»Wenn ich beschlösse, dich nach dem Grund zu fragen… Würdest du dann vorgeben, mich nicht zu verstehen?«

Echte Verwunderungsfalten bildeten sich auf Mumms Stirn. »Herr?«

»Wenn du noch einmal in einem so dämlichen Tonfall ›Herr‹ sagst, bekommst du Schwierigkeiten, das verspreche ich dir.«

»Es sind gute Wächter, Herr.«

»Allerdings gäbe es durchaus Grund, sie als einfallslos und stumpfsinnig zu bezeichnen. Außerdem neigen sie dazu – wie soll ich es ausdrücken? –, die erste sich bietende Erklärung zu akzeptieren und dann irgendeine stille Ecke aufzusuchen, um in aller Ruhe zu qualmen. Es mangelt ihnen an Vorstellungskraft, und sie haben die Tendenz, sich nur die absolut notwendige Mühe zu geben, wenn möglich, weniger. Nun, bei solchen Leuten muß man mit voreiligen Schlüssen rechnen.«

»Ich hoffe, du erhebst keine Vorwürfe gegen meine Männer, Herr.«

»Man braucht gar keine Vorwürfe gegen Feldwebel Colon und Korporal Nobbs zu erheben, Mumm – sie sind ein einziger Vorwurf.«

»Herr?«

»Und doch… Komplikationen können wir uns derzeit nicht leisten, Mumm. Ein dummer, naiver Einzeltäter, ganz offensichtlich übergeschnappt. Nun, es gibt viele Verrückte. Die ganze Sache ist ein bedauerlicher Zwischenfall.«

»Ja, Herr.« Der Patrizier wirkte abgespannt, und Mumm sah Platz genug für einen Hauch Anteilnahme.

»Auch Fred und Nobby mögen keine Komplikationen, Herr.«

»Wir brauchen einfache Antworten, Mumm.«

»Herr. Fred und Nobby sind die Richtigen für Einfaches.«

Der Patrizier wandte sich ab und blickte über die Stadt.

»Ah«, sagte er leiser und ruhiger. »Einfache Männer, um die einfache Wahrheit zu sehen.«

»So ist es, Herr.«

»Du lernst schnell, Mumm.«

»Ich weiß nicht, Herr.«

»Und wenn sie die einfache Wahrheit gefunden haben, Mumm?«

»Gegen die Wahrheit kann man nichts ausrichten, Herr.«

»Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man gegen alles etwas ausrichten kann, Mumm.«

 

Als Mumm gegangen war, saß Lord Vetinari eine Zeitlang an seinem Schreibtisch und starrte ins Leere. Dann zog er eine Schublade auf, entnahm ihr einen Schlüssel, ging zur Wand und drückte dort auf eine ganz bestimmte Stelle.

Ein Gegengewicht rasselte, und ein Teil der Wand öffnete sich.

Der Patrizier ging mit langen, leichten Schritten durch den Geheimgang. Hier und dort glühte etwas Licht am Rand jener kleinen Tafeln, die man beiseite schieben konnte, um durch die Augen eines Gemäldes zu blicken.

Sie waren das Erbe eines früheren Herrschers. Vetinari benutzte sie nie. Es kam nicht darauf an, aus den Augen anderer Leute zu sehen.

Der Weg führte über dunkle Treppen und durch muffige Korridore. Gelegentlich vollführte der Patrizier Bewegungen, die keinen unmittelbaren Sinn zu haben schienen. Im Vorbeigehen berührte er hier und dort die Wand und schien dabei überhaupt keinen bewußten Gedanken daran zu vergeuden. In einer mit steinernen Fliesen ausgelegten Passage – dort drang Licht durch ein kleines Fenster, das bis auf die optimistischen Fliegen alle vergessen hatten – schien er Himmel-und-Hölle zu spielen. Sein schwarzer Umhang wogte, und gelegentlich blitzten dünne weiße Waden auf, als er von einer Fliese zur nächsten hüpfte.

Diese Aktivitäten schienen überhaupt nichts zu bewirken, denn spektakuläre Ereignisse blieben aus. Schließlich erreichte er eine Tür, die er nicht ohne gewisse Vorsicht aufschloß.

Beißender Rauch trieb durch die Luft hinter der Tür, und ein beständiges Pop-pop, das er schon im Gang gehört hatte, wurde jetzt lauter. Es verklang kurz, und dann knallte es. Ein Stück heißes Metall flog am Ohr des Patriziers vorbei und bohrte sich in die Wand.

»Meine Güte«, ertönte eine Stimme im Qualm.

Sie klang nicht in dem Sinne betrübt oder unglücklich. Eine solche Stimme paßte zu einem einschmeichelnd lieben Hündchen, das trotz der besten Bemühungen seines Herrn neben einem langsam größer werdenden feuchten Fleck auf dem Teppich saß.

Als sich die Rauchwolken langsam auflösten, wurde eine Gestalt sichtbar, die matt lächelte und sagte: »Diesmal waren es fünfzehn Sekunden, Exzellenz! Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß das Prinzip richtig ist.«

Das war eine der Angewohnheiten des Leonard von Quirm: Er begann Gespräche nicht am Anfang, sondern in der Mitte. Er hielt jeden für einen interessierten Freund und ging davon aus, daß seine Besucher ebenso intelligent waren wie er selbst.

Vetinari blickte auf einen kleinen Haufen aus verbogenem und verdrehtem Metall.

»Was war das, Leonard?« fragte er.

»Eine experimentelle Vorrichtung für die Umwandlung chemischer Energie in Rotation«, erklärte Leonard von Quirm. »Das Problem besteht darin, die kleinen Schießpulverkugeln mit genau der richtigen Geschwindigkeit in die Verbrennungskammer zu bringen, und zwar jeweils nur eine. Wenn zwei gleichzeitig zünden, bekommen wir einen externen Verbrennungsmotor.«

»Und… äh… was ist der Zweck eines solchen Apparats?« fragte der Patrizier.

»Ich glaube, er könnte das Pferd ersetzen«, erwiderte Leonard stolz.

Beide starrten auf das deformierte Ding hinab.

Nach einigem Nachdenken sagte Vetinari: »Einer der Vorteile von Pferden, auf den immer wieder hingewiesen wird, besteht darin, daß sie nur selten explodieren. Fast nie, meiner Erfahrung nach – sieht man einmal von dem bedauerlichen Zwischenfall während des heißen Sommers vor einigen Jahren ab.« Er streckte die Hand aus, und mit behutsamen Fingern zog er etwas aus dem Durcheinander: zwei Würfel, die aus weichem weißen Pelz bestanden und mit einem Faden verbunden waren. Punkte waren darauf.

»Spielwürfel?« fragte Vetinari.

Leonard lächelte verlegen. »Ja. Ich weiß nicht genau, warum ich sie dem Apparat hinzugefügt habe. Aus irgendeinem Grund habe ich gehofft, daß er dadurch besser funktioniert. Es war nur so eine Idee. Du weißt ja, wie das ist.«

Lord Vetinari nickte. Er wußte es tatsächlich. Er wußte es sogar noch viel besser als Leonard von Quirm. Deshalb gab es nur einen Schlüssel für die Tür, und der befand sich in der Tasche des Patriziers. Der Mann war keineswegs ein Gefangener, es sei denn, man legte dumme, langweilige Maßstäbe an. Er schien sich gern in dieser hellen, luftigen Mansarde aufzuhalten: Immerhin bekam er so viel Holz, Papier, Holzkohlestifte und Farbe, wie er wollte, ohne für Kost und Logis bezahlen zu müssen.

Außerdem konnte man jemanden wie Leonard von Quirm überhaupt nicht richtig einsperren. Es war höchstens möglich, seinen Körper hinter Schloß und Riegel unterzubringen. Allein die Götter wußten, wohin seine Gedanken reisten. Zwar war er so intelligent, daß gelegentlich Klugheit aus ihm tropfte, aber er konnte nicht einmal dann feststellen, woher der politische Wind wehte, wenn man ihn mit Segeln ausstattete.

In Leonards unglaublichem Gehirn brodelte es die ganze Zeit wie in einer prall gefüllten Fritteuse auf der heißen Herdplatte des Lebens. Es ließ sich einfach nicht feststellen, was ihm gleich durch den Kopf gehen würde, denn er wurde ständig vom ganzen Universum neu programmiert. Der Anblick eines Wasserfalls oder eines dahinsegelnden Vogels veranlaßte ihn, über einen neuen Pfad praktischer Spekulation zu eilen, der unweigerlich in einem Haufen aus Draht und Federn sowie dem Ruf »Jetzt weiß ich, wo der Fehler liegt!« endete. Er war Schüler der meisten Handwerksgilden in der Stadt gewesen, war jedoch verstoßen worden, weil er bei den Prüfungen unerhört hohe Punktzahlen erreicht oder in manchen Fällen die Fragen korrigiert hatte. Es hieß, er hätte unabsichtlich das Laborgebäude der Alchimistengilde in die Luft gejagt – mit einem Glas Wasser, einem Löffel Säure, zwei Drähten und einem Tischtennisball.

Ein vernünftiger Herrscher hätte Leonard längst umbringen lassen, und Lord Vetinari war sehr vernünftig. Manchmal dachte er über die Frage nach, warum er sich dagegen entschieden hatte. Vielleicht lag es daran, daß sich im kostbaren, wissensdurstigen Bernstein von Leonards Bewußtsein und unter seinem unermüdlichen Genie eine Unschuld verbarg, die man bei geringeren Personen für Dummheit hätte halten können. Dort wohnte die Seele jener Kraft, die über Jahrtausende hinweg Menschen dazu veranlaßt hatte, ihre Finger in die Steckdose des Universums zu bohren und anschließend mit dem Schalter zu spielen, um festzustellen, was passierte – in den meisten Fällen waren sie sehr überrascht, weil tatsächlich etwas geschah.

Mit anderen Worten: Leonard war etwas Nützliches. Und eins konnte man gewiß vom Patrizier behaupten: Er war das politische Äquivalent einer alten Dame, die Teile von Bindfäden aufbewahrte, weil sie irgendwann einmal zu verwenden waren.

Man konnte nicht für jede Eventualität planen, denn dazu mußte man wissen, was geschehen würde. Und wenn man wußte, was geschehen würde, so konnte man vermutlich dafür sorgen, daß es nicht geschah – oder daß es jemand anderen zustieß. Deshalb plante der Patrizier nicht. Pläne waren oft nur im Weg.

Außerdem ließ er Leonard am Leben, weil er ihn für einen angenehmen Gesprächspartner hielt. Er verstand nie, wovon Lord Vetinari sprach, und sein Weltbild mochte in etwa so komplex sein wie das eines Entenkükens mit Gehirnerschütterung. Eigentlich achtete er nie wirklich darauf, worum es ging, und das machte ihn zu einem hervorragenden Vertrauten. Wenn man bei jemandem Rat sucht, so erwartet man eigentlich gar nicht, daß man auch Rat bekommt. Man möchte nur Gesellschaft haben, während man mit sich selbst redet.

»Ich habe gerade Tee aufgesetzt«, sagte Leonard. »Möchtest du eine Tasse?«

Leonard folgte dem Blick des Patriziers zu einem braunen Fleck, der an einer Wand emporreichte und oben in einen Stern aus geschmolzenem Metall mündete.

»Ich fürchte, das mit der automatischen Teemaschine hat nicht richtig geklappt«, sagte er. »Mir bleibt nichts anderes übrig, als die manuelle Methode zu benutzen.«

»Sehr freundlich«, erwiderte Lord Vetinari.

Er nahm inmitten der Staffeleien Platz und blätterte durch die letzten Skizzen, während Leonard am Kamin tätig wurde. Leonard von Quirm skizzierte so, wie andere Leute kritzelten. Geniales – Geniales von einer gewissen Art – fiel wie Schuppen von ihm ab.

Lord Vetinari sah das Bild eines Mannes, der malte: Die Linien stellten die Gestalt so gut dar, daß sie eine dritte Dimension gewann und aus dem Papier herauszuragen schien. Leonard vergeudete niemals Platz, weshalb andere Skizzen den gezeichneten Maler umgaben. Ein Daumen. Eine Vase mit Blumen. Ein Apparat, der von Wasserkraft angetrieben wurde und offenbar dazu diente, Bleistifte anzuspitzen…

Vetinari fand, was er suchte, in der unteren linken Ecke der Seite, eingeklemmt zwischen einem Entwurf für eine Art von Schraube und einem Werkzeug, um Austern zu öffnen. So etwas, oder zumindest etwas ähnliches, war immer irgendwo dazwischen.

Leonard war deshalb so kostbar – und mußte hinter Schloß und Riegel gehalten werden –, weil er keinen Unterschied sah zwischen dem Daumen, den Blumen, dem Bleistiftanspitzer und diesem Ding.

»Oh, das Selbstporträt«, sagte Leonard, als er mit zwei Tassen zurückkehrte.

»In der Tat«, entgegnete Vetinari. »Allerdings galt meine Aufmerksamkeit mehr der kleinen Skizze hier. Diese Kriegsmaschine…«

»Ach das? Ist nicht weiter wichtig. Hast du jemals bemerkt, welche Muster der Tau auf Rosenblättern…«

»Das Ding hier…«, beharrte Vetinari und deutete auf eine bestimmte Stelle. »Wozu dient es?«

»Oh, das ist ein Wurfarm, der Kugeln aus halb geschmolzenem Schwefel fortschleudert«, erklärte Leonard und griff nach einem Tablett mit Gebäckstücken. »Ich habe berechnet, daß er eine Reichweite von etwa einer halben Meile erzielen könnte, wenn man den Riemen von den Antriebsrädern löst und die Winde von Ochsen drehen läßt.«

»Tatsächlich?« Vetinari betrachtete die numerierten Teile. »Und ein solcher Apparat könnte wirklich gebaut werden?«

»Was? Oh, ja. Eine Makrone? Ja, rein theoretisch.«

»Rein theoretisch?«

»Niemand käme auf den Gedanken, ein solches Projekt zu realisieren. Wer könnte Interesse daran haben, unlöschbares Feuer auf seine Mitmenschen herabregnen zu lassen? Ha!« Leonard verstreute Makronenkrümel. »Man würde nie einen Handwerker finden, der so ein Ding baut, oder einen Soldaten, der den Hebel zieht – damit meine ich Teil 3 (b) auf dem Plan, hier…«

»Ah ja«, sagte Vetinari. »Nun, wie dem auch sei… Ich glaube, diese langen… Arme hier können den großen Belastungen kaum gewachsen sein…«

»Gut abgelagertes Eschen- und Eibenholz, geschichtet und von speziellen Stahlbolzen zusammengehalten«, sagte Leonard sofort. »Ich habe einige Berechnungen vorgenommen, direkt unter der Skizze, die Licht auf einem Regentropfen zeigt. Natürlich nur als intellektuelle Übung.«

Vetinari sah auf einige Zeilen von Leonards spinnenartiger Schrift hinab.

»Oh, ja«, sagte er leise und legte das Papier beiseite.

»Habe ich dir schon erzählt, daß die klatschianische Situation außerordentlich politisch ist? Prinz Cadram versucht, innerhalb sehr kurzer Zeit viel zu erreichen. Er muß seine Position konsolidieren, und dabei hängt er von unzuverlässiger Unterstützung ab. Wie ich hörte, haben sich viele Leute gegen ihn verschworen.«

»Im Ernst? Tja, so was kommt immer wieder vor«, sagte Leonard. »Übrigens, ich habe mich kürzlich mit Spinnweben befaßt und dabei etwas Interessantes herausgefunden. In Relation zu ihrem Gewicht sind sie weitaus fester als unsere besten Stahlseile. Ist das nicht faszinierend?«

»Bei welcher Art von Waffe willst du sie verwenden?« fragte der Patrizier.

»Wie bitte?«

»Oh, nichts. Ich habe nur laut gedacht.«

»Und du hast deinen Tee überhaupt nicht angerührt«, sagte Leonard.

Vetinari sah sich in dem Raum um. Er steckte voller… Dinge. Rohre und seltsame Papierdrachen und Geräte, die wie Skelette prähistorischer Tiere aussahen. Aus dem Blickwinkel des Patriziers gesehen, bestand einer der großen Vorzüge Leonards in seiner sehr wechselhaften Aufmerksamkeit. Man konnte nicht behaupten, daß ihn die Dinge schon nach kurzer Zeit langweilten. Nichts schien ihn zu langweilen. Aber da er sich die ganze Zeit über für alles im Universum interessierte, konnte sich ein Apparat, der anderen Leuten auf eine Entfernung von hundert Metern den Bauch aufschlitzte, in einen automatisierten Webstuhl verwandeln, um kurze Zeit später zu einem Apparat zu mutieren, der das spezifische Gewicht von Käse maß.

Er ließ sich ebenso leicht ablenken wie eine kleine Katze. Zum Beispiel die Sache mit der Flugmaschine. Noch immer hingen große Fledermausflügel an der Decke. Der Patrizier hatte Leonard nur zu gern die Möglichkeit gegeben, Zeit mit dieser Idee zu vergeuden – für ihn stand von Anfang an fest, daß kein Mensch in der Lage sein konnte, kräftig genug mit solchen Flügeln zu schlagen.

Er hätte sich überhaupt keine Sorgen machen müssen. Leonard lenkte sich selbst ab. Er verbrachte eine halbe Ewigkeit damit, ein spezielles Tablett zu erfinden, das es Flugreisenden ermöglichen sollte, Mahlzeiten in der Luft einzunehmen.

Ein wahrhaft unschuldiger Mann. Und doch… Ein kleiner Teil von ihm zeichnete immer wieder verführerische Maschinen, mit Rauchwolken darüber und sorgfältig numerierten Bauteilen…

»Was ist das?« fragte Vetinari und deutete auf eine weitere Skizze. Sie zeigte jemanden, der eine große Metallkugel trug.

»Das? Oh, eigentlich nur ein Spielzeug. Die Vorrichtung basiert auf den seltsamen Eigenschaften ansonsten nutzloser Metalle. Es gefällt ihnen nicht, zusammengedrückt zu werden. Wenn so etwas geschieht, streben sie mit großen Eifer auseinander, und dabei gibt es einen ziemlich lauten Knall.«

»Noch eine Waffe…«

»Natürlich nicht, Exzellenz! Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie man einen solchen Apparat als Waffe verwenden sollte. Vielleicht könnte er sich im Bergbau als nützlich erweisen.«

»Ach?«

»Wenn zum Beispiel ein ganzer Berg aus dem Weg geräumt werden muß.«

»Sag mal…« Vetinari nahm auch dieses Papier beiseite. »Du hast nicht zufällig Verwandte in Klatsch, oder?«

»Ich glaube nicht. Meine Familie lebte über viele Generationen hinweg in Quirm.«

»Oh. Gut. Aber… helle Köpfe, die Klatschianer, nicht wahr?«

»Und ob. In vielen Bereichen haben sie die Grundlagen gelegt. Zum Beispiel bei Metallarbeit.«

»Metallarbeit…« Der Patrizier seufzte.

»Und natürlich Alchimie. Affir Al-chemas Principia Explosia ist seit hundert Jahren das wichtigste Werk dieses Themenbereichs.«

»Alchimie«, sagte der Patrizier bedrückt. »Schwefel und so weiter.«

»Ja.«

»Aber so, wie du es ausdrückst… Es klingt so, als seien diese Leistungen vor langer Zeit erbracht worden.« Lord Vetinari klang wie jemand, der versuchte, Licht am Ende des Tunnels zu erkennen.

»Ja, und es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn die Klatschianer inzwischen erhebliche Fortschritte erzielt haben«, erwiderte Leonard munter.

»Ach?« Der Patrizier sank noch etwas tiefer in den Sessel. Wie sich gerade herausgestellt hatte, stand das Ende des Tunnels in Flammen.

»Hervorragende Leute mit vielen lobenswerten Eigenschaften«, fügte Leonard hinzu. »Ich vermute, es liegt an der Wüste. Sie stimuliert den Gedanken und führt einem vor Augen, wie kurz das Leben ist.«

Der Patrizier betrachtete ein anderes Blatt. Zwischen der Skizze eines Vogelflügels und der genauen Darstellung eines Kugellagers sah er ein Ding, dessen Räder mit Stahlspitzen und Klingen ausgestattet waren. Und dann das Gerät, mit dem sich Berge aus dem Weg räumen ließen…

»Eine Wüste ist keine Vorbedingung«, sagte er, seufzte erneut und schob die Blätter beiseite. »Hast du vom versunkenen Kontinent Leshp gehört?«

»O ja«, erwiderte Leonard. »Vor einigen Jahren habe ich dort die eine oder andere Skizze angefertigt. Ein Land mit interessanten Aspekten, wenn ich mich recht entsinne. Noch etwas Tee? Ich fürchte, der in deiner Tasse ist inzwischen kalt. Da fällt mir ein: Bist du aus einem anderen Grund gekommen?«

Der Patrizier rieb sich den Nasenrücken.

»Ich weiß nicht genau. Ein kleines Problem entwickelt sich. Ich dachte, du könntest vielleicht helfen.« Er blickte erneut auf die Zeichnungen. »Leider glaube ich, daß du tatsächlich dazu imstande bist.« Er stand auf, strich den Umhang glatt und lächelte schief. »Hast du alles, was du brauchst?«

»Etwas mehr Draht wäre nicht schlecht«, sagte Leonard. »Und mir ist die gebrannte Umbra ausgegangen.«

»Ich lasse dir sofort neue bringen«, versprach Vetinari. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest…«

Er verließ das Zimmer.

