzahlung von 20000 AM$. Der Mann wußte einfach nicht, wo es aufzuhören galt. Deshalb wurde er hastig zum Herzog ernannt und nach Gennua geschickt, wo seine erste Aktivität darin bestand, den größten Feind der Stadt zu identifizieren. Nachdem ihm das gelungen war, erklärte er Ankh-Morpork den Krieg.

Aber was hätte man sonst von ihm erwarten sollen? Er erfüllte seine Pflicht. Er brachte damals jede Menge Beute, viele Gefangene und, im Gegensatz zu anderen Heerführern Ankh-Morporks, den größten Teil seiner Männer zurück. Mumm vermutete, daß die historische Mißbilligung auf dem zuletzt genannten Punkt basierte. Die Tatsache, daß so viele seiner Soldaten überlebten, schien nahezulegen, daß er nicht fair kämpfte.

Veni, vidi, vici. Diese Worte sollte Taktikus ausgesprochen haben, als er… wo einen Sieg errungen hatte? Über Pseudopolis? Oder über Al-Khali? Über Quirm? Oder vielleicht über Sto Lat? Zu jener Zeit griff man andere Städte allein aus Prinzip an und kehrte anschließend heim – um erneut anzugreifen, falls der Gegner sich von seiner Niederlage zu erholen schien. Damals scherte man sich nicht darum, ob die Welt zusah oder nicht. Man wollte sogar, daß sie zusah und ihre Lektion lernte. Veni, vidi, vici. Ich kam, ich sah, ich siegte.

Als Kommentar erschienen Mumm diese Worte viel zu glatt. So etwas fiel einem nicht auf Anhieb ein. Es klang vielmehr sorgfältig überlegt. Wahrscheinlich hatte Taktikus lange Abende in seinem Zelt in Wörterbüchern nach kurzen Ausdrücken gesucht, die mit V begannen. Mumm stellte sich vor, wie der General sie nacheinander ausprobierte… Veni, vermini, vomui. Ich kam, es gab Würmer, ich übergab mich. Visi, veneri, vamoosi. Ich besuchte, ich holte mir eine peinliche Krankheit, ich lief weg. Sicher war Taktikus damals sehr erleichtert gewesen, als er drei passende und angemessen kurze Worte gefunden hatte. Vermutlich hatte er sie erst notiert und sich danach aufgemacht, irgendwo ein Land zu erobern.

Mumm öffnete das Buch an einer beliebigen Stelle.

»Es ist immer nützlich, einem Feind gegenüberzustehen, der die Bereitschaft mitbringt, für sein Land zu sterben«, las er. »Es bedeutet, daß der Feind das gleiche Ziel hat wie man selbst.«

»Ha!«

»Bimmel-bimmel-b…«

Mumms Hand klatschte auf die Schachtel.

»Ja? Was ist?«

»Drei Uhr fünf nachmittags, Besprechung mit Korporal Kleinpo betreffend das Verschwinden von Feldwebel Colon«, sagte der Dämon verdrießlich.

»Einen solchen Termin habe ich überhaupt nicht vereinbart. Wer hat dir gesagt… Soll das heißen, ich habe eine Verabredung, von der ich nichts weiß?«

»Ja.«

»Und woher weißt du davon?«

»Du hast mir gesagt, daß ich über solche Dinge Bescheid wissen soll«, erwiderte der Dämon. »Gestern abend.«

»Du kannst mich wirklich auf Termine hinweisen, von denen ich nichts weiß?« fragte Mumm.

»Es gibt gewissermaßen Termine, die nur darauf warten, daß man einen Zeitpunkt für sie festsetzt«, erklärte der Dämon. »Sie existieren im sogenannten Terminphasenraum.«

»Wovon redest du da?«

»Nun«, entgegnete der Dämon geduldig, »du kannst jederzeit einen Termin haben, nicht wahr? Also existieren alle Termine in potentia…«

»Wo ist das?«

»Jeder spezielle Termin läßt die Wellenform kollabieren«, fuhr der Dämon fort. »Ich wähle nur den wahrscheinlichsten aus der projizierten Matrix.«

»Du erfindest das alles«, sagte Mumm. »Wenn du recht hättest, müßte jetzt jeden Augenblick…«

Jemand klopfte an die Tür, auf zögernde, zurückhaltende Art.

Mumm wandte den Blick nicht von dem grinsenden Dämon ab.

»Bist du das, Korporal Kleinpo?« fragte er.

»Ja, Herr. Feldwebel Colon hat eine Taube geschickt. Du solltest dir die Nachricht ansehen, Herr.«

»Herein!«

Kleinpo reichte ihm eine kleine Rolle aus dünnem Papier. Die Mitteilung lautete:

 

Nehme an einer Mission von Größter Wichtigkeit teil. Nobby ist ebenfalls hier. Wenn wir triumphierend zurückkehren, setzt man uns vielleicht ein Denkmal. PS. Jemand, dessen Namen ich nicht nennen darf, weist darauf hin, daß sich diese Mitteilung in fünf Sekunden selbst zerstört. Er meint auch, es täte ihm leid, da er nicht die richtigen Chemikalien zur Hand hat, um es besser zu machen…

 

Das Papier begann, sich am Rand zu wellen. Dann löste es sich in einer nicht sehr angenehm riechenden Rauchwolke auf.

Mumm starrte auf die übriggebliebene Asche.

»Ich schätze, wir können von Glück sagen, daß die Taube nicht explodierte, Herr«, sagte Grinsi Kleinpo.

»Auf was haben sich Colon und Nobbs nur eingelassen? Nun, ich kann mich jetzt nicht um sie kümmern. Danke, Grinsi.«

Die Zwergin salutierte und ging.

»Reiner Zufall«, meinte Mumm.

»Na schön.« Der Dämon holte tief Luft. »Bimmel-bimmel-bamm! Drei Uhr fünfzehn nachmittags, dringende Beratung mit Hauptmann Karotte.«

 

Das Ding war zylinderförmig und lief vorn und hinten spitz zu. An einem Ende hatte die Spitze eine recht komplexe Struktur. Offenbar bestand sie aus einer Anordnung von Ringen, die immer kleiner wurden und sich gegenseitig überlappten, bis sie in eine Art Fischschwanz übergingen. Ölig glänzendes Leder steckte in den Lücken zwischen den Metallteilen.

Am anderen Ende ragte ein langes Schraubengewinde aus dem Zylinder wie das Horn eines Einhorns.

Das Gebilde ruhte auf einer Art Lore, die wiederum auf zwei eisernen Schienen stand. Auf der gegenüberliegenden Seite des Bootshauses führten die Gleise ins schwarze Wasser.

»Sieht wie ein riesiger Fisch aus«, sagte Colon. »Aus Metall.«

»Mit ‘nem Horn«, fügte Nobby hinzu.

»Das Ding schwimmt nie«, meinte Colon. »Bei der Konstruktion ist dir ein Fehler unterlaufen. Jeder weiß, daß Metall im Wasser versinkt.«

»Das stimmt nicht unbedingt«, widersprach Leonard höflich. »Wie dem auch sei: Dieses Boot soll im Wasser versinken.«

»Was?«

»Der Antrieb war ein Problem und bereitete mir einiges Kopfzerbrechen«, sagte Leonard und kletterte eine Trittleiter hoch. »Zuerst dachte ich an Paddel und Ruder, sogar an eine Art Schraube, und dann fiel es mir ein: Delphine – dort liegt die Lösung. Sie können sehr schnell sein und strengen sich dabei kaum an. Dabei meine ich natürlich das offene Meer. Hier im Mündungsbereich kommt nur der Delphin mit schaufelförmiger Nase vor. Die Verbindungsstangen sind ein wenig kompliziert geraten, aber sie ermöglichen eine recht hohe Geschwindigkeit. Die Arbeit mit den Pedalen kann sehr ermüdend sein, doch immerhin sind wir zu dritt, was uns ein zufriedenstellendes Beschleunigungsmoment geben sollte. Es ist wirklich erstaunlich, was man durch Imitation der Natur erreichen kann. Wenn meine Flugexperimente doch nur… Oh, wohin seid ihr verschwunden?«

Es ließ sich kaum feststellen, welchen Teil der Natur, die zufriedenstellende Beschleunigungen ermöglichte, die beiden Wächter zu imitieren versuchten, aber offenbar handelte es sich dabei um eine Komponente, für die Türen unüberwindliche Hindernisse waren.

Die beiden Wächter verharrten zunächst und wichen dann langsam zurück.

»Ah, Feldwebel«, sagte Lord Vetinari, der vor ihnen den Raum betrat. »Und Korporal Nobbs. Hat Leonard euch alles erklärt?«

»Du kannst nicht von uns verlangen, in das Ding zu klettern, Herr!« entfuhr es Colon. »Das wäre Selbstmord!«

Der Patrizier preßte die Hände gegeneinander und hob sie an die Lippen, als würde er beten. Er seufzte nachdenklich.

»Nein. Nein, ich glaube, da irrst du dich«, sagte er schließlich, als hätte er gerade ein schwieriges mathematisches Rätsel gelöst. »Ich glaube vielmehr, es wäre sehr tapfer, sich dem Apparat anzuvertrauen. Laßt mich hinzufügen, daß ich eine Tapferkeit meine, die belohnt zu werden verdient. Außerdem möchte ich darauf hinweisen, daß es durchaus an Selbstmord grenzen könnte, nicht hineinzuklettern. Aber das ist natürlich meine ganz persönliche Meinung, und es würde mich interessieren, eure zu hören.«

Lord Vetinari war kein kräftig gebauter Mann, und seit einiger Zeit benutzte er einen schwarzen Gehstock. Niemand hatte jemals beobachtet, wie er eine Waffe benutzte, und in einem jähen Anflug von Vernunft dachte Colon, daß diese Erkenntnis keineswegs beruhigend war. Es hieß, der Patrizier sei bei der Assassinengilde zur Schule gegangen, doch niemand wußte, mit welchen Waffen er sich auskannte. Er hatte Sprachen studiert, aber Colon vermutete, daß Lord Vetinari nicht nur mit Worten umzugehen verstand.

Der Feldwebel salutierte, wie immer bei einem Notfall. »Korporal Nobbs!« rief er. »Wieso bist du noch nicht in dem… in dem versinkenden Metallfischding?«

»Feldwebel?«

»Die Leiter hoch, Korporal, hopp, hopp, hopp!«

Nobby sauste die Leiter hoch und verschwand im Innern der Konstruktion. Colon salutierte erneut. Für gewöhnlich konnte man daran den Grad seiner Nervosität ablesen – diesmal hätte niemand zackiger salutieren können als er.

»Wir sind bereit, Herr!« rief er.

»Ausgezeichnet, Feldwebel«, sagte Vetinari. »Du beweist genau die besonderen Fähigkeiten, nach denen ich suche…«

»He, Feldwebel«, erklang eine metallene Stimme aus dem Bauch des Fisches. »Hier wimmelt es von Ketten und Zahnrädern. Wozu dient das hier}« Der große Bohrer am einen Ende drehte sich mit einem leisen Quietschen.

Leonard trat hinter dem Fisch hervor.

»Wir sollten jetzt alle an Bord gehen«, sagte er. »Ich habe die Kerze angezündet: Ihre Flamme wird den Strick durchtrennen, an dem das Gewicht hängt, das die Bremsklötze beiseite ziehen soll.«

»Äh… wie heißt das Ding?« fragte Colon, als er dem Patrizier die Leiter hinauf folgte.

»Nun, da es unter der Oberfläche des Meeres unterwegs sein wird, sollte es eigentlich Sicher-unter-der-Meeresoberfläche-reisen-Gerät heißen«, sagte Leonards Stimme hinter dem Feldwebel.10 »Aber bisher habe ich es immer nur ›das Boot‹ genannt.«

Er schloß die Luke.

Wenige Sekunden später konnte man im Bootshaus dumpfes Pochen hören, als sich Bolzen lösten.

Die Kerze brannte noch etwas weiter herunter, und ihre Flamme durchtrennte einen Strick. Dadurch geriet ein Gewicht in Bewegung, und daran befestigte Seile zogen die Bremsklötze beiseite. Die Lore mit dem Boot rollte los, zuerst ganz langsam. Kurze Zeit später erreichte der metallene Fisch das dunkle Wasser und verschwand mit einem Glupp darin.

 

Niemand achtete auf Angua, als sie über den Laufsteg lief. Sie wußte, worauf es ankam: Sie mußte den Eindruck erwecken, wie zu Hause zu sein. Ein großer Hund, der mit angemessener Zielstrebigkeit unterwegs war, erweckte kein Mißtrauen.

