»Ein Regen aus Regen?« wiederholte Mumm wie hypnotisiert von Besuchs unerschütterlicher Überzeugung.

»Ein ganz normales natürliches Phänomen«, warf Reg Schuh ein. »Wahrscheinlich verdunstete Meerwasser und wurde schließlich vom Wind über den Himmel getrieben. Die Feuchtigkeit kondensierte an Staubteilchen, als sie auf kältere Luftmassen stieß, und dadurch fiel Regen…« Er unterbrach sich und fügte verärgert hinzu: »Außerdem glaube ich nicht an einen solchen Unsinn.«

»Welche Gottheit steht auf unserer Seite?« fragte Mumm hoffnungsvoll.

»Ich gebe dir Bescheid, sobald ich es herausgefunden habe, Herr Kommandeur.«

»Äh… ausgezeichnet, Obergefreiter.«

Mumm trat einen Schritt zurück. »Ich behaupte nicht, daß unsere Aufgabe leicht ist, Männer«, sagte er. »Wir sind hier, um Angua zu befreien, Ahmed zu erwischen und die Wahrheit aus ihm herauszuschütteln. Was leider bedeutet, daß wir ihm durch sein Heimatland folgen müssen, mit dem wir uns im Krieg befinden. Deshalb sollten wir auf unserem Weg mit dem einen oder anderen Hindernis rechnen. Lassen wir uns von der Aussicht, zu Tode gefoltert zu werden, nicht betrüben.«

»Das Glück ist mit den Tapferen, Herr Kommandeur«, verkündete Karotte fröhlich.

»Gut. Gut. Freut mich, das zu hören. Äh… was sagt das Glück über einen schwer bewaffneten, gut vorbereiteten und sehr zahlreichen Gegner?«

»Oh, ich habe nie davon gehört, daß das Glück diese Leute begleitet, Herr Kommandeur.«

»Nach General Taktikus liegt es daran, daß solche Streitkräfte überhaupt kein Glück benötigen«, sagte Mumm. Er öffnete das ziemlich abgegriffene Buch. Viele Zettel und Bindfäden dienten als Lesezeichen. »Um eine Niederlage zu vermeiden, wenn man es mit einem zahlenmäßig überlegenen Feind zu tun hat, der über bessere Waffen und Stellungen verfügt, schlägt General Taktikus folgendes vor.« Mumm blätterte. »›Man lasse sich nicht auf einen Kampf ein.‹«

»Klingt nach einem klugen Mann«, sagte Jenkins. Er deutete zum gelben Horizont.

»Siehst du den ganzen Kram dort in der Luft?« fragte er. »Für was hältst du das?«

»Dunst?« vermutete Mumm.

»Ha, ja. Klatschianischer Dunst! Das ist ein Sandsturm! Kommt recht häufig vor. Scheußliches Zeug, der Sand. Wenn du dein Schwert schärfen möchtest, brauchst du es bei einem Sandsturm nur in den Wind zu halten.«

»Oh.«

»Und eigentlich solltest du für den Sandsturm dankbar sein, denn ohne ihn könntest du den Berg Gebra sehen. Am Fuß dieses Berges liegt etwas, das die Klatschianer ›Gebras Faust‹ nennen. Es ist eine Stadt, und außerdem steht dort eine Festung mit fast zehn Meter dicken Mauern. Sie ist fast eine eigene Stadt und bietet Platz für Tausende von Soldaten, Kriegselefanten, Kampfkamelen und so weiter. Wenn du das gesehen hast, verspürst du nur noch den Wunsch, so schnell wie möglich heimzukehren. Nun, was sagt dein berühmter General dazu, hm?«

»Ich glaube, ich habe in diesem Zusammenhang irgendwo etwas gelesen…« Mumm blätterte erneut. »Ah ja, hier steht: ›Nach der ersten Schlacht von Sto hat habe ich ein Prinzip formuliert, das mir auch bei anderen Kämpfen gute Dienste leistete: Wenn der Feind über eine uneinnehmbare Festung verfügt, so sorge dafür, daß er dort bleibt.‹«

»Das ist dir sicher eine große Hilfe«, sagte Jenkins.

Mumm steckte das Buch ein.

»Es ist also ein Gott auf unserer Seite, Obergefreiter Besuch?«

»Kein Zweifel, Herr Kommandeur.«

»Aber vermutlich dürfen auch die Klatschianer mit göttlichem Beistand rechnen, oder?«

»Das halte ich für sehr wahrscheinlich, Herr Kommandeur. Es steht ein Gott auf jeder Seite.«

»Hoffen wir, daß sie sich gegenseitig ausgleichen.«

 

Das klatschianische Boot berührte die Wellen so sanft, daß man kaum ein Platschen hörte. 71-Stunden-Ahmed stand an der Winde und hielt sein Schwert bereit – deshalb ließen die Männer das Boot mit besonderer Vorsicht zu Wasser.

»Du kannst den Hafen von Gebra ansteuern, wenn wir fort sind«, wandte sich Ahmed an den Kapitän.

Der Kapitän zitterte. »Und was soll ich den Leuten sagen, Wali

»Die Wahrheit – nach einer Weile. Der Garnisonskommandant ist ein Mann mit schlechten Manieren und wird dich zunächst ein wenig foltern. Spar dir die Wahrheit auf, bis du sie brauchst. Dann ist er zufrieden. Es hilft dir sicher, wenn du betonst, ich hätte dich gezwungen.«

»Oh, das werde ich. Ich meine, ich werde… zu dieser Lüge greifen«, fügte der Kapitän rasch hinzu.

Ahmed nickte, glitt an einem Seil hinab ins Boot und brach damit auf.

Der Kapitän und seine Mannschaft beobachteten, wie er durch die Brandung ruderte.

Dies war kein hübscher, ruhiger Strand, sondern ein Küstenabschnitt, der Schiffen immer wieder zum Verhängnis wurde. Alte Wrackteile lagen zwischen den Felsen. Knochen, Treibholz und von der heißen Sonne gebleichter Tang hatten sich an der Flutlinie angesammelt. Jenseits davon erhoben sich die Dünen der Wüste. Selbst hier, noch auf dem Meer, bekam man den Sand zu spüren. Er brannte in den Augen und knirschte zwischen den Zähnen.

»An diesem Ufer droht jäher Tod«, sagte der Erste Maat. Er sah über die Reling und blinzelte immer wieder, als ihm Sand in die Augen geriet.

»Ja«, bestätigte der Kapitän. »Er hat das Boot gerade verlassen.«

Die Gestalt am Ufer zog eine zweite, liegende Gestalt aus dem Boot und brachte sie aus der Reichweite der Wellen.

Der Maat hob seinen Bogen.

»Ich möchte ihn von hier aus töten, Herr. Du brauchst mir nur den Befehl zu geben.«

»Wie sicher bist du dir? Du solltest besser völlig sicher sein. Wenn du ihn verfehlst, bist du tot. Und wenn du ihn triffst, bist du ebenfalls tot. Sieh nur dort oben.«

Hoch oben auf den fernen Dünen zeichneten sich Reiter dunkel vor dem mit Sand gefüllten Himmel ab. Der Maat ließ den Bogen sinken.

»Woher wußten sie, daß wir hier sind?«

»Oh, sie beobachten das Meer«, sagte der Kapitän. »Über ein gutes Schiffswrack freuen sich D’regs genauso wie andere Leute. Vielleicht sogar noch mehr.«

Als sie sich von der Reling abwandten, sprang etwas vom Rumpf und verschwand fast lautlos im Wasser.

 

Detritus versuchte, im Schatten zu bleiben, aber davon gab es nicht viel. Die Wüste vor ihnen strahlte Hitze aus wie eine Lötlampe.

»Ich immer dümmer werden«, klagte er.

Der Ausguck rief etwas.

»Er meint, jemand klettert die Dünen hoch«, sagte Karotte. »Jemand, der jemand anders trägt.«

»Äh… eine Frau?«

»Ich kenne Angua, Herr Kommandeur. Sie gehört nicht zum hilflosen Typ. Sie steht nicht einfach da und schreit. Andere Leute verhalten sich ihr gegenüber so.«

»Nun, wie du meinst…« Mumm wandte sich an Jenkins. »Wir geben die Verfolgung des anderen Schiffes auf. Statt dessen setzen wir die Fahrt in Richtung Küste fort.«

»Das gefällt mir ganz und gar nicht. Es ist eine verdammt gefährliche Küste: Dort hat man den Wind immer gegen sich und außerdem einige scheußliche Strömungen. So mancher unvorsichtige Seefahrer hat seine Knochen an diesem Ufer zurückgelassen. Nein, wir bleiben in sicherer Entfernung, und du kannst das Ruderboot… Ich meine, du könntest das Ruderboot benutzen, wenn wir es nicht über Bord geworfen hätten. Na schön, wir gehen vor Anker und… Oh, Verzeihung, der Anker gehörte ja zu den schweren Gegenständen, die wir…«

»Wir fahren…, äh… schwimmen weiter«, sagte Mumm. »Zur Küste.«

»Bestimmt kommen wir alle ums Leben.«

»Ich schlage vor, du wählst das geringere von zwei Übeln.«

»Worin besteht das andere?«

Mumm zog sein Schwert.

»Aus mir.«

 

Das Boot quietschte durch die geheimnisvollen Tiefen des Meeres. Leonard verbrachte viel Zeit damit, aus den kleinen Fenstern zu blicken. Sein besonderes Interesse galt Tangstreifen, die nach Feldwebel Colons Meinung wie ganz gewöhnliche Tangstreifen aussahen.

»Sieh nur diese prächtigen Exemplare von Dropliehs Etioliertem Blasentang«, sagte Leonard. »Damit meine ich die braunen Dinger. Ein höchst interessantes Gewächs, das uns unter den gegebenen Umständen einen wichtigen Hinweis liefert.«

»Ich schlage vor, wir gehen einmal davon aus, daß ich in den vergangenen Jahren meine Studien der maritimen Pflanzen ein wenig vernachlässigt habe«, erwiderte der Patrizier.

»Ach, tatsächlich? Da hast du eine Menge versäumt. Normalerweise wächst der Etiolierte Blasentang nicht oberhalb einer Tiefe von mindestens dreißig Faden, und derzeit befinden wir uns nur zehn Faden unterhalb der Wasseroberfläche.«

»Ah.« Der Patrizier blätterte in einigen von Leonards Zeichnungen. »Und die Hieroglyphen – ein Alphabet aus Zeichen und Farben. Farben als Sprache… eine faszinierende Idee.«

»Sie dienen gewissermaßen als emotionale Verstärker«, erklärte Leonard. »Auch wir verwenden so etwas. Rot für Gefahr und so weiter. Bedauerlicherweise konnte ich sie nie übersetzen.«

»Farben als Sprache…«, murmelte Lord Vetinari.

Feldwebel Colon räusperte sich. »Ich weiß etwas über Seetang, Herr.«

»Ja, Feldwebel?«

»Herr! Wenn er feucht ist, kann man bald mit Regen rechnen, Herr.«

»Ausgezeichnet, Feldwebel«, erwiderte Lord Vetinari, ohne den Kopf zu drehen. »Ich halte es für möglich, daß ich diesen Hinweis nie vergessen werde.«

Feldwebel Colon strahlte. Er hatte einen Beitrag geleistet.

Nobby gab ihm einen Stoß. »Was machen wir hier unten, Feldwebel? Ich meine, was hat dies alles zu bedeuten? Wir tauchen, betrachten seltsame Zeichen an Felsen, sehen uns in Höhlen um… und dann der Geruch…«

»Mich trifft keine Schuld«, sagte Feldwebel Colon.

»Riecht wie… Schwefel…«

Kleine Blasen glitten am Fenster vorbei.

»Auch oben hat es gestunken«, fuhr Nobby fort.

»Wir sind fast fertig, meine Herren«, sagte Lord Vetinari und legte die Blätter beiseite. »Noch ein letztes Wagnis, dann können wir auftauchen. Also gut, Leonard – bring uns darunter

»Aber… äh… wir sind doch schon unten, Herr«, warf Colon ein.

»Nur unter der Meeresoberfläche, Feldwebel.«

»Oh. Ja.« Colon dachte darüber nach. »Gibt es hier sonst noch etwas, unter dem wir sein könnten, Herr?«

»Ja, Feldwebel. Wir tauchen jetzt unter das Land.«

 

Inzwischen war die Küste viel näher. Den Wächtern fiel auf, daß die Seeleute alle zum stumpfen Ende des Schiffes eilten. Dort banden sie kleine, leichte und vor allem schwimmfähige Gegenstände an sich fest.

»Das scheint mir nah genug zu sein«, sagte Mumm. »Halt hier an.«

»Ich soll hier anhalten? Wie?«

»Woher soll ich das wissen? Ich bin doch kein Seemann. Gibt es keine Bremse oder etwas in der Art?«

Jenkins starrte ihn fassungslos an. »Du… du Landratte!«

»Ich dachte, solche Ausdrücke benutzt du nie.«

»Jemandem wie dir bin ich nie zuvor begegnet! Du glaubst sogar, daß wir den Bug ›spitzes Ende‹ nennen…«

Später gelangte die Mannschaft zu dem Schluß, daß es sich um eine der seltsamsten Landungen in der Geschichte der schlechten Seefahrt handelte. Offenbar waren Uferbereich und Wasserstand genau richtig, denn das Schiff prallte nicht etwa auf den Strand, sondern stieg aus dem Wasser, wobei der Kiel seine Last aus Entenmuscheln abstreifte. Schließlich trafen sich Bewegungsmoment und Reibung von Wind und Wasser an einer Stelle, die mit »langsam zur Seite kippen« markiert war.

Die Milka blieb liegen und verdiente sich den Titel »Lächerlichstes Schiffswrack der Welt«.

»Es hätte schlimmer kommen können«, sagte Mumm, als kein Holz mehr splitterte.

Er kroch aus einem Durcheinander aus Segelleinen, stand auf und rückte sich möglichst würdevoll den Helm zurecht.

Ein Stöhnen kam aus dem jetzt sehr schiefen Frachtraum.

»Du das bist, Grinsi?«

»Ja, Detritus.«

»Ich dies bin?«

»Nein!«

»Entschuldigung.«

Karotte ging vorsichtig über das geneigte Deck, sprang in den Sand und salutierte.

»Alle anwesend und ein wenig mitgenommen, Herr Kommandeur. Sollen wir einen Brückenkopf bilden?«

»Einen was?«

»Wir müssen uns eingraben, Herr Kommandeur.«

Mumm blickte in beide Richtungen über den Strand – falls man einen solchen Ruhe und Erholung versprechenden Ausdruck verwenden durfte. Eigentlich war es nur ein Saum der Wüste. Nichts regte sich, abgesehen vom Flirren der Hitze und zwei Aasvögeln, die einige Dutzend Meter entfernt auf einem Felsen hockten.

»Weshalb?« fragte er.

»Um eine leichter zu verteidigende Stellung zu schaffen. Ein typisches Verhaltensmuster von Soldaten, Herr Kommandeur.«

Mumm sah zu den Vögeln. Sie näherten sich mit vorsichtigen, seitlichen Hüpfern und schienen über alles herfallen zu wollen, was seit einigen Tagen tot war.

Er blätterte im Buch von Taktikus, bis er das Wort »Brückenkopf« fand.

»Hier steht: ›Wenn du möchtest, daß deine Männer viel Zeit im Umgang mit der Schaufel verbringen, hättest du Bauern aus ihnen machen sollen‹«, sagte er. »Ich schlage vor, wir setzen den Weg fort. Er kann nicht weit gekommen sein. Sobald wir ihn geschnappt haben, kehren wir zurück.«

Jenkins watete aus dem Wasser. Er wirkte nicht zornig. Er war ein Mann, der die Flammen des Zorns durchschritten und die friedliche Bucht hinter ihnen erreicht hatte. Mit zitterndem Zeigefinger deutete er auf das Schiff und sagte: »Muh…?«

»Eigentlich ist es erstaunlich heil geblieben, wenn man die Umstände berücksichtigt«, meinte Mumm.

»Muh?«

»Zusammen mit deiner Mannschaft kriegst du es bestimmt wieder flott.«

»Muh…«

Jenkins und die watenden Besatzungsmitglieder beobachteten, wie die Wächter über den nächsten Dünenhang kletterten und rutschten. Nach einer Weile traten die Seeleute zusammen, um Lose zu ziehen. Der Koch, der bei Glücksspielen dieser Art immer Pech hatte, näherte sich schließlich dem Kapitän.

»Keine Sorge, Käpt’n«, sagte er. »In all diesem Treibholz finden wir bestimmt geeignetes Material, und einige Tage Arbeit mit dem Flaschenzug…«

»Muh.«

»Allerdings sollten wir sofort beginnen, denn er meinte ja, daß sie bald zurückkehren…«

»Sie kehren nicht zurück!« erwiderte der Kapitän. »Das wenige Wasser, das sie bei sich haben, reicht in der Wüste nicht einmal für einen Tag! Ihnen fehlt die richtige Ausrüstung! Und bestimmt verirren sie sich, sobald sie außer Sichtweite des Meeres geraten!«

»Gut!«

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bis sie den Gipfel der Düne erreichten. Sie fanden Abdrücke im Sand, aber während Mumm sie noch betrachtete, griff der Wind nach den Sandkörnern und setzte fleißig sein Bemühen fort, die Spuren zu verwischen.

»Kamelspuren«, stellte er fest. »Nun, Kamele sind nicht sehr schnell. Wir…«

»Ich glaube, Detritus hat ziemliche Probleme«, ließ sich Karotte vernehmen.

Der Troll stand mit den Fingerknöcheln auf den Boden gestützt. Der Motor seines Kühlhelms ächzte einige Sekunden und setzte dann ganz aus, als Sand in den Mechanismus geriet.

»Fühle mich dumm«, brummte Detritus. »Gehirn tut weh.«

»Halt ihm den Schild über den Kopf«, sagte Mumm. »Er braucht Schatten.«

»Er schafft es bestimmt nicht, Herr Kommandeur«, erwiderte Karotte. »Wir sollten ihn zum Boot zurückschicken.«

»Wir brauchen ihn! Grinsi, fächle ihm mit deiner Axt Luft zu!« Genau in diesem Augenblick stand der Sand auf und zog hundert Schwerter.

»Bimmel-bimmel-bamm!« erklang eine fröhliche, wenn auch gedämpfte Stimme. »Elf Uhr morgens, Haare schneiden… äh… das stimmt doch, oder?«

 

Der Zufall hatte die Mauern eines Gebäudes so einstürzen lassen, daß sie eine Art Zisterne formten. Regenwasser füllte das Gefäß zur Hälfte.

Fester Fanggut klopfte seinem Sohn auf den Rücken.

»Süßwasser!« sagte er. »Na endlich. Gut gemacht, Junge.«

»Weißt du, ich habe mir die seltsamen Darstellungen angesehen, Vater, und dabei…«

»Ja, ja, Bilder von Kraken, sehr hübsch«, meinte Fanggut. »Ha! Jetzt ist der Ball auf dem anderen Fuß, jawohl! Wir haben Wasser auf unserer Seite der Insel, sollen die schmierigen Kerle nur nichts anderes behaupten. Sollen sie sich über ihr verdammtes Treibholz freuen und Wasser aus Fischen saugen.«

»Ja, Vater«, sagte Les. »Und wir können etwas von unserem Wasser gegen Holz und Mehl tauschen, nicht wahr?«

Der Vater des Jungen machte eine Geste, die zur Vorsicht gemahnte. »Vielleicht«, erwiderte er. »Wir sollten nichts überstürzen. Bestimmt dauert es nicht mehr lange, bis wir brennbaren Tang finden. Ich meine, was ist hier unser langfristiges Ziel?«

»Wir möchten Mahlzeiten kochen können und es warm haben?« fragte Les hoffnungsfroh.

»Nun, das steht am Anfang«, entgegnete Fanggut. »Ganz klar. Aber wie heißt es so schön, Junge? ›Gib einem Mann Feuer, und er hat es einen Tag lang warm. Steck ihn in Brand, und er hat es warm für den Rest seines Lebens.‹ Verstehst du?«

»Ich glaube nicht, daß es so heißt…«

»Ich meine, von Wasser und rohem Fisch können wir… praktisch unbegrenzte Zeit leben. Aber sie halten es nicht lange ohne Süßwasser aus. Ist doch klar. Früher oder später bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als uns um Wasser zu bitten. Und dann können wir Bedingungen stellen.«

Er legte den Arm um die widerstrebenden Schultern seines Sohns und deutete auf die Landschaft.

»Ich meine, ich habe mit nichts begonnen, Sohn, abgesehen von dem Boot, das mir dein Großvater überließ, aber…«

»…du hast dich abgerackert…«, sagte Les müde.