Leonard nickte zufrieden, als er die Tassen wegräumte. Die Reste des explodierenden Verbrennungsmotors kehrte er auf den Metallhaufen neben dem kleinen Schmelzofen. Anschließend nahm er eine Leiter und zog den Kolben aus der Decke.

Er hatte gerade die Staffelei geöffnet, um mit einem neuen Bild zu beginnen, als er ein fernes Klopfen hörte. Es hörte sich an, als würde jemand laufen, gelegentlich verharren und auf einem Bein zur Seite springen.

Kurze Stille deutete darauf hin, daß jemand seine Kleidung zurechtrückte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Die Tür öffnete sich, und der Patrizier kehrte zurück. Er setzte sich und maß Leonard mit einem sehr aufmerksamen Blick.

»Du hast was gemacht?« fragte er.

 

Mumm drehte die Gewürznelke unter dem Vergrößerungsglas hin und her.

»Ich sehe Abdrücke von Zähnen«, sagte er.

»Ja, Herr Kommandeur«, bestätigte Kleinpo. Sie verkörperte die gesamte Abteilung Spurensicherung der Wache. »Offenbar hat jemand daran gekaut, so wie an einem Zahnstocher.«

Mumm lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Ich würde sagen, dieses Ding wurde zum letztenmal von einem dunkelhäutigen Mann angerührt, der etwa so groß ist wie ich. Er hat mehrere Goldzähne. Und einen Bart. Und auf einem Auge schielt er leicht. Viele Narben im Gesicht. Ein großes Schwert auf dem Rücken. Krumm. Und auf dem Kopf trägt er etwas, das man Turban nennen muß, da es sich für einen Dachs nicht schnell genug bewegt.«

Grinsi Kleinpo war beeindruckt.

»Ermittlungen sind wie Glücksspiel«, sagte Mumm und legte die Gewürznelke auf den Tisch. »Der Trick besteht darin, schon im voraus Bescheid zu wissen. Danke, Korporal. Notiere die Beschreibung und sorge dafür, daß alle Wächter sie bekommen. Übrigens heißt der Bursche 71-Stunden-Ahmed, weiß der Himmel, warum. Und dann geh und ruh dich aus.«

Mumm wandte sich an Karotte und Angua, die sich ebenfalls in den kleinen Raum gezwängt hatten. Er nickte der jungen Frau zu.

»Ich bin dem Nelkengeruch bis zu den Docks gefolgt«, sagte sie.

»Und dann?«

»Dann habe ich die Spur verloren.« Angua wirkte verlegen. »Beim Fischmarkt gab es keine Probleme. Auch nicht im Schlachthausviertel. Aber auf dem Gewürzmarkt…«

»Oh, ich verstehe. Dort verschwand die Spur?«

»In gewisser Weise, Herr Kommandeur. Anschließend führte sie in fünfzig verschiedene Richtungen.«

»Da kann man nichts machen. Karotte?«

»Ich habe mich genau an deine Anweisungen gehalten, Herr Kommandeur. Die Entfernung vom Dach des Opernhauses bis zum Schießstand ist ungefähr richtig. Ich habe den gleichen Bogen benutzt, wie der Attentäter ihn verwendet hat…«

Mumm hob den Zeigefinger. Karotte zögerte kurz und sagte dann langsam:»… wie der, den wir neben dem mutmaßlichen Attentäter fanden…«

»Ja. Und?«

»Es handelt sich um einen ›Treffsicher Modell Fünf‹ von Burlich-und-Starkimarm, Herr Kommandeur. Ein Bogen für den Experten. Ich bin kein besonders guter Bogenschütze, aber ich konnte das Ziel zumindest treffen…«

»Einen Augenblick mal«, sagte Mumm. »Du bist sehr kräftig, Karotte. Aber der verstorbene Ostie hatte Arme wie Nobby. Ich hätte meine Hand ganz um den kaum vorhandenen Bizeps schließen können.«

»Ja, Herr Kommandeur. Die Zugkraft beträgt hundert Pfund. Ich bezweifle, daß Ostie Brunt in der Lage war, die Sehne mehr als nur einen Zoll weit nach hinten zu ziehen.«

»Ich wage es mir nicht einmal vorzustellen. Meine Güte… Mit einem solchen Bogen hätte er höchstens seinen eigenen Fuß treffen können. Übrigens: Glaubst du, daß dich jemand gesehen hat?«

»Nein, Herr Kommandeur. Ich habe die ganze Zeit darauf geachtet, mich zwischen den Schornsteinen und Belüftungsschächten verborgen zu halten.«

Mumm seufzte. »Nun, selbst wenn du die Versuche um Mitternacht in einem Keller durchgeführt hättest… Ich schätze, am nächsten Morgen hätte der Patrizier trotzdem gefragt: ›War’s nicht ziemlich dunkel da unten?‹«

Er holte das inzwischen ziemlich zerknitterte Bild hervor. Es zeigte Karotte – beziehungsweise Arm und Ohr des Hauptmanns –, als er in Richtung Prozession eilte. Und dort, zwischen den vielen Leuten in der Parade, war das Gesicht des Prinzen zu sehen. Von 71-Stunden-Ahmed fehlte jede Spur. Bei der Abendgesellschaft war er noch zugegen gewesen. Aber bei dem Durcheinander… hin und her schlendernde Gäste, Männer und Frauen, die möglichst unauffällig verschwanden, um dem Abort einen raschen Besuch abzustatten… Ahmed hätte den Empfang leicht verlassen können, ohne daß ihn jemand bemerkte, und anschließend jeden beliebigen Ort aufsuchen können.

»Der Prinz fiel, als du ihn erreichtest? Mit einem Pfeil im Rücken? Und er war dir dabei noch immer zugewandt?«

»Ja, Herr Kommandeur. Da bin ich ganz sicher. Alle anderen liefen umher…«

»Er bekam also einen Pfeil in den Rücken, und der Schütze befand sich vor ihm und war nicht einmal imstande, die Sehne weit genug durchzuziehen, um den Pfeil weiter fliegen zu lassen als bis zu seinem eigenen Fuß…«

Jemand klopfte ans Fenster.

»Das dürfte Abfluß sein«, sagte Mumm, ohne sich umzudrehen. »Ich habe ihm einen speziellen Auftrag erteilt…«

Obergefreiter Abfluß hatte nie einen richtigen Platz in der Gemeinschaft der Wache gefunden. Dies lag keineswegs daran, daß er nicht mit anderen Personen zurechtkam. Das Problem bestand vielmehr darin, daß es ihm an sozialen Kontakten mangelte, denn er konnte anderen Leuten nur ab dem zweiten oder dritten Stock aufwärts begegnen. Er fühlte sich auf Dächern zu Hause. Bei der letzten Silvesterfeier der Wache war er heruntergekommen und hatte sich Bratensaft ins Ohr geschüttet, um guten Willen zu zeigen. Doch auf dem Boden, noch dazu von Zimmerwänden umgeben, werden Wasserspeier schnell nervös. Es dauerte nicht lange, bis Abfluß durch den Kamin davonkroch. Die ganze Nacht erklang von den schneebedeckten Dächern das melancholisch klingende Piepsen seiner kleinen Papiertröte.

Wasserspeier waren gute Beobachter und vergaßen nichts. Außerdem hatten sie jede Menge Geduld.

Mumm öffnete das Fenster. Mit ruckartigen Bewegungen kam Abfluß herein und kroch rasch zu einer Ecke von Mumms Schreibtisch – vielleicht gewährte ihm die dortige Perspektive ein wenig Trost.

Angua und Karotte betrachteten den Pfeil, den Abfluß in der einen Hand hielt.

»Ah, gute Arbeit«, lobte Mumm noch immer im gleichen ruhigen Tonfall. »Wo hast du ihn gefunden, Abfluß?«

Der Wasserspeier stotterte einige kehlig klingende Silben, die nur jemand bilden konnte, dessen Mund aus einem Rohr bestand.

»In einer Wand des zweiten Stocks eines Bekleidungsgeschäfts am Platz der Gebrochenen Monde«, übersetzte Karotte.

»Schk«, sagte Abfluß.

»Das ist nicht auf halbem Weg zum Hiergibt’salles-Platz, Herr Kommandeur.«

»Ja«, sagte Mumm. »Ein schwächlicher Mann, der versucht, die Sehne eines schweren Bogens nach hinten zu ziehen, wobei der Pfeil immer stärker wackelt… vielen Dank, Abfluß. In dieser Woche bekommst du eine zusätzliche Taube.«

»Nke«, erwiderte Obergefreiter Abfluß und kletterte wieder aus dem Fenster.

»Wenn du gestattest, Herr Kommandeur…« Angua nahm den Pfeil von Mumm entgegen, schloß die Augen und schnupperte vorsichtig daran.

»Ja«, sagte sie. »Er riecht ganz deutlich nach Ostie…«

»Danke, Korporal. Es gibt also nicht den geringsten Zweifel.«

Karotte griff nach dem Pfeil und betrachtete ihn. »Hm. Pfauenfedern und eine versilberte Spitze. So etwas kaufen Amateure, um ihre Treffsicherheit durch Magie zu verbessern. Wie dumm.«

»Ja«, sagte Mumm. »Du, Karotte, und du, Angua… ihr kümmert euch um diesen Fall.«

»Ich verstehe nicht, Herr Kommandeur«, entgegnete Karotte. »Du hast doch Fred und Nobby mit den Ermittlungen beauftragt, oder?«

»Ja«, bestätigte Mumm.

»Aber…«

»Feldwebel Colon und Korporal Nobbs gehen der Frage nach, warum der verstorbene Ostie versucht hat, den Prinzen umzubringen. Und wißt ihr, was? Bestimmt finden sie viele Spuren. Da bin ich mir ganz sicher. Ich fühle es.«

»Aber wir wissen doch, daß Ostie unmöglich…«, begann Karotte.

»Ist das nicht komisch?« unterbrach Mumm den Hauptmann. »Ihr solltet vermeiden, Fred irgendwie in die Quere zu kommen. Fragt ein wenig herum. Versucht es beim Schuldigen Schuft oder bei Sidney Schief, ha, der hält die Ohren offen. Oder sprecht mit den Schmerzlichen Schwestern oder mit Lilly Habspaß. Oder mit Herrn Rutschig… hab ihn schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen…«

»Er ist tot, Herr Kommandeur«, sagte Karotte.

»Was, Riecher Rutschig? Seit wann?«

»Seit letzten Monat, Herr Kommandeur. Er wurde von einem herabfallenden Bettgestell erschlagen. Ein sehr seltsamer Unfall.«

»Warum hat mir niemand etwas davon gesagt?«

»Du bist sehr beschäftigt gewesen, Herr Kommandeur. Aber du hast Geld in den Umschlag gesteckt, mit dem Fred gesammelt hat. Zehn Dollar. Fred fand das sehr großzügig.«

Mumm seufzte. Oh, ja, die Umschläge. Seit einiger Zeit schien Fred dauernd mit dem einen oder anderen Umschlag unterwegs zu sein. Immer wieder geschah es, daß jemand die Wache verließ, oder ein Freund der Wache geriet in Schwierigkeiten, oder es gab eine Verlosung, oder die Teekasse war wieder leer. Manchmal schienen die Erklärungen recht kompliziert zu sein. Mumm beschränkte sich darauf, einfach Geld in den jeweiligen Umschlag zu stecken, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. So war es am einfachsten.

Der alte Riecher Rutschig…

»Ihr hättet mich darauf hinweisen sollen«, sagte er in vorwurfsvollem Tonfall.

»Du hast hart gearbeitet, Herr Kommandeur.«

»Gibt es sonst noch Neuigkeiten von der Straße, über die ich Bescheid wissen sollte, Hauptmann?«

»Nein, ich glaube nicht, Herr Kommandeur.«

»Na schön. Stellt fest, aus welcher Richtung der Wind weht. Seid vorsichtig. Und… vertraut niemandem.«

Karotte wirkte besorgt.

»Äh… ich kann doch Angua vertrauen, oder?« fragte er.

»Natürlich kannst du das…«

»Und auch dir, nehme ich an.«

»Mir? Ja. Das ist doch selbstverständlich…«

»Und Korporal Kleinpo? Sie kann sehr hilfreich sein…«

»Grinsi, ja, sie hat Vertrauen verdient…«

»Und Feldwebel Detritus? Ich habe ihn immer für sehr vertrauenswürdig gehalten…«

»Detritus? Oh, ja, er…«

»Was ist mit Nobby? Kann ich ihm…«

»Ich verstehe, was er meint, Karotte«, sagte Angua und zog an seinem Arm.

Karotte ließ niedergeschlagen die Schultern hängen. »So was gefällt mir nicht«, murmelte er. »Ich meine… heimliche Dinge.«

»Ich möchte keine schriftlichen Berichte«, sagte Mumm und war dankbar für diese kleine Gnade. »Es ist eine… inoffizielle Angelegenheit. Eine offizielle inoffizielle Angelegenheit, versteht ihr?«

Angua nickte, während Karotte ziemlich betrübt aussah.

Sie ist ein Werwolf, dachte Mumm. Natürlich versteht sie. Und ein Mann, der im Grunde genommen ein Zwerg ist, sollte eigentlich wissen, was es mit List und dergleichen auf sich hat.

»Lauscht den Straßen«, sagte Mumm. »Die Straßen wissen alles. Sprecht mit… dem Blinden Hugh…«

»Ich fürchte, er ist letzten Monat verstorben«, erwiderte Karotte.

»Tatsächlich? Und warum erfahre ich das erst jetzt?«

»Ich bin ziemlich sicher, daß ich dir eine Mitteilung geschickt habe, Herr Kommandeur.«

Mumm blickte schuldbewußt zu seinem Schreibtisch, auf dem Papier hohe Stapel bildete, und zuckte dann mit den Schultern.

»Seht euch aufmerksam um. Geht den Dingen auf den Grund. Und vertraut nie… Vertraut praktisch niemandem. Alles klar? Vertraut nur vertrauenswürdigen Leuten.«

 

»Na los, aufmachen! Hier ist die Wache!«

Korporal Nobbs zog an Feldwebel Colons Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Hier ist nicht die Wache!« rief er und klopfte erneut an die Tür. »Wir haben überhaupt nichts mit der Wache zu tun! Wir sind Zivilisten, klar?«

Die Tür öffnete sich einen Spalt.

»Ja?« fragte eine Stimme, die ihr Wechselgeld zählte.

»Wir müssen dir einige Fragen stellen, Gnäfrau.«

»Seid ihr von der Wache?« erwiderte die Stimme.

»Nein! Darauf habe ich doch gerade in aller Deutlichkeit hingewiesen…«

»Verschwinde, Bulle!«

Die Tür schloß sich wieder.

»Bist du sicher, daß wir hier richtig sind, Feldwebel?«

»Harry Kastanie meinte, er hätte gesehen, wie Ostie dieses Gebäude betrat. He, aufmachen!«

»Alle beobachten uns, Feldwebel«, sagte Nobby. Zu beiden Seiten der Straße hatten sich Fenster und Türen geöffnet.

»Und nenn mich nicht Feldwebel, solange wir zivile Kleidung tragen!«

»In Ordnung, Fred.«

»Und…« Colon zögerte in einer regelrechten Statusagonie. »Für dich heißt es Frederick, Nobby.«

»Und die Leute kichern, Fred… äh…rick.«

»Wir dürfen bei dieser Sache keinen Mist bauen, Nobby.«

»Wie du meinst, Frederick. Und für dich bin ich Cecil, herzlichen Dank.«

»Cecil?«

»So lautet mein Name«, verkündete Nobby kühl.

»Wie du willst«, sagte Colon. »Vergiß nur nicht, wer hier der vorgesetzte Zivilist ist, klar?«

Er hämmerte an die Tür.

»Wir haben gehört, daß du ein Zimmer zu vermieten hast, Gnäfrau!« rief er.

»Hervorragend, Frederick«, sagte Nobby. »Das war einfach hervorragend

»Nun, schließlich bin ich Feldwebel«, flüsterte Colon.

»Nein.«

»Äh… ja… genau… Vergiß es nur nicht, hast du verstanden?«

Die Tür öffnete sich.

Die Frau dahinter hatte eins jener Gesichter, die sich im Lauf der Jahre gesetzt haben – es sah aus, als hätte man es aus Butter angefertigt und dann der Sonne überlassen. Das Haar war vom zunehmenden Alter weitgehend unbeeinflußt geblieben: Es leuchtete in grellem Rot und erinnerte in seiner gegenwärtigen Form an eine über dem Kopf schwebende, drohende Gewitterwolke.

»Zimmer?« wiederholte sie. »Das hättest du gleich sagen sollen. Zwei Ankh-Morpork-Dollar pro Woche, keine Haustiere, kein Kochen, keine Frauen nach sechs Uhr morgens, es gibt tausend andere Interessenten, übrigens, gehört ihr zum Zirkus? Ihr seht wie Zirkusleute aus.«5

»Wir sind…«, begann Nobby und unterbrach sich. Zweifellos gab es viele andere Dinge, die man sein konnte, wenn man nicht gerade Polizist war, aber ihm fielen einfach keine ein.

»… Schauspieler«, warf Nobby ein.

»Gezahlt wird eine Woche im voraus«, sagte die Frau. »Und ich dulde keine schmutzigen ausländischen Angewohnheiten. Ich führe ein respektables Haus«, fügte sie hinzu, obwohl die Indizien das Gegenteil behaupteten.

»Zuerst möchten wir uns die Unterkünfte ansehen«, sagte Colon.

»Oh, ihr seid von der wählerischen Sorte, wie?«

Die Frau führte sie nach oben.

Das von Ostie auf so endgültige Weise geräumte Zimmer erwies sich als klein und ziemlich leer. Einige Kleidungsstücke hingen an Nägeln, die jemand in die Wand geschlagen hatte. Ein Haufen aus Verpackungsmaterial und schmuddeligen Tüten zeigte, daß Ostie Brunt sich gewissermaßen von der Straße ernährt hatte.

»Wem gehört der Kram?« fragte Feldwebel Colon.

»Oh, er ist jetzt weg. Hab ihm gedroht, ihn auf die Straße zu setzen, wenn er die Miete nicht bezahlt. Ich werfe das Zeug weg, bevor ihr einzieht.«

»Wir kümmern uns darum«, sagte Feldwebel Colon. Er griff in die Tasche und holte zwei Dollar hervor. »Hier, Fräulein…?«

»Frau Geifer«, erwiderte Frau Geifer. Sie musterte ihn kritisch. »Wollt ihr beide hier wohnen?«

»Nein, ich bin nur als seine Anstandsdame mitgekommen«, erklärte Colon und lächelte freundlich. »Die Frauen fallen praktisch über ihn her, sobald sie seinen sexuellen Magnetismus spüren.«

Frau Geifer bedachte den schockierten Nobby mit einem scharfen Blick und rauschte hinaus.

»Warum hast du das getan?« fragte Nobby.

»Um sie loszuwerden.«

»Du hast mich auf die Schippe genommen, streite es nur nicht ab! Nur deshalb, weil ich derzeit ein emotionales Dingsbums durchmache…«

»Es war ein Scherz, Nobby. Ein harmloser Scherz.«

Nobby spähte unter das schmale Bett.

»Donnerwetter!« brachte er hervor und vergaß alle emotionalen Dingsbumse.

»Was ist? Was ist?« fragte Colon.

»Das sieht nach einer kompletten Ausgabe von Bögen und Bolzen aus! Und…« Nobby zog einen weiteren Stapel recht mitgenommen wirkender Zeitschriften ins Licht. »Das hier sind Ausgaben von Söldner und Praktische Belagerungswaffen…«

Colon blätterte in einem Heft und sah gleich aussehende Leute, die mit gleich aussehenden persönlichen Zerstörungsapparaten hantierten.

»Man muß ein wenig seltsam sein, wenn man den ganzen Tag in einem leeren Zimmer hockt und so was liest«, sagte er.

»Ja«, bestätigte Nobby. »Hier, leg dieses Heft beiseite, es ist die Ausgabe vom letzten August, die fehlt mir. Warte mal, da hinten steht noch eine Schatulle.«

Er kroch damit unter dem Bett hervor. Die Schatulle war verschlossen, aber das billige Metall gab sofort nach, als er versuchte, den Deckel nach oben zu hebeln.

Silbermünzen glänzten. Es waren ziemlich viele.

»Meine Güte«, ächzte Nobby. »Jetzt sind wir in Schwierigkeiten.«

»Das ist klatschianisches Geld, jawohl!« entfuhr es Colon. »Manchmal findet man solche Münzen in seinem Wechselgeld, anstelle eines halben Dollars. Sieh nur die schnörkelige Schrift darauf.«

»Jetzt sind wir in großen Schwierigkeiten«, kommentierte Nobby.

»Nein, nein, das ist eine Spur, die wir mit sorgfältigen und sehr geduldigen Ermittlungen gefunden haben«, sagte Feldwebel Colon. »Bestimmt bekommen wir Federn für unsere Helme, wenn Herr Mumm davon erfährt, jawohl!«

»Wieviel ist das deiner Meinung nach?«

»Das müssen Hunderte von Dollar sein«, spekulierte Colon. »Für einen Klatschianer ist das viel Geld. Selbst mit nur einem Dollar kann man in Klatsch ein Jahr lang wie ein König leben.«

»Eigentlich waren unsere Ermittlungen nicht sehr geduldig«, sagte Nobby nachdenklich. »Ich hab doch nur unters Bett gesehen.«

»Ja, weil du dafür ausgebildet bist«, erwiderte Colon. »Dem normalen Zivilisten käme so etwas überhaupt nicht in den Sinn. Hm, allmählich ergibt die Sache einen Sinn!«

»Wirklich?« Nobby klang skeptisch. »Warum sollten die Klatschianer Ostie Geld geben, damit er auf einen Klatschianer schießt?«

Colon klopfte sich an den Nasenflügel. »Politik«, erklärte er.