An Bord des Schiffes verhielten sich die meisten Leute wie typische Landratten: Sie wußten nicht genau, was sie tun sollten, und sie fragten sich, wie sie vermeiden konnten, es zu tun. Einige der stoischer veranlagten Passagiere hatten sich kleine Lager geschaffen und mit Kleidungsbündeln und Stoffstreifen private Bereiche abgegrenzt. Sie erinnerten Angua an zweifarbige Abflußrohre und mikroskopisch genau festgelegte Hausbesitzgrenzen im Geldfallenweg. Solche »Linien im Sand« vermittelten folgende Botschaft: Dies ist meins, und das ist deins. Und wenn du anrührst, was mir gehört, kriegst du die Hucke voll.

Zwei Wächter standen rechts und links neben der Tür, die zu den Kabinen führte. Man hatte ihnen nicht befohlen, Hunde aufzuhalten.

Am Ende des schmalen Ganges stand eine weitere Tür einen Spalt offen. Angua stieß sie mit der Schnauze etwas weiter auf und sah sich um.

Eine große Kabine lag vor ihr, und sie bemerkte die beiden Hunde, die auf einem Läufer lagen. Andere Hunde hätten vielleicht gebellt, aber diese drehten nur ihre anmutigen Köpfe und musterten Angua aufmerksam.

Ein schmales Bett war fast hinter seidenen Vorhängen verborgen. 71-Stunden-Ahmed stand dort und wandte sich um, als Angua hereinkam.

Er bedachte die Hunde mit einem verwirrten Blick. Anschließend erstaunte er sie, indem er auf dem Boden vor ihr Platz nahm.

»Und wem gehörst du?« fragte er in perfektem Morporkianisch.

Angua wedelte mit dem Schwanz. Jemand lag im Bett, aber wer auch immer das sein mochte: Die Person stellte kein Problem dar. In den meisten Situationen konnte man entspannt bleiben, wenn man über Kiefermuskeln verfügte, die mühelos ein Genick zermalmen konnten.

Ahmed klopfte ihr auf den Kopf. Nur sehr wenige Leute haben sich so einem Werwolf gegenüber verhalten, ohne daß sie später jemanden brauchten, der ihnen die Mahlzeiten in kleine Stücke schnitt. Doch Angua hatte Selbstbeherrschung gelernt.

Dann stand Ahmed wieder auf und ging zur Tür. Sie hörte, wie er draußen einige Worte an jemanden richtete; wenige Sekunden später betrat er wieder die Kabine und lächelte.

»Ich gehe, ich kehre zurück…«

Er öffnete einen kleinen Schrank und nahm ein edelsteinbesetztes Hundehalsband hervor. »Du sollst ein Halsband bekommen. Oh, und falls du Hunger hast…« Ein Diener brachte mehrere Schüsseln. »›Nippes und Kutteln dazu, gib dem Hund einen Knochen im Nu.‹ In Ankh-Morpork habe ich Kinder immer wieder diesen Reim singen hören. Aber Nippes ist keine angemessene Nahrung für einen stolzen Hund, und wer weiß, was sich in den Kutteln verbirgt…«

Ein großer Napf erschien vor Angua. Die beiden anderen Hunde bewegten sich, aber Ahmed zischte ein Wort, und daraufhin verharrten sie wieder.

In dem Napf lag… Hundefutter. Nach den Maßstäben von Ankh-Morpork bedeutet das: Es handelte sich um etwas, das nicht einmal für Würstchen verwendet wurde. Und es gibt nur wenige Dinge, die jemand mit einem ausreichend großen Fleischwolf nicht in Würstchen unterbringen kann.

Der menschliche Aspekt Anguas war entsetzt, doch der Werwolf sabberte beim Anblick von röhrenförmigen Dingen und schwabbelndem Fett.

Der Napf bestand aus Silber.

Sie hob den Kopf. Ahmed beobachtete sie aufmerksam.

Die anderen Hunde wurden natürlich wie Könige behandelt, trugen mit Diamanten besetzte Halsbänder und so. Es mußte nicht unbedingt bedeuten, daß er Bescheid wußte…

»Hast du keinen Appetit?« fragte Ahmed. »Deine Schnauze behauptet etwas anderes.«

Als sie herumwirbelte, um zuzubeißen, schloß sich etwas um ihren Hals. Ihre Zähne bohrten sich in schmierigen Stoff, aber das war nicht so schlimm wie der Schmerz.

»Seine Hoheit hat immer großen Wert darauf gelegt, Hunde mit hübschen Halsbändern auszustatten«, erklang die Stimme von 71-Stunden-Ahmed durch roten Dunst. »Rubine, Smaragde und Diamanten, teuerste Angua.« Er beugte sich zu ihr herab. »In Silber eingefaßt.«

 

»… habe ich herausgefunden, daß der wichtigste Faktor NICHT in der Größe der eigenen Streitkräfte besteht. Es kommt vielmehr darauf an, wo man seine Truppen in Stellung bringt und wie man die Reserven einsetzt…«

Mumm versuchte, sich auf Taktikus zu konzentrieren, aber zwei Dinge lenkten ihn ab. Erstens: Aus jeder Zeile schien ihm 71-Stunden-Ahmed entgegenzublicken und zuzulächeln. Zweitens: seine Uhr, die er an den Disorganizer gelehnt hatte. Darin steckte ein echtes Uhrwerk, und sie funktionierte mit weitaus größerer Zuverlässigkeit. Außerdem brauchte man sie nicht zu füttern. Ruhig tickte sie vor sich hin. Wenn es nach ihm ging… Er brauchte niemanden, der ihn an irgendwelche Termine erinnerte.

Der Sekundenzeiger neigte sich der vollen Minute entgegen, als jemand die Treppe heraufkam.

»Komm herein, Hauptmann«, sagte Mumm. Spöttisches Kichern drang aus der Schachtel des Disorganizers.

Die rosarote Tönung von Karottes Gesicht war diesmal besonders ausgeprägt.

»Angua ist etwas zugestoßen«, sagte Mumm.

Karotte erbleichte. »Woher weißt du das?«

Mumm versuchte, das Kichern des Dämons zu überhören. »Nennen wir es Intuition, in Ordnung? Nun, habe ich recht?«

»Ja, Herr! Sie ging an Bord eines klatschianischen Schiffes, das gerade in See gestochen ist! Und sie befindet sich noch immer an Bord!«

»Was hat sie überhaupt dazu veranlaßt, das Schiff zu betreten?«

»Sie verfolgte Ahmed, Herr! Offenbar hat er jemanden mitgenommen, eine Person, die krank zu sein scheint, Herr!«

»Er hat die Stadt verlassen? Aber die Diplomaten sind doch noch…«

Mumm unterbrach sich. Wenn man Karotte nicht kannte, mußte man zu dem Schluß gelangen, daß mit der Situation etwas nicht stimmte. Ein anderer Mann, dessen Freundin von einem fremden Schiff fortgetragen worden wäre, hätte sicher nicht gezögert, in den Ankh zu springen – oder zumindest über die Kruste des Flusses zu laufen –, an Bord des Seglers zu klettern und den dortigen Leuten auf demokratische Weise einzuheizen. Natürlich mußte man ein solches Verhalten als dumm bezeichnen, wenn man die Umstände berücksichtigte. Viel vernünftiger war es, die Nachricht zunächst weiterzugeben und Hilfe zu holen, aber trotzdem…

Karotte glaubte tatsächlich, daß »persönliche Dinge« nicht unbedingt mit »wichtig« gleichzusetzen waren. Mumm vertrat natürlich den gleichen Standpunkt, doch er konnte nur hoffen, daß er sich richtig verhielt, wenn es darauf ankam. Jemand, der nicht nur an dieses Prinzip glaubte, sondern sein ganzes Leben danach gestaltete, hatte etwas Unheimliches. Er erweckte in einem das gleiche seltsame Unbehagen wie die Begegnung mit einem wirklich armen Priester.

In diesem Fall mußte man natürlich berücksichtigen: Wenn jemand Angua gefangen hatte, mußte man mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die Entführte, sondern die Entführer retten.

Dennoch…

Die Götter allein mochten wissen, was geschehen würde, wenn er, Mumm, die Stadt ausgerechnet jetzt verließ. Der Kriegswahn breitete sich in Ankh-Morpork immer mehr aus. Große Ereignisse bahnten sich an. In einer solchen Zeit drängte jede einzelne Zelle in seinem Körper darauf, daß der Kommandeur der Wache seine Verantwortung wahrnehmen mußte…

Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. In der gegenwärtigen Situation war es besonders wichtig, die richtige Entscheidung zu treffen. Dafür wurde er bezahlt. Verantwortung…

Er sollte in der Stadt bleiben und sein Bestes geben.

Doch… die Geschichte war voller Knochen von Männern, die sich schlechten Anweisungen in der Hoffnung gefügt hatten, den Schlag ein wenig abmildern zu können. Oh, ja, es gab schlimmere Dinge, aber die meisten von ihnen begannen sofort nach dem Beschluß, den schlechten Anweisungen zu gehorchen.

Mumms Blick glitt von Karotte zum Disorganizer und dann zu den Papierbergen auf seinem Schreibtisch.

Ach, zum Henker! Im Grunde seines Herzens war er immer ein Diebesfänger gewesen! Warum es leugnen?

»Ich will verdammt sein, wenn ich Ahmed nach Klatsch entkommen lasse!« brummte er und stand auf. »Ein schnelles Schiff, nehme ich an?«

»Ja. Aber es lag ziemlich tief im Wasser.«

»Dann können wir es vielleicht einholen.«

Als Mumm loslief, hatte er das sonderbare Gefühl, doppelt zu existieren, was tatsächlich der Fall war. Für den Bruchteil einer Sekunde gab es zwei Männer namens Samuel Mumm.

Für die Geschichte sind Entscheidungen wie Richtungsangaben. Die Hose der Zeit öffnete sich, und Mumm flog durch ein Bein.

Der andere Mumm, der eine andere Entscheidung getroffen hatte, fiel einer anderen Zukunft entgegen.

Beide kehrten zurück, um nach ihren Disorganizern zu greifen. Ein besonders frecher Zufall, der zufälliger überhaupt nicht sein konnte, sorgte dafür, daß jeder von ihnen die falsche Schachtel erwischte.

Manchmal hängt die Lawine von einer einzigen Schneeflocke ab. Manchmal bekommt ein Kieselstein Gelegenheit herauszufinden, was hätte geschehen können – wenn er in eine andere Richtung gefallen wäre.

 

Die Zauberer von Ankh-Morpork hatten über das Drucken sehr harte Ansichten. In Ankh-Morpork sollte so etwas nicht passieren. Angenommen, führten sie aus, angenommen, jemand druckte ein Buch über Magie und verwendete die Typen anschließend für etwas anderes, zum Beispiel für ein kulinarisches Nachschlagewerk. Das Metall würde sich erinnern. Zauberformeln sind mehr als nur die Worte, aus denen sie bestehen. Wir bekämen es vielleicht mit sprechenden Souffles zu tun. Außerdem käme möglicherweise jemand auf den Gedanken, Tausende von den verdammten Dingern zu drucken, und einige Exemplare könnten von ungeeigneten Leuten gelesen werden.

Die Graveurgilde war ebenfalls gegen das Drucken. Ihre Mitglieder meinten, eine gravierte Textseite zeichnete sich durch besondere Reinheit aus. Die Graveure leisteten sehr gute Arbeit für ein sehr angemessenes Honorar. Gewöhnlichen Leuten zu erlauben, irgendwelche Typen zusammenzuhämmern… Darin kam Respektlosigkeit den Worten gegenüber zum Ausdruck, was bestimmt zu nichts Gutem führte.

Der einzige Versuch, in Ankh-Morpork eine Druckerpresse einzurichten, endete in einem mysteriösen Brand und dem Selbstmord des unglücklichen Druckers. Alle wußten, daß es sich um einen Selbstmord handelte, denn er hinterließ einen Abschiedsbrief. Die Tatsache, daß die Worte auf einen Stecknadelkopf graviert waren, hielt man für ein unwichtiges Detail.

Auch der Patrizier war gegen das Drucken. Er wollte es der Bevölkerung ersparen, die schwere Last des Wissens tragen zu müssen.

Deshalb blieben die Leute auf mündliche Überlieferungen angewiesen. Diese Methode der Nachrichtenübermittlung funktionierte in Ankh-Morpork aufgrund der geringen Entfernung zwischen den Mündern recht gut. Viele von ihnen befanden sich unter den Nasen der Mitglieder der Bettlergilde11, von Bürgern also, die in dem Ruf standen, allgemein gut informiert zu sein. Einige von ihnen genossen aufgrund ihrer Sportberichterstattung hohes Ansehen.

Lord Rust richtete einen nachdenklichen Blick auf den Gebeugten Michael, einen Brummler zweiten Grades.