»… ich habe mich abgerackert…«

»… und deinen Kopf immer über Wasser gehalten…«

»… und meinen Kopf immer über Wasser gehalten, ja…«

»Und du hast mir immer etwas hinterlassen wollen, das… Au!«

»Hör auf, dich über deinen Vater lustig zu machen!« sagte Fanggut. »Sonst bekommst du noch eine Ohrfeige auf die andere Seite. Sieh dir nur dieses Land an. Siehst du es?«

»Ich sehe es, Vater.«

»Es ist ein Land der Möglichkeiten

»Aber es gibt hier keine Quellen, und der Boden steckt voller Salz, und außerdem stinkt es!«

»Das ist der Geruch der Freiheit.«

»Riecht eher so, als hätte hier jemand ordentlich einen fahrenlassen, Vater. Au!«

»Manchmal ähneln sich solche Gerüche! Und ich denke dabei an deine Zukunft, Junge!«

Les blickte über ein weites, von verfaulendem Tang bedecktes Land.

Er lernte, ein Fischer wie sein Vater zu sein, weil die männlichen Angehörigen seiner Familie immer Fischer gewesen waren und er aufgrund seiner gutmütigen Natur nicht zu widersprechen wagte – obwohl er viel lieber Maler gewesen wäre, wie vor ihm noch niemand in seiner Familie. Er bemerkte gewisse Dinge, und sie beunruhigten ihn, auch wenn ihm der Grund dafür verborgen blieb.

Mit den Gebäuden schien etwas nicht in Ordnung zu sein. Hier und dort gab es eindeutig Teile von Architektur, wie zum Beispiel morporkianische Säulen und Reste von klatschianischen Bögen. Doch sie klebten an Bauwerken, die aussahen, als wären sie von eher ungeschickten Leuten errichtet worden, die einfach Felsen aufeinandergehäuft hatten. An anderen Stellen erhoben sich Steinplatten auf alten Mauern aus Ziegelsteinen und Mosaikböden. Les wußte nicht, von wem die Mosaike stammten, aber die Leute, die sie angefertigt hatten, mußten eine besondere Vorliebe für Tintenfischbilder gehabt haben.

In dem Jungen verdichtete sich der Eindruck, daß Morporkianer und Klatschianer ihre Zeit vergeudeten, wenn sie darüber stritten, wem dieser frühere Teil des Meeresbodens gehörte.

»Äh… auch ich denke an meine Zukunft, Vater«, sagte er. »Ja, ich denke wirklich daran.«

 

Weit unter den Füßen von Fester Fanggut tauchte das Boot auf. Feldwebel Colon griff ganz automatisch nach den Schrauben der Luken.

»Nicht öffnen!« rief Leonard und erhob sich aus seinem Sitz.

»Die Luft hier drin ist ziemlich verbraucht…«

»Draußen dürfte es noch schlimmer sein.«

»Schlimmer als hier drin?«

»Da bin ich ziemlich sicher.«

»Aber wir sind aufgetaucht!«

»Wir sind aufgetaucht, ja, aber wir befinden uns noch immer unter der Meeresoberfläche«, sagte Lord Vetinari. Neben ihm zog Nobby den Korken aus dem Sehrohr und blickte hindurch.

»Sind wir in einer Höhle?« fragte Colon.

»Äh…, Feldwebel…«, begann Nobby.

»Großartig, gut überlegt!« entfuhr es dem Patrizier. »Ja. Eine Höhle. In gewisser Weise.«

»Äh… Feldwebel?« fragte Nobby erneut und stieß Colon an. »Dies ist keine Höhle, Feldwebel! Dieses Ding erscheint mir wesentlich größer!«

»Meinst du vielleicht eine… Kaverne?«

»Es ist noch größer!«

»Größer aus eine Kaverne? Vielleicht eine…große Kaverne?«

»Ja, ich schätze, das könnte es sein«, sagte Nobby und wandte sich vom Sehrohr ab. »Sieh’s dir selbst an, Feldwebel.«

Feldwebel Colon blickte ins Rohr.

Er rechnete halb mit Dunkelheit, statt dessen sah er die Oberfläche eines Sees, die blubberte wie das Wasser in einem Kochtopf. Grüne und gelbe Flammen züngelten. Ihr Licht huschte über eine so weit entfernte Wand, daß man sie für den Horizont halten konnte…

Das Rohr drehte sich quietschend. Wenn dies wirklich eine Höhle war, so durchmaß sie mindestens zwei Meilen.

»Wie lange, glaubst du?« erklang Lord Vetinaris Stimme hinter Colon.

»Nun, die Felsen bestehen zu einem großen Teil aus Tuff und Bimsstein, sind also sehr leicht«, antwortete Leonard. »Nach dem Aufstieg entweicht das Gas wegen des Seegangs recht schnell. Noch eine Woche, schätze ich. Und anschließend dauert es ziemlich lange, bis sich wieder eine ausreichend große Blase bildet, daß sich der Aufstieg wiederholen kann…«

»Worüber reden sie, Feldwebel?« fragte Nobby. »Dieser Ort schwimmt

»Ein sehr ungewöhnliches natürliches Phänomen«, fuhr Leonard fort. »Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es für eine Legende halten.«

»Natürlich schwimmt dies hier nicht«, erwiderte Feldwebel Colon.

»Wirklich, Nobby, wie willst du jemals etwas dazulernen, wenn du so absolut dämliche Fragen stellst? Land ist schwerer als Wasser, oder? Deshalb befindet es sich am Meeresgrund.«

»Ja, aber sie haben Bimsstein erwähnt, und mein Großvater hatte einen Bimsstein, mit dem man sich beim Baden in der Wanne die feste Haut an den Füßen abreiben konnte, und das Ding schwamm…«

»So was passiert vielleicht in Badewannen«, sagte Colon. »Aber nicht im wirklichen Leben. Dies ist nur ein Phänomen. In der Realität gibt es für so etwas keinen Platz. Demnächst behauptest du noch, es gäbe Felsen am Himmel.«

»Ja, aber…«

»Ich bin Feldwebel, Nobby.«

»Ja, Feldwebel.«

»Es erinnert mich an die nautischen Geschichten über riesige Schildkröten, die schlafend an der Meeresoberfläche schwimmen und Seefahrer glauben machen, sie hätten eine Insel erreicht«, sagte Leonard. »Natürlich gibt es keine so kleinen Riesenschildkröten.«

»He, Herr Quirm, dieses Boot ist wirklich toll«, meinte Nobby.

»Danke.«

»Vermutlich könnte man damit auch Schiffe versenken, wenn man wollte.«

Peinliches Schweigen schloß sich an.

»Eine insgesamt sehr interessante Erfahrung«, kommentierte Lord Vetinari, während er sich Notizen machte. »Und nun, meine Herren – vorwärts und nach unten, wenn ich bitten darf…«

 

Die Wächter zogen ihre Waffen.

»Das sind D’regs, Herr Kommandeur«, sagte Karotte. »Aber etwas stimmt nicht…«

»Was meinst du?«

»Wir sind noch nicht tot.«

Sie beobachten uns, wie Katzen Mäuse beobachten, dachte Mumm. Wir können weder weglaufen noch einen Kampf gewinnen. Sie sind neugierig darauf, wie wir uns unter diesen Umständen verhalten.

»Was hat General Taktikus über eine solche Situation zu sagen, Herr Kommandeur?« fragte Karotte.

Es sind hundert, dachte Mumm. Und wir sind nur sechs. Allerdings ist Detritus kaum mehr bei sich, und niemand weiß, welchen himmlischen Geboten Obergefreiter Besuch derzeit gehorcht, und Regs Arme fallen ab, wenn er sich zu sehr aufregt…

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Vermutlich etwas in der Art von ›Laß so etwas nie geschehen‹.«

»Warum siehst du nicht nach, Herr Kommandeur?« fragte Karotte, ohne den Blick von den sie immer noch stumm beobachtenden D’regs abzuwenden.

»Wie bitte?«

»Warum siehst du nicht im Buch nach, Herr Kommandeur?«

»Jetzt?«

»Es könnte einen Versuch wert sein.«

»Das ist doch verrückt, Hauptmann.«

»Ja, Herr Kommandeur. Die D’regs haben seltsame Vorstellungen von verrückten Leuten, Herr Kommandeur.«

Mumm holte das abgegriffene Buch hervor. Der ihm am nächsten stehende D’reg offenbarte ein Grinsen, das fast so breit und krumm war wie sein Schwert. Seine wichtigtuerische Aura wies ihn als Anführer aus. Auf dem Rücken trug er eine große Armbrust.

»Heda!« rief Mumm. »Können wir im allgemeinen Geschehen eine kleine Pause einlegen?« Er trat auf den Mann zu, der sehr überrascht wirkte, und winkte mit dem Buch. »General Taktikus hat das hier geschrieben, ich weiß nicht, ob du ihn kennst, hat sich einst viel in dieser Gegend herumgetrieben und vielleicht deinen Ururururgroßvater getötet, und ich möchte nur kurz nachsehen, was er über eine derartige Situation zu sagen hat. Wenn du gestattest…?«

Der Mann bedachte Mumm mit einem verwirrten Blick.

»Es könnte eine Weile dauern, da das Buch leider kein Stichwortverzeichnis hat, aber ich glaube, ich habe da eine Stelle gesehen…«

Der Anführer trat einen Schritt zurück und sah zum nächsten Krieger, der mit den Schultern zuckte.

»Wenn du mir bei diesem Wort hier helfen könntest?« Mumm blieb neben dem Mann stehen und hielt ihm das Buch unter die Nase.

Dann bewegte sich Mumm auf eine Weise, die in den Gassen von Ankh-Morpork als »Freundliches Händeschütteln« bekannt war. Er rammte dem Klatschianer den Ellenbogen in die Magengrube, hob das Knie dem herabkommenden Kinn des Mannes entgegen und biß die Zähne zusammen, als Schmerz in Knie und Fußknöcheln entflammte. Anschließend zog er sein Schwert und hielt es dem D’reg an die Kehle, noch bevor der sich wieder aufrichten konnte.

»Und nun, Hauptmann Karotte…«, sagte Mumm. »Bitte teil den Klatschianern laut und klar mit, daß dieser Mann in erhebliche Schwierigkeiten gerät, wenn sie nicht sofort zurückweichen.«

»Herr Mumm, ich glaube…«

»Los!«

Der D’reg sah ihn an, als Karotte mit lauter Stimme die gewünschte Botschaft verkündete. Erstaunlicherweise grinste er noch immer.

Mumm wagte nicht, den Blick von ihm abzuwenden, aber er spürte Erstaunen und Verwunderung bei den übrigen Klatschianern.

Dann griffen sie alle auf einmal an.

 

Ein klatschianisches Fischerboot, dessen Kapitän wußte, aus welcher Richtung der Wind wehte, kehrte zum Hafen von Al-Khali zurück. Der Kapitän hatte dabei den Eindruck, daß sie trotz des günstigen Winds langsamer vorankamen, als es eigentlich der Fall sein sollte. Er schrieb es den Entenmuscheln am Rumpf zu.

 

Mumm erwachte mit einem Gefühl, als hätte er ein Kamel in der Nase. Es gibt schlimmere Arten des Erwachens, aber nicht sehr viele.

Er drehte den Kopf, was ihn nicht unbeträchtliche Mühe kostete, und stellte fest: Das Kamel saß. Nach den Geräuschen zu urteilen, verdaute es Sprengstoff.

Mumm fragte sich, wie er in eine solche Lage geraten war. Eine Sekunde später fluchte er.

Aber es hätte klappen können… Immerhin war es eine klassische Taktik. Man drohte damit, den Kopf abzuschneiden, woraufhin der Rest des Körpers gehorchte. So reagierten alle. Man konnte sagen, daß die ganze Zivilisation auf diesem Prinzip basierte…

Vielleicht lag es an den kulturellen Unterschieden.

Andererseits… Er war nicht tot. Karotte hatte auf folgendes hingewiesen: Wenn man die D’regs fünf Minuten kannte und noch lebte, bedeutete das, daß sie einen sehr mochten.

Allerdings galt es in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, daß er, Mumm, den Anführer mit dem Freundlichen Händeschütteln vertraut gemacht hatte, was der betreffende Klatschianer vielleicht gar nicht für sehr freundlich hielt.

Mumm sah keinen sonderlichen Sinn darin, quer über einem Sattel zu liegen, an Händen und Füßen gefesselt, und sich einen Sonnenstich zu holen. Es wurde höchste Zeit, wieder als Oberhaupt seiner Leute aufzutreten, und damit wollte er beginnen, sobald er das Kamel aus Mund und Nase bekam.

»Bimmel-bimmel-bamm?«

»Ja?« fragte Mumm und zerrte an seinen Fesseln.

»Möchtest du erfahren, welche Termine du versäumt hast?«

»Nein! Ich versuche gerade, diese verdammten Stricke zu lösen!«

»Soll ich das deiner Aufgabenliste hinzufügen?«

»Oh, du bist wach, Herr Kommandeur!«

Es klang nach Karottes Stimme; außerdem konnte man solch eine Bemerkung von ihm erwarten. Mumm versuchte, den Kopf zu drehen.

Ein weißes Tuch erstreckte sich in seinem Blickfeld. Und dann erschien Karottes Gesicht, verkehrt herum.

»Die D’regs fragten, ob sie dich losbinden sollten, aber ich wies darauf hin, daß du während der letzten Tage kaum Ruhe gefunden hast«, erklärte Karotte.

»Meine Arme und Beine sind eingeschlafen, Hauptmann«, klagte Mumm.

»Oh, gut! Das ist wenigstens ein Anfang.«

»Karotte?«

»Ja, Herr Kommandeur?«

»Ich möchte, daß du sehr aufmerksam zuhörst, weil ich dir jetzt einen Befehl geben werde.«

»Gewiß, Herr Kommandeur.«

»Es ist kein Vorschlag oder etwa eine Anregung.«

»Wie du meinst, Herr Kommandeur.«

»Ich habe die Angehörigen der Wache immer dazu ermutigt, selbständig zu denken und mir nicht blind zu gehorchen. Aber manchmal wird es in jeder Organisation notwendig, einen Befehl buchstabengetreu und ohne zu zögern auszuführen.«

»Ja, Herr Kommandeur.«

»Binde mich sofort los, oder du wirst es bitter bereuen, daß du mich nicht sofort losgebunden hast!«

»Äh… Herr Kommandeur, ich fürchte, deine Worte enthalten einen ungewollten Widerspruch, der…«

»Karotte!«

»Jawohl, Herr Kommandeur!«

Die Stricke wurden durchgeschnitten, und Mumm rutschte in den Sand. Das Kamel drehte den Kopf, sah ihn mit seinen Nasenlöchern an und wandte sich dann wieder ab.

Es gelang Mumm, sich aufzusetzen, während Karotte die übrigen Fesseln löste.

»Warum trägst du ein weißes Tuch, Hauptmann?«

»Das ist ein Burnus, Herr Kommandeur. Sehr praktisch in der Wüste. Wir haben diese Kleidung von den D’regs erhalten.«

»Wir?«

»Der Rest von uns, Herr Kommandeur.«

»Sind alle wohlauf?«

»Ja.«

»Aber die D’regs haben doch angegriffen…«

»Ja, Herr Kommandeur. Sie wollten uns nur gefangennehmen. Einer von ihnen schnitt Reg unabsichtlich den Kopf ab, und nachher half er ihm dabei, ihn wieder anzunähen. Es wurde also kein dauerhafter Schaden angerichtet.«

»Ich dachte, die D’regs machen keine Gefangenen…«

»Auch ich bin sehr überrascht, Herr Kommandeur. Wie dem auch sei: Sie meinten, wenn wir zu fliehen versuchen, hacken sie uns die Füße ab, und Reg hat nicht genug Garn für uns alle.«

Mumm rieb sich den Kopf. Jemand hatte ihm einen so wuchtigen Schlag versetzt, daß der Helm eine Beule aufwies.

»Was ist schiefgegangen?« fragte er. »Ich hatte den Anführer überwältigt!«

»Wenn ich es richtig verstehe, Herr Kommandeur, vertreten die D’regs folgenden Standpunkt: Es ist sinnlos, von einem Anführer Befehle entgegenzunehmen, der sich einfach überwältigen läßt. Es scheint eine typisch klatschianische Denkweise zu sein.«

Mumm versuchte sich einzureden, daß Karottes Stimme keinen Hauch von Sarkasmus enthielt, als er fortfuhr: »Um ganz ehrlich zu sein, Herr Kommandeur: Die D’regs sind nicht sehr an Anführern interessiert. Sie sehen in ihnen nur eine Art Ornament, jemanden, dessen Aufgabe darin besteht, ›Zum Angriff‹ zu rufen.«

»Ein Anführer muß sich auch um andere Dinge kümmern, Karotte.«

»Die D’regs glauben offenbar, daß mit ›Zum Angriff!‹ alles erledigt ist, Herr Kommandeur.«

Mumm stand auf. Seltsame Muskeln schmerzten in seinen Beinen.

»Ich stütze dich«, bot sich Karotte an und bewahrte Mumm vor einem Sturz.

Die Sonne ging unter. Einfache Zelte standen am Fuß einer Düne, und Lagerfeuer brannten. Irgendwo lachte jemand. Es sah nicht nach einem Gefängnis aus. Aber vermutlich war die Wüste besser als vergitterte Türen und Fenster. Mumm wußte nicht einmal, in welche Richtung er fliehen sollte, ob mit Füßen oder ohne.

»Die D’regs sind wie alle Klatschianer sehr gastfreundlich«, sagte Karotte. Es klang, als hätte er es auswendig gelernt. »Sie nehmen die Gastfreundschaft sehr, sehr ernst.«

Die Krieger saßen am Feuer. Ebenso die Wächter. Offenbar hatte man sie dazu überredet, sich angemessener zu kleiden. Grinsi sah aus wie ein Mädchen im Kleid ihrer Mutter, abgesehen von ihrem Helm, und Reg Schuh schien sich in eine Mumie verwandelt zu haben. Detritus wirkte wie ein kleiner schneebedeckter Berg.

»Die Hitze hat ihn fast völlig um den…äh… Verstand gebracht«, flüsterte Karotte. »Und da drüben diskutiert Obergefreiter Besuch über Religion. Auf dem klatschianischen Kontinent gibt es sechshundertdreiundfünfzig Religionen.«

»Da hat er bestimmt viel Spaß.«

»Und dies ist Jabbar«, fügte Karotte hinzu. Beweisstück A – eine etwas ältere Version von 71-Stunden-Ahmed – stand auf, wandte sich an Mumm und salamte.

»Offendi«, sagte er.

»Er ist der…«, begann Karotte und zögerte kurz. »Nun, man könnte ihn als den offiziellen Weisen bezeichnen.«

»Er ist also nicht derjenige, der die anderen zum Angriff auffordert?« fragte Mumm. In der Hitze brummte ihm der Schädel.

»Nein«, erwiderte Karotte. »Dafür ist der Anführer zuständig. Wenn es einen gibt.«

»Sagt Jabbar den anderen, wann ein Angriff klug ist?« erkundigte sich Mumm.

»Ein Angriff ist immer klug, Offendi«, sagte Jabbar. Er verbeugte sich erneut. »Mein Zelt ist dein Zelt«, verkündete er.

»Ist es das?« entgegnete Mumm.

»Meine Frauen sind deine Frauen…«

Mumm riß erschrocken die Augen auf. »Sind sie das? Wirklich?«

»Mein Essen ist dein Essen…«, fuhr Jabbar fort.

Mumm sah zu den Tellern am Feuer. Der Hauptgang schien aus dem Fleisch eines Schafs oder einer Ziege bestanden zu haben. Jabbar bückte sich, griff nach etwas und bot es ihm an.

Samuel Mumm betrachtete das Essen. Es erwiderte seinen Blick.

»Ein echter Leckerbissen«, sagte Jabbar und gab sehr anschauliche saugende Geräusche von sich. Er fügte etwas auf Klatschianisch hinzu, und die anderen Männer am Feuer lachten leise.

»Sieht nach einem Schafsauge aus«, sagte Mumm skeptisch.

»Ja, Herr«, bestätigte Karotte. »Es wäre unklug, das Angebot…«

»Weißt du, was?« fuhr Mumm fort. »Ich glaube, dies ist ein kleines Spiel namens ›Mal sehen, was der Offendi zu essen bereit ist‹. Und dies hier esse ich nicht, mein Freund.«

Jabbar bedachte ihn mit einem anerkennenden Blick.

Das Kichern verstummte.

»Es ist also wahr, daß du weiter sehen kannst als andere«, stellte er fest.