»Ah, Politik«, sagte Nobby. »Oh, nun, Politik. Ich verstehe. Politik. Alles klar. Also – warum?«

»Aha«, sagte Colon und klopfte an seinen anderen Nasenflügel.

»Warum bohrst du in der Nase, Feldwebel?«

»Ich bohre nicht in der Nase, sondern klopfe daran«, sagte Colon streng. »Um zu zeigen, daß ich Bescheid weiß.«

»Weil du den richtigen Riecher hattest«, fügte Nobby fröhlich hinzu.

»Eine solche hinterhältige Schlauheit ist typisch für die Klatschianer«, sagte Colon.

»Meinst du damit die Tatsache, daß sie uns bezahlen, um sie umzubringen?« fragte Nobby.

»Ach, weißt du, wenn hier bei uns irgendein hohes Tier aus Klatsch umgebracht wird, so können uns die Klatschianer eine pampige Mitteilung schicken, in der Art von: ›Ihr habt unser hohes Tier umgebracht, ihr ausländischen Neffen von Hunden, das bedeutet Krieg!‹ Verstehst du? Ein perfekter Vorwand.«

»Braucht man einen Vorwand, um Krieg zu führen?« erkundigte sich Nobby. »Ich meine, zu welchem Zweck? Warum sagt man nicht einfach: ›He, ihr habt eine Menge Geld und Land, aber wir haben die besseren Schwerter, und deshalb solltet ihr mit uns teilen, andernfalls gibt’s Gehacktes.‹ Das würde ich sagen«, fügte der Militärstratege Korporal Nobbs hinzu. »Und zwar erst nach dem Angriff.«

»Ja, weil du nichts von Politik verstehst«, sagte Colon. »So kann man sich heute nicht mehr verhalten. Glaub mir, dieser Fall ist eindeutig politischer Natur. Deshalb hat der alte Mumm mich darauf angesetzt, völlig klar. Politik. Der junge Karotte leistet gute Dienste, aber bei einer delikaten politischen Situation braucht man einen erfahrenen Mann von Welt.«

»Das mit dem Nasenklopfen hast du jedenfalls gut raus«, meinte Nobby. »Ich haue meistens daneben.«

Aber auch er spürte Unheil, wenn nicht in der Nase, so doch in dem kleinen Organ, das Blut durch seinen Körper pumpte. Diese Sache fühlte sich einfach nicht richtig an. In Nobbys Leben hatten sich die meisten Dinge nicht richtig angefühlt, und deshalb wußte er genau, was dieses Gefühl bedeutete.

Er sah an den kahlen Wänden hoch und blickte dann auf die schlichten Dielen hinab.

»Da liegt Sand auf dem Boden«, stellte er fest.

»Eine weitere Spur«, konstatierte Colon zufrieden. »Hier hat sich ein Klatschianer aufgehalten. Immerhin wimmelt’s in Klatsch von Sand, und er hatte noch immer was davon in den Sandalen.«

Nobby öffnete das Fenster. Dahinter neigte sich sanft ein Dach. Man konnte ganz einfach nach draußen klettern und durch den Irrgarten aus Schornsteinen entkommen.

»Er könnte durchs Fenster hereingekommen und anschließend wieder nach draußen geklettert sein, Feldwebel«, sagte er.

»Guter Hinweis, Nobby. Schreib’s auf. Anzeichen für heimliches Umschleichen und Verschwörung mit einem Klatschianer.«

Nobby senkte den Blick. »He, da liegt Glas, Fred…«

Feldwebel Colon trat ebenfalls zum Fenster, in dem eine Scheibe fehlte. Die Splitter lagen draußen auf den Schindeln.

»Könnte das eine Spur sein?« fragte Nobby hoffnungsvoll.

»Ja, ich denke schon«, antwortete Feldwebel Colon. »Hast du bemerkt, daß die Glassplitter draußen liegen? Jeder weiß, daß Scherben dorthin fallen, wohin man blickt. Ich schätze, der Bursche probierte seinen Bogen aus, und dabei ging ein Schuß los.«

»Das ist wirklich clever, Feldwebel«, sagte Nobby.

»So was ist Ermittlungsarbeit«, betonte Colon. »Es reicht nicht, die Dinge nur zu sehen, Nobby. Man muß auch klar denken, sozusagen in geraden Linien.«

»Cecil, Feldwebel.«

»Und es heißt Frederick, Cecil. Komm, ich glaube, wir haben diesen Fall gelöst. Und der alte Mumm wollte den Bericht so schnell wie möglich.«

Nobby blickte noch einmal aus dem Fenster. Das Dach grenzte an die Mauer eines ziemlich großen Lagergebäudes. Einige Sekunden spürte er, wie er in krummen Linien zu denken begann, doch er vermutete, daß ein Korporal auf diese Weise dachte und daß die Gedanken eines Korporals nicht so wichtig sein konnten wie die eines Feldwebels. Deshalb behielt er sie für sich.

Als sie die Treppe hinuntergingen, beobachtete sie Frau Geifer durch eine nur wenige Zentimeter geöffnete Tür am anderen Ende des Flurs. Sie schien bereit zu sein, die Tür beim ersten Anzeichen von sexuellem Magnetismus sofort zu schließen.

»Ich weiß überhaupt nicht, wo ich mir einen sexuellen Magneten besorgen könnte«, brummte Nobby. »Und sie hat nicht einmal gelacht.«

 

Außerdem haben wir die Bogenläden in der Straße Schlauer Kunsthandwerker besucht und dem Manne bei Burlich-und-Starkimarm das Ikonographenbild gezeigt, er versicherte, daß er es ist, mit anderen Worten, er identifizierte den Verstorbenen…

»Meine Güte…« Mumms Lippen bewegten sich, als sein Blick zu dem Text zurückkehrte.

außerdem wies nicht nur das klatschianische Geld darauf hin, daß ein Klatschianer zugegen gewesen sein muß, weil, es lag auch Sand auf dem Boden…

»Der Kerl hatte noch Sand in den Sandalen?« murmelte Mumm. »Gütiger Himmel!«

»Sam?«

Mumm sah von der Lektüre auf.

»Deine Suppe wird kalt«, erklang Lady Sybils Stimme vom fernen Ende des Tisches. »Nach der Uhr zu urteilen, hältst du den Löffel schon seit fünf Minuten in der Luft.«

»Tut mir leid, Schatz.«

»Was liest du da?«

»Oh, nur ein kleines Meisterwerk«, sagte Mumm und schob Fred Colons Bericht beiseite.

»Scheint interessant zu sein«, bemerkte Lady Sybil mit einem Hauch von Verdrießlichkeit in der Stimme.

»Praktisch unvergleichlich«, erwiderte Mumm. »Die einzigen unentdeckten Dinge waren die Datteln und das Kamel, vermutlich unter dem Kopfkissen versteckt.«

Zu spät nahm sein Eheradar eine gewisse Kühle auf der anderen Seite des Gewürzständers wahr.

»Äh… stimmt was nicht?« fragte er.

»Erinnerst du dich daran, wann wir zum letztenmal zusammen gespeist haben, Sam?«

»Dienstag, nicht wahr?«

»An diesem Tag fand das jährliche Festessen der Kaufmannsgilde statt, Sam.«

Mumm runzelte die Stirn. »Aber du warst ebenfalls dort, oder?«

Eine weitere subtile Veränderung im Drachenhausquotienten wies ihn darauf hin, daß er keine besonders kluge Antwort gegeben hatte.

»Und dann bist du davongelaufen, wegen der Sache mit dem Friseur in der Schimmerstraße.«

»Rudi Schneidfix?« fragte Mumm. »Nun, er brachte Leute um. Zu seiner Entlastung läßt sich höchstens vorbringen, daß keine Absicht dahintersteckte. Er konnte nur nicht gut rasieren…«

»Aber ich bin sicher, daß du dich nicht selbst um den Fall kümmern mußtest.«

»Polizist zu sein… das ist ein Vierundzwanzig-Stunden-Job.«

»Nur für dich! Die anderen Mitglieder der Wache bringen ihre zehn Stunden Dienst hinter sich, und damit hat es sich. Aber du arbeitest immer. Das ist nicht gut für dich. Tagsüber bist du ständig unterwegs, und wenn ich mitten in der Nacht aufwache, ist der Platz neben mir immer kalt und leer…«

Die drei Punkte hingen mitten in der Luft, wie die Phantome von unausgesprochenen Worten. Kleine Dinge, dachte Mumm. Auf diese Weise beginnen Kriege.

»Es gibt viel zu tun, Sybil«, sagte er so geduldig wie möglich.

»Es gab immer viel zu tun. Und je größer die Wache wird, desto mehr Arbeit gibt es. Ist dir das schon aufgefallen?«

Mumm nickte. Das stimmte. Dienstpläne, Quittungen, Notizbücher, Berichte… Ob die Wache nun für mehr Sicherheit in der Stadt sorgte oder nicht: Den Bäumen jagte sie einen ziemlichen Schrecken ein.

»Du solltest mehr delegieren«, sagte Lady Sybil.

»Das meint er ebenfalls«, murmelte Mumm.

»Wie bitte?«

»Hab nur laut gedacht, Schatz.« Mumm schob den Bericht noch etwas weiter fort. »Was hältst du davon, wenn wir… den Abend daheim verbringen? Im Salon brennt ein hübsches Feuer…«

»Äh… nein, Sam, da brennt kein Feuer.«

»Hat der junge Unverblüm es noch nicht angezündet?« Unverblüm war der »Bursche«, und Mumm hatte sich erst an die Vorstellung gewöhnen müssen, daß damit auch ein Diener gemeint sein konnte. Unverblümt Aufgabe bestand darin, das Feuer im Kamin anzuzünden, die Aborte zu reinigen, dem Gärtner zu helfen und gelegentlich die Schuld auf sich zu nehmen.

»Er ist fortgegangen, um Trommler im Regiment des Herzogs von Eorle zu werden«, sagte Lady Sybil.

»Auch der Bursche? Er schien ein recht heller Kopf zu sein. Ist er nicht zu jung?«

»Bei den Fragen nach seinem Alter wollte er lügen.«

»Hoffentlich lügt er auch, wenn es um seine musikalischen Fähigkeiten geht. Ich habe ihn pfeifen gehört.« Mumm schüttelte den Kopf. »Was hat ihn nur dazu gebracht, eine so dumme Entscheidung zu treffen?«

»Er glaubt, mit der Uniform Mädchen beeindrucken zu können.«

Sybil lächelte sanft. Die Vorstellung, den Abend daheim zu verbringen, erschien plötzlich sehr verlockend.

»Nun, man braucht sicher kein Genie zu sein, um den Holzschuppen zu finden«, sagte Mumm. »Und dann verriegeln wir die Türe und…«

Eine der gerade erwähnten Türen erzitterte, als jemand heftig anklopfte.

Mumm bemerkte Sybils Blick.

»Na los, geh nur«, sagte sie, seufzte und nahm wieder Platz.

Mumm öffnete und sah Korporal Grinsi Kleinpo, die völlig außer Atem war.

»Du… mußt schnell mitkommen… Herr Kommandeur. Diesmal… ist es… Mord!«

Mumm sah hilflos zu seiner Frau.

»Natürlich mußt du gehen«, sagte sie.

 

Angua kämmte sich ihr Haar vor dem Spiegel.

»Mir gefällt das nicht«, sagte Karotte. »Es ist kein richtiges Benehmen.«

Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Keine Sorge«, erwiderte sie. »Mumm hat alles erklärt. Du verhältst dich so, als ließen wir uns etwas zuschulden kommen.«

»Ich bin gern Wächter«, sagte Karotte und hielt an seinem Kummer fest. »Und ein ordentlicher Wächter trägt Uniform. Wenn man keine Uniform trägt… könnte man genausogut herumspionieren. Er weiß, daß ich so denke.«

Angua betrachtete sein kurzes rotes Haar und die ehrlichen Ohren.

»Ich habe ihm viel Arbeit abgenommen«, fuhr Karotte fort. »Er braucht überhaupt nicht mehr auf Streife zu gehen, aber er versucht noch immer, alles selbst zu erledigen.«

»Vielleicht möchte er gar nicht, daß du so sehr hilfst«, sagte Angua so taktvoll wie möglich.

»Außerdem wird er nicht jünger. Ich habe versucht, ihn darauf hinzuweisen.«

»Sehr freundlich von dir.«

»Und ich habe nie zivile Kleidung getragen.«

»Bei dir sieht selbst zivile Kleidung wie eine Uniform aus«, sagte Angua und streifte den Mantel über. Sie empfand es als große Erleichterung, keine Rüstungsteile mehr tragen zu müssen. Was Karotte betraf… bei ihm mußten alle Verkleidungsbemühungen scheitern. Seine Größe, die Ohren, das rote Haar, der allgemeine Eindruck von überaus athletischer Gutmütigkeit…

»Ich schätze, ein Werwolf ist dauernd in Zivil«, meinte Karotte.

»Danke. Da hast du natürlich recht.«

»Ich fühle mich nur nicht wohl dabei, auf diese Weise zu lügen.«

»Du solltest mal ein paar Kilometer weit mit diesen Pfoten laufen.«

»Wie bitte?«

»Schon gut.«

 

Zorn brodelte in Goriffs Sohn Janil. Den Grund dafür kannte er nicht. Es gab viele Ursachen für den Zorn, und die Brandbombe am vergangenen Abend spielte eine große Rolle dabei. Das galt auch für gewisse Bemerkungen, die er in den Straßen hörte. Er hatte sogar mit seinem Vater gestritten, weil er der Wache das Essen geschickt hatte. Die Wächter waren ein offizieller Teil der Stadt. Sie trugen dumme Dienstmarken bei sich. Sie schritten in Uniform umher. Janils Zorn galt vielen Dingen, auch der Tatsache, daß er erst dreizehn war.

Als sein Vater um neun Uhr abends Brot backte, die Tür aufsprang und ein Mann hereingelaufen kam… da holte Janil die alte Armbrust seines Vaters unter dem Tresen hervor, zielte auf die Stelle, an der er das Herz vermutete, und zog den Auslöser.

 

Karotte stampfte mehrmals mit dem Fuß auf und blickte sich um.

»Hier«, sagte er. »Ich stand hier. Und der Prinz befand sich… dort.« Angua wanderte über den Platz. Mehrere Leute drehten sich um und bedachten Karotte mit neugierigen Blicken.

»Gut so… halt… nein, noch ein bißchen… halt… dreh dich ein wenig nach links… ich meine, links von mir aus gesehen… ein oder zwei Schritte zurück… und jetzt heb die Arme…«

Karotte näherte sich Angua und folgte ihrem Blick.

»Man hat von der Universität aus auf ihn geschossen?«

»Der Schütze scheint sich im Bibliotheksgebäude aufgehalten zu haben«, sagte Angua. »Aber ein Zauberer kommt gewiß nicht als Täter in Frage. Aus solchen Dingen halten sie sich heraus.«

»Oh, es ist nicht weiter schwer, auf das Gelände der Universität zu gelangen, selbst wenn das Tor geschlossen ist«, meinte Karotte. »Ich schlage vor, wir nehmen den inoffiziellen Weg, einverstanden?«

»In Ordnung. Karotte?«

»Ja?«

»Der falsche Schnurrbart… Er paßt einfach nicht zu dir. Und die Nase ist zu rot.«

»Sehe ich dadurch nicht unauffällig aus?«

»Nein. Und der Hut… Ich würde ihn abnehmen. Ich meine, es ist ein guter Hut«, fügte Angua rasch hinzu. »Aber eine braune Melone… Das ist einfach nicht dein Stil.«

»Genau!« erwiderte Karotte. »Wenn so etwas mein Stil wäre, wüßten die Leute sofort, daß ich es bin, oder?«

»Du siehst damit wie ein Narr aus, Karotte.«

»Sehe ich normalerweise wie ein Narr aus?«

»Nein…«

»Aha!« Karotte griff in die Tasche seines langen braunen Mantels. »Dieses Verkleidungsbuch habe ich aus dem Scherzartikelladen in der Fleißigen Straße. Komisch, auch Nobby hat dort Dinge gekauft. Ich fragte ihn nach dem Grund dafür, und er erwähnte ›verzweifelte Maßnahmen‹. Was kann er damit wohl gemeint haben?«

»Keine Ahnung«, sagte Angua.

»In dem Laden gibt es die erstaunlichsten Sachen. Falsches Haar, falsche Nasen, falsche Bärte, sogar falsche…« Er zögerte und errötete. »Sogar falsche… äh… Brüste. Für Frauen. Kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum Frauen den Wunsch verspüren sollten, sich damit zu verkleiden.«

Vermutlich kann er das wirklich nicht, dachte Angua. Sie nahm das kleine Buch von Karotte entgegen und blätterte darin.

»Solche Verkleidungen sind für eine Kartoffel bestimmt, Karotte.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Sieh dir nur diese Bilder an.«

»Ich dachte, die sollen nur den Text ein wenig auflockern.«

»Und hier steht’s: ›Herr Kartoffel‹.«

Verwirrung kroch in das Gesicht über dem großen schwarzen Schnurrbart. »Warum sollte sich eine Kartoffel verkleiden wollen?« fragte Karotte.

Sie erreichten eine kleine Gasse neben der Universität. Über Jahrhunderte hinweg war sie inoffiziell als »Gelehrteneingang« bekannt gewesen, und inzwischen hing ein entsprechendes Namensschild am einen Ende. Zwei Universitätsstudenten kamen Karotte und Angua entgegen.

Traditionell wußten nur die Studenten vom inoffiziellen Eingang der Universität. Allerdings vergaßen die meisten von ihnen, daß die älteren Angehörigen der Fakultät ebenfalls einmal Studenten gewesen waren und nach dem offiziellen Torschluß ebenfalls nicht auf Ausflüge in die Stadt verzichten wollten. Dieser Umstand führte an dunklen Abenden zu einer gewissen Quantität an Verlegenheit und Diplomatie.

Karotte und Angua warteten geduldig, als einige weitere Studenten über die Mauer kletterten, gefolgt vom Dekan.

»Guten Abend«, grüßte Karotte höflich.

»Guten Abend, Kartoffel«, sagte der Dekan und wankte weiter.

»Na bitte.«

»Aber er hat mich nicht Karotte genannt«, sagte Karotte. »Das Prinzip ist soweit in Ordnung.«

Sie sprangen auf den Rasen der Akademie hinab und gingen in Richtung Bibliothek.

»Sie ist bestimmt geschlossen«, sagte Angua.

»Denk daran, daß sich einer unserer Leute in der Bibliothek befindet«, sagte Karotte und klopfte an.

Die Tür öffnete sich einen Spalt. »Ugh?«

Karotte hob seinen gräßlichen braunen Hut.

»Guten Abend, Herr Bibliothekar. Dürfen wir hereinkommen? Es handelt sich um eine Angelegenheit der Wache.«

»Ugh iiek ugh?«

»Äh…«

»Was hat er gesagt?« fragte Angua.

»Wenn du’s unbedingt wissen willst: ›Meine Güte, eine wandelnde Kartoffel!‹«, antwortete Karotte.

Der Bibliothekar wandte sich Angua zu und rümpfte die Nase – der Werwolfgeruch gefiel ihm nicht sonderlich. Trotzdem winkte er sie beide herein und ließ sie dann warten, als er zum Schreibtisch watschelte, wobei er sich immer wieder mit den Fingerknöcheln abstützte. Er zog eine Schublade auf, entnahm ihr eine Dienstmarke, die an einem Bindfaden baumelte, und hängte sich das Ding dorthin, wo man normalerweise den Hals vermutete. Dann versuchte er, Haltung anzunehmen, wobei sich die Anatomie eines Orang-Utans als erhebliches Problem erwies. Die zentralen Bereiche des Affenkörpers wußten, worum es ging, aber die peripheren Regionen reagierten eher träge.

»Ugh ugh!«

»Ich schätze, das hieß ›Wie kann ich zu Diensten sein, Hauptmann Kartoffel?‹«, spekulierte Angua.

»Wir möchten uns im fünften Stock umsehen, und zwar dort, von wo aus man über den Platz blicken kann«, sagte Karotte mit etwas kühlerer Stimme als sonst.

»Ugh uugh – ugh.«

»Er meint, dort gibt es nur alte Lagerräume«, übersetzte Karotte.

»Und das letzte ›ugh‹?« fragte Angua.

»›Herr Schrecklichhut‹«, sagte Karotte.

»Er hat noch immer nicht herausgefunden, wer du bist«, meinte Angua.

In den muffigen Zimmern des fünften Stocks roch es auf traurige Weise nach alten, unerwünschten Büchern. Sie standen nicht in Regalen, sondern lagen zusammengebunden in breiten Gestellen. Sie wirkten recht mitgenommen, und vielen von ihnen fehlte der Einband. Die Reste deuteten darauf hin, daß es sich um Lehrbücher handelte, mit denen nicht einmal der leidenschaftlichste Bibliophile etwas anzufangen wußte.

Karotte griff nach einer halb zerrissenen Ausgabe von Wuddels Okkulte Fibel. Einige lose Seiten fielen heraus. Angua hob sie auf.

»›Kapitel fünfzehn, elementare Nekromantie‹«, las sie laut. »›Lektion Eins: Der richtige Gebrauch der Schaufel…‹«

Sie legte die Blätter beiseite und schnupperte. Die Präsenz des Bibliothekars füllte ihren nasalen Kosmos wie ein Elefant eine Streichholzschachtel, aber…

»Jemand anders war hier«, sagte sie. »Während der letzten beiden Tage. Könntest du uns bitte allein lassen?« wandte sie sich an den Bibliothekar. »Du bist ziemlich… äh… geruchsintensiv…«

»Ugh?«

Der Bibliothekar nickte Karotte zu, zuckte Angua gegenüber mit den Schultern und wankte hinaus.