»Und was geschah dann?«

Der Gebeugte Michael kratzte sich am Handgelenk. Den zweiten Grad hatte er vor kurzer Zeit erhalten, weil es ihm gelungen war, sich eine zwar harmlose, aber schlimm aussehende Hautkrankheit zuzulegen.

»Herr Karotte blieb etwa zwei Minuten drinnen, Herr. Dann kamen sie nach draußen un’ rannten un’…«

»Wen meinst du mit sie?« fragte Rust. Nur mit Mühe widerstand er der Versuchung, sich ebenfalls zu kratzen.

»Karotte un’ Mumm un’ ein Zwerg un’ ein Zombie un’ all die anderen, Herr. Zu den Docks liefen sie, un’ dort sah Mumm den Kapitän Jenkins, un’ er sagte…«

 

»Ah, Kapitän Jenkins! Heute ist dein Glückstag!«

Der Kapitän sah von einem Seil auf, das er gerade zusammenrollte. Die Leute hören nicht gern, daß heute ihr Glückstag ist. Das bedeutet nichts Gutes.

»Tatsächlich?« erwiderte er.

»Ja, weil du nämlich die einzigartige Möglichkeit hast, bei den Kriegsbemühungen zu helfen!«

»Ach?«

»Außerdem kannst du deinen Patriotismus beweisen«, fügte Karotte hinzu.

»Kann ich das?«

»Wir müssen uns dein Schiff ausleihen«, sagte Mumm.

»Verschwinde!«

»Ich nehme an, das ist ein deftiger nautischer Ausdruck für ›Oh, natürlich‹«, sagte Mumm. »Hauptmann Karotte?«

»Herr Kommandeur?«

»Nimm Detritus mit und sieh hinter der falschen Wand im Frachtraum nach«, ordnete Mumm an.

»Sofort, Herr Kommandeur.« Karotte schritt zur Leiter.

»Es gibt keine falsche Wand im Frachtraum!« erwiderte Jenkins scharf. »Und ich kenne das Gesetz, und deshalb weiß ich…«

Aus dem Bauch des Schiffes drang das unverkennbare Geräusch von splitterndem Holz.

»Wenn das keine falsche Wand war, hat Karotte gerade ein Loch in den Rumpf deines Schiffes geschlagen«, sagte Mumm ruhig und musterte den Kapitän.

»Äh…«

»Auch ich kenne das Gesetz«, fuhr Mumm fort. Er zog sein Schwert. »Siehst du das hier?« fragte er und hob die Klinge. »Das ist das Kriegsrecht. Und die militärischen Gesetze des Kriegsrechts basieren auf dem Schwert. Es ist kein zweischneidiges Schwert. Dieses hat nur eine Schneide, und sie zeigt auf dich. Hast du was gefunden, Karotte?«

Der Hauptmann erschien auf dem Deck des Schiffes, mit einer Armbrust in der Hand.

»Na so was«, sagte Mumm. »Das scheint eine ›Viper‹ MK3 von Burlich-und-Starkimarm zu sein. Sie tötet Personen, läßt Gebäude jedoch intakt.«

»Hinter der falschen Trennwand sind viele Kisten gestapelt«, meinte Karotte.

»Weißt du, ich glaube, es gibt tatsächlich Gesetze, die es verbieten, dem Feind während des Krieges Waffen zu verkaufen«, sagte Mumm. »Oder vielleicht auch nicht.« Fröhlich fügte er hinzu: »Was hältst du davon, wenn wir jetzt zum Hiergibt’salles-Platz gehen? Um diese Zeit wimmelt’s dort von Leuten, die von dem bevorstehenden Krieg begeistert sind und unsere tapferen Soldaten bejubeln… Vielleicht sollten wir es ihnen überlassen, eine Entscheidung zu treffen. Man hat mir mehrmals den Rat gegeben, auf die Stimme des Volkes zu hören. Eigentlich seltsam… Man begegnet den Leuten, und sie sind anständig. Sie verfügen über ein einigermaßen funktionierendes Gehirn. Und dann kommen solche Leute in größerer Zahl zusammen, und plötzlich hört man die Stimme des Volkes. Und sie knurrt.«

»Das ist die Herrschaft des Pöbels!«

»O nein, da irrst du dich bestimmt«, erwiderte Mumm. »Man nennt es demokratische Gerechtigkeit.«

»Ein Mann, ein Stein«, ließ sich Detritus vernehmen.

Jenkins sah aus wie jemand, der nicht nur den Boden unter den Füßen verlor, sondern die ganze Welt. Er starrte Mumm an, sah dann zu Karotte und mußte feststellen, daß er von dort keine Hilfe erwarten durfte.

»Natürlich hast du von uns nichts zu befürchten«, meinte Mumm. »Du könntest höchstens auf der Treppe stolpern, die zu den Zellen hinunterführt.«

»Im Zellentrakt des Wachhauses gibt es gar keine Treppe!«

»Es läßt sich schnell eine einbauen.«

»Bitte, Herr Jenkins«, sagte Karotte, der gute Polizist.

»Ich wollte… die Waffen… nicht nach… Klatsch bringen«, brachte Jenkins so langsam hervor, als läse er die Worte mit großer Mühe von einem inneren Zettel. »Ich habe… sie gekauft, um sie… unseren Regimentern…«

»Ja? Ja?« drängte Mumm.

»…zu schenken«, sagte Jenkins.

»Ausgezeichnet«, lobte Karotte. »Das ist die richtige Einstellung.«

»Und du bist gern bereit…?« soufflierte Mumm.

»Und ich… bin gern bereit… euch mein Boot zu leihen, um die Kriegsbemühungen zu unterstützen«, sagte Jenkins. Er schwitzte.

»Ein wahrer Patriot«, kommentierte Mumm.

Jenkins schnitt eine Grimasse.

»Wer hat euch von der falschen Trennwand im Frachtraum erzählt?« fragte er. »Ihr wußtet gar nichts davon, oder? Ihr habt nur geraten, stimmt’s?«

»Ja«, bestätigte Mumm.

»Aha! Ich wußte, daß ihr nur geraten habt!«

»Ein schlauer Patriot noch dazu«, sagte Mumm. »Und nun… Wie schnell kann dieses Schiff sein?«

 

Lord Rust klopfte mit den Fingern auf den Tisch.

»Was hat er mit dem Schiff vor?«

»Keine Ahnung, Herr«, sagte der Gebeugte Michael und kratzte sich am Kopf.

»Verdammt! Hat ihn sonst noch jemand gesehen?«

»Oh, es befanden sich nicht viele Leute in der Nähe, Herr.«

»Wenigstens etwas.«

»Nur ich und der Stinkende Alte Ron und der Entenmann und der Blinde Hugh und Ringo Braue und Nirgends Jose und Sidney Schief und der Mistkerl Krummi und der Pfeifende Richard und noch einige andere, Herr.«

Rust ließ die Schultern hängen und hob eine blasse Hand vor sein Gesicht. In Ankh-Morpork hatte die Nacht tausend Augen, ebenso der Tag. Hinzu kamen fünfhundert Münder und neunhundertneunundneunzig Ohren.12

»Dann haben die Klatschianer bestimmt davon erfahren«, sagte er. »Eine Gruppe von Ankh-Morpork-Soldaten bricht mit einem Schiff nach Klatsch auf. Eine Invasionsstreitmacht ist unterwegs.«

»Oh, ich würde in diesem Zusammenhang kaum von einer Inva…«, begann Leutnant Hornett.

»So werden es die Klatschianer nennen«, sagte Rust. »Außerdem ist auch der Troll Detritus an Bord.«

Ein kummervoller Schatten senkte sich auf Hornetts Miene. Detritus allein war schon eine Invasionsstreitmacht.

»Wie viele Schiffe haben wir inzwischen requiriert?« fragte Rust.

»Mehr als zwanzig, wenn man auch die Unzerstörbar, Trägheit und…« Leutnant Hornett sah noch einmal auf seine Liste, »… und die Stol von Ankh-Morpork berücksichtigt, Herr.«

»Die Stol

»So steht es hier, Herr.«

»Wir sollten also mit tausend Männern und zweihundert Pferden aufbrechen können.«

»Warum lassen wir Mumm nicht einfach ziehen?« fragte Lord Selachii. »Sollen die Klatschianer ihn erledigen. Dann sind wir ihn endlich los.«

»Aber dann hätten die Klatschianer einen Sieg über die Streitkräfte von Ankh-Morpork errungen – so würden sie es sehen. Verflucht sei der Mann. Er zwingt uns, schon jetzt aktiv zu werden. Nun, vielleicht ist es sogar besser so. Wir müssen ebenfalls aufbrechen.«

»Sind wir schon bereit, Herr?« fragte Leutnant Hornett in jenem besonderen Tonfall, der bedeutet: »Wir sind noch nicht bereit, Herr!«

»Wir sollten es besser sein. Ruhm wartet auf uns, Gentlemen. Um mit General Taktikus zu sprechen: Packen wir die Geschichte am Hodensack. Nun, er war natürlich kein sehr ehrenhafter Kämpfer.«

 

Weißer Sonnenschein erzeugte in Prinz Cadrams Palast besonders krasse Unterschiede zwischen Licht und Schatten. Auch Cadram hatte eine Karte von Klatsch, die aus vielen kleinen Mosaiksteinen im Boden bestand. Nachdenklich betrachtete er sie.

»Nur ein Schiff?« fragte er.

Der Erste Berater General Ashal nickte. »Unsere Kristalldeuter können angesichts der großen Entfernung keine Einzelheiten erkennen, aber wir glauben, einer der Männer an Bord ist Mumm. Du erinnerst dich gewiß an den Namen, Gebieter.«

»Ah, der nützliche Kommandeur Mumm.« Prinz Cadram lächelte.

»Ja. Und inzwischen herrscht an den Docks reger Betrieb. Alles deutet auf ein baldiges Aufbrechen des Expeditionskorps hin.«

»Ich dachte, uns bliebe noch mindestens eine Woche Zeit, Ashal.«

»Es ist sehr verwirrend. Sie können unmöglich alle Vorbereitungen abgeschlossen haben, Gebieter. Offenbar ist irgend etwas geschehen.«

Cadram seufzte. »Na schön. Beschreiten wir den Weg, den uns das Schicksal zeigt. Wo wird der Angriff stattfinden?«

»Bei Gebra, Gebieter. Da bin ich ganz sicher.«

»Bei unserer am stärksten befestigten Stadt? Das kann ich mir kaum vorstellen. Nur ein Idiot würde ausgerechnet dort angreifen.«

»Ich habe mich eingehend mit Lord Rust befaßt, Gebieter. Er rechnet gar nicht damit, daß wir kämpfen, und deshalb macht ihm die Größe unserer Streitkräfte überhaupt keine Sorgen.« Der General lächelte ein zufriedenes, dünnes Lächeln. »Und indem er uns angreift, fügt er einer Schändlichkeit eine andere hinzu. Das wird den anderen Küstenstaaten nicht entgehen.«

»Also eine Änderung des Plans«, sagte Cadram. »Ankh-Morpork kann warten.«

»Eine weise Entscheidung, Gebieter. Wie üblich.«

»Irgendwelche Neuigkeiten über meinen armen Bruder?«

»Leider nein, Gebieter.«

»Unsere Gesandten müssen noch aufmerksamer suchen. Die Welt sieht zu, Ashal.«

»Ja, Gebieter.«

 

»Feldwebel?«

»Ja, Nobby?«

»Erzähl mir noch einmal von unseren besonderen Fähigkeiten.«

»Sei still und tritt in die Pedale, Nobby.«

»Zu Befehl, Feldwebel.«

Es war ziemlich dunkel an Bord. Eine Kerze schwang hin und her – sie steckte in einem Halter, der von der Decke herabhing. Unter ihr saß Leonard von Quirm und steuerte mit Hilfe von zwei Hebeln. Überall rasselten Ketten und knarrten die Seile von kleinen Flaschenzügen. Nobbs hatte das Gefühl, im Innern einer Nähmaschine zu hocken; noch dazu in einer feuchten. Kondenswasser tropfte unablässig von der Decke.

Seit zehn Minuten traten sie in die Pedale. Leonard hatte den größten Teil dieser Zeit damit verbracht, aufgeregt zu reden. Nobby hatte den Eindruck, daß er nicht oft unter Leute kam. Er sprach praktisch über alles.

Zum Beispiel über die Lufttanks. Nobby konnte sich halbwegs an die Vorstellung gewöhnen, daß sich Luft irgendwie zusammenpressen und in kleinen, knirschenden Fässern unterbringen ließ, die mit Metallbändern verstärkt und an den Wänden befestigt waren. Doch die Verwendung der Luft verblüffte ihn.