»Was auch für diesen ›Leckerbissen‹ gilt«, sagte Mumm. »Mein Vater hat mich aufgefordert, nie etwas zu essen, das zwinkern kann.«

Es folgte ein Alles-hängt-an-einem-seidenen-Faden-Augenblick – schallendes Gelächter war ebenso möglich wie plötzlicher Tod.

Dann klopfte Jabbar Mumm auf den Rücken. Das Auge flog aus seiner Hand und verschwand in den Schatten.

»Ausgezeichnet! Wirklich gut! Zum erstenmal seit zwanzig Jahren hat es nicht funktioniert! Setz dich jetzt und genieß eine Mahlzeit aus Reis und Schafsfleisch, so wie bei Muttern!«

Die Anspannung verflüchtigte sich, und eine Hand zog Mumm nach unten. Hinterteile rückten beiseite, um Platz für ein weiteres zu schaffen. Wenige Sekunden später reichte man Mumm einen Teller, auf dem ein großes Stück Brot mit Fleisch lag. Er untersuchte das Durcheinander so höflich, wie er konnte, und erinnerte sich dann an das Prinzip: Wenn man die Hälfte erkennen kann, dürfte es in Ordnung gehen, auch den Rest zu essen.

»Wir sind also eure Gefangenen, Jabbar?«

»Ihr seid Ehrengäste! Mein Zelt ist…«

»Aber… wie soll ich es ausdrücken? Ihr möchtet, daß wir eure Gastfreundschaft eine Zeitlang genießen?«

»Wir haben Tradition«, sagte Jabbar. »Ein Mann, der Gast ist in deinem Zelt, selbst wenn es sich um den schlimmsten Feind handelt – man verschuldet ihm drei Tage lang Gastfreundschaft.«

»Verschuldet, wie?« fragte Mumm.

»Ich habe Sprache gelernt auf…« Jabbar winkte vage. »Du weißt schon, Ding aus Holz, Kamel fürs Meer…«

»Schiff?«

»Ja! Aber zu viel Wasser!« Er klopfte Mumm erneut auf den Rücken, so heftig, daß ihm heißes Fett auf den Schoß spritzte. »Auf jeder Straße viel gesprochen wird Morporkianisch heutzutage, Offendi. Es ist… Kaufmannssprache.« Er betonte das letzte Wort so, als sei es ein Synonym für »Gewürm«.

»Du weißt also, wie man zum Beispiel fragt: ›Seid ihr bereit, uns euer Geld zu geben?‹«, meinte Mumm.

»Warum solche Fragen stellen?« erwiderte Jabbar. »Wir nehmen es einfach. Aber jetzt…« Er spuckte erstaunlich zielsicher ins Feuer. »Es heißt, wir müssen aufhören. Weil es falsch ist. Aber welchen Schaden richten wir an?«

»Abgesehen davon, Leute zu töten und sie zu berauben?« warf Mumm ein.

Jabbar lachte. »Wali dich bezeichnete als großen Diplomaten! Aber wir bringen keine Kaufleute um. Warum wir Kaufmannsleute umbringen sollten? Was hat das für einen Sinn? Wie dumm, das Pferd zu töten, das goldene Eier legt!«

»Man könnte eine Menge Geld damit verdienen, ein solches Geschöpf den Leuten zu zeigen«, sagte Mumm.

»Wenn wir Kaufleute töten oder sie zu sehr berauben… dann sie kehren nie zurück. So etwas ist dumm. Wir lassen sie gehen, und dadurch sie Gelegenheit bekommen, wieder reich zu werden. Dann unsere Söhne sie können berauben. So etwas ist weise.«

»Ah, ich verstehe«, sagte Mumm. »Eine Art Landwirtschaft.«

»Ja! Aber wenn man Kaufleute pflanzt, wachsen sie nicht so gut.«

Mumm spürte, daß es kühler wurde, als die Sonne unterging. Es wurde nicht nur kühler, sondern kälter. Er rückte näher ans Feuer.

»Warum heißt er 71-Stunden-Ahmed?« fragte er.

Das Murmeln der Gespräche verklang. Alle Augen blickten zu Jabbar, abgesehen von dem einen, das in den Schatten verschwunden war.

»Das ist nicht sehr diplomatisch«, kommentierte Jabbar.

»Wir haben ihn hierher verfolgt, und plötzlich werden wir von euch angegriffen. Mir scheint…«

»Ich weiß nichts«, sagte Jabbar.

»Warum denn nicht?« fragte Mumm.

»Äh… Herr Kommandeur…« Karottes Stimme klang drängend. »Es wäre unklug, auf einer Erörterung dieses Themas zu bestehen. Ich habe mich mit Jabbar unterhalten, während du… dich ausgeruht hast. Ich fürchte, es handelt sich um eine politische Sache.«

»Seit einiger Zeit scheint alles Politik zu sein.«

»Weißt du, Prinz Cadram versucht, ganz Klatsch zu vereinen.«

»Er will das Land selbst dann ins Jahrhundert des Flughunds bringen, wenn es schreit und um sich tritt?«

»Nun… äh… ja, Herr Kommandeur. Woher wußtest du…«

»Oh, ich hab nur geraten. Fahre fort.«

»Aber Cadram ist auf Schwierigkeiten gestoßen«, sagte Karotte.

»Was meinst du damit?« fragte Mumm.

»Uns«, erklärte Jabbar stolz.

»Die Stämme halten nicht viel von der Idee, Herr Kommandeur«, führte Karotte aus. »Sie haben sich immer gegenseitig bekämpft, und jetzt kämpfen die meisten von ihnen gegen den Prinzen. Historisch gesehen ist Klatsch kein Reich, sondern ein langer Streit.«

»Er sagt, ihr müßt gebildet sein«, sagte Jabbar. »Ihr müßt lernen, Steuern zu bezahlen. Wir möchten nicht für Steuern gebildet sein.«

»Ihr glaubt also, für eure Freiheit zu kämpfen?« fragte Mumm.

Jabbar zögerte und sah Karotte an. Nach einem kurzen Wortwechsel auf Klatschianisch sagte Karotte: »Das ist eine ziemlich schwierige Frage für einen D’reg, Herr Kommandeur. Sie verwenden für ›Freiheit‹ und ›Kampf‹ das gleiche Wort.«

»Offenbar muß ihre Sprache viel Arbeit leisten.«

In der Kühle fühlte sich Mumm besser. Er holte ein zerknittertes und feuchtes Päckchen mit Zigarren hervor, zog eine Kohle aus dem Feuer, zündete die Zigarre daran an und nahm einen tiefen Zug.

»Nun, Prinz Nett hat also viele Probleme daheim, wie? Weiß Vetinari davon?«

»Läßt ein Kamel in der Wüste Kot fallen, Herr Kommandeur?«

»Du scheinst selbst die feinsten Nuancen des Klatschianischen zu verstehen, Hauptmann«, sagte Mumm.

Jabbar murmelte etwas, und die anderen D’regs am Feuer lachten.

»Äh… Jabbar sagt, daß ein Kamel tatsächlich Kot in der Wüste fallen läßt, Herr Kommandeur. Andernfalls gäbe es nichts, womit du deine Zigarre anzünden könntest.«

Mumm hatte erneut das Gefühl, aufmerksam beobachtet zu werden. Diplomatisch sein. Dazu hatte ihn Vetinari aufgefordert.

Er nahm noch einen tiefen Zug. »Verbessert den Geschmack«, sagte er. »Erinnere mich daran, daß ich etwas von dem Zeug mitnehme.«

In Jabbars Augen hoben mindestens zwei Preisrichter widerstrebend eine 8.

»Ein Mann auf einem Pferd kam und meinte, wir müßten gegen die ausländischen Hunde kämpfen…«

»Damit sind wir gemeint«, erläuterte Karotte.

»… weil ihr eine Insel gestohlen habt, die sich unter dem Meer befand. Aber was betrifft das uns? Wir nichts haben gegen euch ausländische Teufel, und wir verabscheuen Männer, die ihre Bärte in Al-Khali ölen. Deshalb wir haben den Reiter zurückgeschickt.«

»In einem Stück?« fragte Mumm.

»Wir sind keine Barbaren. Ganz offensichtlich er war verrückt. Aber wir haben sein Pferd behalten.«

»Und 71-Stunden-Ahmed hat euch aufgefordert, uns zu behalten, stimmt’s?«

»Niemand gibt den D’regs Befehle! Es ist unser Wunsch, euch bei uns zu behalten!«

»Und wann ist es euer Wunsch, uns gehen zu lassen? Wenn ihr einen entsprechenden Hinweis von Ahmed bekommt?«

Jabbar starrte ins Feuer. »Ich will nicht über ihn sprechen. Er ist hinterhältig und durch und durch verschlagen. Man kann ihm nicht trauen.«

»Aber ihr seid ebenfalls D’regs.«

»Ja!« Jabbar klopfte Mumm einmal mehr auf den Rücken. »Wir wissen, wovon wir reden!«

 

Nur noch ein oder zwei Meilen trennten das klatschianische Fischerboot vom Hafen, als der Kapitän den Eindruck gewann, daß es schneller wurde. Vielleicht sind die Entenmuscheln abgefallen, dachte er.

Als sich sein Boot im Dunst des Abends verlor, kam ein krummes Rohr aus dem Wasser und drehte sich quietschend, bis es zur Küste zeigte.

Eine ferne, blecherne Stimme sagte: »O nein…«

Und eine andere blecherne Stimme fragte: »Was ist denn, Feldwebel?«

»Sieh’s dir selbst an!«

»Na schön.«

Einige Sekunden war es still.

Dann sagte die zweite blecherne Stimme: »Verdammter Mist…«

Vor der Stadt Al-Khali lag keine gewöhnliche Flotte vor Anker. Es handelte sich vielmehr um eine Flotte, die aus mehreren Flotten bestand. Die Masten sahen aus wie ein schwimmender Wald.

Im Boot blickte auch Lord Vetinari durch das Sehrohr.

»So viele Schiffe«, sagte er. »Und in so kurzer Zeit. Sie sind gut organisiert. Ja, sie sind gut organisiert. Man könnte sogar sagen, daß sie erstaunlich gut organisiert sind. Wie heißt es so schön? ›Wenn man den Krieg will, sollte man sich auf den Krieg vorbereiten.‹«

»Ich glaube, es heißt: ›Wer den Frieden will, sollte für den Krieg bereit sein‹, Exzellenz«, sagte Leonard.

Vetinari neigte den Kopf zur Seite, und seine Lippen bewegten sich, als er die Worte lautlos wiederholte. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, ich glaube, das ergibt keinen Sinn.«

Er nahm wieder Platz.

»Laßt uns die Fahrt vorsichtig fortsetzen«, sagte er. »Wir können im Schutz der Dunkelheit an Land gehen.«

»Äh… wie wär’s, wenn wir im Schutz von etwas, das schützt, an Land gehen?« schlug Feldwebel Colon vor.

»Eigentlich erleichtern die vielen Schiffe die Ausführung unseres Plans«, meinte der Patrizier, ohne dem Feldwebel Beachtung zu schenken.

»Unseres Plans?« wiederholte Colon.

»Es leben viele verschiedene Völker in der klatschianischen Hegemonie.« Vetinari sah zu Nobby. »Es sind praktisch alle erdenklichen Formen und Farben vertreten. Unser Erscheinen auf den Straßen sollte also keine besondere Aufmerksamkeit erregen.« Sein Blick kehrte zu Nobby zurück. »Zumindest keine übermäßige.«

»Aber wir sind in Uniform, Herr«, wandte Feldwebel Colon ein. »Und wir können wohl kaum behaupten, daß wir zu einem Kostümfest unterwegs sind.«

»Meine Uniform ziehe ich nicht aus«, sagte Nobby fest. »Ich laufe auf keinen Fall in der Unterhose herum. Nicht in einem Hafen. Seeleute sind lange Zeit auf dem Meer unterwegs. Man hört Geschichten.«

»Ohne Uniform wäre alles noch schlimmer«, sagte Colon und vergeudete keine Zeit mit der Frage, wie lange Seeleute auf dem Meer unterwegs sein mußten, bevor sie einen Nobby in Unterhose für etwas anderes hielten als ein Ziel. »Weil man uns dann für Spione hielte. Und du weißt ja, was man mit Spionen anstellt.«

»Nein, ich weiß es nicht, Feldwebel«, erwiderte Nobby.

»Ich bitte um Entschuldigung, Euer Exzellenz«, sagte Colon und hob dabei die Stimme. Der Patrizier sah von seinem Gespräch mit Leonard auf.

»Ja, Feldwebel?«

»Was macht man in Klatsch mit Spionen, Herr?«

»Äh… mal sehen…«, sagte Leonard. »Ah, ja… Ich glaube, man übergibt sie den Frauen.«

Nobbys Miene erhellte sich. »Oh, das klingt gar nicht so übel…«

»… ich habe nämlich die Bilder in dem Buch Die parfümierte Zuwendung gesehen, das Korporal Angua gelesen hat, und…«

»Nein, jetzt hör mal, Nobby, das hast du falsch verstanden…«

»… ich meine, lieber Himmel, ich wußte gar nicht, was…«

»Hör mir zu, Nobby…«

»… und ein anderes Bild zeigte die Frauen, wie sie…«

»Korporal Nobbs!« rief Colon.

»Ja, Feldwebel?«

Colon beugte sich vor und flüsterte Nobby etwas ins Ohr. Der Gesichtsausdruck des Korporals veränderte sich langsam.

»Die Frauen…«

»Ja, Nobby.«

»Ich meine, so was passiert wirklich

»Ja, Nobby.«

»Zu Hause nicht.«

»Wir sind nicht zu Hause, Nobby. Leider.«

»Obwohl man den Schmerzlichen Schwestern manche Dinge nachsagt, Feldwebel.«

»Meine Herren…«, ließ sich Lord Vetinari vernehmen. »Ich glaube, Leonard hat da ein wenig übertrieben. Vielleicht trifft es auf einige Bergstämme zu, aber Klatsch ist eine alte Zivilisation, und solche Dinge finden nicht offiziell statt. Vermutlich gibt man einem Spion eine Zigarette.«

»Eine Zigarette?« fragte Colon.

»Ja, Feldwebel. Und eine hübsche sonnige Mauer, vor der er stehen kann.«

Colon dachte darüber nach. »Eine Zigarette und eine Mauer, an der man lehnen kann?« vergewisserte er sich.

»Den Klatschianern dürfte es lieber sein, wenn man gerade davor steht, Feldwebel.«

»Verstehe. Man braucht nicht gleich schlampig zu werden, nur weil man ein Gefangener ist. Na schön. Unter solchen Bedingungen bin ich bereit, ein Risiko einzugehen.«

»Ausgezeichnet«, lobte der Patrizier. »Sag mal, Feldwebel… ist während deiner militärischen Laufbahn niemand auf den Gedanken gekommen, dich zum Offizier zu befördern?«

»Nein, Herr!«

»Ich frage mich, was der Grund dafür sein mag.«

 

Nacht strömte über die Wüste. Sie kam ganz plötzlich, in Purpur. In der klaren Luft schienen sich die Sterne aus dem Himmel zu bohren, was den nachdenklichen Beobachter daran erinnerte, daß Religionen in Wüsten und an hohen Orten entstanden. Wenn Menschen nichts als grenzenlose Leere über sich sehen, verspüren sie den dringenden Wunsch, das Nichts zu füllen.

Leben kroch aus Ritzen und Spalten. Innerhalb kurzer Zeit wich die Stille der Wüste dem Summen, Klicken und Kreischen von Geschöpfen, denen es an der überlegenen Intelligenz des Menschen mangelte. Sie suchten niemanden, dem sie die Schuld geben konnten, hielten lieber nach jemandem Ausschau, der sich fressen ließ.

Etwa um drei Uhr in der Nacht trat Mumm vor das Zelt, um zu rauchen. Es war eiskalt. Das durfte in Wüsten doch eigentlich nicht passieren, oder? Mit Wüsten verband man Hitze und Kamele und… und… Mumm rang mit dem Unbekannten wie jemand, dessen geographisches Wissen ausgesprochen lückenhaft wurde, sobald er die gepflasterte Straße verließ. Kamele und… ja, Datteln. Und vielleicht auch Bananen und Kokosnüsse. Aber hier war es so kalt, daß der Atem kondensierte.

Er winkte mit dem Zigarrenpäckchen theatralisch dem D’reg zu, der unweit des Zeltes saß. Der Krieger zuckte mit den Schultern.

Vom Feuer war nur noch ein grauer Haufen übrig. Mumm stocherte darin herum, in der Hoffung, einen letzten Rest glühender Asche zu finden.

Er staunte über das Ausmaß des in ihm brodelnden Zorns. Ahmed war der Schlüssel – das wußte er. Und jetzt saßen sie hier in der Wüste fest, und niemand wußte, wo Ahmed steckte, und sie befanden sich in der Gewalt von… eigentlich ganz netten Leuten, zugegeben. Es mochten Räuber und Banditen sein, das Äquivalent von Piraten auf dem trockenen Land. Doch Karotte hätte sie bestimmt als sympathische Burschen bezeichnet. Wenn sie sich damit zufriedengaben, ihre Gäste zu sein, war alles in Butter, oder in Schafsaugen mit Sirup, oder was auch immer…

Etwas bewegte sich im Mondschein. Ein Schatten huschte über den Hang einer Düne.

Etwas heulte in der Wüstennacht.

Mumm spürte, wie sich seine Haare an Nacken und Rücken aufrichteten, so wie es auch bei seinen Vorfahren der Fall gewesen war.

Die Nacht ist immer alt. Er war zu oft zu später Stunde durch die dunklen Straßen gewandert und hatte dabei gespürt, wie sich die Nacht um ihn herum dehnte. In seinem Blut wußte er: Tage, Könige und Reiche kommen und gehen, doch die Nacht ist immer gleich, äonentief. Schrecken entfaltete sich in samtener Schwärze – die Art der Krallen mag sich ändern, die Art des Geschöpfes aber nicht.

Mumm stand lautlos auf und griff nach seinem Schwert.

Es war nicht da.

Die Klatschianer hatten es ihm weggenommen. Sie…

»Eine angenehme Nacht«, erklang eine Stimme neben ihm.

Jabbar stand an seiner Seite.

»Wer ist dort draußen?« flüsterte Mumm.

»Ein Feind.«

»Welcher?«

Weiße Zähne glänzten kurz in der Dunkelheit.

»Das finden wir bald heraus, Offendi.«

»Warum sollte jetzt jemand angreifen?«

»Vielleicht glaubt der Feind, wir hätten etwas, das er haben will, Offendi.«

Mehr Schatten glitten durch die Wüste.

Einer ragte hinter Jabbar auf, griff nach unten und hob ihn hoch. Eine große graue Hand nahm ihm das Schwert ab.

»Was soll ich mit ihm machen, Herr Mumm?«

»Detritus?«

Der Troll salutierte mit der Hand, die den D’reg hielt.

»Gesund und munter, Herr!«

»Aber…« Plötzlich verstand Mumm. »Es ist kalt! Dein Gehirn funktioniert wieder?«

»Besser als vorher, Herr.«

»Ist das ein Dschinn?« fragte Jabbar.

»Ich weiß nicht, aber ich könnte jetzt einen vertragen«, erwiderte Mumm. Er fand endlich ein Streichholz in seiner Hosentasche. »Setz ihn ab, Feldwebel«, sagte er und zündete sich eine Zigarre an. »Jabbar, das ist Feldwebel Detritus. Er könnte dir jeden Knochen im Leib brechen, auch die kleinen in den Fingern, die normalerweise…«

Es zischte in der Dunkelheit, und etwas sauste dicht an Mumms Nacken vorbei. Einen Sekundenbruchteil später prallte Jabbar gegen ihn und stieß ihn zu Boden.

»Sie schießen auf das Licht!«

»Mwwf?«

Mumm hob vorsichtig den Kopf, spuckte Sand und Tabakreste.

»Herr Mumm?«

Nur Karotte flüsterte auf diese Weise. Er verband Flüstern mit Heimlichkeit und Lüge, und sein Kompromiß bestand darin, laut zu flüstern. Mumm beobachtete entsetzt, wie der Hauptmann mit einer kleinen Lampe hinter einem Zelt hervortrat.

»Stell das verdammte Ding…«

Er hatte keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. Irgendwo in der Nacht schrie ein Mann. Es war ein schriller Schrei, der abrupt abbrach.

»Ah«, sagte Karotte, ging neben Mumm in die Hocke und blies die Lampe aus. »Das dürfte Angua gewesen sein.«

»Aber es klang… Oh. Ja, ich verstehe, was du meinst«, erwiderte Mumm voller Unbehagen. »Sie ist also dort draußen.«

»Ich habe sie schon vor einer ganzen Weile gehört. Wahrscheinlich hat sie viel Spaß. In Ankh-Morpork hat sie nicht viele Chancen, sich richtig auszutoben.«

»Äh… nein…« Mumm dachte an einen Werwolf, der sich austobte. Aber Angua würde doch nicht…

»Ihr beiden…äh… kommt ihr gut miteinander zurecht?« fragte Mumm und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.