Langsam schob sie sich nach vorn.

Die Ohren teilten ihr mit, daß der Bibliothekar durch den Flur ging, denn sie hörte das Knarren der Dielen. Aber die Nase behauptete, daß er nach wie vor in unmittelbarer Nähe weilte. Der Geruch war nicht mehr ganz so stark wie vorher, aber…

»Ich muß die Gestalt wechseln«, sagte Angua. »Nur so bekomme ich eine klare Vorstellung. Es ist zu seltsam.«

Karotte schloß gehorsam die Augen. Sie hatte ihm verboten, ihr zuzusehen, wenn sie sich von einem Menschen in einen Werwolf verwandelte, denn die Übergangsphasen boten keinen angenehmen Anblick. Daheim in Überwald änderten die Leute ihre Gestalt mit der gleichen Unbekümmertheit, mit der gewöhnliche Menschen die Kleidung wechselten. Aber es galt als höflich, vorher hinter einen Busch zu treten.

Als Karotte die Augen wieder öffnete, kroch Angua nach vorn und konzentrierte die ganze Wahrnehmung auf ihre Schnauze.

Die geruchliche Präsenz des Bibliothekars bildete eine komplexe Struktur: Purpurne Schemen schwebten dort, wo er in Bewegung gewesen war, und sie gewannen fast feste Substanz, wo er gestanden hatte. Hände, Gesicht, Lippen… Innerhalb der nächsten Stunden würde eine sich immer mehr ausdehnende Wolke daraus entstehen, aber derzeit konnte Angua noch alle Einzelheiten riechen.

Hier gab es fast überhaupt keine Luftströmungen. Nicht einmal Fliegen schwirrten durch die tote Luft; nichts rief irgendwelche Strömungsmuster hervor.

Behutsam näherte sich Angua dem Fenster. Die visuellen Eindrücke blieben vage wie eine grobe Schwarzweißzeichnung des Zimmers, der die Nase schillernde Farben hinzufügte.

Am Fenster… am Fenster…

Ja! Ein Mann hatte hier gestanden, und der Geruch deutete darauf hin, daß er lange Zeit völlig reglos gewesen war. Die fremde Präsenz hing dort, am Rand ihres Wahrnehmungsvermögens. Etwas deutete darauf hin, daß das Fenster geöffnet worden war. Und hatte der Mann den Arm ausgestreckt?

Angua schnupperte und schnüffelte, versuchte die einzelnen Geruchsfragmente, die wie dünne Rauchschwaden im Zimmer schwebten, zur ursprünglichen Gestalt zusammenzusetzen…

Nach einer Weile kehrte Angua zu ihrer Kleidung zurück und hüstelte höflich, als sie die Stiefel anzog.

»Es stand ein Mann am Fenster«, sagte sie. »Langes Haar, ein bißchen trocken, roch nach teurem Shampoo. Der Mann, der die Bretter wieder vors Fenster genagelt hat, nachdem Ostie ins Vorwerk gelangt war.«

»Bist du sicher?«

»Hat sich diese Nase jemals geirrt?«

»Entschuldige. Und weiter?«

»Ich würde sagen, daß er untersetzt ist, zu schwer für seine Größe. Er wäscht sich nicht oft, aber wenn, benutzt er billige Windspieß-Seife. Andererseits verwendet er teures Shampoo, was mir seltsam erscheint. Und er trug neue Stiefel. Und einen grünen Mantel.«

»Kannst du Farben riechen?«

»Nein, aber das Färbungsmittel. Es stammt aus Sto Lat, glaube ich. Und… ich vermute, daß er einen Bogen benutzt hat. Einen teuren Bogen. Es lag ein Hauch von Seidengeruch in der Luft, und die stärksten Bogensehnen bestehen doch aus Seide, oder? Damit stattet man sicher keinen billigen Bogen aus.«

Karotte stand am Fenster. »Von hier aus hat man einen guten Blick.« Er blickte auf den Boden, auf die Fensterbank, zu den Gestellen mit den Büchern.

»Wie lange war er hier?«

»Zwei oder drei Stunden, denke ich.«

»Er hat sich nicht viel bewegt.«

»Nein.«

»Rauchte und spuckte auch nicht. Stand einfach nur da und wartete. Ein Profi. Herr Mumm hat recht.«

»Ein Profi, der weitaus professioneller war als Ostie«, sagte Angua.

»Mit einem grünen Mantel…« Karotte schien laut zu denken. »Grüner Mantel, grüner Mantel…«

»Oh, und noch etwas.« Angua richtete sich auf. »Er hatte Schuppen.«

»Schneetreiben Schuppert?« entfuhr es Karotte.

»Wie?«

»Könnte man von einem sehr krassen Schuppen-Fall sprechen?«

»Oh, ja…«

»Deshalb hat man ihm den Spitznamen ›Schneetreiben‹ gegeben«, sagte Karotte. »Dunnelgurt Schuppert, der Mann mit dem verstärkten Kamm. Aber er soll nach Sto Lat umgezogen sein…«

»Dort gibt es das grüne Färbungsmittel«, sagten sie beide gleichzeitig.

»Kann er gut mit einem Bogen umgehen?« fragte Angua.

»Sogar sehr gut. Er versteht sich auch darauf, Leute umzubringen, die er nie zuvor gesehen hat.«

»Ein Assassine, wie?«

»O nein. Er bringt Leute einfach nur wegen Geld um. Ohne Stil. Kann weder lesen noch schreiben.«

Karotte kratzte sich voller Anteilnahme am Kopf. »Er sieht sich nicht einmal komplizierte Bilder an. Letztes Jahr haben wir ihn erwischt, aber er schüttelte ganz plötzlich den Kopf und entkam, während wir versuchten, Nobby auszugraben. Na so was. Wo er sich jetzt wohl aufhält?«

»Bitte mich nur nicht, ihm durch die Straßen zu folgen. Inzwischen sind Tausende über seine Fährte hinwegmarschiert.«

»Oh, es gibt Leute, die Bescheid wissen. Bestimmte Personen sehen alles, was in dieser Stadt passiert.«

 

HERR SCHUPPERT?

Schneetreiben Schuppert betastete vorsichtig seinen Hals beziehungsweise den Hals seiner Seele. Die menschliche Seele neigt dazu, nach dem Tod eine Zeitlang die Gestalt des ursprünglichen Körpers zu bewahren. Angewohnheit kann eine wundervolle Sache sein.

»Potzblitz, wer war das?« fragte er.

KANNTEST DU IHN NICHT? erwiderte Tod.

»Nein! Ich kenne nicht viele Leute, die mir den Kopf abschlagen!«

Schneetreiben Schupperts Körper war beim Fallen gegen den Tisch gestoßen. Aus mehreren Flaschen mit medizinisch behandeltem Shampoo floß und tropfte es nun auf bestimmte andere Flüssigkeiten herab, die aus der Leiche quollen.

»Das Zeug mit dem speziellen Öl hat mich fast vier Dollar gekostet«, sagte Schneetreiben. Doch aus irgendeinem Grund schien dieser Umstand immer mehr an Bedeutung zu verlieren. Der Tod stieß anderen Leuten zu. In diesem Fall war die andere Person er selbst. Besser gesagt: der Mann, der dort auf dem Boden lag. Nicht derjenige, der jetzt auf ihn hinabstarrte. Zu seinen Lebzeiten war Schneetreiben nicht imstande gewesen, das Wort »metaphysisch« zu buchstabieren, aber er begann bereits, das Leben auf eine andere Weise zu sehen. Von außerhalb, zum Beispiel.

»Vier Dollar«, wiederholte er. »Und ich hatte nicht einmal Gelegenheit, es auszuprobieren!«

ES HÄTTE NICHT GEWIRKT, sagte Tod und klopfte ihm auf eine verblassende Schulter. WENN ICH DIR VORSCHLAGEN DARF, DIE SACHE VON DER POSITIVEN SEITE ZU BETRACHTEN… IN ZUKUNFT KANNST DU AUF SHAMPOO VERZICHTEN.

»Keine Schuppen mehr?« fragte Schneetreiben. Er war inzwischen transparent und löste sich immer mehr auf.

NIE WIEDER, sagte Tod. VERTRAU MIR.

 

Kommandeur Mumm lief durch dunkle Straßen und versuchte gleichzeitig, seinen Brustharnisch festzuschnallen.

»Also gut, Grinsi, was ist passiert?«

»Es heißt, ein Klatschianer hätte jemanden umgebracht, Herr Kommandeur. In der Skandalgasse hat sich eine aufgebrachte Menge gebildet, und die Sache sieht ziemlich übel aus. Ich hatte Schreibtischdienst in der Wache und hielt es für besser, dich zu benachrichtigen.«

»Gut!«

»Und außerdem konnte ich Hauptmann Karotte nirgends finden, Herr Kommandeur.«

Säurehaltige Tinte schrieb einen kleinen, subtilen Eintrag in das Protokollbuch von Mumms Seele.

»Bei den Göttern… Und wer kümmert sich um den Fall?«

»Feldwebel Detritus, Herr Kommandeur.«

Grinsi Kleinpo hatte plötzlich das Gefühl, völlig still zu stehen, denn Kommandeur Mumm sauste davon und schrumpfte zu einem kleinen Punkt in der Ferne.

 

Mit der ruhigen Miene einer Person, die ihre Pflicht methodisch erfüllt, griff Detritus nach einem Mann, um andere Männer damit zu schlagen. Als er einen freien Bereich geschaffen hatte, in dessen Mitte er stand und in dem einige Randalierer lagen, kletterte er auf den stöhnenden Haufen und wölbte die Hände trichterförmig vor dem Mund.

»Ihr mir zuhören, Leute!«

Wenn ein Troll aus vollem Halse schreit, fällt es ihm nicht weiter schwer, jeden Aufruhr zu übertönen. Als Detritus glaubte, die Aufmerksamkeit der Menge errungen zu haben, zog er eine Schriftrolle unter seinem Brustharnisch hervor und hob sie hoch über den Kopf.

»Dies der Aufruhrakte ist«, verkündete er. »Ihr wißt, was bedeutet das? Es bedeuten, wenn ich vorlese das Ding und ihr nicht… äh… geht weg, dann die Wache kann einsetzen tödliche Gewalt, ihr das verstanden habt?«

»Was hast du denn gerade benutzt?« stöhnte jemand unter ihm.

»Du nur ein wenig der Wache geholfen hast«, erwiderte Detritus und verlagerte das Gewicht.

Er entrollte die Rolle.

Zwar fanden in einigen Straßen Raufereien statt, und Schreie erklangen aus einer nahen Straße, aber diese Gasse wurde nun zum Mittelpunkt einer sich schnell ausdehnenden Zone der Stille. Die Fähigkeit der Bürger von Ankh-Morpork, Unterhaltungsmöglichkeiten zu erkennen, war fast ein genetisches Merkmal.

Detritus hielt das Dokument erst auf Armeslänge und zog es dann immer näher heran, bis der Abstand zwischen Augen und Aufruhrakte nur noch wenige Zentimeter betrug. Anschließend drehte er das Pergament mehrmals.

Seine Lippen bewegten sich unsicher.

Schließlich bückte er sich und zeigte die Rolle dem Obergefreiten Besuch.

»Wie dieses Wort heißt?«

»Es lautet ›wonach‹, Feldwebel.«

»Ich das gewußt.«

Detritus richtete sich wieder auf.

»›Wonach… zur…‹« Auf Detritus’ Stirn bildete sich das Troll-Äquivalent von Schweißperlen. »›Wonach… zur… Kennt…‹«

»Zur Kenntnis gebracht wird«, flüsterte Obergefreiter Besuch.

»Ich das gewußt.« Detritus starrte wieder auf das Dokument und gab sich geschlagen. »Ihr nicht wollen den ganzen Tag hier herumstehen und mir zuhören!« donnerte er. »Dies die Aufruhrakte ist, und ihr sie alle lesen müßt, klar? Reicht herum sie.«

»Und wenn wir sie nicht lesen?« fragte jemand.

»Ihr sie lesen müßt. Das gesetzlich ist.«

»Und was passiert dann?«

»Dann ich schieße auf dich«, sagte Detritus.

»Das ist nicht erlaubt!« erklang eine andere Stimme. »Erst mußt du rufen: ›Stehenbleiben, bewaffneter Wächter!‹«

»Meinetwegen«, grollte Detritus. Er hob eine breite Schulter, wodurch die Armbrust unter seinen Arm geriet. Es war eine Belagerungswaffe, die eigentlich auf einem Karren montiert sein sollte. Der Bolzen war hundertachtzig Zentimeter lang. »Es viel schwerer sein zu treffen bewegliche Ziele.«

Er löste den Sicherungsbügel.

»Schon jemand damit fertig ist, der Aufruhrakte zu lesen?«

»Feldwebel!«

Mumm bahnte sich einen Weg durch die Menge. Und inzwischen war es eine Menge. Die Bürger von Ankh-Morpork bildeten immer ein gutes Publikum.

Es schepperte, als Detritus salutierte.

»Hattest du vor, diese Leute kaltblütig zu erschießen, Feldwebel?«

»Nein, Herr Kommandeur. Ich nur dachte an einen Warnschuß in den Kopf.«

»Ach? Nun, gib mir vorher Gelegenheit, einige Worte an diese Schar zu richten.«

Mumm sah zum nächsten Mann: In der einen Hand hielt er eine Fackel, in der anderen eine lange Latte. Er erwiderte den Blick des Kommandeurs und wirkte so nervös wie jemand, der spürte, wie sich der Boden unter ihm bewegte.

Mumm zog die Fackel ein wenig näher und zündete seine Zigarre mit ihr an. »Was ist hier los, Freund?«

»Die Klatschianer bringen Leute um, Herr Mumm! Es war ein völlig unprovozierter Angriff!«

»Tatsächlich?«

»Es gab Opfer!«

»Wo?«

»Nun… ich meine… ich denke… Es ist allgemein bekannt, daß es Opfer gab!« Die mentalen Füße des Mannes fanden stabileres Terrain. »Wofür halten die sich eigentlich, daß sie hier herkommen und…«

»Das genügt«, sagte Mumm. Er trat zurück und hob die Stimme.

»Ich kenne viele von euch«, begann er. »Und daher weiß ich auch, daß man zu Hause auf euch wartet. Seht ihr das hier?« Er holte das Zeichen seines Amtes hervor, den Schlagstock. »Dieses Objekt weist darauf hin, daß ich die öffentliche Ordnung aufrechterhalten muß. In zehn Sekunden gehe ich und suche mir einen Ort, an dem ich die öffentliche Ordnung aufrechterhalten kann, aber Detritus bleibt hier. Und ich hoffe, er unternimmt nichts, das Schande auf unsere Uniform bringt. Oder gar Blut.«

Ironie gehörte nicht zu den Dingen, mit denen Ankh-Morporks Bürger vertraut waren, aber einige der intelligenteren Zuhörer begriffen, was Mumms Gesichtsausdruck bedeutete – so sah ein Mann aus, der sich mit den Zähnen an der Geduld festhielt.

Die Menge ging auseinander und löste sich vom Rand her auf, als die Leute durch Seitengassen davoneilten, ihre improvisierten Waffen wegwarfen und dann wieder auf der Straße erschienen, um den aufrechten Gang von ehrbaren Bürgern zu üben.

»Na schön, was ist hier geschehen?« wandte sich Mumm an den Troll.

»Wir gehört haben, daß der Junge geschossen auf einen Mann«, erklärte Detritus. »Wir hier eintrafen, und dann plötzlich kamen viele schreiende Leute wie aus dem Nichts.«

»Er schmetterte ihn hernieder, so wie Hudrun die Fleischtöpfe von Ur zerschmetterte«, sagte Obergefreiter Besuch.6

»Er hat etwas zerschmettert?« fragte Mumm verwirrt. »Wurde jemand getötet?«

»Für einen Toten er erstaunlich laut und hingebungsvoll fluchte«, erwiderte Detritus. »Er getroffen wurde am Arm. Seine Freunde ihn brachten zur Wache, wo er sich beklagte. Er als Bäcker in der Nachtschicht arbeiten. Meinen, er spät dran gewesen und gelaufen kam ins Lokal, um abzuholen sein Essen, und dann er lag plötzlich auf dem Boden.«

Mumm schritt über die Straße und griff nach der Klinke. Die Tür öffnete sich einige Zentimeter und stieß dann gegen etwas, das eine Barrikade zu sein schien. Auch vor dem Fenster waren Möbelstücke übereinandergestapelt worden.

»Wie viele Leute waren hier draußen, Obergefreiter?«

»Ganze Heerscharen, fürwahr, Herr Kommandeur.«

Und vier Personen hier drin, dachte Mumm. Eine Familie. Die Tür öffnete sich noch etwas weiter, und Mumm duckte sich, bevor die Armbrust sichtbar wurde.

Das Doing einer Sehne erklang. Der Bolzen sauste nicht etwa vorbei, sondern taumelte eher durch die Luft, trudelte in einem korkenzieherartigen Kurs durch die Gasse. Er flog fast seitwärts, als er gegen die gegenüberliegende Wand schlug.

»Hört mal…« Mumm blieb in geduckter Haltung, hob jedoch die Stimme. »Wenn es gelang, damit jemanden zu treffen, so kommt als Täter nur der Zufall in Frage. Hier spricht die Wache. Öffnet die Tür. Sonst macht Detritus sie auf. Und wenn er eine Tür öffnet, bleibt sie offen. Versteht ihr, was ich meine?«

Keine Antwort.

»Na schön. Detritus, bitte komm hierher…«

Im Lokal flüsterten Stimmen, gefolgt von einem Kratzen, als Möbelstücke beiseite gerückt wurden.

Mumm versuchte es erneut mit der Tür – diesmal schwang sie nach innen auf.

Die Familie stand auf der anderen Seite des Zimmers. Mumm fühlte die Blicke von acht Augen auf sich ruhen. Es herrschte eine heiße, besorgte Atmosphäre, gewürzt mit dem Geruch von angebrannten Speisen.

Herr Goriff hielt die Armbrust in schlaffen Händen, und der Gesichtsausdruck seines Sohnes verriet Mumm alles, was er wissen mußte.

»In Ordnung«, sagte er. »Jetzt hört mir mal gut zu. Derzeit beabsichtige ich nicht, jemanden zu verhaften, ist das klar? Dies scheint eine von jenen Angelegenheiten sein, die den Patrizier gähnen lassen. Aber ihr solltet den Rest der Nacht besser in der Wache verbringen. Derzeit kann ich keine Wächter erübrigen, um euch hier beschützen zu lassen. Versteht ihr? Ich könnte euch verhaften. Statt dessen richte ich nur eine Bitte an euch.«

Herr Goriff räusperte sich.

»Der Mann, auf den ich geschossen hab…«, begann er und ließ die Frage in der Luft hängen.

Mumm mußte sich zwingen, nicht den Jungen anzusehen. »Er ist nicht schwer verletzt.«

»Er… kam ganz plötzlich hereingelaufen«, erklärte Herr Goriff. »Und nach dem Zwischenfall mit der Brandbombe…«

»Du hast einen weiteren Anschlag befürchtet und nach der Armbrust gegriffen?«

»Ja«, sagte der Junge trotzig, bevor sein Vater antworten konnte.

Nach einem kurzen Streitgespräch auf Klatschianisch fragte Herr Goriff:

»Wir müssen das Haus verlassen?«

»Zu eurem eigenen Besten. Vielleicht finden wir jemanden, der es während eurer Abwesenheit bewacht. Packt jetzt einige Sachen zusammen und begleitet Detritus. Und gib mir die Armbrust.«

Goriff reichte sie dem Kommandeur und schien erleichtert zu sein. Es handelte sich um ein typisches Modell Samstagabend-Spezial, das sich durch schlechte Qualität und Unzuverlässigkeit auszeichnete. Wenn man sie abfeuerte, war der einzige sichere Platz direkt dahinter, und selbst dort ging man ein Risiko ein. Niemand hatte ihren Eigentümer darauf hingewiesen, daß er sie besser nicht mit gespannter Sehne unter dem Tresen eines Ladens aufbewahrte, in dem hohe Luftfeuchtigkeit herrschte und ein dauernder Regen aus Fett niederging. Die Sehne hatte den größten Teil ihrer Spannkraft eingebüßt. Wenn man mit dieser Armbrust jemanden verletzen wollte, mußte man sie ihm auf den Kopf schlagen.

Mumm wartete, bis die Familie den Raum verlassen hatte, und sah sich dann noch einmal um. Das Zimmer war nicht sehr groß. In der Küche hinterm Tresen kochte etwas Scharfes in einem großen Topf. Nachdem sich der Kommandeur mehrmals die Finger verbrannt hatte, schaffte er es, den Inhalt des Topfes aufs Feuer zu gießen und es dadurch zu löschen. Anschließend stellte er den Topf unter die Pumpe, damit die Krusten darin einweichen konnten – er erinnerte sich vage daran, daß er seine Mutter bei dieser Tätigkeit beobachtet hatte.

Danach sicherte er die Fenster, so gut es ging, ging nach draußen und schloß die Tür. Ein diskret auffälliges Messingschild von der Diebesgilde über dem Eingang wies darauf hin, daß Herr Goriff seine jährliche Gebühr pünktlich bezahlt hatte.7 Doch die Welt kannte viele weniger förmliche Gefahren, weshalb Mumm ein Stück Kreide hervorholte und an die Tür schrieb:

 

UNTER DEM SCHUTZ DER WACHE

 

Er überlegte kurz und fügte als Unterschrift hinzu:

 

FwbL DetriTus

 

Für die weniger an Recht und Ordnung interessierten Bewohner der Stadt hatte die majestätische Erhabenheit des Gesetzes weitaus weniger Bedeutung als die Furcht vor Detritus.