»Blasen!« sagte Leonard. »Die Delphine, erinnert ihr euch? Sie schwimmen nicht durchs Wasser, sondern fliegen durch eine Wolke aus Blasen. Was natürlich viel einfacher ist. Ich habe ein wenig Seife hinzugefügt, was den Effekt noch verbessern dürfte.«

»Er glaubt, daß Delphine fliegen«, flüsterte Nobby.

»Tritt nur weiter in die Pedale.«

Feldwebel Colon wagte einen Blick über die Schulter.

Lord Vetinari saß auf einer umgedrehten Kiste inmitten der klickenden Ketten und betrachtete einige von Leonards Skizzen, die auf seinen Knien lagen.

»Weitermachen, Feldwebel«, sagte der Patrizier.

»Ja, Herr.«

Das Boot wurde schneller, als sie sich von der Stadt entfernten. Durch die kleinen Glasfenster fiel sogar ein wenig brackiges Licht.

»Herr Leonard?« fragte Nobby.

»Ja?«

»Wohin sind wir unterwegs?«

»Seine Exzellenz möchte nach Leshp.«

»Etwas in der Art dachte ich mir«, sagte Nobby. »Ich dachte: ›Wohin will ich auf keinen Fall reisen?‹ Darauf fiel mir sofort die Antwort ein, einfach so. Allerdings glaube ich, daß wir Leshp nie erreichen, weil mir nämlich gleich die Knie abfallen…«

»Oh, meine Güte, ihr braucht natürlich nicht die ganze Zeit trampeln«, erwiderte Leonard. »Wozu ist deiner Meinung nach wohl das große Gewinde am Bug da?«

»Ach, das hornartige Ding?« entgegnete Nobby. »Ich dachte, es dient dazu, ein ganzes Stück unter der Wasserlinie in den Rumpf feindlicher Schiffe gebohrt zu werden…«

»Was?« Leonard drehte sich entsetzt um.

»Schiffe versenken? Schiffe versenken? Schiffe mit Menschen drauf?«

»Äh, ja…«

»Korporal Nobbs, ich glaube, du bist ein sehr törichter junger… Mann«, sagte Leonard steif. »Das Boot nutzen, um Schiffe zu versenken? Das wäre schrecklich! Keinem Seefahrer käme es jemals in den Sinn, etwas so Unehrenhaftes zu tun!«

»Entschuldigung…«

»Der Bohrer, so möchte ich betonen, dient dazu, uns an vorbeikommenden Schiffen zu befestigen, in der Art eines Schiffshalters – damit meine ich einen Fisch, der sich am Leib von Haien festsaugt. Einige wenige Drehungen genügen, um eine ausreichend stabile Verbindung herzustellen.«

»Der Bohrer kann also gar nicht den Rumpf durchdringen?«

»Das könnte nur passieren, wenn man ausgesprochen achtlos und unaufmerksam zu Werke geht!«

 

Die Wellen des Ozeans konnten vielleicht nicht gepflügt werden, aber die Kruste des Flusses Ankh war stromabwärts von Ankh-Morpork fest genug, daß während des Sommers kleine Büsche darauf wachsen konnten. Die Milka glitt langsam dahin und hinterließ eine Furche.

»Können wir nicht schneller vorankommen?« fragte Mumm.

»Oh, sicher«, erwiderte Jenkins spöttisch. »Wo sollen wir den zusätzlichen Mast aufstellen?«

»Das Schiff ist kaum mehr als ein kleiner Fleck«, stellte Karotte fest. »Warum holen wir nicht auf?«

»Weil es ein größeres Schiff ist und über etwas verfügt, das man mehr Segelfläche nennt«, erklärte Jenkins. »Außerdem haben klatschianische Schiffe einen besonders geschmeidigen Rumpf. Und unser Frachtraum steckt voller…«

Er unterbrach sich, aber es war bereits zu spät.

»Hauptmann Karotte?« sagte Mumm.

»Herr Kommandeur?«

»Wirf alles über Bord.«

»Nicht die Armbrüste! Sie kosten mehr als hundert Dollar pro St…«

Jenkins unterbrach sich erneut. Mumms Gesichtsausdruck deutete ganz klar darauf hin, daß es viele Dinge gab, die über Bord geworfen werden konnten, und es war sicher eine gute Idee, nicht zu ihnen zu gehören.

»Geh jetzt und zieh irgendwo an irgendwelchen Seilen«, sagte Mumm.

Er sah dem davonstampfenden Kapitän nach. Kurze Zeit später platschte es. Mumm beugte sich über die Reling und sah die Kiste, die sich im braunen Wasser kurz hin und her neigte, bevor sie versank. Er verspürte eine gewisse Genugtuung. Diebesfänger hatte ihn Rust genannt. Es sollte eine Beleidigung sein, aber Mumm sah die Sache ganz anders. Diebstahl war das einzige Verbrechen, ob es dabei nun um Gold, Unschuld oder das Leben ging. Und für den Diebesfänger gab es die Jagd…

Das Platschen wiederholte sich mehrmals. Mumm stellte sich vor, wie das leichtere Schiff schneller wurde.

Die Jagd… die Jagd war einfacher als das Fangen. Sobald man jemanden gefangen hatte, wurde die Sache kompliziert. Die Jagd hingegen blieb rein und frei. Sie brachte mehr Erfüllung als die Untersuchung sogenannter Spuren und das wiederholte Lesen von Notizbüchern. Er flieht, ich verfolge ihn. Ganz einfach.

Vetinaris Terrier, wie?

»Bimmel-bimmel-bamm!« tönte es aus seiner Tasche.

»Laß mich raten«, sagte Mumm. »Der Termin lautet: ›Fünf Uhr nachmittags, auf dem Meer.‹ Stimmt’s?«

»Äh… nein«, erwiderte der Disorganizer. »Bei mir heißt es: ›Heftige Auseinandersetzungen mit Lord Rust‹. Hier Namen einfügen.«

»Sollst du mir nicht mitteilen, was mir bevorsteht?« fragte Mumm und öffnete die Schachtel.

»Äh… was dir bevorstehen sollte«, erwiderte der Dämon und wirkte sehr besorgt. »Was dir bevorstehen sollte. Mir ist das ein Rätsel… Offenbar stimmt hier etwas nicht…«

 

Angua stellte den Versuch ein, das Halsband an der Wand abzustreifen. Auf diese Weise hatte es keinen Zweck. Das an ihre Haut gepreßte Silber wollte sie gleichzeitig vor Kälte erstarren lassen und verbrennen.

Abgesehen davon – und für einen Werwolf war ein silbernes Halsband ein ziemlich großes Abgesehen davon – war sie gut behandelt worden. Man hatte einen Napf mit Nahrung zurückgelassen, einen hölzernen Napf; der Wolf in ihr fraß daraus, während der menschliche Teil die Augen schloß und sich die Nase zuhielt. Ein zweiter Napf enthielt Wasser, das nach den Maßstäben von Ankh-Morpork recht sauber zu sein schien. Zumindest konnte sie bis auf den Grund sehen.

In der Gestalt des Wolfes fiel es Angua sehr schwer, konzentriert zu überlegen. Es war, als würde sie versuchen, völlig betrunken eine Tür aufzuschließen. Sie konnte es durchaus bewerkstelligen, aber sie mußte sich dabei auf jede einzelne Bewegung konzentrieren.

Ein Geräusch erklang.

Anguas Ohren drehten sich wie Antennen.

Etwas klopfte ein- oder zweimal gegen den Rumpf. Sie hoffte, daß das Pochen von einem Riff verursacht wurde – vielleicht ein Hinweis auf die Nähe von Land. Mit ein wenig Glück konnte sie ans Ufer schwimmen…

Etwas klirrte. Sie hatte die Kette vergessen. Eigentlich war sie gar nicht notwendig. Angua fühlte sich so schwach wie ein Kätzchen.

Kurz darauf vernahm sie ein anderes, rhythmisches Geräusch. Es klang, als bohrte sich etwas durch Holz.

Eine winzige Spitze aus Metall wuchs direkt vor Anguas Schnauze etwa zweieinhalb Zentimeter aus der Wand, bevor sie verharrte.

Und dann sprach jemand. Mehr als nur eine Person. Die Stimmen schienen aus weiter Ferne zu kommen und waren verzerrt – vielleicht konnten sie nur von den Ohren eines Werwolfs wahrgenommen werden. Worte ertönten irgendwo unter ihren Pfoten.

»Du brauchst jetzt nicht mehr in die Pedale zu treten, Korporal Nobbs.«

»Ich bin total geschafft, Feldwebel. Gibt es hier irgend etwas zu essen?«

»Es ist noch ein bißchen Knoblauchsuppe übrig. Oder probier den Käse. Oder die Bohnen.«

»Wir sitzen in einer Blechbüchse ohne Luft, und ich soll den Käse probieren? Von den Bohnen ganz zu schweigen.«

»Ich bin untröstlich, meine Herren. Es mußte alles sehr schnell gehen, und ich brauchte Nahrungsmittel, die etwas länger halten.«

»Hier drin wird’s inzwischen ein wenig… stickig, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Sobald es dunkel geworden ist, lasse ich das Seil ablaufen. Dann können wir auftauchen und frische Luft schnappen.«

»Mir genügt’s, wenn wir die alte Luft loswerden, herzlichen Dank.«

Angua runzelte die Stirn, als sie versuchte, die Worte zu verstehen. Die Stimmen mochten verzerrt sein, aber sie klangen vertraut, ebenso ihr Tonfall. Ein vages Empfinden kroch durch den Nebel des animalischen Intellekts: Freunde.

Und der kleine, unveränderliche Kern ihres Selbst dachte: Meine Güte, demnächst lasse ich mich auch noch dazu hinreißen, Hände abzulecken.

Sie senkte den Kopf in unmittelbarer Nähe der metallenen Spitze.

»… verstehe ich überhaupt nicht, wie du auf so etwas kommst, junger Mann! Schiffe versenken? Nein, ich begreife wirklich nicht, was jemand davon haben sollte!«

Namen. Einige der Stimmen hatten… Namen.

Das Denken wurde noch schwieriger – wegen des Silbers. Wenn sie damit aufhörte und der Mattigkeit nachgab… dann vergaß sie vielleicht, wie man dachte.

Ihr Blick klebte an der Spitze fest. Sie bestand aus Metall und hatte scharfe Kanten.

Der winzige menschliche Teil ihres Ichs verfluchte die Dummheit des Wolfs und versuchte, ihn darauf hinzuweisen, was es nun zu unternehmen galt.

 

Es war nach Mitternacht.

Der Mann aus dem Ausguck kniete vor 71-Stunden-Ahmed auf dem Deck und zitterte.

»Ich weiß, was ich gesehen habe, Wali«, stöhnte er. »Und die anderen haben es ebenfalls gesehen! Etwas stieg hinter dem Schiff auf und verfolgte uns! Ein Ungeheuer!«

Ahmed blickte zum Kapitän, der mit den Schultern zuckte. »Wer weiß, was sich in den Tiefen des Ozeans verbirgt, Wali

»Und dann der Odem des Monstrums!« ächzte der Seemann. »Fauchend ließ es den Atem entweichen, und es stank wie von tausend Aborten! Und dann sprach es!«

»Tatsächlich?« erwiderte Ahmed. »Das ist ungewöhnlich. Was sagte es?«

»Ich habe es nicht verstanden!« Das Gesicht des Mannes verzerrte sich, als er versuchte, völlig unvertraute Silben aneinanderzufügen. »Es klang wie…« Er schluckte und fuhr fort: »Bei den Göttern, Feldwebel, bin froh, daß wir das losgeworden sind!«

Ahmed starrte ihn an. »Und was bedeutet das deiner Meinung nach?«

»Ich weiß es nicht, Wali

»Du hast nicht viel Zeit in Ankh-Morpork verbracht, oder?«

»Nein, Wali

»Kehr auf deinen Posten zurück.«

Der Mann wankte fort.

»Wir sind langsamer geworden, Wali«, sagte der Kapitän.

»Vielleicht deshalb, weil sich ein Seeungeheuer an unserem Kiel festhält?«

»Du beliebst zu scherzen, Herr. Aber wer weiß, was durch den Aufstieg des neuen Lands geweckt worden ist?«

»Ich sehe mir die Sache selbst an«, sagte 71-Stunden-Ahmed.

Er ging zum Heck des Schiffes. Dunkle Fluten plätscherten und gurgelten; ein phosphoreszierendes Glühen zog sich am Rand des Kielwassers entlang.

Er hielt lange Zeit Ausschau. In der Wüste hatten Leute, die schlecht beobachteten, eine geringe Lebenserwartung – ein Schatten im Mondschein konnte tatsächlich nur ein Schatten sein, oder auch jemand, der einem helfen wollte, den Weg zum Paradies abzukürzen. Die D’regs bekamen es oft mit der zweiten Schattenkategorie zu tun.