»Oh, ja. Bestens.«

Es beunruhigt dich also nicht, daß sich Angua immer wieder in einen Wolf verwandelt? Mumm brachte es nicht fertig, diese Frage zu stellen.

»Es gibt überhaupt keine… Probleme?«

»Nein, eigentlich nicht, Herr Kommandeur. Angua kauft ihren eigenen Hundekuchen, und sie hat ihre Klappe in der Tür. Bei Vollmond werde ich kaum an den Ereignissen beteiligt.«

Laute Stimmen erklangen in der Nacht, und dann raste eine Gestalt aus der Dunkelheit heran. Sie jagte an Mumm vorbei und verschwand in einem Zelt, ohne nach einem Eingang zu suchen. Sie prallte mit voller Geschwindigkeit auf das Tuch und setzte den Weg fort, bis das ganze Zelt um sie herum einstürzte.

»Und was war das?« fragte Jabbar.

»Die Erklärung könnte recht lange dauern«, sagte Mumm und stand auf.

Karotte und Detritus zogen bereits an den Planen des Zelts.

»Wir sind D’regs«, sagte Jabbar vorwurfsvoll. »Die Tradition verlangt von uns, daß wir unsere Zelte leise abbauen, nicht auf eine solche Weise…«

Der Mond schien hell genug. Angua setzte sich auf und zog Karotte ein Stück Zelt aus der Hand.

»Herzlichen Dank«, sagte sie und hüllte sich in den Fetzen. »Bevor jemand fragt: Ich habe ihn nur in den Hintern gebissen. Ziemlich fest. Und das war keineswegs angenehm, glaubt mir.«

Jabbar spähte in die Wüste und blickte dann auf Angua hinab. Mumm sah, wie er nachdachte, und er legte ihm einen brüderlichen Arm um die Schultern.

»Ich sollte dir besser erklären…«, begann er.

»Dort draußen befinden sich zweihundert Soldaten!« stieß Angua hervor.

»Verschieben wir die Erklärungen auf später«, sagte Mumm.

»Sie gehen überall um dieses Lager herum in Stellung! Und sie sehen nicht sehr freundlich aus! Hat jemand passende Kleidung für mich? Und etwas zu essen? Und etwas zu trinken? Hier gibt es überhaupt kein Wasser!«

»Bestimmt wagen sie es nicht, vor dem Morgengrauen anzugreifen«, meinte Jabbar.

»Was hast du vor?« fragte Karotte.

»Wir greifen bei Morgengrauen an!«

»Ah. Nun… äh… wenn ich dir vielleicht eine Alternative vorschlagen dürfte…«

»Eine Alternative? Es ist richtig, bei Morgengrauen anzugreifen! Das Morgengrauen ist praktisch für den Angriff geschaffen

Karotte wandte sich an Mumm und salutierte. »Ich habe das Buch gelesen, Herr Kommandeur. Während du… geschlafen hast. Taktikus geht ziemlich ausführlich auf Situationen ein, in denen eine kleine Streitmacht einer viel größeren gegenübersteht. Wir könnten jetzt angreifen.«

»Aber es ist dunkel.«

»Für den Feind ebenfalls, Herr Kommandeur.«

»Ich meine, es ist zappenduster! Man kann nicht einmal sehen, gegen wen man kämpft! Die meiste Zeit würde man auf die eigenen Leute einschlagen!«

»Wir nicht, Herr Kommandeur. Weil wir nur wenige sind. Wir brauchen uns nur zum Feind zu schleichen und dort ein wenig Radau zu machen. Anschließend überlassen wir ihn sich selbst. Taktikus meint, in der Nacht seien alle Heere gleich groß.«

»Da hat er gar nicht mal so unrecht«, sagte Angua. »Die Leute kriechen einzeln oder zu zweit umher, und sie sind ebenso gekleidet wie…« Sie deutete auf Jabbar.

»Das ist Jabbar«, stellte Karotte vor. »Er ist gewissermaßen nicht der Anführer.«

Jabbar lächelte nervös. »Geschieht es oft in eurer Heimat, daß sich Hunde verwandeln in nackte Frauen?«

»Manchmal vergehen Tage, ohne daß so etwas passiert«, erwiderte Angua scharf. »Wenn mir jetzt bitte jemand Kleidung geben würde… und ein Schwert, falls es zum Kampf kommt.«

»Äh… ich glaube, Klatschianer haben sehr besondere Vorstellungen, was kämpfende Frauen angeht…«, begann Karotte.

»Ja!« sagte Jabbar. »Wir erwarten von ihnen, daß sie gut zu kämpfen verstehen, Blauauge! Wir sind D’regs!«

 

Das Boot tauchte im schmutzigen Wasser unter einem Pier auf. Langsam öffnete sich die Luke.

»Hier riecht’s wie zu Hause«, sagte Nobby.

»Man kann dem Wasser nicht trauen«, erwiderte Feldwebel Colon.

»Ich traue dem Wasser daheim nicht, Feldwebel.«

Es gelang Fred Colon, an dem schmierigen Holz Halt zu finden. Rein theoretisch begann nun ein sehr heldenhaftes Unternehmen. Er und Nobby Nobbs, die kühnen Krieger, stießen wagemutig ins Territorium des Feindes vor. Leider wußte Colon, daß sie sich nur deshalb auf so etwas einließen, weil Lord Vetinari im Boot saß und auf sehr eindeutige Weise die Brauen heben würde, wenn sie sich weigerten.

Colon hatte immer angenommen, daß Helden über einen besonderen inneren Antrieb verfügten, der sie kühn aufbrechen ließ, um für Gott, Vaterland und Apfelkuchen – beziehungsweise für eine andere Spezialität aus dem kulinarischen Repertoire der Mutter – zu sterben. Ihm wäre nie in den Sinn gekommen, daß sich Helden so verhielten, weil man sie ausschimpfte, wenn sie Furcht zeigten.

Colon griff nach unten.

»Komm hoch, Nobby«, sagte er. »Und denk daran: Wir tun dies für die Götter, Ankh-Morpork und…« Colon war der Ansicht, daß eine leckere Spezialität durchaus dazugehörte. »Und für das berühmte Hachsenbrötchen meiner Mutter!«

»Meine Mutter hat uns nie Hachsenbrötchen probieren lassen«, erwiderte Nobby, als er sich auf die Planken zog. »Aber du würdest staunen, was sie mit einem Stück Käse anstellen konnte…«

»Ja, mag sein, aber das eignet sich nicht unbedingt für einen Schlachtruf. ›Für die Götter, Ankh-Morpork und ein erstaunliches Etwas, das Nobbys Mutter mit einem Stück Käse anstellen konnte‹? O ja, damit säen wir Furcht in den Herzen unserer Feinde!« sagte Colon.

»Nun, wenn es darum geht, Furcht zu verbreiten…«, entgegnete Nobby. »Dafür wäre der ›Verzweifelte Pudding‹ meiner Mutter bestens geeignet. Mit Vanillesoße.«

»War er so schlimm?«

»Noch schlimmer, Feldwebel.«

Die Docks von Al-Khali sahen wie beliebige Docks aus, und zwar aus gutem Grund. Ganz gleich, wo solche Hafenanlagen errichtet werden: Sie dienen überall dem gleichen Zweck. Schiffe müssen be- und entladen werden, und es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Methoden, dies zu bewerkstelligen. Deshalb sehen alle Docks gleich aus. Manche sind heißer, andere feuchter, aber überall liegen Haufen von Dingen, die einen halb vergessenen Eindruck erwecken.

In der Ferne glühten die Lichter der Stadt, die nichts von der Invasion feindlicher Streitkräfte ahnte.

»›Besorgt uns Kleidung, mit der wir nicht auffallen‹«, brummte Colon. »Leicht gesagt.«

»Es ist nicht nur leicht gesagt, sondern auch leicht getan«, behauptete Nobby. »Ein Kinderspiel. Jeder weiß, wie man dabei vorgeht. Man versteckt sich in einer dunklen Gasse und wartet auf zwei geeignete Burschen, die man dann näher lockt, um ihnen eins über die Rübe zu geben, ja, und kurze Zeit später trägt man ihre Sachen.«

»Und das funktioniert?«

»Es klappt immer, Feldwebel«, sagte Nobby voller Zuversicht.

 

Im Mondschein wirkte die Wüste wie Schnee.

Mit der Taktikus-Methode des Kämpfens kam Mumm gut zurecht. Auf diese Weise gingen Polizisten vor. Ein richtiger Polizist bezog nicht zusammen mit anderen Polizisten Aufstellung, um dann anzugreifen. Ein richtiger Polizist ging auf leisen Sohlen, lauerte im Schatten und wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Anders ausgedrückt: Er geduldete sich, bis der Verbrecher das Verbrechen begangen hatte und die Beute wegschleppte. Welchen Sinn hatte es, früher aktiv zu werden? Man mußte realistisch bleiben. »Wir haben den Täter« klang weitaus besser als »Wir haben den Burschen, der die Tat verüben wollte« – erst recht dann, wenn jemand Beweise verlangte.

Irgendwo auf der linken Seite schrie jemand in der Ferne.

Nur die Kleidung weckte ein wenig Unbehagen in Mumm. Er hatte das Gefühl, mit einem Nachthemd in den Kampf zu ziehen.

Er war ganz und gar nicht sicher, ob er jemanden töten konnte, der nicht seinerseits versuchte, ihn umzubringen. Eigentlich mußte er davon ausgehen, daß ihm jeder bewaffnete Klatschianer nach dem Leben trachtete. So war das eben im Krieg. Aber…

Er hob den Kopf über den Rand einer Düne. Ein Klatschianer blickte in die andere Richtung. Mumm kroch…

»Bimmel-bimmel-bamm! Dies ist der auf sieben Uhr morgens programmierte Weckruf. Hier Namen einfügen! Ich hoffe…«

»Häh?«

»Verdammt!«

Mumm reagierte zuerst und hieb dem anderen Mann die Faust auf die Nase. Er sah keinen Sinn darin, zu warten und festzustellen, welche Wirkung er damit erzielte. Von einem Augenblick zum anderen stürzte er sich auf den Gegner, und beide rollten auf die andere Seite der Düne über einen kalten Hang und schlugen dabei auf sich ein.

»… scheinen meine Echtzeitfunktionen ein wenig in Unordnung geraten zu sein…«

Der Klatschianer war kleiner als Mumm. Und auch jünger. Unglücklicherweise – für ihn – schien er zu jung zu sein, um die gemeinen Tricks gelernt zu haben, die man in den Gassen von Ankh-Morpork fürs Überleben brauchte. Mumm hingegen war bereit, alles mit allem zu schlagen. Es kam nur darauf an, den Gegner daran zu hindern, wieder auf die Beine zu kommen. Der Rest war Dekoration.

Am Fuß der Düne blieben sie liegen. Mumm fand sich oben wieder und hörte, wie der Klatschianer stöhnte.

»Aktuelle Aufgaben«, sagte der Disorganizer. »Schmerzen haben.«

Und dann… Vermutlich war es jetzt an der Zeit, eine Kehle durchzuschneiden. Daheim hätte Mumm den Burschen zum nächsten Wachhaus geschleift und in einer Zelle untergebracht, in der sicheren Überzeugung, daß am nächsten Morgen alles viel besser aussah. Doch in der Wüste gab es diese Möglichkeit nicht.

Nein, er konnte nicht einfach so töten. Den Kerl bewußtlos schlagen… Das erfüllte den gleichen Zweck, für eine gewisse Zeit wenigstens.

»Vindaloo! Vindaloo!«

Mumms Faust blieb hoch erhoben.

»Wie bitte?«

»Das bist du, nicht wahr? Herr Mumm? Vindaloo!«

Mumm zog der Gestalt einen breiten Stoffstreifen vom Gesicht.

»Bist du Goriffs Junge?«

»Ich wollte gar nicht hier sein, Herr Mumm!« Es klang verzweifelt.

»Schon gut, schon gut. Von mir hast du nichts zu befürchten.«

Mumm ließ die erhobene Faust sinken, stand auf und zog den Jungen hoch.

»Wir reden später«, brummte er. »Komm mit!«

»Nein, jeder weiß, daß die D’regs keine Gefangenen machen!«

»Nun, ich bin ihr Gefangener, und du genießt jetzt den gleichen Status. Solange du besonders amüsantes Essen meidest, müßte eigentlich alles in Ordnung sein.«

Jemand pfiff in der Dunkelheit.

»Komm, Junge!« zischte Mumm. »Dir droht keine Gefahr! Das heißt, wenn du mitkommst, droht dir weniger Gefahr, als wenn du hierbleibst. Verstehst du?«

Er gab dem Jungen keine Gelegenheit zum Widerspruch und zerrte ihn einfach mit sich. Als er zum Lager der D’regs stapfte, rutschten Gestalten über die Hänge der nahen Dünen.

Einer von ihnen fehlte ein Arm, und ein Schwert hatte ihre Brust durchbohrt.

»Was ist geschehen, Reg?« fragte Mumm.

»Es war ein wenig seltsam, Herr Kommandeur. Der erste Gegner schlug mir den Arm ab und bestand darauf, mir auch noch einen Dolch in den Leib zu bohren. Anschließend schienen mich die anderen zu meiden. Man könnte meinen, sie hätten noch nie gesehen, wie jemand erstochen wurde.«

»Hast du den Arm wiedergefunden?«

Reg winkte damit.

»Auch das ist sonderbar«, fügte er hinzu. »Ich schlug damit nach den Klatschianern, und sie liefen schreiend davon.«

»Deine Art des unbewaffneten Kampfes«, sagte Mumm. »Es dauert eine Weile, bis man sich daran gewöhnt.«

»Hast du jemanden gefangengenommen?«

»In gewisser Weise.« Mumm sah sich um. »Er scheint in Ohnmacht gefallen zu sein. Warum wohl, frage ich mich.«

Reg beugte sich etwas näher. »Diese Ausländer sind eigenartig«, sagte er.

»Reg?«

»Ja?«

»Dein Ohr hängt nach unten.«

»Tatsächlich? Verfluchtes Ding. Man sollte meinen, daß ein Nagel es halten würde.«

 

Feldwebel Colon sah zu den Sternen hinauf. Sie blickten zu ihm herab. Und vielleicht lächelten sie anzüglich.

Neben ihm stöhnte Korporal Nobbs. Wenigstens hatten ihm die Angreifer seine Unterhose gelassen. In einige Bereiche wagen sich nicht einmal die Kühnsten vor, und bei Nobby war das die Zone oberhalb der Knie und unterhalb des Nabels.

Colon stellte sie sich als Angreifer vor. Obwohl sie sich eigentlich verteidigt hatten, mußte er einräumen. Auf sehr aggressive Weise.

»Könntest du bitte noch einmal wiederholen, wie wir vorgehen sollten?« fragte er.

»Nach zwei Burschen mit passender Größe und Gewicht Ausschau halten…«

»Wir haben Ausschau gehalten, ja.«

»Und sie in diese Gasse locken…«

»Wir haben sie in die Gasse gelockt.«

»Ich hole mit diesem Brett aus und treffe rein zufällig dich, und die Burschen werden zornig, enttarnen sich als Diebe und nehmen uns die Kleidung ab.«

»So sollte es eigentlich nicht ablaufen.«

»Nun, es hat grundsätzlich geklappt«, sagte Nobby. Es gelang ihm, auf die Knie zu kommen. »Wir könnten es noch einmal versuchen.«

»Nobby, wir sind hier im Hafenviertel einer fremden Stadt, und du trägst allein dein Unaussprechliches, wenn du mir diesen sehr angemessenen Ausdruck gestattest. Unter solchen Umständen sollten wir besser darauf verzichten, irgendwelche Leute in dunkle Gassen zu locken. Andernfalls könnten wir ins Gerede kommen.«

»Angua hat mehrmals betont, daß Nacktheit überall das Nationalkostüm ist, Feldwebel.«

»Sie meinte dabei sich selbst, Nobby«, sagte Colon und schlich seitwärts durch die Schatten. »Bei dir liegt der Fall anders.«

Er blickte um die Ecke am Ende der Gasse. Lärm und Stimmen kamen aus einem Gebäude, das auf der anderen Straßenseite einen Teil der Wand formte. Zwei beladene Esel warteten geduldig davor.

»Schnapp dir eins der Packtiere und bring es hierher, in Ordnung?«

»Warum ich?«

»Weil du der Korporal bist und ich der Feldwebel. Und weil du mehr anhast als ich.«

Nobby grummelte leise, als er sich auf die schmale Straße wagte und die Leine eines Esels so schnell löste, wie er konnte. Das Tier folgte ihm gehorsam.

Feldwebel Colon zerrte an der Last des Esels. »Wenn’s zum Schlimmsten kommt, tragen wir die Säcke«, sagte er. »He, was ist das denn?«

Er hob einen roten Gegenstand hoch.

»Ein Blumentopf?« spekulierte Nobby.

»Das ist ein Fes! Klatschianer tragen so etwas. Da können wir wirklich von Glück sagen. Und hier ist noch einer. Probier ihn auf, Nobby. Und… dies sieht nach einem Nachthemd aus. Und da ist noch eins von der gleichen Sorte. Unser Problem wäre gelöst, Nobby.«

»Die Dinger sind ein bißchen kurz, Feldwebel.«

»Einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul«, sagte Colon und zwängte sich in das Kostüm. »Na los, setz den Fes auf.«

»Damit sehe ich aus wie ein Narr, Feldwebel.«

»Sieh mal, ich setze meinen auf.«

»So werden aus einem Narren zwei.«

Feldwebel Colon bedachte den Korporal mit einem strengen Blick. »Diese Worte hast du dir vorher zurechtgelegt, stimmt’s?«

»Nein, Feldwebel. Sie sind mir gerade eben eingefallen. Einfach so.«

»Und nenn mich nicht Feldwebel. Das klingt nicht besonders klatschianisch.«

»Das gilt auch für ›Nobby‹, Fel… Entschuldigung.«

»Oh, ich weiß nicht, du könntest dich… Knobi nennen, oder Nhobi, oder Gnobbee… Klingt alles sehr klatschianisch.«

»Und was wäre ein guter klatschianischer Name für dich?« fragte Nobby. »Mir fällt überhaupt keiner ein.«

Feldwebel Colon antwortete nicht. Er spähte erneut um die Ecke.

»Seine Exzellenz meinte, wir sollten keine Zeit vertrödeln«, brummte er.

»Ja, aber im Innern der Büchse ist die Luft ziemlich verbraucht, wenn du verstehst, was ich meine. Was gäbe ich jetzt für…«

Hinter ihnen donnerte es. Sie drehten sich um.

Und sahen drei klatschianische Soldaten. Oder vielleicht Wächter. Die Blicke von Nobby und Feldwebel Colon reichten kaum über ihre Schwerter hinaus.

Der Anführer knurrte eine Frage.

»Was hat er gesagt?« brachte Nobby mit vibrierender Stimme hervor.

»Keine Ahnung!«

»Woher kommt ihr?« fragte der Anführer auf Morporkianisch.

»Was? Oh… äh…« Colon zögerte und wartete auf den stählernen Tod.

»Ha, ja. « Der Wächter ließ sein Schwert sinken und deutete mit dem Daumen in Richtung Docks. »Kehrt zu eurer Gruppe zurück!«

»In Ordnung!« sagte Nobby.

»Wie heißt du?« fragte einer der Wächter.

»Nhobi«, sagte Nobby. Damit schien er keinen Verdacht zu erregen.

»Und du, Dicker?«

Von einem Augenblick zum anderen geriet Colon in Panik. Verzweifelt suchte er nach einem Namen, der klatschianisch klang. Er fand nur einen, der unzweifelhaft klatschianischer Natur war.

»Al«, erwiderte er, und ihm zitterten die Knie.

»Kehrt sofort zurück, wenn ihr keine Schwierigkeiten bekommen wollt!«

Nobby und Colon liefen los und zogen dabei den Esel hinter sich her. Sie blieben erst stehen, als sie den schmierigen Landungssteg erreichten, der sich fast wie zu Hause anfühlte.