Die Aufruhrakte! Lieber Himmel, wo hatte er die nur aufgetrieben? Vermutlich steckte Karotte dahinter. Soweit Mumm sich zurückerinnern konnte, war sie nie benutzt worden. Eigentlich kein Wunder, wenn man bedachte, was sie anrichten konnte. Selbst Vetinari würde zögern, davon Gebrauch zu machen. Derzeit waren es nur Worte, weiter nichts. Den Göttern sei Dank für das Analphabetentum der Trolle…

Als Mumm zurücktrat, um sein Werk zu betrachten, bemerkte er das Glühen am Himmel über dem Parkweg. Fast gleichzeitig hörte er das Klappern eisenbeschlagener Stiefelsohlen auf dem Kopfsteinpflaster.

»Oh, hallo, Kleinpo«, sagte er. »Was ist denn jetzt? Laß mich raten – jemand hat die klatschianische Botschaft in Brand gesetzt.«

»Ja, Herr Kommandeur«, erwiderte die Zwergin. Unsicher blieb sie mitten in der Gasse stehen und wirkte sehr besorgt.

»Nun?« fragte Mumm.

»Äh, du hast gerade gesagt…«

Ein flaues Gefühl keimte in Mumms Magengrube, als er sich an die Neigung der Zwerge erinnerte, alles wörtlich zu verstehen.

»Die klatschianische Botschaft steht tatsächlich in Flammen?«

»Ja, Herr Kommandeur!«

 

Frau Geifer öffnete die Tür einen Spalt.

»Ja?«

»Ich bin ein Freund von…« Karotte zögerte und fragte sich, ob Fred seinen wahren Namen genannt hatte. »Äh… ein großer, dicker Mann, dessen Anzug nicht richtig paßt…«

»Meinst du den Burschen, der mit dem Sexualirren herumläuft?«

»Wie bitte?«

»Ein dürrer kleiner Narr, wie ein Clown gekleidet?«

»Sie sagten, du hättest ein freies Zimmer«, meinte Karotte verzweifelt.

»Es ist an die beiden Burschen vermietet«, erwiderte Frau Geifer und versuchte, die Tür zu schließen.

»Sie sagten auch, ich könnte…«

»Keine Untermieter!«

»Sie sagten, ich solle dir zwei Dollar bezahlen!«

Der Druck auf die Tür ließ ein wenig nach.

»Zusätzlich zu dem Geld, das ich bereits bekommen habe?« fragte Frau Geifer.

»Ja.«

»Nun…« Sie musterte Karotte von Kopf bis Fuß und schniefte. »Na schön. Zu welcher Schicht gehörst du?«

»Bitte?«

»Du bist ein Wächter, nicht wahr?«

»Äh…« Karotte zögerte erneut und hob dann die Stimme. »Nein, ich bin kein Wächter. Haha, du hältst mich für einen Wächter? Sehe ich etwa wie ein Wächter aus?«

»Ja, du siehst tatsächlich wie ein Wächter aus«, sagte Frau Geifer. »Du bist Hauptmann Karotte. Ich habe dich in der Stadt auf Streife gesehen. Nun, ich nehme an, selbst Polizisten müssen irgendwo schlafen.«

Auf dem Dach rollte Angua mit den Augen.

»Keine Frauen, kein Kochen, keine Musik, keine Haustiere«, sagte Frau Geifer, als sie Karotte über eine knarrende Treppe nach oben führte.

Angua wartete in der Dunkelheit, bis sie hörte, wie sich ein Fenster öffnete.

»Sie ist fort«, flüsterte Karotte.

»Hier draußen liegen Glassplitter auf den Schindeln, so wie es in Freds Bericht stand«, sagte Angua, als sie hereinkletterte. Im Zimmer schloß sie die Augen und atmete tief durch.

Zuerst mußte sie den Geruch von Karotte vergessen: Angstschweiß, Seife, Spuren eines Poliermittels, das an den Brustharnisch erinnerte…

und Fred Colon, ganz Schweiß mit einer Andeutung von Bier, und dann die seltsame Salbe, mit der Nobby sein Hauptproblem zu lösen versuchte, und der Geruch von Füßen, Körpern, Kleidung, Reinigungsmitteln, Fingernägeln…

Nach einer Stunde konnte das Auge der Nase sehen, wie jemand durchs Zimmer ging – der Geruch fror Personen in der Zeit fest. Doch nach einigen Tagen überlagerten sich diese Spuren und verhedderten sich. Man mußte die eine von der anderen trennen, vertraute Fragmente beiseite nehmen. Was danach übrigblieb…

»Es ist ein solches Durcheinander!«

»Schon gut, schon gut«, sagte Karotte in tröstendem Tonfall.

»Mindestens drei Personen! Aber ich glaube, eine von ihnen ist Ostie… Am Bett ist der Geruch stärker, und…«

Angua öffnete die Augen und blickte auf den Boden. »Hier irgendwo!«

»Was? Was meinst du?«

Angua bückte sich, bis nur noch wenige Zentimeter ihre Nase vom Boden trennten.

»Ich rieche es, kann es aber nicht sehen!«

Ein Messer erschien vor ihr. Karotte kniete sich hin und kratzte mit der Klinge durch den staubigen Spalt zwischen den Dielen.

Etwas Splittriges und Braunes kam zum Vorschein. Das Objekt war schmutzig und hatte ganz offensichtlich bessere Zeiten erlebt, aber jetzt nahm selbst Karotte das unverkennbare Aroma einer Gewürznelke wahr. »Glaubst du, Ostie hat oft Apfelkuchen gebacken?« fragte er leise.

»Kochen verboten, erinnerst du dich?« erwiderte Angua und lächelte.

»Da ist noch etwas…«

Karotte hebelte noch mehr Schmutz und Staub nach oben. Etwas glitzerte darin. »In Freds Bericht hieß es, die Glassplitter hätten draußen gelegen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nun, angenommen, jemand hat nicht alle Splitter aufgesammelt, nachdem er die Fensterscheibe eingeschlagen hatte und ins Zimmer gelangt war?«

»Für jemanden, der nicht lügt, kannst du ziemlich schlau sein, Karotte.«

»Es ist nur logisch. Es liegen Glassplitter vor dem Fenster. Doch das bedeutet nur, daß Glassplitter vor dem Fenster liegen. Kommandeur Mumm sagt immer, daß es eigentlich gar keine Spuren gibt. Es kommt nur darauf an, aus welchem Blickwinkel man die Dinge betrachtet.«

»Du glaubst, hier ist jemand eingebrochen, hat dann die Glassplitter eingesammelt und sie draußen vors Fenster gelegt?«

»Das wäre möglich.«

»Karotte? Warum flüstern wir?«

»Keine Frauen, erinnerst du dich?«

»Und keine Haustiere«, fügte Angua hinzu. »Hier bin ich doppelt unerwünscht. Schau nicht so betreten drein«, fügte sie hinzu, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Es ist nur unverschämt, wenn es jemand anders sagt. Mir sind solche Bemerkungen gestattet.«

Karotte schabte noch einige weitere Glassplitter aus der Ritze zwischen den Dielen. Angua sah unters Bett und holte die Zeitschriften hervor.

»Bei den Göttern, es gibt tatsächlich Leute, die so etwas lesen?« Sie blätterte in Bögen und Bolzen. »›Test des Locksli Reflex Nummer 7: Ein toller Bogen‹. Und: ›Wunde Füße! Wir haben die zehn besten Fußangeln getestet…‹ Und wie heißt diese Zeitschrift? Söldner

»Irgendwo wird immer Krieg geführt«, sagte Karotte und zog die Schatulle mit dem Geld unterm Bett hervor.

»Sieh nur, wie groß diese Axt ist! ›Verschaffe dir den entscheidenden Vorteil! Mit der Streitaxt Straßenkehrer von Burlich-and-Starkimarm bist du deinen Gegnern um eine Kopflänge voraus!‹ Nun, vermutlich stimmt es, was man von Männern behauptet, die große Waffen lieben…«

»Was behauptet man von ihnen?« sagte Karotte und hob den Deckel der Schatulle.

Angua sah auf ihn hinab. Wie immer strahlte Karotte Unschuld aus wie eine Sonne Licht. Aber er… Sie hatten… Er sollte eigentlich wissen…

»Es heißt, sie… äh… seien recht klein«, sagte Angua.

»Oh, das stimmt.« Karotte griff nach den klatschianischen Münzen. »Nimm nur die Zwerge. Sie sind am glücklichsten, wenn sie eine Axt schwingen können, die mindestens ebenso groß ist wie sie. Und Nobby. Er ist fasziniert von Waffen und könnte von der Größe her ein Zwerg sein.«

»Äh…«

Angua war sicher, daß sie Karotte besser kannte als sonst jemand. Außerdem zweifelte sie kaum daran, daß sie ihm viel bedeutete. Er sprach nur selten darüber, nahm einfach an, daß sie Bescheid wußte. Sie hatte andere Männer gekannt, obwohl der Umstand, daß sie einmal im Monat zum Wolf wurde, auf gewöhnliche Männer nicht besonders attraktiv wirkte – im Gegenteil. Sie wußte auch, daß Männer bestimmte Dinge, die sie gewissermaßen in der Hitze des Augenblicks von sich gaben, anschließend schnell vergaßen. Aber wenn Karotte etwas sagte… dann schien er davon überzeugt zu sein, daß bis auf weiteres alles geklärt und geregelt war. Wenn Angua ihn darauf angesprochen hätte, wäre er sicher überrascht gewesen, daß sie sich nicht mehr an seine Worte erinnerte – die er anschließend noch einmal für sie zitierte, mit genauen Angaben von Zeit und Ort.

Und doch hatte Angua manchmal den Eindruck, daß der größere Teil von ihm sich in seinem Innern verbarg und aufmerksam Ausschau hielt. Niemand konnte so schlicht sein, auf so kreative Art und Weise naiv, ohne gleichzeitig über eine sehr hohe Intelligenz zu verfügen. Es war wie Schauspielern. Nur ein sehr guter Schauspieler konnte einen schlechten Schauspieler überzeugend darstellen.

»Ist ziemlich einsam, unser Nobby«, sagte Karotte.

»Nun, ja…«

»Aber ich bin sicher, früher oder später findet er die richtige Person«, fügte Karotte munter hinzu.

Wahrscheinlich in einer Flasche, dachte Angua und erinnerte sich an das Gespräch mit ihm. Es war schrecklich, so zu denken, aber… in ihr regte sich Unbehagen bei der Vorstellung, daß man Nobby gestattete, sich dem Genpool hinzuzugesellen, wenn auch nur am seichten Ende.

»Diese Münzen sind seltsam«, sagte Karotte.

»Wie meinst du das?« fragte Angua, dankbar für die Ablenkung.

»Warum sollte man Ostie in klatschianischen Wol bezahlen? Hier hätte er nichts damit kaufen können, und die Geldwechsler bieten keinen besonders guten Kurs an.« Karotte warf eine Münze in die Luft und fing sie wieder auf. »Als wir aufbrachen, sagte Herr Mumm zu mir: ›Versucht, die Datteln und das Kamel unter dem Kopfkissen zu finden.‹ Ich glaube, ich weiß, was er meinte.«

»Sand auf dem Boden«, sagte Angua. »Gibt es eine deutlichere Spur? Man weiß sofort, daß nur ein Klatschianer in Frage kommt.«

»Aber die Gewürznelke.« Karotte befingerte das braune Etwas. »Nicht einmal bei den Klatschianern ist es üblich, solche Dinge mit sich herumzutragen. Das ist keine deutliche Spur, oder?«

»Sie riecht nicht so alt«, stellte Angua fest. »Ich schätze, er war in der vergangenen Nacht hier.«

»Nach Osties Tod?«

»Ja.«

»Warum?«

»Woher soll ich das wissen?« erwiderte Angua. »Und überhaupt: Was ist 71-Stunden-Ahmed für ein Name?«

Karotte zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaube, Herr Mumm glaubt, jemand in Ankh-Morpork will uns zu der Annahme verleiten, die Klatschianer hätten für den Anschlag auf den Prinzen bezahlt. Das klingt… scheußlich, aber logisch. Allerdings verstehe ich nicht, warum ein echter Klatschianer an dieser Sache beteiligt ist…«

Ihre Blicke trafen sich.

»Politik?« sagten sie beide gleichzeitig.

»Für genug Geld wären viele Leute zu allem bereit«, meinte Angua.

Plötzlich klopfte es mit ziemlichem Nachdruck an der Tür.

»Hast du jemanden dort drin?« fragte Frau Geifer.

»Durchs Fenster!« flüsterte Karotte.

»Warum zerfetze ich ihr nicht einfach die Kehle?« entgegnete Angua. »Schon gut, es war nur ein Scherz.« Sie seufzte und kletterte nach draußen.

 

In Ankh-Morpork gab es keine Feuerwehr mehr. Manchmal dachten die Bürger der Stadt sehr direkt, und es dauerte nicht lange, bis sie einsahen: Es konnte falsch sein, eine Gruppe von Männern für die Anzahl der Brände zu bezahlen, die sie löschten. Kurz nach dem Holzkohlendienstag war der Groschen endgültig gefallen.

Seitdem verließ man sich in Ankh-Morpork auf das gute alte Prinzip des eigenen Interesses. Wer in der Nähe eines brennenden Gebäudes wohnte, zögerte nicht, etwas gegen das Feuer zu unternehmen. Immerhin konnte das Strohdach, das so gerettet wurde, durchaus das eigene sein.

Doch die Menge vor der brennenden Botschaft beobachtete das Feuer so, als loderte es auf einem fernen Kontinent.

Die Leute wichen automatisch beiseite, als Mumm sich mit den Ellenbogen einen Weg zum Tor bahnte. Flammen leckten bereits aus allen Fenstern im Erdgeschoß; hin und her laufende Gestalten zeichneten sich in ihrem flackernden Schein ab.

Er wandte sich der Menge zu. »Was ist los mit euch? Bildet eine Eimerkette!«

»Es ist ihre verdammte Botschaft«, sagte jemand.

»Ja. Klatschianisches Territorium.«

»Und klatschianisches Territorium darf man nicht einfach so betreten.«

»Das wäre eine Invasion.«

»Sie erlauben es gar nicht«, sagte ein kleiner Junge mit einem Eimer in der Hand.

Mumm sah zum Tor der Botschaft. Zwei Wächter standen dort. Ihre besorgten Blicke glitten zwischen dem Feuer hinter ihnen und der Menge vor ihnen hin und her. Sie waren nervös. Aber was noch schlimmer war: Sie waren nervös und mit Schwertern bewaffnet.

Der Kommandeur näherte sich ihnen vorsichtig, lächelte und hob seine Dienstmarke wie einen Schild. Er wünschte sich plötzlich, sie wäre ein ganzes Stück größer.

»Ich bin Kommandeur Mumm von Ankh-Morporks Stadtwache«, sagte er und versuchte, möglichst freundlich und hilfsbereit zu klingen.

Einer der beiden Wächter winkte ihn fort. »Hinweg mit dir!«

»Äh…«, sagte Mumm. Er sah aufs Kopfsteinpflaster, hob dann den Kopf und richtete seinen Blick wieder auf den Wächter. Irgendwo in den Flammen schrie jemand.

»Du! Komm her! Siehst du das?« rief er dem Wächter zu und deutete zu Boden. Der Mann trat einen Schritt vor.

»Dies ist das Territorium von Ankh-Morpork, mein Freund«, sagte Mumm. »Und du stehst darauf und behinderst mich bei der Ausübung meiner…« Er rammte dem Wächter seine Faust so fest wie möglich in den Magen.»… Pflicht!«

Als der zweite Wächter heransprang, trat er zu und traf ihn am Knie. Etwas knackte, und es fühlte sich nach Mumms eigenem Fußknöchel an.

Er fluchte und hinkte ein wenig, als er in die Botschaft eilte und einen vorbeihastenden Mann am Umhang festhielt.

»Hält sich hier noch jemand auf? Sind weitere Personen im Gebäude?«

Der Mann bedachte Mumm mit einem panikerfüllten Blick. Die Unterlagen, die er in beiden Armen getragen hatte, fielen zu Boden.

Jemand anders griff nach der Schulter des Kommandeurs. »Kannst du klettern, Herr Mumm?«

»Wer…«

Der Neuankömmling wandte sich dem Dokumententräger zu und schlug ihm ins Gesicht. »Retter von Papier!«

Der Mann fiel zurück, wobei ihm der Turban vom Kopf gerissen wurde.

»Hier entlang!« Der Fremde lief durch den Qualm. Mumm folgte ihm, bis sie eine Wand erreichten. Ein Abflußrohr führte daran entlang.

»Wie…«

»Nach oben! Nach oben!«

Mumm stützte den einen Fuß auf die gewölbten Hände des Mannes, erreichte mit dem anderen eine Halterung und schob sich nach oben.

»Schneller!«

In einer Mischung aus Klettern und Ziehen gelangte Mumm nach oben. Kleine Feuerwerke aus Schmerz explodierten in seinem Bein, als er schließlich eine Brüstung erreichte und sich darüber zog. Der andere Mann stieg hinter ihm auf, als wäre er die Wand emporgelaufen.

Ein Tuch verbarg die untere Gesichtshälfte des Fremden, und er reichte Mumm einen ähnlichen Stoffetzen.

»Mund und Nase damit bedecken!« befahl er. »Schützt vor dem Rauch!«

Dichte Qualmwolken wogten über das Dach. Neben Mumm leckte eine Flammenzunge aus dem Schornstein.

Der Rest des entrollten Turbans wurde ihm in die Hand gedrückt.

»Du nimmst diese Seite und ich die andere«, sagte die Erscheinung und eilte durch den Rauch davon.

»Aber w…«

Mumm spürte die Hitze durch die Stiefelsohlen. Er hinkte übers Dach und hörte laute Stimmen von unten.

Als er sich über den Dachrand beugte, bemerkte er ein Fenster, aus dem ein winkender Arm ragte.

Die Menge vor dem Gebäude war inzwischen noch weiter gewachsen. Inmitten des Durcheinanders sah Mumm die große Gestalt des Obergefreiten Dorfl – als Golem brauchte er das Feuer nicht zu fürchten. Allerdings hatte Dorfl immer wieder Probleme mit Treppen: Es gab nicht viele, die sein Gewicht aushielten.

Der Arm im Rauch winkte nicht mehr.

»Kannst du fliegen, Herr Mumm?«

Er blickte zum Schornstein, der noch immer Feuer in den Himmel spie.

Er betrachtete den entrollten Turban.

Ein großer Teil von Mumms Gehirn hatte die Arbeit eingestellt, obwohl die für den Schmerz in seinem Bein zuständigen Stellen noch immer einwandfrei funktionierten. Tief im Kern seines Selbst regten sich nach wie vor einige Gedanken, die ihm folgende Botschaft vermittelten:

Der Turbanstoff sieht recht fest aus…

Er blickte erneut zum Schornstein, der recht stabil wirkte.

Knapp zwei Meter trennten ihn vom Fenster mit der zerschlagenen Scheibe.

Mumm bewegte sich ganz automatisch.

Nun, wenn man – rein theoretisch – das eine Ende des entrollten Turbans um den Schornstein wickelte, zum Beispiel so, und wenn man den langen Stoffstreifen dann so ablaufen ließ, und wenn man sich so über die Brüstung schwang, und wenn man sich so mit den Füßen an der Wand abstieß, und wenn man dadurch genug Schwung bekam, um auch die anderen Scheiben des Fensters zu zertrümmern und ins Innere des Gebäudes gelangte, etwa so…

 

Ein Karren quietschte über die feuchte Straße. Er kam auf recht unregelmäßige Art und Weise voran, denn alle Räder waren von unterschiedlicher Größe. Das Ding ruckelte und wankte und rutschte übers Pflaster. Vermutlich kostete es so viel Kraft, dieses Gebilde zu ziehen, daß der Nutzen in keinem Verhältnis zum Aufwand stand, zumal der Inhalt aus Müll zu bestehen schien.

Der Besitzer des Karrens sah nicht viel besser aus.

Er war etwa so groß wie ein durchschnittlicher Mann, ging aber so weit vornübergebeugt, daß er kleiner wirkte. Fell oder Lumpen bedeckten ihn, vielleicht auch beides. Das haarige Durcheinander war so verfilzt, daß kleine Pflanzen darin wuchsen. Wäre die Gestalt stehengeblieben, um sich auf dem Boden zusammenzukauern, hätte man sie für einen lange vernachlässigten Komposthaufen halten können. Sie schnüffelte, während sie ging.

Ein Fuß streckte sich, um das Geschöpf anzuhalten.

»Guten Abend, Krummi«, sagte Karotte, als der Karren zum Stehen kam.

Die gebeugte Gestalt verharrte. Ein Teil von ihr neigte sich nach oben.

»Ver’winde«, erklang es irgendwo in dem Haufen.

»Oh, ich bitte dich, Krummi, wir wollen uns doch gegenseitig helfen, nicht wahr? Du hilfst mir, und ich helfe dir.«

»Ver’winde, ‘ptm’nn.«

»Du beantwortest meine Fragen«, erklärte Karotte. »Und ich verzichte darauf, deinen Karren zu durchsuchen.«

»Ich verabscheue Gnolle«, sagte Angua. »Sie riechen scheußlich

»Oh, jetzt bist du ungerecht. Ohne dich und deinesgleichen wären die Straßen viel schmutziger, nicht wahr, Krummi?« Karotte sprach noch immer in sehr freundlichem Ton. »Du hebst dies auf und hebst das auf, schlägst es manchmal gegen die nächste Wand, bis es zu zappeln aufhört…«

»‘s ist d’ völl’g falsche Wahr’eit«, erwiderte der Gnoll. Es folgte ein Blubbern, das leises Lachen sein mochte.