Der Name »D’reg« stammte nicht von ihnen selbst, obwohl sie ihn voller Stolz trugen. Das Wort bedeutete »Feind«. Feind aller anderen. Und wenn alle anderen nicht zugegen waren, begnügten sie sich damit, untereinander Feinde zu sein.

Wenn man genau Ausschau hielt… konnte man den Eindruck gewinnen, daß ein dunkler Schemen dicht unter der schwarzen Wasseroberfläche dem Schiff in einem Abstand von etwa hundert Metern folgte. Wellen brachen dort, wo sie eigentlich gar nicht brechen sollten. Ein Riff schien hinter dem Segler zu schwimmen.

Na so was…

71-Stunden-Ahmed war nicht abergläubisch, sondern dochgläubisch, weshalb er zu einer kleinen Minderheit bei den Menschen zählte. Er glaubte nicht an Dinge, an die zwar alle anderen glaubten, die dadurch aber keinen Platz in der Realität bekamen. Statt dessen glaubte er an die Dinge, an die niemand sonst glaubte – und die tatsächlich existierten. Das dochgläubische Spektrum reichte von »Es wird besser, wenn du nicht daran heranfummelst« bis zu »Manchmal passieren Dinge einfach«.

Derzeit neigte er nicht dazu, an Seeungeheuer zu glauben, erst recht nicht an welche, die die Sprache von Ankh-Morpork sprachen. Andererseits glaubte er fest daran, daß es auf der Welt viele Dinge gab, von denen er nichts wußte.

In der Ferne sah er die Lichter eines Schiffes. Es schien nicht zu ihnen aufzuholen.

Diese Sache war weitaus besorgniserregender.

In der Dunkelheit hob 71-Stunden-Ahmed die Hand zur Schulter und zog sein Schwert.

Über ihm knarrte das Hauptsegel im Wind.

 

Feldwebel Colon wußte, daß er einen der gefährlichsten Augenblicke seiner beruflichen Laufbahn erreicht hatte.

Er mußte es hinter sich bringen. Ihm blieb nichts anderes übrig.

»Äh… wenn ich dieses M und dieses E und dieses D und dieses E und dieses N dem I hinzufüge«, sagte er, »dann kann ich mit dem bereits vorhandenen I das Wort ›meiden‹ formen. Dadurch bekomme ich…äh… wie nennt man diese blauen Quadrate, Len?«

»Du bekommst einen Dreimal-den-Wert-deiner-Buchstaben-Bonus«, erklärte Leonard von Quirm.

»Ausgezeichnet, Feldwebel«, sagte Lord Vetinari. »Ich glaube, damit gehst du in Führung.«

»Äh… das glaube ich ebenfalls, Herr«, quiekte Feldwebel Colon.

»Allerdings stelle ich fest, daß du mir die Verwendung von U, N und F, Ä, H, I, G überlassen hast«, sagte der Patrizier. »Was mich zum Dreimal-das-ganze-Wort-Feld führt. Wenn ich mich nicht sehr irre, gewinne ich dadurch.«

Feldwebel Colon seufzte erleichtert.

»Ein interessantes Spiel, Leonard«, meinte Vetinari. »Wie heißt es noch?«

»Ich nenne es Man-setze-Wörter-aus-durcheinander-liegenden-Buchstaben-zusammen-Spiel, Euer Exzellenz.«

»Ah ja. Ein angemessen beschreibender Name.«

»Ha, und ich habe nur drei Punkte«, beklagte sich Nobby. »Weil du meine Wörter nicht zugelassen hast, Feldwebel. Dabei gab es überhaupt nichts an ihnen auszusetzen.«

»Ich bin sicher, daß diese Herren nicht wissen möchten, welche Wörter du meinst«, sagte Colon streng.

»Für das X hätte ich zehn Punkte bekommen.«

Leonard sah auf. »Seltsam. Offenbar bewegen wir uns nicht mehr…«

Er griff nach oben und öffnete die Luke. Feuchte Nachtluft strömte herein, und Stimmen erklangen. Sie schienen recht nahe zu sein und hallten laut übers Wasser.

»Heidnisches klatschianisches Kauderwelsch«, sagte Colon. »Worüber reden sie?«

»›Welcher Neffe eines Kamels hat im Tauwerk herumgeschnitten‹«, übersetzte Lord Vetinari, ohne aufzusehen. »›Und nicht nur die Seile. Seht euch nur dieses Segel an. He du, hilf mir…‹«

»Ich wußte gar nicht, daß du Klatschianisch sprichst, Exzellenz.«

»Kein einziges Wort«, sagte Lord Vetinari.

»Aber du…«

»Nein«, stellte der Patrizier ruhig fest.

»Äh… wie du meinst…«

»Wo sind wir, Leonard?«

»Nun…äh… meine Sternkarten sind natürlich längst veraltet, aber wenn du bereit wärst, bis zum Sonnenaufgang zu warten; ich habe da einen Apparat erfunden, mit dem man seine Position mit Hilfe des Sonnenstandes bestimmen kann, außerdem eine ziemlich genau gehende Uhr, die…«

»Wo sind wir jetzt, Leonard?«

»Äh… in der Mitte des Runden Meers, nehme ich an.«

»In der Mitte?«

»In unmittelbarer Nähe der Mitte, ja, da bin ich ziemlich sicher. Wenn ich die Windgeschwindigkeit messen könnte…«

»Also müßte Leshp in der Nähe sein?«

»Oh, ja, ich denke schon…«

»Gut. Löse uns jetzt von dem anscheinend in Not geratenen Schiff, während wir noch den Schutz der Dunkelheit genießen. Morgen früh möchte ich mir das neue Land ansehen. Ich schlage vor, wir nutzen den Rest der Zeit, um ein wenig zu schlafen.«

Feldwebel Colon bekam nicht viel Schlaf, weil er mehrmals von sägenden und klopfenden Geräuschen geweckt wurde, die vom Bug des Bootes kamen. Außerdem tropfte immer mehr Wasser auf ihn herab. Hauptsächlich aber fand er deshalb keine Ruhe, weil er aufgrund des allgemeinen Nachlassens der Aktivität Gelegenheit bekam, über seine Situation nachzudenken.

Manchmal sah er, wie sich der Patrizier über Leonards Skizzen beugte, eine schmale Silhouette im Kerzenlicht. Er las, machte sich Notizen…

Colon begriff, daß er sich in der Gesellschaft eines Mannes befand, vor dem sich selbst die Assassinengilde fürchtete, und eines anderen Mannes, der die ganze Nacht über aufblieb, um einen Wecker zu finden, von dem er sich morgens wecken lassen konnte. Hinzu kam ein dritter Mann, von dem er nicht wußte, ob er jemals seine Unterwäsche gewechselt hatte.

Und er befand sich auf hoher See.

Er versuchte, die Sache von der positiven Seite zu sehen. Weshalb verabscheute er Boote und Schiffe? Weil sie sanken. Aber bei diesem Boot war das Versinken von Anfang an eingebaut. Und man brauchte nicht die dahinrollenden Wellen zu beobachten, weil sie über einem dahinrollten.

Diese Überlegungen waren vollkommen logisch. Aber sie beruhigten nicht.

Als er einmal mehr erwachte, hörte er leise Stimmen vom anderen Ende des Bootes.

»… verstehe ich das nicht ganz, Euer Exzellenz. Warum ausgerechnet sie?«

»Sie tun, was man ihnen sagt. Sie glauben an die letzten Dinge, die sie gehört haben. Sie sind nicht klug genug, um Fragen zu stellen. Und sie verfügen über jene Art von unerschütterlicher Loyalität, die von zuviel Intelligenz unbelastet bleibt.«

»Vielleicht hast du recht, Exzellenz.«

»Solche Männer sind sehr nützlich, glaub mir.«

Feldwebel Colon drehte sich auf die Seite und versuchte, eine möglichst bequeme Position zu finden. Bin froh, daß ich nicht zu den armen Mistkerlen gehöre, dachte er, als er in der Tiefe des Meeres zum Schlaf zurückfand. Ich bin ein Mann mit besonderen Fähigkeiten.

 

Mumm schüttelte den Kopf. Das Hecklicht des klatschianischen Schiffes war in der Finsternis kaum zu erkennen.

»Holen wir auf?« fragte er.

Kapitän Jenkins nickte. »Vielleicht. Es erstreckt sich ziemlich viel Wasser zwischen uns.«

»Haben wir wirklich alle schweren Dinge über Bord geworfen?«

»Ja! Soll ich mir auch noch den Bart abrasieren?«

Karottes Gesicht erschien am Rand des Frachtraums. »Alle haben sich hingelegt, Herr Kommandeur.«

»Gut.«

»Ich gehe jetzt ebenfalls schlafen, falls du nichts dagegen hast.«

»Wie bitte?«

»Ich horche ein wenig an der Matratze, Herr Kommandeur.«

»Aber… aber…« Mumm deutete vage zum dunklen Horizont. »Wir verfolgen deine Freundin. Unter anderem, meine ich«, fügte er hinzu.

»Ja, Herr Kommandeur.«

»Bist du nicht… Ich meine, du kannst es doch sicher kaum abwarten… Hast du wirklich vor, nach unten zu gehen und ein Nickerchen zu machen, Hauptmann?«

»Um frisch und ausgeruht zu sein, wenn wir das Schiff erreichen. Ja, Herr Kommandeur. Wenn ich die ganze Nacht damit verbringe, übers Meer zu starren und besorgt zu sein, bin ich sicher sehr müde, wenn es schließlich ernst wird. Und dann kann ich kaum etwas gegen Anguas Entführer ausrichten.«

Es ergab durchaus einen Sinn. Es ergab sogar viel Sinn. Und eine solche Einstellung war ausgesprochen vernünftig. Das konnte Mumm ganz deutlich erkennen. Karotte hatte sich wirklich hingesetzt, einen klaren Kopf behalten und in aller Ruhe nachgedacht.

»Und glaubst du wirklich, daß du einschlafen kannst?« fragte Mumm.

»Ja. Das bin ich Angua schuldig.«

»Oh. Nun… gute Nacht.«

Karotte verschwand wieder im Frachtraum.

»Lieber Himmel«, sagte Jenkins. »Ist er echt?«

»Ja«, bestätigte Mumm.

»Ich meine… würdest du dich hinlegen und schlummern, wenn jemand deine Liebste verschleppt hätte?«

Mumm schwieg.

Jenkins kicherte. »Nun, mit Lady Sybil an Bord läge das klatschianische Schiff noch tiefer im Wasser.«

»Paß nur auf… aufs Meer, meine ich. Wir sollten vermeiden, mit Walen oder so zusammenzustoßen.« Mumm ging zum spitzen Ende des Schiffes.

Karotte, dachte er. Wer ihn nicht kennt, würde es kaum glauben…

»Die Klatschianer werden langsamer, Herr Mumm!« rief Jenkins.

»Was?«

»Das andere Schiff wird langsamer!«

»Gut.«

»Was hast du vor, wenn wir es erreichen?«

»Äh…« Darüber hatte Mumm bisher noch nicht sehr gründlich nachgedacht. Er erinnerte sich an einen Holzschnitt in einem Buch über Piraten.

»Wir schwingen uns an Bord, mit dem Entermesser zwischen den Zähnen«, schlug er vor.