»Was hatte das zu bedeuten, Fel… Al?« fragte Nobby. »Die Burschen wollten uns nur ein wenig herumkommandieren! Typisches Verhalten von Wächtern«, fügte er hinzu. »Natürlich nicht von unseren.«

»Ich schätze, wir hatten die richtigen Sachen an…«

»Du hast ihnen nicht einmal gesagt, woher wir kommen! Und sie sprachen unsere Sprache!«

»Nun, sie… Ich meine, jeder sollte eigentlich Morporkianisch sprechen«, sagte Colon und fand allmählich sein geistiges Gleichgewicht wieder. »Selbst kleine Kinder sprechen unsere Sprache. Ich schätze, nachdem man etwas so Kompliziertes wie Klatschianisch gelernt hat, fällt einem Morporkianisch ganz leicht.«

»Was machen wir mit dem Esel, Al?«

»Glaubst du, daß er in die Pedale treten kann?«

»Das bezweifle ich.«

»Dann laß ihn laufen.«

»Bestimmt klaut ihn jemand, Al.«

»Ach, die Klatschianer klauen alles.«

»Ganz im Gegensatz zu uns, nicht wahr, Al?«

Nobby blickte zu dem Mastenwald, der die ganze Bucht füllte.

»Es scheinen noch mehr geworden zu sein«, sagte er. »Man könnte über eine ganze Meile hinweg von Schiff zu Schiff gehen. Was bedeutet das?«

»Das ist doch ganz klar, Nobby. Sie sollen Leute nach Ankh-Morpork bringen!«

»Warum denn? Wir essen doch gar nicht so viel Curry…«

»Eine Invasion, Nobby! Wir sind im Krieg, erinnerst du dich?«

Sie sahen erneut zu den Schiffen. Ankerlichter spiegelten sich auf dem Wasser.

Der Teil des Meeres, der sich direkt unter ihnen befand, blubberte kurz, und dann tauchte das Boot einige Zentimeter auf. Die Luke öffnete sich, und Leonards besorgtes Gesicht erschien.

»Ah, da seid ihr ja«, sagte er. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht…«

Die beiden Wächter kletterten ins stinkende Innere des Bootes.

Lord Vetinari saß mit einem Bündel Papier auf den Knien und schrieb sorgfältig. Er sah kurz auf.

»Bericht.«

Nobby zappelte nervös, als Feldwebel Colon einen mehr oder weniger genauen Bericht erstattete. Er fügte dem kurzen Gespräch mit den klatschianischen Wächtern einige schlagfertige Antworten hinzu, an die sich der Korporal nicht erinnerte.

Vetinari sah nicht noch einmal auf und schrieb weiter. »Feldwebel, Ur ist ein altes Land randwärts vom Königreich Djelibeby, und seine Bewohner gelten als Musterbeispiel für bukolische Dummheit. Aus irgendeinem mir völlig unerfindlichen Grund scheinen die Wächter angenommen zu haben, daß ihr von dort stammt. Was das Morporkianische betrifft… Das ist selbst im klatschianischen Reich eine Art Lingua franca. Wenn jemand aus Herscheba mit jemandem aus Istanzia Geschäfte machen möchte, feilschen sie auf Morporkianisch. Das gereicht uns natürlich zum Vorteil. Die große Streitmacht, die hier zusammengestellt wird, bedeutet folgendes: Praktisch jeder Mann ist für den nächsten ein Fremder mit sonderbaren Angewohnheiten. Wir sollten also nicht auffallen, solange wir uns nicht zu fremdartig verhalten. Damit meine ich, daß wir weder Curry mit Steckrüben und Rosinen noch Winkels Besonders Altes Bier bestellen sollten, habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Äh… was hast du vor, Exzellenz?«

»Zuerst erkunden wir die Lage.«

»Und dann suchen wir das klatschianische Oberkommando. Dort möchte ich mit Leonards Hilfe ein kleines… Paket abliefern, von dem ich hoffe, daß es den Krieg sehr schnell beendet.«

Feldwebel Colon sah den Patrizier groß an. Seit einigen Sekunden führte das Gespräch in eine für ihn sehr verwirrende Richtung.

»Bitte um Entschuldigung, Exzellenz… Du hast gerade das Oberkommando erwähnt.«

»Ja, Feldwebel.«

»Meinst du damit die… Lametta- beziehungsweise Turbanträger, die hohen Tiere, umgeben von den Elitetruppen? Sie umgeben sich immer mit Elitetruppen, die hohen Tiere.«

»Damit rechne ich auch in diesem Fall, ja. Ich hoffe es sogar.«

Feldwebel Colon versuchte erneut, mit der Konversation Schritt zu halten.

»Ah. Gut. Und wir brechen auf und suchen nach dem Oberkommando, Herr?«

»Ich kann es wohl kaum bitten, zu uns zu kommen, Feldwebel.«

»Oh, natürlich nicht, Herr. Ich meine, dann würde es hier viel zu eng.«

Schließlich hob Lord Vetinari doch noch den Kopf.

»Gibt es irgendein Problem, Feldwebel?«

Feldwebel Colon erfuhr ein weiteres Geheimnis der Tapferkeit. Eigentlich handelte es sich dabei um verstärkte Feigheit: Man wußte, daß der Tod vielleicht auf einen wartete, wenn man vorrückte; aber das war nichts im Vergleich zu der sicheren Hölle, die einen nach dem Rückzug empfangen würde.

»Äh… nein, eigentlich nicht, Herr«, sagte er.

»Gut.« Vetinari legte das Papierbündel beiseite. »Wenn der Sack noch mehr geeignete Kleidung enthält, ziehe ich mich jetzt um, und dann sehen wir uns Al-Khali an.«

»Lieber Himmel…«

»Wie bitte, Feldwebel?«

»Ich meine, ich freue mich schon, Herr.«

»Gut.« Vetinari zog gewisse Gegenstände aus dem Sack: die Keulen eines Jongleurs, einen Beutel mit bunten Kugeln und dann ein Plakat von der Art, wie man es an der Seite der Bühne während der Vorstellung eines Artisten erwarten durfte.

»›Gulli, Gulli und Beti‹«, las er. »›Exotische Kunststücke und Tänze.‹ Hm«, fügte er hinzu, »offenbar gehörte auch eine Dame zu den Eigentümern dieses Sacks.«

Die Wächter betrachteten den hauchdünnen Stoff, der als nächster auftauchte. Nobby bekam Stielaugen.

»Was ist das denn?«

»Ich glaube, so etwas bezeichnet man als Haremhose, Korporal.«

»Sie ist ziemlich…«

»Die Kleidung der Bajadere oder exotischen Tänzerin dient nicht in erster Linie dazu, etwas zu enthüllen, sondern soll vielmehr auf eine bevorstehende Enthüllung hinweisen«, erklärte der Patrizier.

Nobby blickte auf das Kostüm hinab, sah dann zu Feldwebel Al-Colon in seinem Kostüm und sagte fröhlich: »Nun, ich weiß nicht, ob dir so etwas stehen wird, Herr.«

Er bereute seine Worte sofort.

»Ich hatte nicht vor, mich damit zu verkleiden«, erwiderte der Patrizier ruhig. »Bitte gib mir deinen Fes, Korporal Beti.«

 

Das subtile und trügerische Licht vor dem eigentlichen Morgengrauen kroch über die Wüste. Der Kommandant des klatschianischen Kontingents freute sich keineswegs darüber.

Die D’regs griffen immer bei Morgengrauen an. Es spielte keine Rolle, wie viele sie waren und wie groß die Anzahl der Feinde sein mochte. Der ganze Stamm griff an, nicht nur die Männer, Frauen und Kinder, sondern auch Kamele, Ziegen, Schafe und Hühner. Man konnte natürlich Vorbereitungen treffen und den Gegner mit Bögen dezimieren, aber… sie erschienen immer ganz plötzlich, wie von der Wüste ausgespuckt. Wenn man zu lange wartete und zu spät reagierte… mußte man damit rechnen, von Schwertern, Schnäbeln, Hufen und Kamelspucke attackiert zu werden.

Die Soldaten lagen bereit. Wenn man sie überhaupt Soldaten nennen konnte. Er hatte ganz deutlich darauf hingewiesen, daß es an erfahrenen Leuten mangelte… Nun, er hatte nicht in dem Sinne darauf hingewiesen – dadurch konnte man in Schwierigkeiten geraten –, es aber wenigstens in aller Deutlichkeit gedacht. Die Hälfte der Truppe bestand aus jungen Burschen, die glaubten, daß man nur schreien und mit dem Schwert winken mußte, um dem Feind einen Schrecken einzujagen und ihn in die Flucht zu schlagen. Sie hatten es nie mit einem D’reg-Huhn zu tun bekommen, das in Augenhöhe heransauste.

Was den Rest anging… Während der Nacht hatten sich die Soldaten gegenseitig aufgelauert, deshalb waren sie jetzt so unruhig wie Erbsen auf einer Trommel. Einer hatte sein Schwert verloren und behauptete, daß er es in der Brust eines Fremden gesehen hatte, der einfach damit fortging. Außerdem sollte ein Felsen aufgestanden sein, um nach Leuten zu greifen und damit andere Leute zu schlagen.

Jetzt stand die Sonne schon ein ganzes Stück über dem Horizont.

»Das Warten ist das Schlimmste«, sagte der neben dem Kommandanten stehende Feldwebel.

»Vielleicht«, erwiderte der Kommandant vorsichtig. »Doch vielleicht ist es das Schlimmste, wenn die D’regs plötzlich erscheinen und dich mit ihren Schwertern in Stücke schneiden.« Kummervoll blickte er über den trügerisch leeren Sand. »Fast ebenso schlimm könnte es sein, wenn ein wahnsinnig gewordenes Schaf versucht, einem die Nase abzubeißen. Wenn man an all die Dinge denkt, die passieren können, wenn man es mit einer Horde heulender D’regs zu tun hat… dann bedauert man sicher, daß das Warten auf sie nicht ein wenig länger gedauert hat.«

Der Feldwebel war auf so etwas nicht vorbereitet. Deshalb sagte er schlicht: »Sie sind spät dran.«

»Gut. Je später, desto besser.«

»Die Sonne ist längst aufgegangen.«

Der Kommandant betrachtete seinen Schatten. Es war Tag, und glücklicherweise machte der Sand bisher keine Anstalten, sein Blut aufzusaugen. Er hatte lange genug verschiedene aufsässige Regionen von Klatsch befriedet und fragte sich jetzt, warum er immer gegen irgendwelche Leute kämpfen mußte, um ihnen Frieden zu bringen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, auf Bemerkungen wie »Die Sache gefällt mir nicht; es ist zu ruhig« zu verzichten. Seiner Ansicht nach konnte es nicht zu ruhig sein.

»Vielleicht haben sie ihr Lager in der Nacht abgebrochen, Herr«, spekulierte der Feldwebel.

»Das sähe den D’regs gar nicht ähnlich. Sie laufen nie davon. Außerdem sehe ich ihre Zelte.«

»Warum greifen wir sie nicht an?«

»Du hast noch nie gegen D’regs gekämpft, oder?«

»Nein, Herr. Allerdings habe ich die Zornigen Savataren in Uhistan befriedet, und sie…«

»Die D’regs sind schlimmer, Feldwebel. Sie befrieden direkt zurück.«

»Ich habe noch nicht erwähnt, wie zornig die Zornigen Savataren waren, Herr.«

»Im Vergleich zu den D’regs können sie höchstens ein wenig verärgert gewesen sein.«

Der Feldwebel sah seine Reputation in Zweifel gezogen.

»Soll ich mit einigen Männern aufbrechen und kundschaften, Herr?«

Der Kommandant sah erneut zur Sonne. Die Luft schien bereits zu kochen.

»Na schön. Gehen wir.«

Die Klatschianer rückten in Richtung Lager vor. Ihre Blicke fixierten die Zelte und die kalte Asche von Lagerfeuern. Von Kamelen und Pferden war weit und breit nichts zu sehen. Eine Spur aus Abdrücken im Sand verschwand zwischen den Dünen.

Die Moral der Truppe hob sich. Einen gefährlichen Feind anzugreifen, der nicht da ist, gehört zu den attraktivsten Formen der Kriegsführung. Immer mutiger betonten die Soldaten, daß die D’regs von Glück sagen konnten, rechtzeitig geflohen zu sein. Sehr phantasievoll ließen sich die Klatschianer darüber aus, was sie mit den D’regs angestellt hätten, wenn ihnen der Gegner in die Hände gefallen wäre…

»Wer ist das?« fragte der Feldwebel.

Eine Gestalt erschien zwischen den Dünen: ein Mann, der mit wehendem weißem Umhang auf einem Kamel ritt.

Er stieg ab, als er die Klatschianer erreichte, und winkte ihnen zu.

»Guten Morgen, meine Herren! Darf ich euch vorschlagen zu kapitulieren?«

»Wer bist du?«

»Hauptmann Karotte, Herr. Wenn ihr nun so freundlich wärt, eure Waffen niederzulegen… Dann kommt niemand zu Schaden.«

Die Landschaft veränderte sich. Punkte erschienen auf den Dünen, und nach einer Weile erkannte der Kommandeur sie als Köpfe.

»Das sind… D’regs, Herr!« stieß der Feldwebel hervor.

»Nein. D’regs würden angreifen.«

»Oh, Entschuldigung«, sagte Karotte. »Soll ich sie zum Angriff auffordern? Wäre euch das lieber?«

Überall auf den Dünen standen D’regs. Das Licht der höher kletternden Sonne ließ scharfe Klingen blitzen.

»Soll das heißen, du kannst die D’regs dazu bringen, nicht anzugreifen?« fragte der Kommandant.

»Es war nicht einfach, aber schließlich haben sie sich an die Vorstellung gewöhnt«, erwiderte Karotte.

Der Kommandant dachte über seine Lage nach. Die D’regs befanden sich praktisch auf allen Seiten, und seine Truppe drängte sich zusammen. Und dieser rothaarige, blauäugige Mann lächelte.

»Was denken sie über die gnädige Behandlung von Gefangenen?« fragte er.

»Ich glaube, sie könnten sich selbst daran gewöhnen. Wenn ich darauf bestehe.«

Der Kommandant sah erneut zu den stummen D’regs.

»Warum?« brachte er hervor. »Warum greifen sie nicht an?«

»Mein Vorgesetzter möchte unnötiges Blutvergießen vermeiden«, erklärte Karotte. »Damit meine ich Kommandeur Mumm. Er sitzt auf der Düne dort drüben.«

»Du kannst bewaffnete D’regs dazu bringen, nicht anzugreifen, und du hast einen Vorgesetzten?«

»Ja, Herr. Er meint, dies sei eine Polizeiaktion.«

Der Kommandant schluckte. »Wir ergeben uns«, sagte er.

»Was, einfach so?« entfuhr es dem Feldwebel. »Ohne Kampf?«

»Ja, Feldwebel. Ohne Kampf. Dieser Mann kann dafür sorgen, daß Wasser bergauf fließt, und er hat einen Vorgesetzten. Mir gefällt die Idee, kampflos aufzugeben. Ich habe zehn Jahre gekämpft und mir immer gewünscht, mich einmal ohne Kampf zu ergeben.«

 

Wasser tropfte von der metallenen Decke des Bootes auf das Papier von Leonard von Quirm. Er wischte es fort. Andere Personen hätten es vielleicht als langweilig empfunden, allein in einer Blechbüchse unter einem namenlosen Landungssteg zu warten, aber in Leonards Vorstellungswelt gab es für Langeweile keinen Platz.

Geistesabwesend skizzierte er ein verbessertes Belüftungssystem.

Er beobachtete seine eigene Hand. Sie entwickelte ein seltsames Eigenleben und bezog ihre Anweisungen aus einem anderen Teil des Kopfes, als sie das Schnittdiagramm eines viel größeren Bootes für Fahrten unter Wasser zeichnete. Hier, und hier, und hier… keine Pedale, sondern eine Bank aus hundert Rudern – Leonards Stift strich übers Papier –, jedes bedient von einem muskulösen und nur knapp bekleideten jungen Krieger. Ein Boot, das unentdeckt unter Schiffen dahinglitt, Truppen dorthin brachte, wo sie gebraucht wurden. Und hier eine große Säge, um den Rumpf feindlicher Schiffe aufzureißen, wenn das Boot mit ausreichend hoher Geschwindigkeit fuhr. Und hier und hier Röhren…

Leonard verharrte und betrachtete die Zeichnung eine Zeitlang. Dann seufzte er und zerriß das Blatt.

 

Mumm beobachtete das Geschehen von der Düne aus. Er hörte kaum etwas, aber darauf kam es nicht an.

Angua setzte sich neben ihn. »Es klappt, nicht wahr?« fragte sie.

»Ja.«

»Was hat er vor?«

»Oh, vermutlich nimmt er ihre Waffen und läßt sie dann gehen.«

»Warum gehorchen ihm die Leute?« fragte Angua.

»Nun, du bist seine Freundin, und deshalb…«

»Das ist etwas anderes. Ich liebe ihn, weil er freundlich ist, ohne darüber nachzudenken. Er achtet nicht auf seine eigenen Gedanken, so wie andere Leute. Wenn er etwas Gutes tut, so geht es ihm nicht darum, etwas auszugleichen. Er ist so einfach. Wie dem auch sei: Ich bin ein Wolf, der unter Menschen lebt, und es gibt einen Namen für Wölfe, die unter Menschen leben. Er braucht nur nach mir zu pfeifen – ich würde sofort zu ihm laufen.«

Mumm versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen.

Angua lächelte. »Keine Sorge, Herr Mumm. Du hast es selbst gesagt: Früher oder später sind wir alle jemandes Hund.«

»Es ist wie Hypnose«, sagte Mumm rasch. »Die Leute folgen ihm, um festzustellen, was als nächstes passiert. Sie sagen sich, daß sie nur für eine Weile mitgehen und jederzeit damit aufhören können – aber sie wollen es gar nicht. Es ist Magie.«

»Nein. Hast du ihn jemals aufmerksam beobachtet? Ich wette, er wußte alles über Jabbar, nachdem er zehn Minuten lang mit ihm gesprochen hatte. Bestimmt kennt er den Namen aller Kamele. Und er vergißt nichts. Normalerweise zeigen die Leute kein großes Interesse an anderen Leuten.« Anguas Finger hinterließen bedeutungslose Muster im Sand. »Er gibt anderen Personen das Gefühl, daß sie wichtig sind.«

»So wie Politiker…«, warf Mumm ein.

»Nein, bei Politikern sieht die Sache ganz anders aus, glaub mir. Ich schätze, Lord Vetinari erinnert sich an persönliche Dinge…«

»Oh, da kannst du sicher sein!«

»Aber Karotte zeigt Interesse. Er denkt nicht einmal darüber nach. Er schafft in seinem Kopf Platz für andere Personen. Er zeigt Interesse, und deshalb glauben die Leute, daß sie interessant sind. Sie fühlen sich… besser, wenn er zugegen ist.«

Mumm senkte den Blick und beobachtete, wie Anguas Finger weitere Muster in den Sand malten. Wir alle verändern uns in der Wüste, dachte er. Hier ist es nicht wie in der Stadt, die Gedanken umschließt und einengt. Hier spürt man, wie sich das eigene Bewußtsein bis zum Horizont erweitert. Kein Wunder, daß an solchen Orten Religionen entstehen. Und plötzlich bin ich hier, obwohl ich hier eigentlich gar nichts zu suchen habe, und versuche, meine Pflicht zu erfüllen. Warum? Weil ich so verdammt dumm bin. Weil ich mir nicht die Zeit nehme, gründlich nachzudenken, bevor ich jemanden verfolge. Das ist der Grund. Selbst Karotte weiß es besser. Ich wäre Ahmeds Schiff einfach hinterhergejagt, ohne an die Konsequenzen zu denken, aber er war klug genug, zuerst zu mir zu kommen und Bericht zu erstatten. Er verhielt sich so, wie sich jemand verhalten sollte, der Verantwortung trägt. Ich hingegen…

»Vetinaris Terrier«, sagte Mumm laut. »Zuerst verfolgen und später darüber nachdenken…«

Er blickte zur fernen Stadt Gebra. Dort wartete ein klatschianisches Heer, und weiter dort drüben standen die Regimenter von Ankh-Morpork, und er hatte nur eine Handvoll Leute und keinen Plan, weil er so dumm gewesen war, sofort die Verfolgung aufzunehmen…

»Mir blieb keine Wahl«, sagte er. »Kein Polizist hätte einen Verdächtigen wie Ahmed entkommen lassen…«

Erneut hatte er den Eindruck, daß er einem Problem gegenüberstand, das im Grunde genommen gar kein Problem war. Es war so offensichtlich. Er selbst stellte das Problem dar. Weil er nicht richtig dachte.

Eigentlich hatte er überhaupt nicht gedacht.

Er sah zum klatschianischen Kontingent hinunter. Die Soldaten waren inzwischen bis auf den Lendenschurz entkleidet und zeigten die typische Verlegenheit von Männern, die nur noch ihre Unterhosen tragen.

Karottes weißer Umhang flatterte weiter in der Brise. Er ist kaum einen Tag hier, dachte Mumm. Und schon trägt er die Wüste wie ein Paar Sandalen.