»Wie ich hörte, weißt du vielleicht, wo sich Schneetreiben Schuppert aufhält«, sagte Karotte.

»K’ne Ahn’ng.«

»Gut.« Karotte holte eine Mistgabel mit drei Zinken hervor und wanderte um den tropfenden Karren herum.

»Hab k’ne Ahn’ng v’n d’m Süßwa’nlad’n im Geldf’nweg.«

»Meinst du den Laden mit dem Schild ›Zimmer zu vermieten‹?«

»G’nau.«

»Ausgezeichnet. Danke, daß du ein so hilfsbereiter Bürger gewesen bist«, sagte Karotte. »Übrigens: Auf dem Weg hierher haben wir eine tote Möwe gesehen. Sie liegt in der Brauerstraße. Wenn du dich beeilst, erreichst du sie vielleicht, bevor der Andrang zu groß wird.«

Der Gnoll schnaufte etwas Unverständliches und beugte sich wieder nach vorn. Der Karren wankte los und verschwand kurz darauf hinter einer Straßenecke.

»Im Grunde ihres Wesens sind es gute Burschen«, sagte Karotte. »Es spricht für die Toleranz in dieser Stadt, daß selbst Gnolle in Ankh-Morpork eine Heimat finden können.«

»Wenn ich sie sehe und rieche, dreht sich mir der Magen um«, erwiderte Angua. »Auf diesem wuchsen sogar Pflanzen!«

»Herr Mumm sagt, wir sollten etwas für sie tun«, ließ sich Karotte vernehmen.

»Er meint es wirklich gut.«

»Mit einem Flammenwerfer, sagt er.«

»Das würde nichts nützen. Sie sind zu feucht. Hat man jemals herausgefunden, wovon sie sich ernähren?«

»Man sollte sich die Gnolle besser als Leute vorstellen, die… saubermachen. Heutzutage sieht man nicht mehr so viel Müll und tote Tiere auf den Straßen wie früher.«

»Ja, aber hast du jemals beobachtet, daß ein Gnoll mit Bürste und Schaufel arbeitet?«

»Nun, so ist das eben mit der Gesellschaft«, sagte Karotte. »Alles wird auf die Leute weiter unten abgeladen, bis man jemand findet, der bereit ist, es zu essen. Das sagt jedenfalls Herr Mumm.«

»Ja«, erwiderte Angua. Eine Zeitlang gingen sie schweigend, dann fragte sie: »Für dich ist sehr wichtig, was Herr Mumm sagt, nicht wahr?«

»Er ist ein guter Polizist und ein Beispiel für uns alle.«

»Und… du hast nie in Erwägung gezogen, dir zum Beispiel in Quirm eine neue Arbeit zu suchen? Die anderen Städte machen Wächtern aus Ankh-Morpork gute Angebote.«

»Was, Ankh-Morpork verlassen?« Sein Tonfall war Antwort genug.

Angua seufzte. »Nein, natürlich nicht.«

»Außerdem weiß ich gar nicht, wie Herr Mumm ohne mich zurechtkommen sollte.«

»Das ist ein Standpunkt«, kommentierte Angua.

Es war nicht weit bis zum Geldfallenweg. Er gehörte zu einem Stadtviertel, dessen Bewohner Lord Rust vermutlich als »geschickte Handwerker« bezeichnet hätte. Die Betreffenden standen auf der sozialen Leiter zu tief, um Dinge zu erschüttern, aber gleichzeitig hoch genug, um sich nicht so leicht erschüttern zu lassen. Viele von ihnen arbeiteten als Schleifer und Polierer. Es waren Leute, die nicht viel besaßen und sehr stolz auf das Wenige waren. Es gab kleine Hinweise darauf, zum Beispiel glänzende Hausnummernschilder. Und an den Wänden der Häuser, die nach Jahrhunderten des Bauens und Erweiterns eine lange Reihe bildeten, markierten unterschiedliche Farben Eigentumsgrenzen: Bis auf den Millimeter genau hatten die Bewohner ihren Teil der langen Hausreihe gestrichen. Karottes Meinung nach drückte solch ein Verhalten die instinktive Erkenntnis der Leute aus, daß Zivilisation auf dem gegenseitigen Respekt von Besitz basiert. Angua hingegen hielt diese Personen für kleingeistige Mistkerle, die fähig waren, einem die Uhrzeit zu verkaufen.

Karotte ging geräuschvoll durch die Gasse neben dem Süßwarenladen. Eine einfach gestaltete Holztreppe führte zum ersten Stock hinauf, und er deutete auf den Müllhaufen darunter.

Er schien zum größten Teil aus Flaschen zu bestehen.

»Trinkt er viel?« hauchte Angua. Karotte schüttelte den Kopf.

Sie bückte sich, um einen Blick auf die Etiketten zu werfen, doch ihre Nase gab ihr bereits Auskunft. Schnappers homöopathisches Shampoo. Mihr und Stechmaus’ Kräuterpackung – mit Kräutern! Superspezielles Kopfhauttonikum – mit zusätzlichen Kräutern!

Dutzende von Shampoo-Sorten. Kräuter, dachte Angua. Gib einige Pflanzen in einen Topf und gieß Wasser hinzu – schon hast du eine Kräuterbrühe.

Karotte wollte die Treppe hinaufgehen, als Angua ihm die Hand auf die Schulter legte. Sie nahm noch einen weiteren Geruch wahr – wie ein Speer durchstieß er die übrigen Gerüche auf der Straße. Und die Nase eines Werwolfs reagierte besonders empfindlich darauf.

Karotte nickte und ging mit leisen Schritten zur Tür. Dort deutete er nach unten. Ein Fleck zierte die Schwelle.

Der Hauptmann zog sein Schwert und stieß die Tür auf.

Dunnelgurt Schuppert hatte sein besonderes Leiden nicht auf die leichte Schulter genommen. Flaschen aller Größen und Formen standen auf jeder einigermaßen horizontalen Fläche, wiesen sowohl auf die Kunst der Alchimisten hin als auch auf den menschlichen Optimismus.

Eine Schüssel auf dem Tisch enthielt noch immer das Seifenwasser des letzten Experiments, und die Leiche am Boden trug ein Handtuch um den Hals. Karotte sah auf den Toten hinab. Schneetreiben war gestorben, als er sich die Haare waschen wollte – das Schicksal konnte wirklich grausam sein.

»Ich glaube, wir können den Tod feststellen«, sagte Karotte.

»Bäh«, brachte Angua hervor. Sie griff nach der offenen Shampooflasche und schnupperte daran. Der eklige Geruch marinierter Kräuter stieg ihr in die Nase, doch alles war besser als der süßliche, verlockende Duft des Blutes.

»Ich frage mich, was mit seinem Kopf geschehen ist?« fragte Karotte in entschlossen sachlichem Tonfall. »Oh, er ist nach dort drüben gerollt… Was riecht hier so gräßlich?«

»Dies!« Angua hob das Shampoo. »Vier Dollar die Flasche. Igitt!«

Angua roch noch einmal an dem Kräuterschleim, um den Geruch des Blutes zu verdrängen.

»Es scheint nichts gestohlen zu sein«, sagte Karotte. »Es sei denn, der Täter ging sehr vorsichtig zu Werke… Was ist los mit dir?«

»Frag bloß nicht!«

Angua öffnete ein Fenster und füllte ihre Lungen mit vergleichsweise sauberer Luft, während Karotte die Taschen der Leiche durchsuchte.

»Äh… kannst du feststellen, ob hier irgendwelche Gewürznelken herumliegen?« fragte er.

»Karotte! Bitte! Wir sind in einem Zimmer mit Blut auf dem Boden! Weißt du nicht, was das für mich bedeutet? Entschuldigung…«

Sie eilte hinaus und die Treppenstufen hinunter. In der Gasse herrschte ganz normaler Gassengeruch, vermischt mit den besonderen Aromen von Ankh-Morpork. Aber wenigstens weckte der Gestank in Angua nicht das Verlangen, sich in einen Werwolf zu verwandeln. Sie lehnte sich an die Mauer und versuchte, sich wieder ganz unter Kontrolle zu bringen. Shampoo… Mit nur einem Biß hätte sie dafür sorgen können, daß Schneetreiben viel Geld sparte. Dann wäre ihm klar geworden, was ein echtes Haarproblem war…

Karotte verließ das Zimmer einige Minuten später und schloß die Tür hinter sich ab.

»Fühlst du dich besser?«

»Ein wenig…«

»Da war noch etwas anderes«, sagte Karotte nachdenklich. »Ich glaube, Schneetreiben hat etwas geschrieben, bevor er starb. Die Sache ist sehr seltsam.« Er zeigte Angua etwas, das nach einem billigen Notizblock aussah. »Dies hier muß genau untersucht werden.« Er schüttelte den Kopf. »Armer alter Schneetreiben.«

»Er war ein Mörder!«

»Ja, aber es ist scheußlich, so zu sterben.«

»Enthauptung? Durch ein ziemlich scharfes Schwert, so wie’s aussah. Ich kann mir Schlimmeres vorstellen.«

»Mag sein. Aber ich muß dauernd daran denken, daß er vielleicht ein ganz anderes Leben geführt hätte, wenn er bessere Haare gehabt oder schon frühzeitig das richtige Shampoo gefunden hätte…«

»Wenigstens braucht er sich jetzt über Schuppen keine Sorgen mehr zu machen.«

»Das war ein wenig taktlos.«

»Entschuldige, aber du weißt ja, daß mich der Geruch von Blut nervös macht.«

»Dein Haar sieht immer prächtig aus«, sagte Karotte und wechselte das Thema – mit ungewöhnlich viel Takt, fand Angua. »Ich weiß nicht, was du benutzt, aber es ist schade, daß Schneetreiben nie Gelegenheit hatte, es einmal damit zu probieren.«

»Ich bezweifle, daß er jemals den richtigen Laden betreten hat«, meinte Angua. »Auf der Flasche des Shampoos, das ich verwende, steht ›Für ein glänzendes Fell‹… Was ist los?«

»Riechst du Rauch?« fragte Karotte.

»Meine Güte, es dauert sicher noch fünf Minuten, bis ich etwas anderes riechen kann als nur Blut…«

Karotte sah an ihr vorbei zu dem großen roten Glühen am Himmel.

 

Mumm hustete. Und hustete noch etwas mehr. Schließlich öffnete er die tränenden Augen in der sicheren Überzeugung, seine eigenen Lungen zu sehen.

»Ein Glas Wasser, Herr Mumm?«

Durch den Tränenschleier bemerkte er die schemenhafte Gestalt von Fred Colon.

»Danke, Fred. Wo kommt dieser schreckliche Brandgeruch her?«

»Von dir selbst, Herr Kommandeur.«

Mumm saß auf einer niedrigen Mauer außerhalb der Botschaftsreste. Kühle Luft strömte an ihm vorbei. Er fühlte sich wie ein nicht durchgebratenes Steak. Hitze strahlte regelrecht von ihm aus.

»Du bist eine Zeitlang bewußtlos gewesen, Herr Kommandeur«, sagte Feldwebel Colon. »Aber vorher hast du dich durchs Fenster ins Gebäude geschwungen. Und du hast die Frau nach draußen geworfen, damit Detritus sie auffängt! Damit hast du dir bestimmt eine Feder für deinen Helm verdient, Herr Kommandeur, kein Zweifel! Ich wette, für die Arbeit an diesem Abend verleihen dir die Handtuchkö… die Klatschianer den Orden des Kamels, oder was weiß ich!« Colon strahlte und war allein deshalb stolz, weil er wie Mumm zur Wache gehörte.

»Eine Feder für meinen Helm«, murmelte Mumm. Er nahm den Helm ab und stellte mit müder Genugtuung fest, daß die bunten Federn verbrannt waren. Nur noch kleine, rußige Stummel erinnerten an sie.

Er blinzelte langsam.

»Was ist mit dem Mann, Fred? Konnte er das Gebäude verlassen?«

»Welcher Mann?«

»Ich bin jemandem begegnet…« Mumm blinzelte erneut. Verschiedene Teile seines Körpers erinnerten sich daran, daß er nicht die notwendige Rücksicht auf sie genommen hatte, weshalb sie nun heftig protestierten.

Er erinnerte sich daran, daß er einen… Mann gesehen hatte. Mumm landete auf einem Bett oder etwas in der Art, und eine Frau klammerte sich an ihm fest, und er zertrümmerte den Rest des Fensters, und unten sah er die langen und vor allem starken Arme des Trolls Detritus, und er warf ihm die Frau so sanft zu, wie es die Umstände erlaubten. Dann kam der Mann vom Dach erneut aus dem Rauch, mit einer Gestalt über der Schulter, und er rief etwas, forderte ihn mit einem Wink auf, ihm zu folgen…

… und dann gab der Boden nach…

»Es waren… noch zwei andere Personen im Haus«, sagte Mumm und hustete erneut.

»Sie haben es nicht durch die Vordertür verlassen«, meinte Colon.

»Wie bin ich nach draußen gekommen?« fragte Mumm.

»Oh, Dorfl versuchte unten, das Feuer auszutreten, Herr Kommandeur. Kann sehr nützlich sein, ein keramischer Obergefreiter. Du bist direkt auf ihm gelandet, und er trug dich natürlich sofort nach draußen. Morgen früh gratuliert man dir bestimmt, Herr Kommandeur!«

Derzeit gratulierte ihm niemand, stellte Mumm fest. Es weilten noch immer viele Leute in der Nähe: Sie trugen Bündel, traten kleinere Feuer aus und stritten miteinander… Aber dort, wo eigentlich die Gratulieren-wir-dem-Helden-Zeremonie stattfinden sollte, herrschte auffallende Leere.

»Oh, nach einer solchen Sache sind die Leute immer sehr beschäftigt, Herr Kommandeur«, fügte Colon hinzu, als hätte er Mumms Gedanken gelesen.

»Ich könnte jetzt ein angenehm kaltes Bad gebrauchen«, teilte Mumm der Welt mit. »Und etwas Schlaf. Sybil hat herrliche Salben gegen Hautverbrennungen… Oh, hallo, ihr beiden.«

»Wir haben das Feuer gesehen…«, begann Karotte und stoppte ab. »Ist alles vorbei?«

»Herr Mumm hat eine Heldentat vollbracht!« verkündete Feldwebel Colon aufgeregt. »Ist ins brennende Gebäude geeilt und hat alle gerettet, in der besten Tradition der Wache!«

»Fred?« ächzte Mumm.

»Ja, Herr Kommandeur?«

»Fred, die beste Tradition der Wache ist die, um drei Uhr mitten in der Nacht in irgendeiner windstillen Ecke zu stehen und zu rauchen. Wir wollen doch nicht übertreiben.«

Colon wirkte betroffen. »Nun…«, begann er.

Mumm stand mühsam auf und klopfte dem Feldwebel auf den Rücken.

»Na schön, machen wir eine Tradition daraus«, sagte er. »Die nächste heldenhafte Rettung übernimmst du, Fred. Und jetzt…« Er versuchte, die Schultern zu straffen. »Ich gehe zur Wache und schreibe meinen Bericht.«

»Du bist ganz mit Ruß bedeckt und kannst dich kaum auf den Beinen halten«, sagte Karotte. »Du solltest besser nach Hause gehen.«

»O nein«, widersprach Mumm. »Zuerst muß ich den Papierkram erledigen. Weiß jemand, wie spät es ist?«

»Bimmel-bimmel-bamm!« ertönte eine fröhliche Stimme aus seiner Tasche.

»Verdammt!« fluchte Mumm, aber es war bereits zu spät.

»Es ist… etwa so um neun«, erklärte eine quiekende, freundliche Stimme, deren Tonfall darum bat, erdrosselt zu werden.

»Etwa so um neun?«

»Ja. Haargenau etwa so um neun.«

Mumm rollte mit den Augen. »Haargenau etwa so um neun?« fragte er. Er zog ein kleines Objekt aus der Tasche und hob den Deckel. Der Dämon darin bedachte ihn mit einem zornigen Blick.

»Gestern«, verkündete er, »hast du folgendes gesagt, und ich zitiere: ›Wenn du nicht mit dem Acht-Uhr-sechsundfünfzig-und-sechs-Sekunden-Präzisions-Unsinn aufhörst, wirst du bald die Unterseite eines Hammers betrachten.‹ Woraufhin ich erwiderte: ›Dadurch wird die Garantie hinfällig. Hier Namen einfügen.‹ Woraufhin du gesagt hast: ›Nimm die Garantie und steck sie dir…‹«

»Ich dachte, du hättest das Ding verloren«, meinte Karotte.

»Ha!« erwiderte der Disorganizer. »Mich verloren? Das dachtest du wirklich? Ich nenne es nicht verlieren, wenn man etwas in die Tasche steckt, kurz bevor die Hose gewaschen wird.«

»Reiner Zufall, weiter nichts«, brummte Mumm.

»Ach? Vermutlich war es auch Zufall, als du mich in den Futternapf des Drachen fallengelassen hast, wie?« Der Dämon grummelte leise vor sich hin und fügte dann hinzu: »Wie dem auch sei… Möchtest du deine Termine für heute erfahren?«

Mumm blickte zu den qualmenden Resten der Botschaft.

»Ich bin ganz Ohr«, sagte er.

»Du hast keine«, erwiderte der Dämon verdrießlich. »Zumindest hast du mir keine genannt.«

»Na bitte«, erwiderte Mumm. »Genau das geht mir so auf die Nerven! Warum sollte ich dir irgendwelche Termine nennen? Deine Aufgabe ist es doch, mir Bescheid zu geben. Warum hast du mir nicht gesagt: ›Etwa gegen acht – einen Aufruhr bei Banale Mahlzeiten beenden und Detritus daran hindern, Leute zu erschießen.‹?«

»Du hast mich nicht darauf hingewiesen, daß ich dich darauf hinweisen sollte!«

»Weil ich zunächst gar nichts davon wußte! So ist das im Leben. Wie soll ich dich auffordern, mich vor Dingen zu warnen, von denen niemand weiß, daß sie geschehen werden? Du hättest nur dann einen echten Nutzen, wenn du das erledigen würdest.«

»Er kritzelt ins Handbuch«, sagte der Dämon vorwurfsvoll. »Wißt ihr was? Er kritzelt ins Handbuch.«

»Nun, ja, ich mache mir Notizen…«

»Er versucht sogar, sein Tagebuch im Handbuch zu führen«, fuhr der Dämon fort. »Auf diese Weise will er vor seiner Frau verbergen, daß er sich überhaupt nicht die Mühe macht, den Umgang mit mir zu lernen.«

»Und was ist mit dem Mumm-Handbuch?« entgegnete Mumm scharf. »Ich muß feststellen, daß du dir nie die Mühe gemacht hast, den Umgang mit mir zu lernen.«

Der Dämon zögerte. »Es gibt Handbücher für Menschen?« fragte er.

»Es wäre eine verdammt gute Idee!« stieß Mumm hervor.

»Das stimmt«, murmelte Angua.

»Darin könnte zum Beispiel stehen: ›Kapitel 1 – Bimmel-bimmel-bamm und andere dumme Dinge, mit denen man Menschen um sechs Uhr morgens nervt‹«, sagte Mumm. In seinen Augen blitzte es. »Und ›Probleme – Mein Besitzer will mich in den Abort werfen; was mache ich falsch?‹ Und…«

Karotte klopfte ihm auf den Rücken. »Du solltest jetzt Feierabend machen, Herr Kommandeur«, sagte er sanft. »Es liegen einige sehr arbeitsreiche Tage hinter dir.«

Mumm rieb sich die Stirn. »Ich könnte wirklich Ruhe gebrauchen. Kommt, hier gibt es ohnehin nichts mehr zu sehen. Kehren wir heim.«

»Ich dachte, du wolltest nicht…«, begann Karotte.

Mumm kam ihm zuvor. »Ich meine natürlich die Wache«, sagte er. »Nach Hause gehe ich später.«

 

Der Schein einer Lampe glitt durch die Käsedick-Bibliothek und strich über Regale mit dicken, in Leder gebundenen Büchern.

Sybil wußte, daß viele davon nie gelesen worden waren. Diverse Vorfahren hatten sie bei den Graveuren bestellt und sie dann in die Regale gestellt, weil man einfach eine Bibliothek haben mußte, istdochganzklar. Sie gehörte ebenso dazu wie ein Gestüt, die Dienerschaft und irgendein landschaftsgestalterischer Fehler des Absolut Bekloppten Johnson. Was den letzten Punkt betraf: Sybils Großvater hatte Johnson erschossen, bevor er echten Schaden anrichten konnte.

Sie hielt die Lampe ein wenig höher.

Käsedicks blickten aus zahlreichen Gemälderahmen auf sie herab, durch den bräunlichen Firnis der Jahrhunderte. Auch die Porträts waren aus zügelloser Angewohnheit gesammelt worden.

Die meisten von ihnen stellten Männer dar, immer in Rüstungen gekleidet und auf Pferden sitzend. Jeder von ihnen hatte gegen die Todfeinde von Ankh-Morpork gekämpft.