»Im Ernst?« erwiderte Jenkins. »Gut. Seit Jahren habe ich so etwas nicht mehr beobachtet. Eigentlich hab ich’s nur ein einziges Mal gesehen.«

»Ach?«

»Ja. Der Bursche hatte die Idee aus einem Buch. Schwang sich in die Takelage des anderen Schiffes, mit dem Entermesser zwischen den Zähnen.«

»Und?«

»›Oben ohne Harry‹ haben wir auf seinen Sarg geschrieben.«

»Oh.«

»Hast du jemals ein weichgekochtes Ei gesehen, nachdem jemand ein Messer genommen und…«

»Schon gut, ich verstehe. Was schlägst du vor?«

»Enterhaken. Sind ausgesprochen praktisch, Enterhaken. Man wirft sie auf das andere Schiff, und anschließend zieht man einfach.«

»Hast du solche Haken an Bord?«

»Oh, ja. Erst vor kurzer Zeit habe ich sie noch gesehen.«

»Gut. Dann…«

»Wenn ich mich recht entsinne«, fuhr Jenkins erbarmungslos fort, »hat Feldwebel Detritus bei dieser Gelegenheit diverse Objekte über Bord geworfen, und er fragte: ›Was wir machen sollen mit den krummen Hakendingern?‹ und jemand, an dessen Namen ich mich derzeit nicht erinnere, antwortete: ›Es ist alles nur Totgewicht, über Bord damit.‹«

»Warum hast du nichts gesagt?«

»Oh, ich wollte dich nicht stören«, entgegnete Jenkins. »Du schienst dich so sehr zu amüsieren…«

»Mach dich nicht über mich lustig, Kapitän. Ich könnte dich in Eisen legen lassen.«

»Nein, das könntest du nicht, und ich nenne dir auch den Grund dafür. Erstens: Als Hauptmann Karotte fragte: ›Was sollen wir mit diesen Ketten machen, Herr Kommandeur?‹, hast du geantwortet…«

»Jetzt hör mal…«

»… und zweitens: Ich schätze, über Schiffe weißt du wirklich gut Bescheid, nicht wahr? Wir legen die Leute nicht in Eisen, sondern in Ketten. Kannst du die Großbrasse vom Kiel unterscheiden? Ich hab diesbezüglich nicht die geringste Ahnung. Der ganze Johoho-Kram ist nur für Landratten. Besser gesagt: Er wäre für Landratten, wenn wir Ausdrücke wie ›Landratten‹ verwendeten. Kennst du den Unterschied zwischen Backbord und Steuerbord? Ich nicht. Meine Güte, ich bin froh, hinten und vorn auseinanderhalten zu können. Beim Klabauterburschen!«

»Sollte es nicht ›Klabautermann‹ heißen?«

»Vielleicht muß er noch ein wenig wachsen.« Kapitän Jenkins drehte das Steuerrad. »Dies ist ein launischer Wind, und meine Leute und ich wissen, wie man an den Stricken zieht, damit die großen Tücher dort oben richtig funktionieren. Wenn deine Begleiter damit umzugehen versuchten, würden sie bald herausfinden, wie weit es bis zum nächsten Land ist.«

»Wie weit ist es bis zum nächsten Land?«

»In diesem Bereich beträgt die Entfernung etwa dreißig Faden.«

Das Licht war inzwischen ein ganzes Stück näher gekommen.

»Bimmel-bimmel-bamm!«

»Bei den Göttern, was ist denn jetzt?« fragte Mumm.

»Acht Uhr abends. Äh… knappes Entkommen beim Mordanschlag eines klatschianischen Spions?«

Mumm spürte jähe Kälte. »Wo?« fragte er und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen.

»Ecke Brauerstraße und Breiter Weg«, verkündete die melodisch quiekende Stimme.

»Aber ich bin doch gar nicht in Ankh-Morpork!«

»Was hat es dann für einen Sinn, dort einen Termin zu haben? Warum gebe ich mir solche Mühe? Du hast mich aufgefordert, dich darüber zu informieren, was dir bevorsteht…«

»Niemand schreibt die Begegnung mit einem Attentäter in seinen Terminkalender!«

Der Dämon schwieg einige Sekunden und fragte dann: »Du meinst, dieser Eintrag gehört in die Aufgabenliste?« Seine Stimme vibrierte nun.

»In der Art von ›Zu erledigen: Sterben‹?«

»Du brauchst deinen Ärger nicht an mir auszulassen, nur weil du dich in der falschen Zeitlinie befindest!«

»Was soll das denn bedeuten?«

»Aha, ich wußte, daß du das Handbuch nicht gelesen hast! Kapitel XVII-2 (c) weist deutlich darauf hin, wie wichtig es ist, in einer Realität zu bleiben. Andernfalls wirkt die Unschärferelation und…«

»Vergiß meine Frage, in Ordnung?«

Mumm sah erst Jenkins an und blickte dann zum fernen Schiff. »Wir erledigen das auf meine Weise, wo auch immer wir sind.« Er schritt zum Frachtraum und zog die Luke auf. »Detritus?«

 

Die klatschianischen Seeleute rangen mit dem Segelleinen, während ihr Kapitän sie anschrie.

71-Stunden-Ahmed schrie nicht. Er stand einfach nur mit dem Schwert in der Hand und wartete.

Der Kapitän eilte zu ihm, zitterte vor Furcht und hielt ein Stück Seil in der Hand.

»Sieh nur, Wali«, sagte er. »Durchgeschnitten!«

»Wer steckt dahinter?« fragte 71-Stunden-Ahmed ruhig.

»Ich weiß es nicht. Aber wenn ich den Verantwortlichen erwische…«

»Die Hunde haben uns fast erreicht«, sagte Ahmed. »Du und deine Männer – ihr werdet schneller arbeiten.«

»Wer könnte so etwas getan haben?« fragte der Kapitän. »Ich meine, du bist an Bord. Wer…«

Sein Blick glitt vom durchgeschnittenen Seil zum Schwert.

»Wolltest du noch etwas sagen?« fragte Ahmed.

Der Kapitän war in seinem Leben nicht aufgrund von Dummheit so weit gekommen. Er drehte sich um.

»Setzt das Segel, ihr elenden Söhne von Nattern!« rief er.

»Gut«, sagte 71-Stunden-Ahmed.

 

Detritus’ Armbrust war eigentlich eine Belagerungswaffe, die von drei Personen bedient wurde. Die Winde hatte er entfernt, weil er sie nicht benötigte. Er brauchte keine mechanische Hilfe, um die Waffe einsatzbereit zu machen. Selbst die hartnäckigsten Widersacher gaben auf, wenn sie sahen, wie Detritus die Sehne mit dem Daumen zurückzog.

Skeptisch blickte der Troll zum fernen Licht.

»Es ist eine Chance von eins zu einer Million«, sagte er. »Wir noch etwas näher heran müssen.«

»Ziel auf eine Stelle unterhalb der Wasserlinie, damit sie das Seil nicht durchschneiden können«, sagte Mumm.

»Äh… ja.«

»Gibt es irgendein Problem, Feldwebel?«

»Wir uns nähern Klatsch, nicht wahr?«

»Auf diesem Kurs sind wir unterwegs, ja.«

»In Klatsch ich werde richtig dumm«, sagte Detritus. »Wegen der Hitze.«

»Ich hoffe, daß wir das Schiff aufhalten können, bevor wir Klatsch erreichen.«

»Ich nicht versessen darauf bin, zu werden dumm. Ich weiß, daß sagen die Leute: ›Detritus, er dümmer sein als…‹«

»Als ein Stück Holz«, sagte Mumm geistesabwesend.

»Ja. Aber ich gehört habe, daß es in der Wüste wird richtig heiß…«

Der Troll wirkte so kummervoll, daß sich Mumm verpflichtet fühlte, ihm einen kameradschaftlichen Klaps auf den Rücken zu geben.

»Dann sollten wir den Leuten dort drüben keine Gelegenheit geben, nach Klatsch zu gelangen«, erwiderte er und schüttelte seine Hand, um den stechenden Schmerz zu vertreiben.

Das andere Schiff war jetzt so nahe, daß sie Seeleute sahen, die fieberhaft auf dem Deck arbeiteten. Das Hauptsegel blähte sich im Wind auf.

Detritus hob die Armbrust.

Eine Kugel aus blaugrünem Licht glühte an der Spitze des langen Bolzens. Der Troll starrte darauf hinab.

Grünes Feuer huschte über die Masten. Als es das Deck erreichte, entstanden zehn oder mehr Kugeln, die zischend und knisternd über die Planken rollten.

»Das Magie ist?« fragte Detritus. Eine grüne Flamme leckte über seinen Helm.

»Was bedeutet das, Jenkins?« fragte Mumm.

»Das ist keine Magie, sondern viel schlimmer.« Der Kapitän eilte nach vorn. »Also los, Jungs – holt die Segel ein!«

»Die Segel bleiben, wo sie sind!« rief Mumm.

»Weißt du, was dies bedeutet

»Es sich nicht einmal warm anfühlt«, sagte Detritus und tastete nach der Kugel an seiner Armbrust.

»Rühr es nicht an! Rühr es nicht an! Das ist St.-Ungulants-Feuer, jawohl. Und es bedeutet, daß wir alle in einem schrecklichen Sturm umkommen!«

Mumm sah auf. Wolken rasten über den… nein, sie strömten in den Himmel und blähten sich dabei schnell auf wie Tinte, die sich in klarem Wasser ausbreitet. Blaues Licht flackerte irgendwo in ihnen. Das Schiff erzitterte.

»Wir müssen wenigstens einige der Segel einholen!« drängte Jenkins. »Das ist die einzige Möglichkeit, um…«

»Niemand rührt etwas an!« rief Mumm. Das grüne Feuer tanzte jetzt auch auf den Wellen. »Detritus, verhafte jeden, der etwas anrührt!«

»In Ordnung.«

»Immerhin wollen wir schnell vorankommen«, fügte Mumm hinzu, während es zischte und Donner in der Ferne grollte.

Jenkins glotzte ihn an, als sich das Deck unter ihnen hob und senkte.

»Du bist verrückt! Hast du denn gar keine Ahnung, was mit einem Schiff passiert, das versucht… Du weißt es wirklich nicht, oder? Dies ist kein normales Wetter! Man muß dabei sehr vorsichtig sein! Einem solchen Sturm kann man nicht entkommen, indem man sich mit vollen Segeln vom Wind treiben läßt!«

Etwas Glitschiges landete auf Detritus’ Kopf und fiel von dort aufs Deck, wo es zappelte und davonrutschte.

»Und jetzt regnet’s Fische!« stöhnte Jenkins.

Die Wolken bildeten nun eine gelbbraune Masse, in der unablässig Blitze zuckten. Und es war warm. Was Mumm besonders seltsam erschien. Der Wind heulte wie ein Sack voller Katzen, und die Wellen verwandelten sich auf beiden Seiten des Schiffes in hohe Wände, doch die Luft schien geradewegs aus einem Backofen zu kommen.

»Sieh nur, selbst die Klatschianer holen ihre Segel ein!« rief Jenkins in einem Schauer aus Garnelen.

»Gut. Dann erreichen wir sie.«

»Du bist ja wahnsinnig! Autsch!«

Etwas prallte an seinem Kopf ab, schlug an die Reling und blieb vor Mumm liegen.

Ein Messingknauf.

»O nein«, stöhnte Jenkins und hob die Arme über den Kopf. »Jetzt regnet’s wieder verdammte Bettgestelle!«

 

Der Kapitän des klatschianischen Schiffes war kein streitsüchtiger Mann, wenn sich 71-Stunden-Ahmed in der Nähe aufhielt. Er sah zu den knarrenden Segeln empor und überlegte, wie groß seine Chance war, ins Paradies zu gelangen.

»Vielleicht hat uns der Hund, der das Seil durchgeschnitten hat, einen Gefallen erwiesen!« rief er im Tosen des Windes.

Ahmed schwieg. Immer wieder sah er zurück. Im unsteten Licht der Blitze zeichneten sich die Konturen des anderen Schiffes ab. Grünes Feuer glühte dort.

Er hob den Kopf und beobachtete, wie das kalte Feuer über ihre eigenen Masten kroch.

»Siehst du das Licht am Rande der Flammen?« fragte er.

»Wie bitte?«

»Kannst du es erkennen?«

»Äh… nein…«

»Natürlich nicht! Aber du siehst, wo kein Licht ist, oder?«

Der Kapitän starrte ihn groß an und sah dann in entsetztem Gehorsam auf. Wenige Sekunden später bemerkte er tatsächlich die Stellen, wo Licht fehlte. Als die zischenden grünen Flammenzungen im Wind hin und her wogten, beobachtete er an ihren Rändern eine sonderbare… Dunkelheit. Schwärze vielleicht, oder ein bewegliches Loch im Raum.

»Das ist Oktarin!« rief Ahmed, als eine weitere Welle übers Deck flutete. »Nur Zauberer können diese Farbe erkennen! Es steckt Magie im Sturm! Deshalb ist das Wetter so schlecht!«

 

Überall im Schiff knirschte und knackte es, als es in das aufgewühlte Meer zurückfiel.

»Wir liegen kaum noch im Wasser!« jammerte Jenkins. »Eigentlich springen wir nur noch von Wellenkamm zu Wellenkamm!«

»Gut!« erwiderte Mumm. »Dann hört das Schaukeln vielleicht bald auf. Außerdem müßten wir jetzt wieder schneller werden, nachdem wir die Bettgestelle über Bord geworfen haben. Regnet’s hier oft solche Dinge?«

»Was glaubst du

»Ich bin kein Fachmann fürs Nautische!«

»Nein, es regnet hier nicht jeden Tag Bettgestelle! Auch keine Kohleneimer!« fügte er hinzu, als etwas Schwarzes gegen die Reling schepperte und jenseits davon verschwand. »Für gewöhnlich fällt hier nur das normale Zeug runter. Du weißt schon: Regen! Graupel! Fische!«

Eine weitere Bö fauchte übers Deck, und auf den Planken glänzte es silbrig.