»Äh… Bimmel-bimmel-bamm?«

»Ist das dein dämonischer Kalender?« fragte Angua.

Mumm rollte mit den Augen. »Ja. Obwohl er seit einer Weile die Termine einer anderen Person nennt.«

»Äh… drei Uhr nachmittags«, murmelte der Dämon langsam. »Keine dringenden Termine… Verteidigungsanlagen der Mauern überprüfen…«

»Na bitte! Das Ding glaubt, ich wäre in Ankh-Morpork! Sybil hat dreihundert Dollar dafür ausgegeben, und es weiß nicht einmal, wo ich mich befinde.«

Mumm schnippte den Zigarrenstummel weg und stand auf.

»Ich sollte jetzt besser nach unten gehen«, sagte er. »Immerhin bin ich der Boß.«

Er rutschte über den Hang der Düne und schlenderte hinüber zu Karotte, der ihn mit einem Salam begrüßte.

»Normales Salutieren reicht völlig aus, Hauptmann, besten Dank.«

»Entschuldigung, Herr Kommandeur. Es soll nicht wieder vorkommen.«

»Warum hast du veranlaßt, daß sich die Klatschianer ausziehen?«

»So wirken sie ziemlich lächerlich, wenn sie heimkehren, Herr Kommandeur. Das versetzt ihrem Stolz einen harten Schlag.« Er beugte sich etwas näher und flüsterte: »Dem Kommandanten habe ich erlaubt, seine Kleidung anzubehalten. Es zahlt sich nicht aus, Offiziere zu blamieren.«

»Tatsächlich nicht?« erwiderte Mumm.

»Und einige von ihnen möchten sich uns anschließen, Herr Kommandeur. Zum Beispiel Goriffs Sohn und einige andere. Man hat sie erst gestern zwangsrekrutiert. Ich habe ihnen gesagt, das sei in Ordnung.«

Mumm nahm den Hauptmann beiseite. »Äh… ich erinnere mich nicht daran, daß ich vorgeschlagen habe, einige der Gefangenen in unsere Gruppe aufzunehmen«, sagte er leise.

»Nun, unsere Invasionsstreitmacht trifft bald ein, Herr Kommandeur, und da viele dieser jungen Leute aus fernen Teilen des Reiches kommen und die Klatschianer ebensowenig mögen wie wir… Ich dachte mir, eine Kompanie aus Guerillakämpfern hinter den feindlichen Linien…«

»Wir sind keine Soldaten!«

»Äh… ich dachte, wir sind als Soldaten hierhergekommen…«

»Ja gut, in gewisser Weise… Aber wir sind auch hier vor allem Wächter und Polizisten. Wir töten niemanden, es sei denn…«

Ahmed? Alle sind nervös, wenn er in der Nähe ist. Er beunruhigt die Leute. Er erhält von überall Informationen. Er kommt und geht, wie es ihm beliebt, und er ist immer zur Stelle, wenn irgendwo ein Durcheinander entsteht… Verdammt, verdammt, verdammt…

Mumm eilte durch die Menge, bis er Jabbar fand. Der D’reg beobachtete Karotte mit einem verwirrten Lächeln, das der Hauptmann oft bei unschuldigen Beobachtern hervorrief.

»Drei Tage«, sagte Mumm. »Drei Tage. Das sind zweiundsiebzig Stunden!«

»Ja, Offendi?« erwiderte Jabbar wie jemand, der Morgen, Mittag und Abend kannte – und der dazwischen alles seinen Lauf nehmen ließ.

»Warum heißt er 71-Stunden-Ahmed? Was ist so Besonderes an der zusätzlichen Stunde?«

Jabbar grinste nervös.

»Stellt er nach einundsiebzig Stunden irgend etwas an?« fragte Mumm.

Jabbar verschränkte die Arme. »Ich sage nichts.«

»Er hat dich aufgefordert, uns bei euch zu behalten, nicht wahr?«

»Ja.«

»Aber ihr sollt uns nicht töten.«

»Oh, es käme mir nie in den Sinn, meinen Freund Sir Sam…«

»Und komm mir bloß nicht mit dem Schafsaugen-Unsinn oder etwas in der Art«, fuhr Mumm fort. »Er wollte Zeit gewinnen, um einen bestimmten Ort zu erreichen und dort etwas zu erledigen, habe ich recht?«

»Ich sage nichts.«

»Das brauchst du auch gar nicht«, brummte Mumm. »Wir verlassen euch jetzt. Und wenn du versuchst, uns zu töten… Nun, ich schätze, es würde nicht nur bei einem Versuch bleiben. Aber dann wäre 71-Stunden-Ahmed ziemlich sauer auf euch.«

Jabbar wirkte wie jemand, der eine schwierige Entscheidung treffen muß.

»Er kommt zurück«, sagte er. »Morgen! Kein Problem!«

»Ich habe keine Lust, auf ihn zu warten! Und ich glaube nicht, daß er mich tot will, Jabbar. Nein, er will mich lebend. Karotte?«

Der Hauptmann kam näher. »Ja, Herr Kommandeur?«

Mumm spürte, daß Jabbar einen erschrockenen Blick auf ihn richtete.

»Wir haben Ahmeds Spur verloren«, sagte er. »Der hin und her wehende Sand hindert selbst Angua daran, seine Fährte aufzunehmen. Es ist sinnlos, noch länger an diesem Ort zu bleiben. Hier werden wir nicht gebraucht

»Vielleicht doch, Herr Kommandeur«, erwiderte Karotte. »Wir könnten den Wüstenstämmen helfen…«

»Oh, du möchtest, daß wir bleiben und kämpfen?« fragte Mumm. »Gegen die Klatschianer?«

»Gegen die bösen Klatschianer, Herr Kommandeur.«

»Oh, darum geht es. Aber wenn einer von ihnen kreischend und mit hoch erhobenem Schwert heranstürzt – wie willst du dann Moral und Charakter beurteilen? Nun, du kannst von mir aus hierbleiben und für den guten Namen von Ankh-Morpork kämpfen – bestimmt dauert der Kampf nicht lange. Ich mache mich jetzt auf den Weg. Jenkins hatte sicher noch nicht genug Zeit, sein Schiff zu reparieren. Hast du irgendwelche Einwände, Jabbar?«

Der D’reg starrte auf den Sand zwischen seinen Füßen.

»Du weißt, wo er sich aufhält, stimmt’s?« fragte Mumm.

»Ja.«

»Sag es mir.«

»Nein. Ich habe geschworen.«

»Aber D’regs brechen ihren Eid oft. Das ist allgemein bekannt.«

Jabbar lächelte. »Oh, Eide und Schwüre. Dumme Dinge. Ich habe gegeben mein Wort

»Das bricht er auf keinen Fall, Herr Kommandeur«, warf Karotte ein. »In dieser Hinsicht sind die D’regs sehr strikt. Sie brechen nur dann einen Eid, wenn sie bei den Göttern schwören und so.«

»Ich sage dir nicht, wo er ist«, meinte Jabbar. »Aber…« Seine Lippen formten ein neuerliches, diesmal humorloses Lächeln. »Wie mutig bist du, Herr Mumm?«

 

»Hör auf, dich dauernd zu beklagen, Nobby.«

»Ich beklage mich doch gar nicht. Ich weise nur darauf hin, daß diese Hose ziemlich luftig ist.«

»Sie steht dir gut.«

»Und wozu dienen diese beiden Blechschüsseln?«

»Sie sollen Teile schützen, die du nicht hast, Nobby.«

»So wie’s bei mir zieht… Ich könnte ein wenig Schutz für die Teile gebrauchen, die ich habe

»Versuch nur, dich etwas damenhafter zu benehmen, in Ordnung, Nobby?«

Damit waren gewisse Schwierigkeiten verbunden, wie Feldwebel Colon zugeben mußte. Das Kostüm schien für eine Dame bestimmt zu sein, die Nobby um ein ganzes Stück überragte und an strategischen Stellen auch mit erheblich mehr Masse ausgestattet war. Korporal Nobbs hingegen konnte sich ohne seine Uniform hinter einem kurzen Stock verstecken, wenn man am oberen Drittel einen Toastständer befestigte. Er sah aus wie ein schleierumhülltes Akkordeon mit viel Schmuck. Rein theoretisch sollte sein Kostüm viel zeigen, aber bei Nobby wünschte sich jeder Beobachter, es würde weitaus mehr verhüllen. Angesichts der vielen Falten und aufgebauschten Stellen ließ sich nur eins mit Sicherheit sagen: Er steckte irgendwo dort drin. Er führte den Esel, der ihn zu mögen schien. Tiere mochte Nobby. Weil er nicht falsch roch.

»Und die Stiefel sind verkehrt«, fuhr Feldwebel Colon fort.

»Warum denn? Du hast deine auch angelassen!«

»Ja, aber ich soll auch keine Blume der Wüste sein, oder? Das Juwel des Entzückens sollte keine Funken schlagen, wenn es geht.«

»Die Stiefel gehörten meiner Oma, und ich lasse sie nicht zurück, auf daß sie jemand klaut, und ich will überhaupt kein Juwel des Entzückens sein«, erwiderte Nobby verdrießlich.

Lord Vetinari ging weiter vorn. Die Straßen füllten sich bereits. Offenbar zogen es die Bewohner von Al-Khali vor, ihr Tagewerk in der Kühle der Morgendämmerung zu beginnen, bevor die Sonne einen Flammenwerfer auf das ganze Land richtete. Niemand schenkte den Neuankömmlingen Beachtung; allerdings drehten sich einige Passanten nach Korporal Nobbs um. Ziegen und Hühner wichen langsam zur Seite, als sie durch die Stadt schritten.

»Hüte dich vor Leuten, die dir Postkarten mit schmutzigen Bildern verkaufen wollen, Nobby«, sagte Colon. »Mein Onkel war mal hier und meinte, jemand hätte versucht, ihm ein Bündel schmutziger Postkarten für fünf Dollar anzudrehen. Abscheulich, nicht wahr?«

»Ja, denn in den Schatten kosten sie nur zwei Dollar«, erwiderte Nobby.

»Genau das hat mein Onkel auch gesagt. Außerdem stammten die Postkarten aus Ankh-Morpork. Uns unsere eigenen Postkarten verscherbeln… Ich finde das empörend.«

»Guten Morgen, Sultan!« rief eine fröhliche und irgendwie vertraute Stimme. »Neu in der Stadt, nicht wahr?«

Lord Vetinari und seine beiden Begleiter drehten sich zu einer Gestalt um, die wie durch Magie im Zugang einer Gasse erschienen war.

»Ja, das stimmt«, sagte der Patrizier.

»Das habe ich auf den ersten Blick gesehen! Heutzutage sind alle neu in der Stadt. Und dies ist dein Glückstag, Schah! Ich bin hier, um zu helfen. Was auch immer du brauchst… Ich habe es!«

Feldwebel Colon starrte den Fremden groß an, und seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen, als er fragte: »Dein Name lautet nicht zufällig… Al-Schnappler oder so?«

»Hast du von mir gehört?« erwiderte der Händler jovial.

»In gewisser Weise«, erwiderte Colon langsam. »Du erscheinst bemerkenswert… vertraut.«

Lord Vetinari schob ihn beiseite. »Wir sind wandernde Unterhalter«, sagte er. »Wir hoffen, die Erlaubnis für einen Auftritt im Palast des Prinzen zu bekommen. Vielleicht kannst du uns dabei helfen?«

Der Mann rieb sich nachdenklich den Bart, wodurch diverse Partikel in die kleinen Schüsseln seines Bauchladens fielen.

»Nun, ich weiß nicht…«, murmelte er. »Was macht ihr?«

»Wir treten als Jongleure und Feuerschlucker und dergleichen auf«, antwortete Lord Vetinari.

»Tatsächlich?« fragte Colon.

Al-Schnappler deutete auf Nobby. »Was macht…«

»… sie…«, half Lord Vetinari.

»… sie?«

»Sie tanzt exotische Tänze«, sagte Vetinari.

Nobby schnitt eine finstere Miene.

»Bestimmt sind es sehr exotische Tänze«, vermutete Al-Schnappler.

»Du würdest staunen.«

Zwei Bewaffnete schlenderten näher. Feldwebel Colon fühlte sich von jäher Unruhe heimgesucht. In den bärtigen Gesichtern erkannte er sich selbst und Nobby wieder – daheim in Ankh-Morpork nutzten sie jede Gelegenheit, sich interessante Dinge auf der Straße aus der Nähe anzuschauen.

»Ihr seid Jongleure, nicht wahr?« fragte einer von ihnen. »Zeigt mal, wie ihr jonglieren könnt.«

Lord Vetinari maß sie mit einem kurzen Blick und sah dann zu Al-Schnapplers Bauchladen. Neben einigen kaum zu identifizierenden Speisen lagen mehrere grüne Melonen.

»Nun gut«, sagte der Patrizier und nahm drei zur Hand.

Feldwebel Colon schloß die Augen.

Nach einigen Sekunden öffnete er sie wieder, als einer der beiden Wächter sagte: »Na schön, mit drei Gegenständen ist es nicht weiter schwer.«

»Vielleicht ist Herr Al-Schnappler so nett, mir einige weitere zuzuwerfen?« erwiderte der Patrizier, während die Melonen in seinen Händen landeten und sofort wieder aufstiegen.

Feldwebel Colon schloß erneut die Augen.

Nach einer Weile sagte jemand: »Sieben – das ist recht gut. Aber es sind nur Melonen.«

Colon öffnete die Augen.

Der klatschianische Wächter strich seinen Umhang beiseite und entblößte sechs Wurfmesser. Ihre Klingen blitzten wie die Zähne des Mannes.

Lord Vetinari nickte. Zu Colons großem Erstaunen schien er den auf und ab fliegenden Melonen überhaupt keine Beachtung zu schenken.

»Vier Melonen und drei Messer«, sagte er. »Wenn du die Messer freundlicherweise meiner bezaubernden Assistentin Beti geben würdest…«

»Wem?« fragte Nobby.

»Ach? Warum nicht gleich sieben Messer?«

»Oh, ihr Herren, das wäre zu einfach«, erwiderte Lord Vetinari.13 »Ich bin nur ein bescheidener Jongleur. Bitte gebt mir Gelegenheit, meine Kunst zu zeigen.«

»Beti?« wiederholte Nobby und verzog das Gesicht hinter dem Schleier.

Drei Früchte verließen den tanzenden Reigen und landeten auf Al-Schnapplers Bauchladen.

Colon bemerkte, wie die beiden Wächter einen argwöhnischen und auch nervösen Blick auf den verkleideten Korporal richteten.

»Sie wird doch nicht tanzen, oder?« fragte einer von ihnen.

»Nein!« erwiderte Beti scharf.

»Versprochen?«14

Nobby griff nach drei Messern und zog sie hinter dem Gürtel des Mannes hervor.

»Ich gebe sie Seiner Ex… ihm, einverstanden, Beti?« sagte Colon. Er zweifelte nicht daran, daß es jetzt nur noch darauf ankam, den Patrizier am Leben zu erhalten. Der Feldwebel sah darin die einzige Möglichkeit, einer kurzen Zigarette im Sonnenschein zu entgehen.

In diesem Fall rang das Gesetz mit den Tatsachen namens Korporal Nobby Nobbs und gab auf.

Weitere Passanten kamen näher, um sich unterhalten zu lassen.

»Hierher, bitte… Al«, sagte der Patrizier und nickte.

Colon warf ihm die Messer zu, langsam und vorsichtig. Lord Vetinari will die Wächter erstechen, dachte er dabei. Es ist ein Trick. Und anschließend werden wir von den übrigen Leuten in Stücke gerissen.

Scharfer Stahl schimmerte in der Luft und schien einen Kreis zu formen. Die Zuschauer murmelten anerkennend.

»Und doch ist es ein wenig langweilig«, sagte der Patrizier.

Seine Hände bewegten sich in einem komplexen Muster, was eigentlich nur möglich sein konnte, wenn das rechte Handgelenk mindestens zweimal zum linken wurde.

In der Luft entstand ein wildes Durcheinander aus Früchten und Messern.

Dann fielen drei Melonen auf den Boden, jeweils fein säuberlich in zwei Hälften geschnitten.

Drei Messer bohrten sich dicht vor den Sandalen ihres Eigentümers in den Staub.

Feldwebel Colon sah auf und bemerkte etwas Grünes, das sich ihm rasch näherte…

Die Melone platzte, und das lachende Publikum applaudierte. Colon konnte die Begeisterung der Zuschauer nicht ganz teilen, als er sich überreifes Fruchtfleisch aus den Ohren kratzte.

Sein Überlebensinstinkt erwachte erneut. Stolpere nach hinten, sagte er. Und so stolperte er nach hinten und hob dabei die Beine möglichst hoch. Laß dich plump fallen. Und so fiel er plump, wobei er fast ein Huhn zerquetscht hätte. Verliere deine Würde, fuhr der Überlebensinstinkt fort. Von allen Dingen, die du besitzt, kannst du die Würde am besten entbehren.

Lord Vetinari half ihm auf. »Unser Leben hängt davon ab, daß du wie ein dicker Idiot wirkst«, flüsterte er und setzte Colon den Fes auf den Kopf.

»Ich bin kein besonders guter Schauspieler, Herr…«

»Gut!«

»Ja, Herr!«

Der Patrizier griff nach drei Melonenhälften und sprang zu einem Verkaufsstand, den eine Frau gerade errichtet hatte. Er nahm ein Ei, als er an dem Stand vorbeihuschte… Feldwebel Colon blinzelte. Dies konnte unmöglich die Realität sein. Der Patrizier verhielt sich nicht auf solche Weise.

»Meine Damen und Herren! Ihr seht – ein Ei! Und hier haben wir eine Melonenschale! Ei, Melone! Melone, Ei! Ich stülpe die Melonenschale über das Ei!« Lord Vetinaris Hände zuckten mit verwirrender Geschwindigkeit über die drei Hälften. Sie rutschten von einer Seite zur anderen, immer wieder. »Und nun… Wo ist das Ei? Willst du es einmal versuchen, Schah?«

Al-Schnappler lächelte.

»Es befindet sich unter der linken Schale«, sagte er. »Das ist immer so.«

Lord Vetinari hob die entsprechende Melonenhälfte an. Es lag kein Ei darunter.

»Und du, ehrenwerter Wächter?«

»Es liegt unter der mittleren«, antwortete der Klatschianer.

»Oh, sicher hast du recht… Na so was, da ist es auch nicht…«

Die Zuschauer blickten zur letzten Melone. Es waren Leute von der Straße. Sie kannten sich mit solchen Dingen aus. Wenn ein Objekt unter einem von drei Objekten liegen konnte, und wenn sich bereits herausgestellt hatte, daß es nicht unter den ersten beiden Gegenständen lag… dann auch bestimmt nicht unter dem dritten. Nur leichtgläubige Narren gingen von dieser Annahme aus. Natürlich gab es bei dieser Sache einen Trick. Es gab immer einen Trick. Trotzdem sahen alle genau hin, um einen guten Trick zu beobachten.

Lord Vetinari hob die dritte Melonenschale, und das Publikum nickte zufrieden. Das Ei war nicht dort, wie erwartet. Es wäre ein ziemlich jämmerlicher Tag für die Straßenunterhaltung gewesen, wenn sich die Dinge plötzlich dort befanden, wo man sie vermutete.

Feldwebel Colon wußte, was jetzt passieren würde. Er wußte es deshalb, weil seit etwa einer Minute etwas gegen seinen Kopf pickte.

Er hielt den richtigen Augenblick für gekommen und hob seinen Fes, unter dem ein kleines und sehr flauschiges Huhn hockte.

»Wenn mir jemand einen Lappen geben könnte… Ich fürchte, das Tier hat meinen Kopf als Toilette benutzt.«

Gelächter erklang, hier und dort auch Applaus und – zu Colons Erstaunen – das Klirren von Münzen zu seinen Füßen.

»Und jetzt zeigt uns die schöne Beti einen exotischen Tanz«, sagte der Patrizier.

Plötzlich herrschte Stille unter den Zuschauern.

Jemand weiter hinten fragte: »Wieviel müssen wir bezahlen, damit sie nicht tanzt?«

»Oh, jetzt reicht’s mir!« Mit wehendem Schleier, klimpernden Armreifen, spitzen Ellenbogen und Stiefeln, die Funken stieben ließen, trat die schöne Beti ins Publikum. »Wer hat das gesagt?«

Die Leute wichen vor ihr zurück. Ganze Heere hätten sich zurückgezogen. Und dort, wie ein Qualle, die das abfließende Wasser auf dem Land vergessen hatte, stand ein kleiner Mann, der nun im heißen Zorn des vor ihm aufragenden Nobby briet.