In der jüngeren Vergangenheit war das manchmal recht schwierig gewesen. Zum Beispiel Sybils Großvater. Er hatte eine Expedition bis zum Wiewunderland führen müssen, um Todfeinde zu finden. Allerdings gab es einen angemessen großen Vorrat davon, als er das ferne Land wieder verließ, begleitet von hingebungsvollen Flüchen. Früher war alles viel leichter gewesen. Käsedick-Regimenter hatten überall in der Sto-Ebene gegen die Feinde der Stadt gekämpft und heldenhafte Verluste verursacht, ziemlich oft bei den gegnerischen Streitkräften.8

Einige wenige Bilder zeigten Frauen, doch keine von ihnen durfte etwas Schwereres tragen als einen Handschuh oder einen kleinen Sumpfdrachen. Ihre Aufgabe hatte vor allem darin bestanden, Verbände vorzubereiten und auf die Rückkehr der Ehemänner zu warten, mit Geduld, viel innerer Kraft und in der Hoffnung, daß der jeweilige Gatte mit möglichst vielen Körperteilen heimkehrte.

Niemand schien nachzudenken. Es gab einen Krieg, und schon brachen die Männer auf. Wenn es keinen Krieg gab, suchten sie nach einem. Sie gebrauchten nicht einmal Ausdrücke wie »Pflicht«. Die Sache schien regelrecht eingebaut zu sein, auf der Ebene der Knochen.

Sybil seufzte. Heutzutage war alles so schwer. Lady Sybil stammte aus einer Gesellschaftsschicht, die bisher keine Gelegenheit gefunden hatte, sich an Schwierigkeiten zu gewöhnen. Damit waren vor allem jene Probleme gemeint, die sich nicht lösen ließen, indem man einen Bediensteten anschrie. Vor fünfhundert Jahren hatte einer ihrer Vorfahren einem Klatschianer den Kopf abgeschlagen und den Schädel an einem Pfahl mit nach Hause gebracht. Damals nahm niemand Anstoß daran, denn alle wußten, daß der Klatschianer ebenso gehandelt hätte, wenn er dazu imstande gewesen wäre. Alles schien ganz klar zu sein. Man kämpfte gegen den Feind, und der Feind kämpfte ebenfalls. Alle kannten die Regeln. Und wenn man auf dem Schlachtfeld im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf verlor, beklagte man sich später nicht darüber.

Heutzutage war es natürlich besser. Aber dadurch ergaben sich… Schwierigkeiten.

Damals blieben einige Ehemänner monate- oder gar jahrelang fort. Für sie hatten Ehefrauen und Familien eine ähnliche Bedeutung wie die Bibliothek, das Gestüt und Johnsons Explodierende Pagode. Man regelte alles, und anschließend verschwendete man kaum mehr einen Gedanken daran. Sam war wenigstens jeden Tag zu Hause.

Nun, an den meisten Tagen. Zumindest jede Nacht.

Nun… wenigstens verbrachte er einen Teil jeder Nacht daheim.

Wenigstens leistete er ihr bei den Mahlzeiten Gesellschaft.

Bei den meisten, zumindest.

In den meisten Fällen begannen sie die Mahlzeiten zusammen.

Wenigstens wußte Sybil, daß er nie sehr weit weg war. Er hielt sich nur an Orten auf, wo er alles selbst zu erledigen versuchte, immer wieder schnell rannte und mit Leuten fertig werden mußte, die ihn umbringen wollten.

Eigentlich konnte sie von Glück sagen.

 

Mumm starrte Karotte an, der vor seinem Schreibtisch stand.

»Worauf läuft das alles hinaus?« fragte er. »Der Mann, von dem wir wissen, daß er den Prinzen nicht getroffen hat, ist tot. Und der Mann, dessen Pfeil das Ziel erreichte, hat ebenfalls das Zeitliche gesegnet. Jemand wollte auf sehr ungeschickte Weise den Eindruck erwecken, die Klatschianer hätten Ostie bezahlt. Mir ist klar, warum das jemand tun würde. Dahinter steckt etwas, das Fred Politik nennt. Jemand beauftragt Schneetreiben, sich um die Sache zu kümmern, und er hilft dem armen dummen Ostie, der nur dazu bestimmt ist, den Sündenbock zu spielen, und dann beweist die Wache, daß Ostie in den Diensten der Klatschianer stand, und das ist noch ein Grund mehr, gegen Klatsch in den Kampf zu ziehen. Und Schneetreiben stirbt. Jemand hat für ihn das Schuppenproblem gelöst.«

»Nachdem er etwas geschrieben hat, Herr Kommandeur«, sagte Karotte.

»Äh… ja.«

Mumm betrachtete den Notizblock aus Schneetreibens Zimmer, ein einfaches Ding aus billigem Papier, das die Graveure für wenig Geld verkauften. Er schnupperte daran.

»Seife an den Rändern«, sagte er.

»Schneetreibens neues Shampoo«, erklärte Karotte. »Er benutzte es zum erstenmal.«

»Woher weißt du das?«

»Wir haben uns die Flaschen im Müllhaufen angesehen, Herr Kommandeur.«

»Hm. Das sieht nach frischem Blut aus, hier, wo die einzelnen Blätter zusammengenäht sind.«

»Es stammt von Schneetreiben«, sagte Angua.

Mumm nickte. Wenn es um Blut ging, durfte man Anguas Auskünften vorbehaltlos vertrauen.

»Doch auf den einzelnen Seiten ist kein Blut«, stellte Mumm fest. »Was recht seltsam ist. Enthauptungen laufen nicht besonders sauber ab. Die Leute… spritzen dabei. Was bedeutet, daß das oberste Blatt…«

»… entfernt wurde, Herr Kommandeur.« Karotte lächelte und nickte. »Aber das ist nicht das Seltsame. Versuch es zu erraten, Herr Kommandeur!«

Mumm bedachte ihn mit einem durchdringende Blick und rückte die Lampe etwas näher. »Ich sehe… ganz schwache Abdrücke auf der ersten Seite«, murmelte er. »Wie von Schrift. Leider kann ich keine Buchstaben erkennen…«

»Wir konnten es auch nicht, Herr Kommandeur. Wir wissen, daß Schneetreiben mit einem Stift geschrieben hat – es lag einer auf dem Tisch.«

»Ganz schwache Abdrücke«, betonte Mumm. »Burschen wie Schneetreiben schreiben so, als müßten sie jedes Wort in Stein meißeln.« Er blätterte. »Jemand hat nicht nur das erste Blatt abgerissen, sondern auch einige andere.«

»Schlau, nicht wahr? Jeder weiß…«

»… daß man eine verdächtige Mitteilung lesen kann, indem man sich die Abdrücke auf der Seite darunter ansieht.« Mumm legte den Notizblock beiseite. »Hm. Wir haben es mit einer Botschaft zu tun, ja…«

»Vielleicht hat er seinen Mörder erpreßt«, spekulierte Angua.

»Das war nicht sein Stil«, erwiderte Mumm. »Nein, ich meine…«

Es klopfte an der Tür, und Fred Colon kam herein.

»Ich bringe dir einen Becher Kaffee«, sagte er. »Und außerdem warten unten einige Handtuchkö… einige Klatschianer auf dich, Herr Mumm. Sie sind wahrscheinlich gekommen, um dir einen Orden zu verleihen und in ihrer Sprache zu plappern. Und wenn du Appetit hast: Frau Goriff hat Ziegenfleisch mit ausländischer Soße vorbereitet.«

»Ich sollte besser nach unten gehen und mit den Besuchern reden«, sagte Mumm. »Aber ich hatte noch nicht einmal Zeit, mich zu waschen…«

»Das heißt, du trägst den Beweis für deine Heldentaten«, verkündete Colon.

»Oh, na schön.«

Das Unbehagen begann auf halbem Weg die Treppe hinunter. Mumm war nie zuvor einer Gruppe von Bürgern gegenübergetreten, die ihm einen Orden verleihen wollten, deshalb fehlte es ihm in dieser Hinsicht an Erfahrung. Trotzdem spürte er sofort, daß die Gruppe am Schreibtisch des Feldwebels nicht beabsichtigte, ihn zu bejubeln.

Es waren tatsächlich Klatschianer. Zumindest trugen sie fremdartig wirkende Kleidung, und die braune Haut einiger von ihnen deutete auf mehr Sonnenschein hin, als man in Ankh-Morpork erwarten durfte. In Mumm regte sich die vage Erkenntnis, daß Klatsch ein ziemlich großes Land war, groß genug, um Ankh-Morpork und die Sto-Ebene gleich mehrmals aufzunehmen. Es bot Platz genug für viele verschiedene Völker, auch für diesen kleinen, vor Empörung zitternden Burschen mit dem roten Fes.

»Bist du der Mann namens Mumm?« fragte Roter Fes.

»Äh… ich bin Kommandeur Mumm…«

»Wir verlangen die Freilassung der Familie Goriff! Und komm uns bloß nicht mit irgendwelchen Ausreden!«

Mumm blinzelte. »Freilassung?«

»Du hast sie eingesperrt! Und ihr Lokal beschlagnahmt!«

Mumm starrte den Mann groß an und wandte sich dann an Detritus.

»Wo hast du die Familie untergebracht, Feldwebel?«

Detritus salutierte. »In den Zellen, Herr Kommandeur.«

»Aha!« entfuhr es Roter Fes. »Ihr gebt es zu!«

»Entschuldige bitte, wer bist du?« fragte Mumm und blinzelte erneut, diesmal vor Müdigkeit.

»Das brauche ich dir nicht zu sagen, und du kannst es auch nicht aus mir herausprügeln!« erwiderte der Mann und schob die Brust vor.

»Oh, danke für den Hinweis«, sagte Mumm. »Ich verabscheue es, wenn ich mich vergeblich bemühen muß.«

»Oh, hallo, Herr Wazir«, grüßte Karotte, der hinter Mumm erschien. »Hast du die Mitteilung über das Buch bekommen?«

Es folgte eine jener Pausen, die immer dann entstehen, wenn alle Anwesenden ihre Gesichter neu programmieren müssen.

Schließlich fragte Mumm: »Was?«

»Herr Wazir verkauft Bücher in der Schlingestraße«, erklärte Karotte. »Ich habe ihn um einige Bücher über Klatsch gebeten, und er gab mir unter anderem eins mit dem Titel Die parfümierte Zuwendung oder: Garten der Freuden. Ich dachte mir nichts dabei, immerhin haben die Klatschianer den Garten erfunden, deshalb erwartete ich interessante kulturelle Einblicke. Ich hoffte darauf, die klatschianische Denkweise besser zu verstehen. Einblicke bekam ich tatsächlich, aber nicht in Gärten, sondern…äh…« Er errötete.

»Ja, ja, schon gut, du kannst das Buch zurückbringen, wann du möchtest«, sagte Herr Wazir, der ein wenig die Orientierung verloren zu haben schien.

»Ich dachte nur, daß du Bescheid wissen solltest, für den Fall, daß du… ich meine… für den Fall, daß du das eine oder andere Exemplar verkauft hast. So ein Buch könnte leicht zu beeindruckende Leute… äh… schockieren…«

»Ja, gut…«

»Korporal Angua war so schockiert, daß sie gar nicht mehr zu lachen aufhören wollte«, fügte Karotte hinzu.

»Ich sorge dafür, daß dir so schnell wie möglich der Kaufpreis erstattet wird«, sagte Herr Wazir. Der Ärger kehrte in seine Miene zurück, und er zielte damit auf Mumm.

»Derzeit sind Bücher unwichtig! Wir verlangen die unverzügliche Freilassung unserer Landsleute!«

»Er vielleicht meint jemand anders?« fragte Detritus. »Die Tür der Goriffs nicht abgeschlossen ist, und sie haben saubere Decken.«

»Du hast es gehört«, wandte sich Mumm an Wazir. »Sie sind unsere Gäste.«

»In den Zellen!« ereiferte sich Herr Wazir und genoß das letzte Wort.

»Sie können jederzeit gehen«, sagte Mumm.

»Das dürfte jetzt der Fall sein.« Wazir war offenbar davon überzeugt, daß nur sein mutiges Eingreifen offiziell sanktioniertes Blutvergießen verhindert hatte. »Du kannst sicher sein, daß der Patrizier von dieser Sache erfahren wird!«

»Er erfährt ohnehin alles«, entgegnete Mumm. »Aber wenn uns die Goriffs jetzt verlassen… wer beschützt sie dann?«

»Wir! Ihre Landsleute!«

»Und wie?«

Wazir nahm fast Haltung an. »Mit Waffengewalt, wenn das notwendig werden sollte.«

»Oh, gut«, sagte Mumm. »Dann gibt es in der Stadt bald zwei Mobs…«

»Bimmel-bimmel-bamm!«

»Verdammt!« Mumm klopfte auf seine Tasche. »Ich will nicht wissen, daß ich keine Termine habe!«

»Du hast einen um elf Uhr abends«, sagte der Disorganizer. »In der Rattenkammer des Palastes.«

»Du hast sie ja nicht mehr alle.«

»Gleichfalls.«

»Und sei still.«

»Ich wollte nur hilfsbereit sein.«

»Halt die Klappe.« Mumm richtete seinen Blick wieder auf den klatschianischen Buchhändler.

»Wenn die Goriffs dich begleiten möchten, Herr Wazir – wir werden sie nicht aufhalten.«

»Aha! Wag es bloß nicht!«

Mumm sagte sich, daß auch ein Klatschianer ein aufgeblasener Unruhestifter sein konnte. Aber er fühlte sich beklommen bei dieser Erkenntnis, wie jemand, der dicht am Rand eines tiefen Abgrunds entlangging.

»Feldwebel Colon?«

»Ja, Herr Kommandeur?«

»Bitte kümmere dich darum.«

»Ja, Herr Kommandeur.«

»Auf diplomatische Weise.«

»In Ordnung, Herr Kommandeur.« Colon klopfte sich an den Nasenflügel. »Ist dies Politik, Herr Kommandeur?«

»Äh… geh jetzt und hol die Goriffs. Sie können…« Mumm hob die Hand und winkte vage. »Sie können gehen, wohin es ihnen beliebt.«

Er drehte sich um und ging die Treppe hinauf.

»Jemand muß die Rechte meiner Landsleute verteidigen!« rief Wazir.

Die anderen hörten, wie Mumm auf halbem Weg nach oben stehenblieb. Ein oder zwei Sekunden knarrte eine hölzerne Stufe unter seinem Gewicht. Dann setzte er seinen Weg fort, und die anwesenden Wächter ließen langsam den angehaltenen Atem entweichen.

Mumm schloß die Tür seines Büros hinter sich.

Politik! Er nahm Platz und kramte in den Papieren. Er hielt es für viel einfacher, über Verbrechen nachzudenken. Ein gutes, ehrliches Verbrechen war ihm jederzeit lieber.

Er versuchte, sich vom Rest der Welt zu trennen.

Jemand hatte Schneetreiben Schuppert enthauptet. Das war Tatsache. Ein Unfall beim Rasieren kam als Erklärung ebensowenig in Frage wie ein ungewöhnlich stark wirkendes Shampoo.

Und Schneetreiben hatte versucht, den Prinzen zu töten.

Das galt auch für Ostie. Aber Ostie hatte nur geglaubt, ein Mörder zu sein. Alle anderen hielten ihn für einen sonderbaren Narren, für Eindrücke ebenso empfänglich wie weicher Ton.

Eigentlich eine tolle Idee. Man griff auf die Dienste eines echten Mörders zurück, eines ruhigen, geschickten Profis, und dann sorgte man dafür, daß jemand anders den Sündenbock spielte. Wenn der arme Kerl nicht vom Vorwerk gefallen wäre… Vermutlich hätte er wirklich geglaubt, daß sein Pfeil den Prinzen getroffen hätte.

Und die Wache sollte von einer klatschianischen Verschwörung ausgehen.

Sand in den Sandalen… So eine Unverschämtheit! Hielten sie ihn, Mumm, vielleicht für einen Idioten? Er wünschte sich, Fred hätte den Sand sorgfältig aufgesammelt, denn er war fest entschlossen, den Verantwortlichen zu finden und ihn zu zwingen, das verdammte Zeug zu verspeisen.

Jemand wollte Mumm veranlassen, Klatschianern nachzustellen.

Der Mann auf dem brennenden Dach. Wie paßte der ins Bild? Mußte er überhaupt ins Bild passen? Ein Mann in einem Umhang, das Gesicht hinter einem Tuch verborgen. Und eine Stimme, die nicht nur daran gewöhnt war, Anweisungen zu erteilen – das galt auch für Mumm –, sondern auch daran, daß man ihren Anweisungen gehorchte. Angehörige der Wache hingegen reagierten auf Befehle wie auf Vorschläge.

Einige Dinge mußten nicht unbedingt zusammenpassen. Genau an dieser Stelle ließen einen die »Spuren« im Stich. Und dann der Notizblock, bisher die seltsamste Sache. Jemand war also umsichtig genug gewesen, mehrere Blätter abzureißen, damit niemand lesen konnte, was Schneetreiben geschrieben hatte. Jemand, der schlau genug war, um zu wissen, daß auf den anderen Seiten Abdrücke zurückblieben.

Aber warum hatte er nicht einfach den ganzen Block verschwinden lassen?

Es war alles sehr kompliziert. Aber irgendwo verbarg sich etwas, durch das alles einfach wurde und einen Sinn ergab…

Mumm ließ den Stift fallen, stand auf und öffnete die Tür.

»Was ist das für ein Lärm?« rief er.

Feldwebel Colon war auf halbem Weg die Treppe herauf. »Herr Goriff und Herr Wazir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit, Herr Kommandeur. Offenbar setzte vor zweihundert Jahren der eine die Heimat des anderen in Brand. Das meinte jedenfalls Karotte.«

»Und sie streiten sich jetzt über etwas, das vor zweihundert Jahren geschah?«

»Für mich ist das alles Klatschianisch, Herr Kommandeur. Wie dem auch sei: Wazir ist ziemlich eingeschnappt abgezogen.«

»Er stammt aus Smale«, sagte Karotte. »Und Herr Goriff kommt aus Elharib. Der Krieg zwischen beiden Ländern hat erst vor zehn Jahren geendet. Es ging dabei um religiöse Differenzen.«

»Gingen ihnen die Waffen aus?« fragte Mumm.

»Die Steine, Herr Kommandeur. Die Waffen gingen ihnen schon im vergangenen Jahrhundert aus.«

Mumm schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das verstehe ich nie«, brummte er. »Da kämpfen Völker gegeneinander, nur weil sich ihre Götter zanken…«

»Oh, die Bewohner von Smale und Elharib haben den gleichen Gott, Herr Kommandeur. Der Streit betraf ein Wort in ihrem heiligen Buch. Die Elharibianer übersetzen es mit ›Gott‹, doch bei den Smalenern heißt es ›Mensch‹.«

»Wie kann man so etwas durcheinanderbringen?«

»Nun, beim geschriebenen Wort besteht der Unterschied aus einem kleinen Punkt. Und manche Leute meinen, es sei nur ein bißchen Fliegendreck.«

»Sie haben jahrhundertelang Krieg geführt, nur weil sich eine Fliege an der falschen Stelle erleichterte?«

»Es hätte schlimmer sein können«, sagte Karotte. »Ein wenig mehr nach links, und das Wort hätte mit ›Lakritze‹ übersetzt werden müssen.«

Mumm schüttelte erneut den Kopf. Karotte verstand sich darauf, solche Informationen zu sammeln. Und ich verstehe mich gut darauf, bestimmte Fragen zu stellen, dachte Mumm. So habe ich mich zum Beispiel nach der Bedeutung von Vindaloo erkundigt. Und was hat sich dabei herausgestellt? Übersetzt lautet diese klatschianische Bezeichnung etwa »heißer, den Mund verbrennender Knorpel für ausländische Macho-Idioten«.

»Wenn ich doch nur mehr über Klatsch wüßte«, sagte er.

Feldwebel Colon klopfte sich verschwörerisch an den Nasenflügel.

»Du wünschst dir, den Feind besser zu kennen, nicht wahr?« fragte er.

»Oh, den Feind kenne ich«, erwiderte Mumm. »Aber ich würde gern mehr über die Klatschianer herausfinden.«

»Kommandeur Mumm?«

Die Wächter drehten sich um. Mumm kniff die Augen zusammen.

»Du bist einer von Rusts Männern, nicht wahr?«

»Leutnant Hornett, Herr Kommandeur.« Er zögerte. »Äh… Seine Lordschaft schickt mich, um zu fragen, ob du und deine Offiziere so freundlich wären, den Palast aufzusuchen, falls ihr Gelegenheit dazu habt.«

»Im Ernst? Das waren seine Worte?«

Der Leutnant beschloß, ehrlich zu sein.

»Eigentlich sagte er: ›Hol Mumm und seinen Haufen sofort hierher‹.«

»Ach, tatsächlich?« fragte der Kommandeur.

»Bimmel-bimmel-bamm!« quiekte eine triumphierende Stimme aus Mumms Hosentasche. »Es ist genau elf Uhr abends!«

 

Die Tür öffnete sich, bevor Nobby anklopfte, und eine kleine, füllige Frau starrte ihn an.

»Ja, das bin ich!« sagte sie scharf.

Nobby hatte die Hand noch immer erhoben. »Äh… bist du Frau Kuchen?« fragte er.

»Ja, aber ich mache es nur, um Geld zu verdienen.«

Nobbys Hand blieb unbewegt.

»Äh… du kannst die Zukunft voraussagen, nicht wahr?« erkundigte er sich.

Sie musterten sich gegenseitig. Dann klopfte sich Frau Kuchen mehrmals ans Ohr und blinzelte.

»Verflixt! Ich habe die Präkognition wieder nicht ausgeschaltet.« Ihr Blick ging ins Leere, als sie das kurze Gespräch in Gedanken noch einmal wiederholte.