»Zurück zum Fischregen!« rief Mumm. »Das ist besser, nicht wahr?«

»Nein! Es ist schlimmer!«

»Warum?«

Jenkins hob eine Büchse.

»Das sind Sardinen!«

Das Schiff bohrte sich in eine weitere Welle, ächzte und setzte zu einem neuen Flug an.

Das kalte grüne Feuer war überall. Es wuchs aus jedem Nagel, tastete über alle Seile und Leitern.

Mumm hatte den seltsamen Eindruck, daß es das Schiff zusammenhielt. Er war ganz und gar nicht mehr sicher, daß es sich nur um Licht handelte. Es bewegte sich zu zielstrebig. Es knisterte, verbrannte jedoch nicht. Es schien sich zu amüsieren…

Das Schiff landete. Wasser spritzte über Mumm hinweg.

»Kapitän Jenkins!«

»Ja?«

»Warum hantieren wir an dem Steuerrad herum? Die meiste Zeit befindet sich das Ruder doch gar nicht im Wasser!«

Sie ließen das Rad los. Für ein oder zwei Sekunden verwandelten sich die Speichen in Schemen – und verharrten dann, als die grünen Flammen Zugriffen und das Steuerrad festhielten.

Kurz darauf regnete es Kuchen.

 

Die Wächter hatten versucht, es sich im Frachtraum so bequem wie möglich zu machen, aber dabei ergaben sich gewisse Schwierigkeiten. Zum Beispiel gab es keinen Bereich des Bodens, der innerhalb von zehn Sekunden nicht wenigstens einmal zur Wand wurde.

Trotzdem schnarchte jemand.

»Wie kann hier jemand schlafen?« fragte Reg Schuh.

»Hauptmann Karotte fällt so etwas überhaupt nicht schwer«, erwiderte Grinsi. Sie hackte mit ihrer Axt auf etwas ein.

Karotte hatte sich in eine Ecke gezwängt. Manchmal murmelte er etwas und drehte sich auf die andere Seite.

»Wie ein kleines Kind«, sagte Reg Schuh. »Ist mir ein Rätsel, wie er das fertigbringt. Ich meine, das Schiff könnte praktisch jeden Augenblick auseinanderbrechen.«

»Ja, aber das für dich nicht sein besonders schlimm«, warf Detritus ein. »Weil du ja bist schon tot.«

»Ach, glaubst du? Aber ist es etwa angenehm, auf dem Meeresgrund knietief in Walkot zu landen? Und dann steht mir ein langer Marsch in der Dunkelheit bevor. Ganz zu schweigen von den Problemen, die entstehen, wenn Haie Appetit auf mich verspüren.«

»Ich fürchte mich nicht«, sagte Obergefreiter Besuch. »Nach dem Testament von Mezerek verbrachte der Fischer Nonpo vier Tage im Bauch eines Riesenfisches.«

In der nachfolgenden Stille schien das Grollen des Donners besonders laut zu sein.

»War das so etwas wie ein Wunder, Waschtopf?« fragte Reg nach einer Weile. »Oder hatte der Fisch ein besonders langsam arbeitendes Verdauungssystem?«

»Du solltest besser über das Schicksal deiner unsterblichen Seele nachdenken, anstatt die Zeit mit dummen Witzen zu vergeuden«, sagte Obergefreiter Besuch streng.

»Ich mache mir vor allem Sorgen um das Schicksal meines unsterblichen Körpers«, erwiderte Reg.

»Zufälligerweise habe ich hier eine interessante Broschüre«, sagte Reg. »Sie kann dir dabei helfen…«

»Ist sie groß genug, daß wir sie zu einem Boot falten können, das uns allen Platz bietet?«

Obergefreiter Besuch glaubte, eine gute Gelegenheit zu erkennen. »Aha, ja, in metaphorischer Hinsicht ist das tatsächlich der Fall…«

»Hat dieses Schiff kein Rettungsboot?« fragte Grinsi rasch. »Ich glaube, ich habe eins gesehen, als ich an Bord kam.«

»Ja, Rettungsboot«, brummte Detritus.

»Möchte jemand eine Sardine?« fügte Grinsi hinzu. »Ich habe gerade eine Dose geöffnet.«

»Rettungsboot«, wiederholte Detritus. Er klang wie jemand, der einer unangenehmen Wahrheit auf den Grund ging. »Ein… großes, schweres Ding, mit dem langsamer wir vorangekommen wären…?«

»Ja, ich hab’s ebenfalls gesehen«, sagte Reg.

»Es tatsächlich eins gab«, fuhr Detritus fort. »Das ein Rettungsboot war, ja?«

»Wir sollten eigentlich in der Lage sein, einen geschützten Ort zu erreichen und dort vor Anker zu gehen.«

»Ja, Anker…«, überlegte Detritus. »Das ein großes Ding mit Haken dran?«

»Genau.«

»Sehr schwer?«

»Natürlich.«

»Ja. Äh… wenn er über Bord geworfen wurde vor einer Weile, weil wir vorankommen mußten schneller… das nicht gut für uns wäre jetzt?«

»Wohl kaum.« Reg Schuh blickte durch die Luke. Der Himmel war eine schmutzige gelbe Decke, in der Blitze komplexe Zackenmuster bildeten. Immer wieder donnerte es.

»Wie weit das Barometer wohl gesunken sein mag?« fragte Reg.

»Bis ganz nach unten«, erwiderte Detritus. »Glaub mir.«

 

Es lag in der Natur eines D’reg, Türen ganz vorsichtig zu öffnen. Früher oder später stand ein Feind auf der anderen Seite.

Er sah das Halsband auf dem Boden, direkt vor dem kleinen Loch im Rumpf, aus dem Wasser tropfte.

71-Stunden-Ahmed fluchte leise.

Er zögerte nur kurz und stieß die Tür dann auf. Mit einem lauten Pochen knallte sie gegen die Wand.

»Ich will dir nichts zuleide tun«, teilte er der Düsternis mir. »Wenn das in meiner Absicht läge, wärst du längst…«

Angua bedauerte es plötzlich, daß sie sich nicht für die Gestalt des Wolfes entschieden hatte. Für den Wolf hätten sich überhaupt keine Probleme ergeben. Aber genau das war das Problem. Sie hätte einen leichten Sieg errungen und wäre anschließend nervös und unruhig gewesen. Ein Mensch konnte solche Empfindungen unter Kontrolle halten, doch bei einem Wolf sah die Sache anders aus. Ein Wolf geriet vielleicht in Panik und ließ sich dann zu tierischen Dingen hinreißen.

Sie hatte über der Tür gewartet, ließ sich nun fallen, gab dem Mann einen Stoß, machte einen Salto rückwärts, schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel um.

Das Schwert schnitt mühelos durch das Holz wie ein heißes Messer durch weiche Butter.

Neben Angua schnappte jemand nach Luft. Sie wirbelte um die eigene Achse und sah zwei Männer mit einem Netz – sie hatten den Wolf damit fangen wollen. Der Anblick einer nackten Frau überraschte sie. Das Erscheinen einer nackten Frau bringt Männer immer dazu, ihre Absichten und Pläne zu überdenken.

Angua trat zweimal kräftig zu, lief in die entgegengesetzte Richtung, öffnete eine beliebige Tür und warf sie hinter sich wieder zu.

Sie stand in der Kabine mit den Hunden. Sie sprangen auf, öffneten das Maul – und sanken langsam wieder zu Boden. Ein Werwolf kann bemerkenswerte Macht über andere Tiere haben, ganz gleich, in welcher Gestalt er sich ihnen zeigt. Es war vor allem die Macht, anderen Geschöpfen einen Schrecken einzujagen und selbst ungenießbar zu wirken.

Sie. eilte an den Hunden vorbei und strich einen seidenen Vorhang vor der Koje beiseite.

Der Mann auf dem schmalen Bett öffnete die Augen. Er war Klatschianer, doch seine Haut wirkte sonderbar blaß. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen.

»Ah«, sagte er. »Mir scheint, ich bin gestorben und jetzt im Paradies. Du bist eine Huri

»Solche Frechheiten brauche ich mir nicht gefallen zu lassen«, erwiderte Angua und zerriß die Seide mit geübter Hand.

Sie wußte, daß sie als weiblicher Werwolf ihren männlichen Kollegen gegenüber im Vorteil war, denn nackte Frauen waren kein Anlaß zur Beschwerde. Der Nachteil bestand darin, daß sie mehr Einladungen bekamen, manchmal von sehr aufdringlicher Art. Angua begriff, daß sie ihre Blöße bedecken mußte, nicht nur aus Anstand, sondern auch, um unangenehm hüpfende Bewegungen im Bereich des Oberkörpers zu unterbinden. Die Fähigkeit, praktisch aus allen Dingen Kleider improvisieren zu können, gehörte zu den weniger bekannten Werwolftalenten.

Angua verharrte. Nun, für das ungeübte Auge sahen alle Klatschianer gleich aus, aber für einen Werwolf sahen alle Menschen gleich aus, und zwar sehr lecker. Sie hatte schon vor einer ganzen Weile gelernt, Unterschiede zu erkennen.

»Bist du Prinz Khufurah?«

»Ja. Und du bist…?«

Jemand trat die Tür auf. Angua sprang zum Fenster und riß den Riegel zur Seite, der die Läden geschlossen hielt. Wasser spritzte ihr entgegen und in die Kabine. Sie schenkte der Nässe keine Beachtung und kletterte rasch nach draußen.

»Ich nehme an, du kommst zufällig vorbei?« murmelte der Prinz.

71-Stunden-Ahmed schritt zum Fenster und sah hinaus. Grünblaue Wellen, umschmiegt von kaltem Feuer, türmten sich auf, während das Schiff schlingerte. In einer so aufgewühlten See konnte niemand überleben.

Er drehte den Kopf, blickte am Rumpf entlang und stellte fest, daß sich Angua an einem Seil festhielt.

Er zwinkerte ihr zu. Dann drehte er sich um, und sie hörte ihn sagen: »Bestimmt ist sie ertrunken. Zurück auf eure Posten!«

Kurze Zeit später schloß sich auf dem Deck eine Luke.

 

Die Sonne glitt an einem wolkenlosen Himmel empor.

Einem Beobachter – wenn es einen gegeben hätte – wäre sicher aufgefallen, daß sich die Wellen an dieser kleinen Stelle des Meeres anders bewegten.

Vielleicht hätte er sich auch über das krumme Rohr gewundert, das sich mit leisem Quietschen drehte.

Wäre der Beobachter imstande gewesen, das Ohr an das Rohr zu pressen, hätte er folgendes Gespräch hören können:

»… kam mir diese Idee, als ich ein wenig döste. Ein Rohr, zwei in einem Winkel zueinander angebrachte Spiegel – die Lösung für alle unsere Steuerungs- und Luft-Probleme!«

»Faszinierend. Ein Rohr-durch-das-man-sehen-und-atmen-kann.«

»Woher wußtest du, daß es so heißt, Exzellenz?«

»Ich hab nur geraten.«

»He, jemand hat meinen Sitz an den Pedalen verändert, jetzt ist er sogar bequem…«

»Ah ja, Korporal, während du geschlafen hast, habe ich einige Messungen vorgenommen, um den Sitz deiner anatomischen Konfiguration anzupassen…«

»Du hast gemessen?«

»Ja, ich…«

»Und die Messungen betrafen meine… rückwärtigen Bereiche?«

»Oh, du brauchst dir deshalb keine Sorgen zu machen. Die Anatomie ist eine meiner Leidenschaften.«

»Ach, tatsächlich? Ist sie das? Nun, ich schlage vor, du bringst meiner Anatomie etwas weniger Leidenschaft entgegen…«

»He, ich sehe eine Art Insel!«

Das Rohr quietschte und drehte sich.

»Ah, Leshp. Und ich sehe auch Leute. In die Pedale treten, meine Herren. Erforschen wir den Grund des Meeres…«

»Ich fürchte, das passiert wirklich. So wie er steuert…«

»Sei still, Nobby.«

Das Rohr verschwand im Wasser. Luftblasen stiegen auf, und Stimmen stritten darüber, wer dafür zuständig war, die Öffnung mit dem Korken zu verschließen. Dann wurde diese leere Stelle des Meeres noch etwas leerer.

 

Es gab keine Fische.

Unter den gegenwärtigen Umständen wäre Fester Fanggut sogar dazu fähig gewesen, einen Neugierigen Tintenfisch zu verspeisen.

Doch das Meer enthielt nur noch Wasser. Und es roch verkehrt. Hier und dort zischte und blubberte es. Fester beobachtete, wie Blasen an der Wasseroberfläche zerplatzten – es roch nach Schwefel und faulen Eiern. Er vermutete, daß der Aufstieg des neuen Lands eine Menge Schlamm aufgewirbelt hatte. Am Grund eines Tümpels war es schon schlimm genug; dort wimmelte es von Fröschen und anderen Viechern. Am Grund des Meeres war für Abscheulichkeiten aller Art noch viel mehr Platz.