»Ich wollte dich nicht beleidigen, o rehäugige Schönheit…«

»Ach? Du glaubst also, ich hätte ein haariges Gesicht?« Dutzende von Armreifen schepperten, als Nobby den Arm ausstreckte und den Mann zu Boden stieß. »Du mußt noch viel über Frauen lernen, junger Mann!« Und da Nobby nie der Versuchung widerstehen konnte, einem vor ihm liegenden Opfer den Rest zu geben, hob er den eisenbeschlagenen Stiefel und…

»Beti!« sagte der Patrizier scharf.

»Oh, na schön, na schön«, brummte Nobby mit verhüllter Verachtung. »Jeder kann mir sagen, was ich tun und lassen soll. Nur weil ich zufälligerweise eine Frau bin, muß ich mich damit abfinden.«

»Nein, du sollst ihm nur nicht in die Weichteile treten«, flüsterte Colon und zog den Korporal von dem Mann weg. »Das gehört sich nicht.« Er bemerkte, daß einige Frauen im Publikum enttäuscht zu sein schienen, weil die Vorstellung an einer besonders interessanten Stelle endete.

»Und es gibt viele sonderbare Geschichten, die wir euch erzählen können!« rief der Patrizier.

»Beti wäre dazu bestimmt in der Lage«, murmelte Colon und erntete dafür einen Tritt gegen sein Schienbein.

»Und wir können euch die ungewöhnlichsten Dinge zeigen!«

»Beti wäre dazu be… Aargh!«

»Doch jetzt ziehen wir uns in den Schatten der dortigen Karawanserei zurück…«

»Was machen wir?«

»Wir besuchen eine Taverne.«

Die Zuschauer gingen auseinander. Einige von ihnen sahen dem Trio amüsiert nach.

Einer der Wächter nickte Colon zu. »Gute Vorstellung«, sagte er. »Besonders die Stelle, an der die Dame darauf verzichtet hat, ihren Schleier zu heben…« Er ging hinter seinem Kollegen in Deckung, als Nobby wie ein Racheengel herumwirbelte.

»Feldwebel«, raunte der Patrizier. »Es ist sehr wichtig, daß wir den gegenwärtigen Aufenthaltsort von Prinz Cadram in Erfahrung bringen, verstehst du? In Tavernen reden die Leute. Halten wir die Ohren offen.«

Die »Karawanserei« entsprach nicht Colons Vorstellung von einer Taverne. Der größte Teil von ihr trug kein Dach. Mit Rundbögen ausgestattete Wände umgaben einen Innenhof. Ein Weinstock wuchs aus einer großen, geborstenen Urne und hatte sich oben an einem Spalier ausgebreitet. Wasser plätscherte leise, und dieses Geräusch stammte nicht vom Abort, wie bei der Geflickten Trommel in Ankh-Morpork, sondern kam aus einem kleinen Springbrunnen in der Mitte. Es war angenehm kühl, viel kühler als auf der Straße, obwohl die Blätter der Reben kein lückenloses Dach bildeten.

»Ich wußte gar nicht, daß du jonglieren kannst, Herr«, flüsterte Colon Lord Vetinari zu.

»Soll das heißen, du kannst es nicht, Feldwebel?«

»Nein, Herr!«

»Seltsam. Eigentlich ist gar nicht viel dabei. Man weiß, wo sich die Objekte befinden und wohin sie fliegen. Man muß nur dafür sorgen, daß sie die richtigen Positionen in Raum und Zeit einnehmen.«

»Darin bist du ziemlich gut. Bestimmt übst du viel, Herr.«

»Bis heute habe ich es nie versucht.« Lord Vetinari sah die Verblüffung in Colons Gesicht. »Glaub mir, Feldwebel: Im Vergleich zu Ankh-Morpork ist es kaum der Rede wert, einige fliegende Gegenstände unter Kontrolle zu halten.«

»Ich bin erstaunt, Herr.«

»Und in der Politik, Feldwebel, ist es immer wichtig zu wissen, wo sich das Huhn befindet.«

Colon hob seinen Fes. »Hockt es noch immer auf meinem Kopf?«

»Es scheint eingeschlafen zu sein. An deiner Stelle würde ich es nicht stören.«

»He, Jongleur… Für sie ist der Aufenthalt hier nicht gestattet.«

Sie sahen auf. Jemand, dessen Gesicht und Schürze in siebenhundert Sprachen »Wirt« verkündet, hatte sich ihnen genähert. In jeder Hand trug er einen Krug Wein.

»Frauen sind hier nicht erlaubt«, sagte er.

»Warum nicht?« fragte Nobby.

»Frauen dürfen hier auch keine Fragen stellen.«

»Warum nicht?«

»Es steht irgendwo geschrieben, deshalb.«

»Und wohin soll ich gehen?«

Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, wohin Frauen gehen?«

»Fort mit dir, Beti«, sagte der Patrizier. »Und… hör dich um!«

Nobby griff nach Colons Weinbecher und leerte ihn in einem Zug.

»Ich weiß nicht«, stöhnte er. »Ich bin erst seit zehn Minuten eine Frau, und schon verabscheue ich euch männliche Mistkerle!«

»Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist, Herr«, sagte Colon leise, als Nobby fortstapfte. »Normalerweise verhält er sich anders. Außerdem dachte ich, klatschianische Frauen gehorchen ohne Widerrede.«

»Gehorcht deine Frau ohne Widerrede, Feldwebel?«

»Nun…äh… ein Mann sollte der Herr in seinem Haus sein, so lautet mein Standpunkt…«

»Warum räumst du dann in der Küche immer das Geschirr ab?« fragte Lord Vetinari. »Wie ich hörte, erledigst du auch den Abwasch.«

»Nun, ein wenig im Haushalt zu helfen…«

»In der klatschianischen Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, daß die Frauen mit ihren Männern in den Krieg zogen«, sagte der Patrizier.

»Was, auf der gleichen Seite?«

»Prinz Arkvens Frau Tistam ritt mit ihrem Mann in die Schlacht, und die Legende behauptet, daß sie zehntausend mal tausend Feinde getötet hat.«

»Das sind ziemlich viele.«

»Was Zahlen angeht, zeichnen sich Legenden häufig durch eine hohe Inflation aus. Allerdings gibt es historische Hinweise dafür, daß Königin Sowawondra von Sumtri während ihrer Herrschaft dreißigtausend Personen hinrichten ließ. Es heißt, sie sei leicht reizbar gewesen.«

»Du solltest meine Frau hören, wenn ich die Teller nicht abräume«, sagte Feldwebel Colon kummervoll.

»Inzwischen erregen wir keine besondere Aufmerksamkeit mehr«, meinte der Patrizier. »Wir müssen die Gelegenheit nutzen, um herauszufinden, was hier geschieht. Zwar ist ganz offensichtlich eine Invasion geplant, aber ich glaube, Prinz Cadram hält irgendwo Truppen in Reserve, für den Fall, daß Landstreitkräfte angreifen. Wenn wir in Erfahrung bringen, wo sie stationiert sind, wissen wir auch, wo sich der Prinz befindet.«

»In Ordnung.«

»Glaubst du, daß du mit einer solchen Aufgabe zurechtkommst?«

»Ja, Herr. Ich kenne die Klatschianer. Sei unbesorgt.«

»Hier ist etwas Geld. Spendiere den Leuten etwas zu trinken. Verwickle sie in Gespräche, um dabei Informationen zu sammeln.«

»Alles klar.«

»Nicht zu viele Getränke. Aber möglichst viele Informationen.«

»Keine Sorge, Herr. Ich bin sehr geschickt, wenn es darum geht, Informationen zu sammeln.«

»Dann mach dich an die Arbeit.«

»Herr?«

»Ja?«

»Ich bin ein wenig beunruhigt. Wegen… Beti, meine ich. Ganz allein unterwegs… Wer weiß, was ihm… was ihr zustoßen könnte?« Die letzten Worte sprach Colon langsam aus, denn er mußte einräumen: Eigentlich gab es nicht viel, was Korporal Nobby zustoßen konnte.

»Wenn es Probleme gibt, hören wir bestimmt davon«, erwiderte der Patrizier.

»Da hast du sicher recht, Herr.«

Colon schlenderte zu einer Gruppe von Männern, die im Kreis auf dem Boden saßen, leise miteinander sprachen und dabei aus einer großen Schüssel in der Mitte aßen.

Er setzte sich. Die rechts und links von ihm sitzenden Männer rückten bereitwillig zur Seite, um genug Platz zu schaffen.

Und nun… Wie sollte er vorgehen? Ach, kein Problem. Jeder wußte, wie Klatschianer redeten…

»Gruß euch, Brüder der Wüste«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie’s euch geht, aber ich könnte jetzt eine doppelte Portion Schafsaugen vertragen. Ich wette, ihr freut euch schon darauf, zu euren Kamelen zurückzukehren. Ich spucke auf die räudigen Hunde aus Ankh-Morpork. Hatte jemand von euch Bakschisch in der letzten Zeit? Nennt mich Al.«

 

»Entschuldige bitte, bist du die Jongleursfrau?«

Korporal Nobbs war bisher mißmutig durch die Gassen gestapft und sah nun auf. Vor ihm stand eine freundlich wirkende junge Dame. Allein die Tatsache, daß ihn eine Frau aus freiem Willen ansprach, war neu für Nobby. Daß sie dabei auch noch lächelte, kam einem Wunder gleich.

»Äh… ja. Genau. Das bin ich.« Er schluckte. »Beti.«

»Ich heiße Bana. Möchtest du mitkommen und mit uns sprechen?«

Nobby sah an ihr vorbei.

Mehrere Frauen unterschiedlichen Alters saßen an einem großen Brunnen. Eine von ihnen winkte scheu.

Er blinzelte. Dies war unbekanntes Territorium. Nobby blickte an seiner Kleidung hinab, die bereits abgetragen wirkte. Seine Sachen wirkten immer abgetragen, selbst wenn er sie erst seit fünf Minuten trug.

»Oh, keine Sorge«, sagte die junge Frau. »Wir wissen, wie es ist. Du hast so einsam und allein ausgesehen. Und vielleicht kannst du uns helfen…«

Sie erreichten die Gruppe aus Frauen aller zugelassenen Formen und Größen. Bisher hatte niemand von ihnen »Bäh!« gesagt, was für Nobby eine völlig neue Erfahrung war. Ein seltsames, völlig unvertrautes Empfinden regte sich in ihm: Korporal Nobbs hatte das Gefühl, das Paradies zu betreten, und es war nur ein unwichtiges Detail, daß er dabei die falsche Tür benutzte.

»Wir versuchen, Netal zu trösten«, sagte die junge Frau. »Ihr Verlobter wird sie nicht heiraten.«

»So ein Schwein«, sagte Nobby.

Eine der anderen Frauen sah abrupt auf. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet.

»Er wollte mich heiraten«, schluchzte sie. »Aber man hat ihn fortgebracht, damit er in Gebra kämpft! Und alles nur wegen einer Insel, von der noch nie jemand etwas gehört hat! Und meine ganze Familie ist hier!«

»Wer hat ihn fortgebracht?«

»Er hat sich selbst fortgebracht«, schnappte eine ältere Frau. Sie wirkte auf sonderbare Weise vertraut, abgesehen von ihrer ungewohnten Kleidung. Nobby glaubte fast, das Schild mit der Aufschrift »Schwiegermutter« zu sehen.

»Ach, Frau Atbar«, sagte Netal, »er meinte doch, es sei seine Pflicht. Außerdem mußte alle anderen auch gehen.«

»Männer!« stieß Nobby hervor und rollte mit den Augen.

»Du kennst dich vermutlich bestens mit den Dingen aus, die Männern Vergnügen bereiten, wie?« fragte Schwiegermutter spöttisch.

»Mutter!«

»Wer, ich?« erwiderte Nobby und vergaß seine Rolle für einige Sekunden. »Oh, sicher.«

»Ach, wirklich

»Na klar«, sagte Nobby. »Männer mögen Bier. Und eine gute Zigarre, wenn sie kostenlos ist.«

»Ha!« Schwiegermutter hob einen Korb mit Wäsche und stolzierte davon, gefolgt von den meisten anderen älteren Frauen. Die übrigen lachten. Selbst die traurige Netal lächelte.

»Ich glaube, sie hat etwas anderes gemeint«, sagte Bana. Begleitet von allgemeinem Kichern beugte sie sich vor, um Nobby etwas ins Ohr zu flüstern.

Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert, schien sich jedoch ein wenig zu erhärten.

»Oh, das«-, sagte er.

Einige Erfahrungswelten hatte Nobby nur auf Karten betrachtet, doch er wußte, worum es ging. Früher war er in gewissen Straßen der Schatten auf Streife gegangen – Straßen, in denen junge Frauen nicht viel zu tun hatten und sich vermutlich eine Erkältung holten. Doch um diese Bereiche der Polizeiarbeit, die normalerweise in den Zuständigkeitsbereich der Sittenpolizei fielen, kümmerte sich heute die Gilde der Näherinnen. Wer sich nicht an die… Nun von Gesetzen konnte kaum die Rede sein, eher von ungeschriebenen Regeln. Also, wer sich nicht an diese ungeschriebenen Regeln hielt, die Frau Palm und ihr Komitee aus sehr erfahrenen Damen15 aufstellten, forderte die Aufmerksamkeit der Schmerzlichen Schwestern Dutzie und Putzie heraus. Manchmal sah man die betreffenden Personen wieder, manchmal nicht.

»Oh, ja«, murmelte Nobby und starrte noch immer auf eine innere Leinwand.

Natürlich wußte er, worum es dabei ging…

»Oh, das«, wiederholte er. »Nun, ich habe das eine oder andere gesehen.« Hauptsächlich auf Postkarten, mußte er einräumen.

»Bestimmt ist es wundervoll, so viel Freiheit zu genießen«, sagte Bana.

»Äh…«

Netal brach erneut in Tränen aus. Sofort wurde sie von ihren Freundinnen umringt.

»Ich verstehe gar nicht, warum die Männer unbedingt fort müssen«, sagte Bana. »Mein Verlobter ist ebenfalls aufgebrochen.«

Eine alte Frau am Brunnen lachte gackernd.

»Ich kenne den Grund, Teuerste. Sie brechen auf, weil es besser ist, als den ganzen Tag über Melonen anzubauen. Sie finden daran sogar mehr Gefallen als an Frauen.«

»Männer haben mehr Spaß am Krieg als an Frauen?«

»Weil der Krieg immer frisch und jung ist. Und weil sie erreichen können, daß ein guter Kampf den ganzen Tag dauert.«

»Aber im Krieg stirbt man!«

»Es ist besser, im Krieg zu sterben als im Bett – so heißt es jedenfalls.« Auf wiederholtes gackerndes Lachen folgte ein zahnloses Grinsen. »Aber Männer haben einige gute Möglichkeiten, im Bett zu sterben, nicht wahr, Beti?«

Nobby hoffte, daß sich seine glühenden Ohren nicht durch den Schleier brannten. Er hatte plötzlich den Eindruck, daß er seine Zukunft eingeholt hatte. Zumindest den Teil der Zukunft, der ihn zehn Cent gekostet hatte.

»Tschuldigung«, sagte er. »Stammt jemand von euch aus Mariage?«

»Mariage?« entgegnete Bana. »Was soll das denn sein?«

»Ein Land, das sich irgendwo in der Nähe befindet«, sagte Nobby. Hoffnungsvoll fügte er hinzu: »Das stimmt doch, oder?«

Die Gesichter teilten ihm etwas anderes mit.

Nobby seufzte. Aus einem Reflex heraus hob er die Hand zum Ohr, um nach einem Zigarettenstummel zu greifen. Doch als die Hand nach unten sank, war sie leer.

»Ich sag euch was, Mädchen«, murmelte er niedergeschlagen. »Jetzt bedaure ich, daß ich mich nicht für die Zehn-Dollar-Version entschieden habe. Verspürt ihr manchmal den Wunsch, euch irgendwo hinzusetzen und zu heulen?«

»Du siehst noch trauriger aus als Netal«, meinte Bana. »Wie können wir dich aufheitern?«

Nobby starrte sie einige Sekunden an und begann dann zu schluchzen.

 

Alle sahen Colon groß an, die Hände voll Reis auf halbem Weg zum Mund.

»Hat er das wirklich gesagt, Faifal? Warum sollte ich zu irgendeinem Kamel zurückkehren wollen? Ich bin Klempner!«

»Er ist der Clown des Jongleurs. Ich schätze, der Oase seines Geistes fehlen einige Palmen.«

»Ich meine, die verdammten Biester spucken, und außerdem weigern sie sich, einem die Werkzeugtasche die Treppe hochzutragen…«

»Wir sollten nicht so streng mit ihm sein. Schließlich kann er nichts dafür.« Der Klatschianer räusperte sich. »Guten Morgen, Freund«, sagte er. »Dürfen wir dich dazu einladen, den Kuskus mit uns zu teilen?«

Feldwebel Colon blickte auf die große Schüssel, bohrte einen Finger in die Masse und leckte ihn ab.

»He, das ist Weizengrieß! Ihr habt Weizengrieß! Es ist ganz gewöhnlicher Weizengr…« Er unterbrach sich und hüstelte. »Ja, gut. Hat jemand Erdbeermarmelade?«

Die Klatschianer sahen sich an und zuckten mit den Schultern.

»Wir kennen die Erdbeermarmelade nicht, von der du sprichst«, sagte jemand. »Wir essen unseren Kuskus mit Lammfleisch.« Er reichte Colon einen langen Holzspieß.

»Oh, wenn ihr keine Erdbeermarmelade kennt, habt ihr wirklich was verpaßt«, sagte Colon, der sich erneut vergaß. »Als Kinder rührten wir sie in den Weizengrieß und… und…« Er sah in die Gesichter seiner Zuhörer. »Das war natürlich drüben in Ur«, fügte er hinzu.

Die Männer nickten sich zu. Plötzlich war alles klar.

Colon rülpste laut. Erstaunte Blicke teilten ihm mit, daß er der einzige war, der von diesem allgemeinen klatschianischen Brauch wußte.

»Nun«, sagte er, »wo steht das Heer denn heute, so ungefähr?«

»Warum fragst du, o Voller-Gas-steckender-Mann?«

»Nun, wir wollen uns mit einigen Vorstellungen bei der Truppe ein wenig Geld verdienen«, erklärte Colon. Er war sehr stolz auf diese Idee. »Ihr wißt schon… ein Lächeln, ein Lied, keine exotischen Tänze. Allerdings müssen wir dazu den Ort aufsuchen, wo sich die Soldaten befinden.«

»Entschuldige Dicker, aber verstehst du, was ich sage?«

Colon ging das Risiko ein. »Ja, es ist sehr lecker«, erwiderte er.

»Dachte ich mir. Er ist also ein Spion. Aber woher kommt er?«

»Ich weiß nicht… Wer wäre so dumm, einen solchen Narren als Spion zu schicken?«

»Ankh-Morpork?«

»Oh, ich bitte dich! Vielleicht gibt er vor, ein Spion aus Ankh-Morpork zu sein, aber die Bewohner dieser Stadt sind schlau…«

»Glaubst du? Du hältst Leute, die Curry aus etwas herstellen, das sie Currypulver nennen, für schlau?«

»Vermutlich kommt er aus Muntab. Dort wollen sie immer wissen, was hier bei uns los ist.«

»Und er gibt vor, aus Ankh-Morpork zu kommen?«

»Nun, wenn man als dummer Morporkianer auftritt, der vorgibt, ein Klatschianer zu sein – dann sieht man ungefähr so aus, nicht wahr?«

»Aber warum sollte er vorgeben, aus Ankh-Morpork zu stammen?«

»Oh… Politik.«

»Also gut. Rufen wir die Wache.«

»Bist du übergeschnappt? Wir haben mit ihm gesprochen! Die Wächter wären sicher… neugierig.«

»Guter Hinweis. Nun…«

Faifal sah Colon an und lächelte.

»Wie ich hörte, sind die Soldaten nach En al Sams la Laisa marschiert«, sagte er. »Aber verrate es niemandem.«

»Ach, dorthin sind sie marschiert?« Colon sah zu den anderen Männern, deren Mienen seltsam unbewegt waren.

»Der Name klingt nach einem sehr… massiven Ort«, sagte er.

»Oh, er ist gewaltig«, erwiderte der neben ihm sitzende Klatschianer. Jemand gab ein Geräusch von sich, das ein mühsam unterdrücktes Kichern sein konnte.

»Es ist ein weiter Weg, nicht wahr?«

»Nein, der Ort ist sehr nahe. Du sitzt praktisch darauf.« Faifal stieß jemanden mit dem Ellenbogen an, dessen Schultern bebten.