»Ich glaube, es ist soweit alles klar«, sagte sie, sah Nobby an und schniefte. »Komm herein. Bitte gib auf den Teppich acht, er ist vor kurzer Zeit gereinigt worden. Und ich kann höchstens zehn Minuten für dich erübrigen, denn ich koche gerade Kohl.«

Sie führte Korporal Nobbs in das kleine Vorzimmer. Dort nahm ein runder Tisch, bedeckt von einer grünen Tischdecke, den größten Platz ein. Darauf ruhte eine Kristallkugel, zum Teil bedeckt von einer Wollpuppe, die einen Reif rock trug.

»Ein Bursche in der Taverne hat mir von dir erzählt«, brummte Nobby. »Er meinte, du verstündest dich auf die Wahrsagerei und so.«

»Vielleicht solltest du mir dein Problem nennen«, sagte Frau Kuchen. Sie richtete den Blick erneut auf Nobby, und mit einer Gewißheit, die nichts mit Präkognition und viel mit Beobachtung zu tun hatte, fügte sie hinzu: »Ich meine, über welches deiner Probleme möchtest du mehr erfahren?«

Nobby hüstelte. »Äh… es ist ein bißchen… äh… intim, sozusagen. Eine Angelegenheit des Herzens, gewissermaßen.«

»Geht es dabei um Frauen?« fragte Frau Kuchen vorsichtig.

»Äh… das hoffe ich. Könnte sonst noch jemand an diesen Dingen beteiligt sein?«

Frau Kuchen entspannte sich sichtlich.

»Ich möchte nur wissen, ob ich welche kennenlerne«, fügte Nobby hinzu. »Frauen, meine ich.«

»Ich verstehe.« Frau Kuchen gelang eine Art mimisches Achselzucken. Es stand ihr nicht zu, den Leuten mitzuteilen, auf welche Weise sie ihr Geld vergeuden sollten. »Nun, es gibt die Zukunft für zehn Cent. Sie betrifft das, was man sieht. Und dann gibt es die Zukunft für zehn Dollar. Sie beinhaltet das, was man bekommt.«

»Zehn Dollar! Das ist mehr als ein Wochenlohn! Ich nehme besser die Zehn-Cent-Zukunft.«

»Eine kluge Entscheidung«, sagte Frau Kuchen. »Gib mir deine Pfote.«

»Hand«, sagte Nobby.

»Das meine ich ja.«

Frau Kuchen betrachtete Nobbys ausgestreckte Hand, darauf bedacht, sie nicht zu berühren.

»Fängst du jetzt gleich an zu stöhnen und mit den Augen zu rollen?« fragte Nobby, der entschlossen war, für seine zehn Cent möglichst viel zu bekommen.

»Ich brauche mir keine Frechheiten gefallen zu lassen«, erwiderte Frau Kuchen und betrachtete weiter die Hand. »Solche Dinge…«

Sie sah genauer hin und bedachte Nobby mit einem durchdringenden Blick.

»Hast du mit dieser Hand irgend etwas angestellt?«

»Wie bitte?«

Frau Kuchen nahm die Wollpuppe von der Kristallkugel und sah in die gläsernen Tiefen. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf.

»Ich weiß nicht, ich bin mir nicht sicher… nun, was soll’s.« Sie räusperte sich und fuhr in geheimnisvollem Tonfall fort: »Herr Nobbs, ich sehe dich umringt von dunkelhäutigen Frauen an einem heißen Ort. Vieles erweckt einen ausländischen Eindruck. Die Damen lachen und plaudern mit dir. Eine von ihnen reicht dir gerade etwas zu trinken…«

»Keine von ihnen schreit oder so?« fragte Nobby erstaunt.

»Danach sieht’s nicht aus«, entgegnete die ebenfalls faszinierte Frau Kuchen. »Die Damen scheinen recht zufrieden und fröhlich zu sein.«

»Erkennst du irgendwelche… Magneten?«

»Was meinst du damit?«

»Keine Ahnung«, gestand Nobby. »Ich dachte, du würdest sie erkennen, wenn du sie siehst.«

Trotz einer gewissen charakterlichen Striktheit bemerkte Frau Kuchen eine vage Tendenz in Nobbys Äußerungen.

»Einige der Frauen scheinen bereit für die… Mariage zu sein«, deutete sie an.

»Ah«, sagte Nobby, ohne daß sich sein Gesichtsausdruck veränderte.

»Wenn du verstehst, was ich meine…«

»Ja. Mariage. Alles klar.«

Frau Kuchen gab auf. Nobby zählte zehn Cent ab.

»Und es passiert bald?« vergewisserte er sich.

»O ja. Für zehn Cent sehe ich nicht sehr weit in die Zukunft.«

»Fröhliche junge Frauen…«, überlegte Nobby laut. »Außerdem bereit für die Mariage. Zweifellos eine interessante Sache.«

Nachdem er gegangen war, wandte sich Frau Kuchen noch einmal der Kristallkugel zu und warf einen Zehn-Dollar-Blick in die Zukunft, um ihre eigene Neugier zu befriedigen. Anschließend lachte sie den ganzen Nachmittag lang.

 

Mumm war nur wenig überrascht, als sich die Tür der Rattenkammer öffnete und er Lord Rust am oberen Ende des Tisches sitzen sah. Der Patrizier gehörte nicht zu den Anwesenden.

Er war nur ein wenig überrascht. Ein Teil von ihm dachte: Wie seltsam, ich habe immer angenommen, er gäbe nicht einmal dann einen Fingerbreit nach, wenn ein Rammbock gegen ihn stieße. Doch unter diesem Bereich, in einer Region seines Bewußtseins, die nur selten vom Sonnenschein erhellt wurde, dachte er: Natürlich. In solchen Zeiten steigen Leute wie Rust auf. Es ist, als rühre man mit einem Stock im Sumpf. Plötzlich steigen ganz dicke Blasen nach oben, und überall stinkt es.

Mumm salutierte trotzdem und sagte:

»Lord Vetinari macht Urlaub, nehme ich an.«

»Lord Vetinari ist heute abend von seinem Amt zurückgetreten, Mumm«, erwiderte Lord Rust. »Natürlich nur vorübergehend. Für die Dauer der derzeitigen Krise.«

»Tatsächlich?« fragte Mumm.

»Ja. Und ich möchte darauf hinweisen, daß er einen gewissen… Zynismus deinerseits erwartet hat, Kommandeur. Deshalb bat er mich, dir diesen Brief zu geben. Du wirst feststellen, daß er sein Siegel trägt.«

Mumm betrachtete den Umschlag. Im Wachs erkannte er wirklich das offizielle Siegel, aber…

Er begegnete Lord Rusts Blick, und der Argwohn wich. Nein, zu einem solchen Trick würde Rust nicht greifen. Leute wie er hielten an einem bestimmten Moralkodex fest, nach dem einige Dinge einfach nicht ehrenhaft waren. Man konnte der Eigentümer eines Elendsviertels sein, in dem die Menschen wie Kakerlaken lebten und die Kakerlaken wie Könige, und daran gab es überhaupt nichts auszusetzen. Doch Rust wäre vermutlich lieber gestorben, als irgend etwas zu fälschen.

»Ich verstehe«, sagte Mumm. »Du hast mich hierherbestellt?«

»Kommandeur Mumm, ich fordere dich hiermit auf, die klatschianischen Bewohner dieser Stadt in Gewahrsam zu nehmen.«

»Aufgrund welcher Anklage, Herr?«

»Wir stehen kurz vor einem Krieg mit Klatsch, Kommandeur. Du verstehst sicher, oder?«

»Nein, Herr.«

»Wir reden hier von Spionage, Kommandeur«, sagte Lord Rust. »Und von Sabotage. Um ganz offen zu sein… Die Stadt wird unter Kriegsrecht gestellt.«

»Tatsächlich, Herr?« Mumm blickte starr geradeaus. »Und was für eine Art von Recht ist das, Herr?«

»Das weißt du genau, Mumm.«

»Meinst du das Recht, bei dem man ›Halt!‹ ruft, bevor man schießt? Oder greift man zuerst zu den Waffen, um später Fragen zu stellen, wenn überhaupt?«

»Ach. Ich verstehe.« Lord Rust stand auf und beugte sich vor.

»Lord Vetinari gegenüber bist du recht häufig… frech gewesen, und aus irgendeinem Grund ließ er dich gewähren«, sagte Rust. »Aber ich kenne deinen Typ.«

»Meinen Typ?«

»Mir scheint, die Straßen sind voller Verbrechen, Kommandeur. Nicht lizensiertes Betteln, öffentliche Ärgernisse und so weiter. Aber du achtest nicht darauf und glaubst offenbar, dich um wichtigere Dinge kümmern zu müssen. Doch das ist gar nicht nötig, Kommandeur. Du sollst Diebe fangen, und damit hat es sich. Rollst du mit den Augen, Mumm?«

»Ich versuche immer, auf alle Verbrechen zu achten, Herr.«

»Du scheinst das Gesetz für ein großes Licht am Himmel zu halten, das keiner Kontrolle unterliegt, Mumm. Aber da irrst du dich. Das Gesetz ist so beschaffen, wie wir es für richtig halten. Ich weiß, daß du das verstehst. Es liegt mir fern, mich auf eine Diskussion mit dir einzulassen. Querköpfe erkenne ich auf den ersten Blick.«

»Querköpfe?« fragte Mumm.

»Kommandeur Mumm«, fuhr Lord Rust fort, »ich hatte gehofft, dies vermeiden zu können, aber während der letzten Tage hast du dir leider einen Fehler nach dem anderen geleistet. Man hat auf den Prinzen Khufurah geschossen, und du warst offensichtlich nicht in der Lage, das zu verhindern oder den Verantwortlichen zu finden. Immer wieder gibt es Unruhen in der Stadt, und niemand scheint etwas dagegen zu unternehmen. Wie ich hörte, hat ein Feldwebel der Wache damit gedroht, Unschuldige in den Kopf zu schießen, und gerade haben wir erfahren, daß du einen Geschäftsmann, der sich nichts zuschulden kommen ließ, einfach so eingesperrt hast.«

Mumm hörte, wie Colon nach Luft schnappte, doch dieses Geräusch schien aus weiter Ferne zu kommen. Er glaubte zu spüren, wie um ihn herum alles zusammenbrach, aber es schien kaum eine Rolle zu spielen: Sein Selbst flog unter einem rosaroten Himmel, wo solche Dinge überhaupt keine Bedeutung hatten.

»Oh, ich weiß nicht, Herr«, erwiderte er. »Immerhin ist er schuldig, Klatschianer zu sein. Und eben hast du selbst gesagt, daß ich alle Klatschianer verhaften soll.«

»Und als ob das noch nicht genug wäre«, betonte Lord Rust, »gab es einen weiteren Zwischenfall. Er erscheint mir unglaublich, obwohl jemand wie du daran beteiligt ist, Mumm. Man teilte mir mit, daß du heute abend zwei klatschianische Wächter angegriffen hast, ohne daß sie dich in irgendeiner Form provoziert hätten. Anschließend bist du auf klatschianisches Territorium vorgedrungen, hast ein Frauenquartier betreten, zwei Klatschianer aus ihren Betten entführt, die Zerstörung von klatschianischem Eigentum angeordnet und… Nun, im großen und ganzen hast du dich auf eine Weise verhalten, die man nur als schändlich bezeichnen kann.«

Hat der Versuch, vernünftig mit ihm zu reden, überhaupt einen Sinn? dachte Mumm. Warum mit Karten spielen, die er gezinkt hat?

Und doch…

»Zwei Klatschianer, Herr?«

»Prinz Khufurah scheint entführt worden zu sein, Mumm. Es fällt mir schwer zu glauben, daß selbst du dich auf so etwas einlassen würdest, aber nach den Aussagen der Klatschianer deutet alles darauf hin. Du hast das Gebäude betreten, obwohl du überhaupt kein Recht dazu hattest. Und du hast eine hilflose Frau aus ihrem Bett gezerrt. Wie willst du das rechtfertigen?«

»Zum Tatzeitpunkt stand das Bett in Flammen, Herr.«

Leutnant Hornett trat vor und flüsterte etwas, woraufhin Lord Rusts Empörung ein wenig nachließ.

»Na schön. Na gut. Es gibt mildernde Umstände, aber in politischer Hinsicht war dein Vorgehen höchst unklug, Mumm. Was auch immer mit dem Prinzen geschehen sein mag: Dir scheint es immenses Vergnügen zu bereiten, alles noch schlimmer zu machen.«

Kannst du klettern, Herr Mumm? Der Kommandeur schwieg und erinnerte sich vage daran, daß der andere Mann ein großes, bündelartiges Etwas auf der Schulter getragen hatte.

»Du bist hiermit vom Dienst suspendiert, Kommandeur. Ab sofort steht die Wache unter dem direkten Befehl dieses Rates. Ist das klar?«

Rust wandte sich an Karotte. »Hauptmann Karotte, viele von uns haben… Gutes über dich gehört. Ich berufe mich hiermit auf meine neuen Befugnisse und ernenne dich zum Kommandeur der Wache…«

Mumm schloß die Augen.

Karotte salutierte zackig. »Nein! Herr!«

Mumm riß die Augen auf.

»Wie bitte?« Rust starrte Karotte verwirrt an und zuckte dann mit den Schultern.

»Oh, na schön. Loyalität ist eine feine Sache. Feldwebel Colon?«

»Herr!«

»Unter den gegebenen Umständen, und da du der erfahrenste Unteroffizier bist und immer ein gutes Bei… und auch beim Militär gedient hast… Für die Dauer der Krise bekommst du den Befehl über die Wache.«

»Nein, Herr!«

»Ich habe dir gerade eine Anweisung erteilt, Feldwebel.«

Schweißperlen bildeten sich auf Colons Stirn. »Nein, Herr!«

»Feldwebel!«

»Du kannst dir meine Dienstmarke dorthin stecken, wo die Sonne nie scheint!« brachte Colon verzweifelt hervor.

Mumm sah Rust in die milchigblauen Augen. Er wirkte nicht überrascht. Und da er wußte, daß ein Feldwebel es auf keinen Fall wagen würde, ihm einen derart unverschämten Vorschlag zu unterbreiten, verbannte er Colon aus dem Universum seiner Wahrnehmung.

Rusts Blick glitt kurz zu Detritus.

Er hat keine Ahnung, wie man mit einem Troll spricht, dachte Mumm. Erneut beeindruckte es ihn, wie Rust mit Problemen fertig wurde: Er löste sie, indem er sie einfach ignorierte.

»Wer ist der dienstälteste Korporal in der Wache, Sir Samuel?«

»Das dürfte Korporal Nobbs sein.«

Die Ratsmitglieder drängten sich zusammen und flüsterten. Mumm hörte mehrmals Bemerkungen wie: »Aber der Kerl ist doch ein Vollidiot!« Schließlich sah Rust wieder auf.

»Und wer ist nach Korporal Nobbs das dienstälteste Mitglied der Wache?«

»Mal sehen… Korporal Starkimarm, denke ich«, sagte Mumm. Er fühlte sich auf seltsame Weise schwindelig.

»Vielleicht ist er bereit, unsere Befehle zu befolgen.«

»Er ist ein Zwerg, du Narr!«

In Rusts Gesicht veränderte sich nichts. Es klapperte leise, als Mumm seine Dienstmarke auf den Tisch legte.

»Ich schätze, das brauche ich jetzt nicht mehr«, sagte er ruhig.

»Oh, du bist also lieber Zivilist, wie?«

»Die Angehörigen der Wache sind Zivilisten, du durch Inzucht entstandener Haufen Scheiße!«

Rusts Gehirn tilgte die Geräusche, die seine Ohren gar nicht gehört haben konnten.

»Und die Schlüssel des Arsenals, Sir Samuel«, sagte er.

Sie rasselten und klirrten, als sie auf dem Tisch landeten.

»Und wenn die anderen diese Gelegenheit zu irgendwelchen leeren Gesten nutzen möchten…«, meinte Lord Rust.

Feldwebel Colon holte seine schmutzige Dienstmarke hervor und war ein wenig enttäuscht, daß sie nicht mit einem angemessen trotzigen Klimpern auf den Tisch fiel. Statt dessen prallte sie ab und zertrümmerte den Wasserkrug.

»Bei mir die Dienstmarke in den Arm geritzt ist«, grollte Detritus. »Jemand gern versuchen kann, sie abzukratzen.«

Karotte legte seine Dienstmarke ganz vorsichtig auf den Tisch.

Rust wölbte die Brauen. »Du auch, Hauptmann?«

»Ja, Herr.«

»Ich hätte gedacht, daß wenigstens du…«

Er brach ab und drehte verärgert den Kopf, als sich die Tür öffnete. Zwei Palastwächter kamen herein, gefolgt von einigen Klatschianern.

Die Ratsmitglieder erhoben sich rasch.

Mumm erkannte den Klatschianer in der Mitte der Gruppe. Er hatte ihn bei offiziellen Anlässen gesehen, und wenn er kein Klatschianer gewesen wäre, hätte er ihn für einen verdächtigen kleinen Halunken gehalten.

»Wer ist das?« flüsterte er Karotte zu.

»Prinz Kalif, der stellvertretende Botschafter.«

»Noch ein Prinz?«

Der Mann blieb vor dem Tisch stehen und sah kurz zu Mumm, verriet jedoch nicht, ob er ihn erkannte. Dann wandte er sich an Rust und deutete eine Verbeugung an.

»Prinz Kalif…«, sagte Lord Rust. »Du kommst unangemeldet, aber…«

»Ich bringe schlechte Nachrichten, Lord.«

Mumm war noch immer halb betäubt, doch ein Teil von ihm stellte den Unterschied in der Stimme fest. Khufurah hatte seine zweite Sprache auf der Straße gelernt, doch dieser Klatschianer war von Lehrern unterrichtet worden.

»Ich fürchte, derzeit gibt es überhaupt keine guten Nachrichten«, erwiderte Rust.

»Es gab gewisse Ereignisse auf dem neuen Land; bedauerliche Zwischenfälle. Und auch hier in Ankh-Morpork.« Erneut blickte Kalif kurz zu Mumm. »Obwohl ich gestehen muß, daß mir widersprüchliche Berichte vorliegen. Ich sehe mich gezwungen, dir folgendes mitzuteilen, Lord Rust: Wir befinden uns im Krieg, genaugenommen.«

»Genaugenommen?« wiederholte Mumm.

»Die Ereignisse haben eine gewisse Eigendynamik entwickelt«, fügte Kalif hinzu. »Die Situation ist sehr… problematisch.«

Sie wissen, daß sie in den Kampf ziehen werden, dachte Mumm. Dies ist wie der Beginn eines Tanzes, bei dem man zunächst Abstand wahrt und sich den Partner ansieht…

»Ich muß dich auffordern, innerhalb von zwölf Stunden alle deine Bürger von Leshp abzuziehen«, sagte Kalif. »Wenn das geschieht, muß die gegenwärtige Krise nicht sofort zu einem Konflikt führen.«

»Unsere Antwort lautet: Wir geben euch zwölf Stunden Zeit, um Leshp zu verlassen«, erwiderte Rust. »Wenn ihr euch weigert, bleibt uns leider nichts anderes übrig, als gewisse… Maßnahmen zu ergreifen.«

Kalif verbeugte sich kurz. »Wir verstehen uns. Man wird dir in Kürze ein offizielles Dokument bringen, und bestimmt bekommen wir auch eins von dir.«

»In der Tat.«

»He, Augenblick mal, ihr könnt doch nicht einfach…«, begann Mumm.

»Sir Samuel, du bist nicht mehr Kommandeur der Wache und hast daher kein Recht, hier zugegen zu sein«, sagte Lord Rust scharf. Er wandte sich wieder an den Prinzen.

»Ich bedauere sehr, daß es hierzu kommen mußte«, sagte er steif.

»Ich ebenfalls. Aber leider ist irgendwann der Zeitpunkt erreicht, an dem Worte nicht mehr genügen.«

»Da stimme ich dir zu. Wenn dieser Zeitpunkt erreicht ist, bleibt einem nichts anderes übrig, als die Kräfte zu messen.«

Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen wechselte Mumms Blick zwischen den beiden Gesichtern hin und her.

»Natürlich geben wir euch Zeit genug, eure Botschaft zu schließen. Beziehungsweise das, was von ihr übrig ist.«

»Sehr freundlich. Die gleiche Möglichkeit bieten wir euch.« Kalif verbeugte sich erneut.

Rust folgte seinem Beispiel.

»Zwar befinden sich unsere Länder im Krieg, aber das ist noch lange kein Grund, warum wir beide uns nicht als Freunde respektieren sollten«, sagte er.

»Was? Und ob das ein Grund ist!« entfuhr es Mumm. »Ich fasse es einfach nicht! Ihr könnt doch nicht einfach dastehen und… Meine Güte, was ist mit der Diplomatie passiert?«

»Der Krieg, Mumm, ist die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln«, verkündete Lord Rust. »Darüber wüßtest du Bescheid, wenn du ein Gentleman wärst.«

»Und ihr Klatschianer seid genauso schlimm«, fügte Mumm hinzu. »Vermutlich liegt’s an dem grünen, schimmeligen Hammelfleisch, das Jenkins euch verkauft. Ihr leidet an Schafswahnsinn. Bei den Göttern, ihr könnt doch nicht…«

»Sir Samuel, du bist inzwischen Zivilist, worauf du selbst deutlich genug hinweist«, erwiderte Rust. »Als solcher hast du hier nichts zu suchen!«

Mumm salutierte nicht, drehte sich einfach um und verließ den Raum. Die übrigen Wächter folgten ihm stumm zum Pseudopolisplatz.