Fester Fanggut versuchte, den letzten Gedanken sofort zu verbannen, aber er entwickelte ein sonderbares Eigenleben und kehrte immer wieder zurück, stieg aus den dunklen Tiefen des Bewußtseins auf wie… wie…

Warum gab es keine Fische? Sicher, in der vergangenen Nacht hatte es ein Unwetter gegeben, aber für gewöhnlich traf man nach einem Sturm in diesen Gewässern noch mehr Fische an, denn der hohe Seegang ließ Dinge… aufsteigen…

Das Floß erbebte.

Fester Fanggut hielt es allmählich für eine gute Idee, nach Hause zurückzukehren. Doch das bedeutete, den Klatschianern das Land zu überlassen, und er wollte eher sterben, als ihnen einen solchen Triumph zu vergönnen.

Eine verräterische innere Stimme flüsterte: Seltsamerweise hat man nie Hongs Leiche gefunden. Zumindest nicht die wichtigeren Teile davon.

»Ich glaube, ich glaube, ich glaube, wir gehen jetzt wieder an Land«, teilte er seinem Sohn mit.

»Ach, Vater«, sagte Les. »Erwartet uns eine weitere Mahlzeit aus Napfschnecken und Tang?«

»An Tang gibt es überhaupt nichts auszusetzen«, erwiderte Fanggut. »Steckt voller Nährstoffe. Enthält viel Eisen. Eisen ist gut für dich.«

»Warum kochen wir dann nicht den Anker?«

»Werd nicht frech, Sohn.«

»Die Klatschianer haben Brot«, sagte Les. »Sie haben Mehl mitgebracht. Außerdem auch Feuerholz.« Damit sprach er einen wunden Punkt an. Fangguts Versuche, Tang zu verbrennen, waren gescheitert.

»Ja, aber ihr Brot würde dir überhaupt nicht gefallen«, meinte er. »Es ist ganz flach und hat keine richtige Kruste…«

Der Wind trug ihnen den Duft von gebackenem Brot entgegen. Es roch auch nach Gewürzen.

»Sie backen Brot! Auf unserem Land!«

»Nun, die Klatschianer behaupten, es sei ihr…«

Fanggut griff nach der gebrochenen Planke, die er als Paddel verwendete. Er begann, hektisch damit zu rudern, und sein Ziel war ganz offensichtlich das Ufer. Doch das Floß kam ihm nicht näher; es drehte sich nur, was Fanggut noch zorniger stimmte.

»Sie lassen sich direkt neben uns nieder, und was bekommen wir von ihnen? Nur den Gestank ihres ausländischen Essens…«

»Warum schluckst du immer wieder, Vater? Läuft dir etwa das Wasser im Mund zusammen?«

»Und woher haben sie Holz, wenn ich fragen darf?«

»Ich glaube, die Strömung bringt das Treibholz auf ihre Seite der Insel, Vater…«

»Na bitte! Sie stehlen unser Treibholz! Unser verdammtes Treibholz! Ha! Aber wir zeigen’s ihnen…«

»Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, daß jener Teil der Insel ihnen gehört und…«

Fanggut erinnerte sich wieder daran, wie man ein Floß mit nur einem Paddel steuert.

»Das ist keine Vereinbarung«, sagte er. Schaum bildete sich dort, wo er das Paddel immer wieder durchs Wasser zog. »Man könnte es höchstens eine… einstweilige Übereinkunft nennen. Die Klatschianer haben das Treibholz nicht geschaffen. Es erschien einfach bei ihnen. Es muß eine Art geographischer Zufall sein. Holz ist eine natürliche Ressource und gehört niemandem…«

Das Floß stieß gegen ein Hindernis, wobei ein metallisches Geräusch erklang. Die Entfernung zum felsigen Ufer betrug noch etwa hundert Meter.

Etwas stieg mit leisem Quietschen auf. Ein krummes Rohr drehte sich und zeigte auf Fester Fanggut.

»Entschuldigung«, erklang eine blecherne Stimme. »Dies ist doch Leshp, oder?«

Fanggut stöhnte leise.

»Weißt du«, fuhr das Ding fort, »das Wasser ist recht trüb, und ich habe befürchtet, daß wir während der letzten zwanzig Minuten in der falschen Richtung unterwegs waren.«

»Leshp!« brachte Fanggut mit fast schriller Stimme hervor.

»Ah, gut. Vielen Dank. Einen schönen Tag noch.«

Das Rohr sank langsam ins Meer zurück. Einige letzte Geräusche drangen mit einigen Luftblasen an die Wasseroberfläche. »… vergiß nicht den Korken. – Du hast schon wieder den Korken ver…«

Es stiegen keine weiteren Blasen mehr auf.

Nach einer Weile fragte Les: »Was war das, Vater?«

»Überhaupt nichts!« erwiderte Fester Fanggut scharf. »Solche Dinge passieren gar nicht!«

Das Floß sauste dem Ufer entgegen, schnell genug, um dahinter Wasserski zu laufen.

 

Als sie ins blaue Zwielicht unter der Wasseroberfläche zurücksanken, dachte Feldwebel Colon kummervoll an einen weiteren Aspekt des Bootes: Hier konnte man nicht die Bilge lenzen, weil sie mittendrin saßen.

Er trat nicht nur in die Pedale, sondern auch ins Wasser, litt außerdem gleichzeitig an Klaustrophobie und Agoraphobie. Er fürchtete sich vor allem hier drin und vor allen Dingen dort draußen. Wenn er aus den Fenstern blickte, sah er Unangenehmes. Das Boot glitt an einer Felswand hinab. Fühler tasteten hin und her. Die Umrisse von Klauen zeichneten sich in der Finsternis ab. Schattenhafte Wesen huschten davon, um sich in träge wogenden Algenfladen zu verbergen. Riesige Venusmuscheln beobachteten Feldwebel Colon mit ihren Lippen.

Das Boot knarrte.

»Feldwebel?« ließ sich Nobby vernehmen, als sie die Wunder der Tiefe betrachteten.

»Ja, Nobby?«

»Es heißt doch, daß jeder winzige Teil des Körpers alle sieben Jahre ersetzt wird, nicht wahr?«

»Das ist allgemein bekannt«, erwiderte Feldwebel Colon.

»Ja. Aber… wieso habe ich noch immer die Tätowierung am rechten Arm? Sie ist jetzt acht Jahre alt und müßte längst verschwunden sein.«

Lange Tangbüschel schwangen im Halbdunkel hin und her.

»Interessanter Hinweis«, brachte Colon mit zittriger Stimme hervor. »Äh…«

»Ich meine, ist doch ganz klar, wenn auch die Haut ersetzt wird, müßte inzwischen alles rosarot und ganz neu sein.«

Ein Fisch schwamm vorbei – seine Nase sah aus wie eine Säge.

Mitten in einer Wolke aus Furcht versuchte Colon, möglichst schnell zu denken.

»Es liegt daran«, sagte er schließlich, »daß die blauen Teile der Haut durch andere blaue Teile ersetzt werden. Und die stammen von… von den Tätowierungen anderer Leute.«

»Es ist also gar nicht mehr meine Tätowierung, sondern die einer anderen Person?«

»Äh… ja.«

»Erstaunlich. Sie sieht genauso aus wie meine: zwei gekreuzte Dolche und darunter ›WAMA‹.«

»Wama?«

»Es sollte eigentlich ›Mama‹ heißen, aber ich schlief ein, und die Nadel Ned bemerkte nicht, daß ich im wahrsten Sinne des Wortes umgekippt war.«

»So etwas sollte einem eigentlich auffallen…«

»Er war ebenso stockbesoffen wie ich. Du weißt ja, wie das mit richtigen Tätowierungen ist: Sie sind nur dann authentisch, wenn man sich kaum daran erinnern kann, wie man sie erhalten hat.«

Leonard und der Patrizier betrachteten die maritime Landschaft.

»Wonach halten sie Ausschau?« fragte Colon.

»Leonard hat mehrmals Hieroglyphen erwähnt«, sagte Nobby. »Was meint er damit, Feldwebel?«

Colon zögerte, aber nur kurz. »Eine bestimmte Art von Weichtieren, Korporal.«

»Donnerwetter, was du alles weißt«, sagte Nobby in bewunderndem Tonfall. »Das hat es also mit Hieroglyphen auf sich. Und wenn wir tiefer kommen, heißen sie Dortoglyphen?«

Nobbys Lächeln wirkte irgendwie seltsam. Feldwebel Colon beschloß, kein Risiko einzugehen.

»Sei nicht dumm, Nobby. ›Dortoglyphen‹, weil sie sich ›dort‹ befinden… Ich bitte dich.«

»Entschuldige, Feldwebel.«

»Außerdem ist allgemein bekannt, daß es in diesen Gewässern keine Dortoglyphen gibt.«

Zwei Neugierige Tintenfische sahen neugierig ins Boot.

 

Jenkins’ Schiff kam einem schwimmenden Wrack gleich.

Von einigen Segeln waren nur noch Fetzen übrig. Auf dem Deck lagen Seile, deren nautische Namen Mumm nicht lernen wollte. Ein Teil der Takelage hing über die Reling ins Wasser.

Die wenigen heil gebliebenen Segel fingen den frischen Morgenwind ein und ließen das Schiff Fahrt aufnehmen.

Weit oben wölbte der Ausguck die Hände trichterförmig vor dem Mund und rief:

»Land ahoi!«

»Man sieht es selbst von hier aus«, sagte Mumm. »Warum muß er so schreien?«

»Es bringt Glück.« Jenkins spähte in den Dunst. »Gebra scheint nicht das Ziel deines Freundes zu sein. Ich frage mich, wohin er unterwegs ist.«

Mumm blickte zu der gelben Masse am Horizont und sah dann zu Karotte auf.

»Wir holen sie zurück, keine Sorge«, unterbrach er.

»Oh, ich bin nicht besorgt, nur ein wenig beunruhigt«, erwiderte Karotte.

»Äh… gut…« Mumm gestikulierte vage. »Sind alle gesund und munter? Und außerdem guten Mutes?«

»Es wäre der Moral sicher dienlich, wenn du einige Worte sprechen würdest, Herr Kommandeur.«

Das monströse Wächterregiment hatte auf Deck Aufstellung bezogen und blinzelte im Sonnenschein. Meine Güte, dachte Mumm, als er die üblichen unüblichen Personen sah. Ein Zwerg, ein Mensch, der als Zwerg aufgewachsen war und wie ein Handbuch der Etikette dachte, ein Zombie, ein Troll, ich selbst, den religiösen Fanatiker nicht zu vergessen…

Obergefreiter Besuch salutierte. »Bitte um Erlaubnis, sprechen zu dürfen, Herr Kommandeur.«

»Nur zu«, brummte Mumm.

»Es freut mich, darauf hinweisen zu dürfen, daß unsere Mission ganz offensichtlich göttliches Wohlwollen genießt, Herr Kommandeur. Ich beziehe mich dabei auf den Sardinenregen, der uns Nahrung in der Not gebracht hat.«

»Nun, wir konnten eine kleine Stärkung vertragen, aber deshalb gleich von ›Not‹ zu reden…«

»Mit allem Respekt, Herr Kommandeur«, sagte Obergefreiter Besuch fest. »Es war ein traditionelles Zeichen. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Als die Sykooliten von den offlerianischen Mitoliten in die Wildnis vertrieben wurden, erhielten sie Nahrung in Form von himmlischen Keksen, Herr Kommandeur. Schokoladenkekse, um ganz genau zu sein.«

»Ein ganz normales natürliches Phänomen«, kommentierte Obergefreiter Schuh. »Vermutlich wurden sie von einem Wirbelwind mitgerissen, der am Laden eines Bäckers vorbeikam…«

Besuch warf ihm einen strengen Blick zu und fuhr fort: »Und als die Murmurianer von den Miskmik-Stämmen in die Berge vertrieben wurden, hätten sie kaum überlebt, wenn nicht ein magischer Regen aus Elefanten niedergegangen wäre, Herr Kommandeur.«

»Elefanten?«

»Nun, eigentlich war es nur einer«, gestand Besuch. »Aber er platzte.«

»Ein ganz normales natürliches Phänomen«, sagte Obergefreiter Schuh. »Vermutlich kam irgendwo ein Tornado an einem Elefanten…«

»Und als die vier Stämme von Khanli in der Wüste durstig wurden, Herr Kommandeur, bekamen sie Hilfe durch einen plötzlichen übernatürlichen Regen aus Regen.«