»Oh, gut. Und das Heer… Es ist ziemlich groß, stimmt’s?«

»Ja, das könnte tatsächlich sein.«

»Gut, gut«, sagte Colon. »Äh… hat jemand etwas zu schreiben? Ich hätte schwören können, daß ich einen Stift bei mir habe…«

Ein Geräusch ertönte außerhalb der Taverne; das Geräusch von mehreren Frauen, die lachten. Die meisten Männer finden das sehr beunruhigend.16

Einige Gäste spähten argwöhnisch durch Lücken zwischen den Weinblättern.

Colon und die anderen blickten an einer Urne vorbei zum Brunnen. Eine alte Frau lag dort auf dem Boden und rollte hin und her, während sie lachte. Einige jüngere Frauen stützten sich gegenseitig.

Eine von ihnen fragte: »Was hat er gesagt?«

»Er sagte: ›Komisch, das ist nie passiert, wenn ich es versucht habe!‹«

»Ja, das stimmt!« brachte eine ältere Frau hervor und prustete. »Es passiert nie!«

»›Komisch, das ist nie passiert, wenn ich es versucht habe!‹« wiederholte Nobby.

Colon stöhnte. Das waren Stimme und Tonfall eines Korporal Nobbs im Geschichtenerzähler-Modus – dabei ging es so heiß her, daß Holz noch auf eine Entfernung von zehn Metern Feuer fangen konnte.

»Entschuldigung«, sagte der Feldwebel und bahnte sich einen Weg durch die Menge der Zuhörer.

»Kennt ihr den über den Kö… über den Sultan, der befürchtete, daß ihm seine Frau… eine seiner Frauen… untreu sein könnte, wenn er unterwegs war?«

»Wir haben nie zuvor solche Geschichten gehört, Beti!« erwiderte Bana atemlos und schnappte nach Luft.

»Wirklich nicht? Oh, davon habe ich tausendundeine auf Lager. Wie dem auch sei: Der… Sultan bat einen weisen alten Schmied um Rat, und der sagte…«

»Du solltest hier keine solchen Geschichten erzählen, Kor… Beti«, schnaufte Colon und blieb stehen.

Nobby bemerkte eine Veränderung in der Gruppe: Er war nun von Frauen umringt, denen ein Mann Gesellschaft leistete – beziehungsweise jemand, vom dem alle wußten, daß er ein Mann war.

Einige Frauen erröteten. Vorher hatten sie sich köstlich amüsiert.

»Warum nicht?« fragte Beti herausfordernd.

»Weil du damit Anstoß erregst«, erwiderte Colon unsicher.

»Bei uns hat er keinen Anstoß erregt, Herr«, erwiderte Bana mit demütig klingender Stimme. »Wir halten Betis Geschichten für sehr… lehrreich. Besonders die über den Mann, der in Begleitung eines sehr kleinen Musikers eine Taverne besuchte.«

»Und die war sehr schwer zu übersetzen«, meinte Nobby. »Weil hier in Klatsch niemand weiß, was ein Klavier ist. Dafür gibt es hier ein Saiteninstrument, das…«

»Aufschlußreich war auch die Geschichte von dem Mann, der Arme und Beine in Gips hatte«, sagte Netal.

»Ja, und sie haben gelacht, obwohl es hier ganz andere Türklingeln gibt«, fügte Nobby hinzu. »He, bleibt doch noch…«

Doch die Gruppe am Brunnen löste sich auf. Hände griffen nach Wasserkrügen und trugen sie fort. Besorgte Geschäftigkeit erfaßte die Frauen.

Bana nickte Beti zu. »Äh… danke. Ich fand alles sehr… interessant. Wir müssen jetzt gehen. Es war sehr freundlich von dir, mit uns zu sprechen.«

»Äh… nein, bitte verweilt noch etwas…«

Ein vager Hauch von Parfüm verblieb in der Luft.

Beti richtete einen verärgerten Blick auf Colon. »Manchmal möchte ich dir wirklich ein Ding verpassen«, knurrte sie. »Meine erste verdammte Chance seit Jahren, und du…«

Sie unterbrach sich. Hinter Colon tauchten zahlreiche verwirrte und mißbilligend blickende Mienen auf.

An dieser Stelle hätten die Ereignisse vielleicht einen anderen Verlauf genommen – wäre nicht der Schrei eines Esels erklungen. Er kam von oben.

Der gestohlene Esel – eigentlich eine Eselin – hatte Nobbys unerfahrene Obhut verlassen, um nach Nahrung zu suchen. Freßbares war für sie mit der Tür ihres Stalls verbunden, was sie dazu veranlaßte, durch die nächste offene Tür zu wandern.

Die führte zu einer schmalen Wendeltreppe. Auch ihr Stall war schmal, und Treppen stellten für einen an die Straßen von Al-Khali gewöhnten Esel kein Problem dar.

Die große Enttäuschung kam, als es am Ende der Treppe noch immer kein Heu gab.

»O nein«, sagte jemand hinter Colon. »Es ist schon wieder ein Esel oben im Minarett.«

Die Leute stöhnten.

»Na und?« erwiderte Colon. »Was nach oben klettert, kommt auch wieder herunter.«

»Du weißt nichts davon?« fragte ein Klatschianer aus der Schüsselrunde. »Gibt es keine Minarette in Ur?«

»Äh…«, sagte Colon.

»Wir haben viele Esel«, warf Lord Vetinari ein. Gelächter erklang, und der größte Teil davon meinte Colon.

Einer der Männer deutete ins dunkle Innere des Turms.

»Sieh nur…«

»Eine sehr schmale Wendeltreppe«, sagte der Patrizier. »Und…?«

»Oben hat der Esel nicht genug Platz, um sich umzudrehen. Jeder Narr kann einen Esel über die Wendeltreppe eines Minaretts nach oben führen. Aber hast du schon einmal versucht, den Esel dazu zu bringen, rückwärts über eine schmale Treppe zu gehen, noch dazu im Dunkeln? Das ist unmöglich.«

»Solche Treppen haben irgend etwas an sich«, meinte jemand anders. »Esel fühlen sich von ihnen angezogen. Sie glauben, oben etwas zu finden.«

»Den letzten mußten wir übers Geländer schieben, wißt ihr noch?« sagte einer der Wächter.

»Ja«, bestätigte der andere Wächter. »Es platschte, als er aufs Pflaster fiel.«

»Niemand schiebt Valerie über irgend etwas«, knurrte Beti. »Wenn jemand von euch das versucht, bei den Göttern, dann kriegt er es mit…« Nobby unterbrach sich, und ein böses Lächeln wuchs hinter seinem Schleier in die Breite. »Ich meine, der Betreffende bekommt von mir einen dicken, feuchten Kuß.«

Die ganz hinten stehenden Männer drehten sich um und flohen.

»Es gibt keinen Grund, so gemein zu werden«, sagte ein Wächter.

»Ich meine es ernst!« Beti trat einen drohenden Schritt vor.

Der Wächter wich zurück. »Könnt ihr Herren sie nicht irgendwie… äh… bändigen?«

»Wir?« fragte Lord Vetinari. »Ich fürchte, dazu sind wir nicht fähig. Meine Güte… vielleicht spielt sich hier das gleiche ab wie in Djelibeby, Al.«

»Meine Güte.« Colon stöhnte gehorsam. Das Publikum – beziehungsweise der Teil des Publikums, der sich in sicherer Entfernung von Beti wähnte – lächelte, als es Straßentheater erkannte.

»Wer weiß, ob es ihnen gelungen ist, den Mann von der Fahnenstange zu holen«, fuhr Vetinari fort.

»Oh, vielleicht den größten Teil von ihm«, fügte Colon hinzu.

»Da fällt mir ein, da fällt mir ein…«, sagte der Wächter hastig. »Wie wär’s, wenn wir ein Seil um den Esel binden…«

»… um sie…«, knurrte Beti.

»Ja, um sie, und dann…«

»Dazu wären mindestens drei Männer erforderlich, und dort oben ist einfach nicht genug Platz!«

»Ich habe eine Idee«, flüsterte der zweite Wächter dem ersten zu.

»Beeil dich«, sagte Colon. »Niemand kann Beti aufhalten, wenn sie richtig losgelegt hat.«

Die Wächter flüsterten miteinander.

»Wir kommen in Schwierigkeiten, wenn wir uns auf so etwas einlassen! Du weißt doch, was man uns über die Notwendigkeiten des Krieges erzählt hat… Deshalb sind sie alle beschlagnahmt worden.«

»Wenn wir uns einen für fünf Minuten ausleihen, wird ihn niemand vermissen!«

»Ja, aber möchtest du dem Prinzen mitteilen, daß einer verlorengegangen ist?«

»Na schön. Aber willst du ihr das erklären?«

Sie sahen beide zu Beti.

»Und sie sind ganz leicht zu steuern«, flüsterte einer von ihnen.

»Valerie?« fragte Feldwebel Colon.

»Gibt es irgendein Problem?« erwiderte Beti.

»Nein! Nein. Es ist ein hübscher Name für einen Esel, N… Beti.«

»Niemand unternimmt etwas«, sagte einer der beiden Wächter. »Wir sind gleich wieder da.«

»Was hatte das alles zu bedeuten?« Colon sah den Klatschianern nach.

»Oh, vermutlich holen sie jetzt einen Teppich«, sagte jemand.

»Sehr nett von ihnen«, entgegnete Beti. »Allerdings weiß ich nicht, wie uns das helfen sollte.«

»Einen fliegenden Teppich.«

»Oh, natürlich.« Colon nickte. »Sie haben einen in der Universität…«

»In Ur gibt es eine Universität?«

»Natürlich«, erwiderte der Patrizier. »Wo sollte Al sonst gelernt haben, wie ein Esel aussieht?«

Erneut vertrieb Gelächter den Zweifel. Colon lächelte unsicher.

»Inzwischen habe ich den dummen Idioten ganz gut drauf, nicht wahr?« sagte er. »Ich muß mich dabei nicht einmal anstrengen.«

»Bemerkenswert«, kommentierte der Patrizier.

Der Esel schrie erneut, und es klang recht zornig.

»Allerdings hat man sie alle weggebracht, weil sie für den Krieg benötigt werden«, erklang erneut eine Stimme.

Ein Lehmziegel zerplatzte nicht weit entfernt auf dem Boden.

»So unruhig, wie der Esel dort oben ist… Vermutlich dauert es gar nicht mehr lange, bis er herunterfällt.«

»Vielleicht könnte ich die Eselin dazu bringen, wieder herunterzukommen«, sagte der Patrizier.

»Ausgeschlossen, Offendi. Auf der Treppe kommst du nicht an dem Tier vorbei. Du kannst es nicht umdrehen, und es weigert sich bestimmt, rückwärts die Treppe hinunterzugehen.«

»Ich werde über die Situation nachdenken«, sagte Lord Vetinari.

Er suchte noch einmal die Taverne auf, und kurze Zeit später kehrte er zurück. Die anderen beobachteten, wie er den Turm betrat und die schmale Treppe hinaufging.

»Es hat keinen Zweck«, sagte ein Mann hinter Colon.

Nach einer Weile verstummte der Esel.

»Das Tier kann sich nicht umdrehen«, fuhr der Experte für Esel-in-Minaretten fort. »Dazu reicht der Platz nicht aus. Und kein Esel geht im Dunkeln rückwärts eine Treppe hinunter. Das ist allgemein bekannt.«

»Es gibt überall einen Alleswisser, nicht wahr, Beti?« fragte Colon.

»Ja, überall.«

Stille dehnte sich im Turm aus. Die Zuschauer warteten gespannt.

»Ich meine, wenn es drei oder vier Männer bis ganz nach oben schaffen würden, und das geht nicht, weil ihnen der Esel den Weg versperrt, und wenn jeder von ihnen ein Bein des Tiers nähme, ohne sich darum zu scheren, getreten und gebissen zu werden…«

»Also gut, bitte weicht vom Turm zurück.«

Die Wächter näherten sich, und einer von ihnen trug einen zusammengerollten Teppich.

»Na los, macht Platz, wir brauchen mehr Platz…«

»Ich höre das Pochen von Hufen«, sagte jemand.

»Oh, ja, du glaubst wohl, daß der Mann mit dem Fes den Esel herunterführt, wie?«

»Ich höre es ebenfalls«, ließ sich Colon vernehmen.

Alle Blicke richteten sich auf die Tür.

Lord Vetinari kam zum Vorschein, in der einen Hand eine Leine.

»Na schön, es ist also eine Leine«, ertönte die kritische Stimme hinter Colon. »Und was das Pochen betrifft… Vermutlich hat er mit zwei Kokosnüssen geklopft.«

»Die er zufälligerweise im Turm gefunden hat?«

»Er hatte sie natürlich dabei.«

»Ach, er läuft also dauernd mit irgendwelchen Kokosnüssen herum?«

»Der Esel läßt sich nicht drehen, weil… Na schön, das ist also ein ausgestopfter Eselskopf…«

»Die Ohren bewegen sich!«

»Weil er an Fäden zieht, an Fäden… Na schön, es ist also ein Esel, zugegeben, aber es ist nicht der gleiche Esel. Er hatte ihn in einer verborgenen Tasche… Du brauchst mich gar nicht so anzustarren. Ich habe solche Tricks mit Tauben gesehen…«

Dann schwieg selbst der Ungläubige.

»Esel, Minarett«, sagte Lord Vetinari. »Minarett, Esel.«

»Einfach so?« fragte ein Wächter. »Es war ein Trick, nicht wahr?«

»Natürlich«, erwiderte der Patrizier.

»Ich wußte, daß es ein Trick war.«

»Ja, ein Trick, da hast du völlig recht«, bestätigte Lord Vetinari.

»Na schön. Und wie hast du es angestellt?«

»Du durchschaust den Trick also nicht?«

»Äh… du hattest einen aufblasbaren Esel dabei…«

»Kannst du mir einen Grund dafür nennen, warum ich einen aufblasbaren Esel mit mir tragen sollte?«

»Nun, du…«

»Und zwar einen Grund, den du deiner Mutter erklären könntest, ohne dabei zu erröten?«

»Wenn du es so ausdrückst…«

»Ist doch ganz einfach«, sagte Al-Schnappler. »In einer Wand des Turms ist eine Art Geheimfach.«

»Ihr seht das völlig falsch. Es ist nur das Trugbild eines Esels. Zugegeben, das Trugbild wirkt ziemlich echt, aber…«

Die Hälfte der Leute umringte den Esel, die andere Hälfte drängte sich im Eingang des Turms zusammen, um die dortigen Wände nach einem Geheimfach abzusuchen.

»Ich glaube, wir sollten jetzt gehen, Al und Beti«, sagte Lord Vetinari hinter Colon. »Durch diese kleine Gasse hier. Und wenn wir die nächste Ecke hinter uns gebracht haben, rennen wir los.«

»Warum denn rennen?« fragte Beti.

»Weil ich gerade den fliegenden Teppich gestohlen habe.«

 

Mumm hatte bereits die Orientierung verloren. Die Sonne schien natürlich, aber sie wies nur die Richtung. Er spürte ihr Brennen auf einer Gesichtshälfte.

Und das Kamel schwankte von einer Seite zur anderen. Es gab keine Möglichkeit, die Entfernung zu messen – es sei denn, man nahm Hämorrhoiden zu Hilfe.

Ich trage eine Augenbinde und sitze auf einem Kamel, das ein D’reg reitet, ein Angehöriger des Volkes, das angeblich überhaupt kein Vertrauen verdient. Aber ich bin fast sicher, daß er mich nicht umbringen wird.

»Jetzt kannst du es mir ruhig sagen«, brummte Mumm, als er sich erneut von einer Seite zur anderen neigte. »Warum heißt er 71-Stunden-Ahmed?«

»Er hat einen Mann getötet«, sagte Jabbar.

»Und dagegen haben D’regs etwas einzuwenden?«

»Im Zelt des Mannes! Nachdem er fast drei Tage lang sein Gast gewesen war! Wenn er nur eine weitere Stunde gewartet hätte…«

»Oh, ich verstehe. Schlechte Manieren, ganz klar. Hatte das Opfer irgendeine Schuld auf sich geladen, daß es sich so etwas verdient hatte?«

»Nein! Obwohl…«

»Ja?«

»Er hat El-Ysa umgebracht.« Der Tonfall des D’reg wies darauf hin, daß das kaum mildernde Umstände waren. Vermutlich erwähnte er es allein der Vollständigkeit halber.

»Wer war sie?«

»El-Ysa war ein Dorf. Der Mann vergiftete einen Brunnen. Es gab einen Streit über Religion«, fuhr Jabbar fort. »Eins führte zum anderen. Aber trotzdem: So gegen die Tradition zu verstoßen…«

»Ja, mir ist klar, wie schrecklich das ist. Fast… unhöflich.«

»Die Stunde hatte große Bedeutung. Einige Dinge sind unentschuldbar.«

»In diesem Punkt hast du zweifellos recht.«

Am späten Nachmittag durfte Mumm die Augenbinde abnehmen. Schwarze Felsen ragten aus dem Sand; der Wind hatte ihnen seltsame Formen verliehen. Mumm glaubte, nie einen trostloseren Ort gesehen zu haben.

»Einst soll es hier grün gewesen sein«, sagte Jabbar. »Damals, als es genug Wasser gab.«

»Was geschah dann?«

»Der Wind wehte aus einer anderen Richtung.«

Bei Sonnenuntergang erreichten sie ein Wadi zwischen weiteren vom Wind abgescheuerten Felsen. Die Schatten wurden länger, was den Mulden und Kerben im Gestein mehr Tiefe gab – sie erweckten den Eindruck, uralt zu sein.

»Das sind Gebäude, nicht wahr?« fragte Mumm.

»Einst gab es hier eine Stadt, vor langer Zeit. Wußtest du das?«

»Woher sollte ich das wissen?«

»Leute aus deinem Volk haben sie gebaut. Und ihr Name lautete Taktikum. Nach einem eurer Krieger.«

Mumm sah zu den eingestürzten Mauern und geborstenen Säulen.

»Eine Stadt wurde nach ihm benannt…«, murmelte er wie im Selbstgespräch.

Jabbar gab ihm einen Stoß. »Ahmed beobachtet dich«, sagte er.

»Ich sehe ihn nirgends.«

»Natürlich nicht. Steig ab. Ich hoffe, wir sehen uns wieder. Vielleicht in deinem Paradies – wie auch immer es beschaffen sein mag.«

»Ja, ja…«

Jabbar drehte sein Kamel und verschwand in der Wüste. Sein Kamel schien dabei schneller zu laufen als vorher.

Eine Zeitlang saß Mumm auf einem Felsen, hörte nur das leise Zischen des Winds und das Krächzen eines Vogels in der Ferne.

Er glaubte, das Pochen seines eigenen Herzens zu vernehmen.

»Bimmel… bimmel… bamm…« Der Disorganizer klang besorgt und unsicher.

Mumm seufzte. »Ja? Begegnung mit 71-Stunden-Ahmed?«

»Äh… nein«, erwiderte der Dämon. »Äh… klatschianische Flotte gesichtet… äh…«

»Schiffe der Wüste, wie?«

»Äh… piep… Fehlernummer 746, divergierende temporale Instabilität…«

Mumm schüttelte den Kasten. »Stimmt was nicht mit dir?« fragte er. »Nennst mir noch immer die Termine von jemand anderem, du dummes Ding!«

»Äh… die Termine betreffen einen gewissen Kommandeur Samuel Mumm…«

»Das bin ich!«

»Welcher von euch beiden bist du?« fragte der Dämon.

»Wie bitte?«

»… piep…«

Der Disorganizer lehnte es ab, weitere Auskünfte zu geben. Mumm spielte mit dem Gedanken, ihn einfach wegzuwerfen, aber Sybil wäre sicher verletzt gewesen, wenn sie es herausgefunden hätte. Er verstaute ihn wieder in der Tasche und versuchte, sich erneut auf die Umgebung zu konzentrieren.

Er saß auf etwas, das einst Teil einer Säule gewesen sein mochte. Ähnlich beschaffene Felsbrocken lagen einige Meter entfernt, und wenige Sekunden später stellte er fest: Was er bisher für einen in die Länge gezogenen Geröllhaufen gehalten hatte, war in Wirklichkeit der Rest einer Mauer. Er ging in die entsprechende Richtung, und das Geräusch seiner Schritte hallte dumpf wider. Ihm wurde klar, daß er zwischen alten Gebäuden wanderte beziehungsweise dort, wo sich vor vielen Jahren Gebäude erhoben hatten. Hier fielen ihm die Überreste einer Treppe auf, dort der Stumpf einer Säule.

Einer dieser Stümpfe ragte etwas weiter empor als die anderen. Mumm zog sich nach oben und entdeckte dort zwei große Füße – hier mußte eine Statue gestanden haben, wahrscheinlich in würdevoller Haltung. Jetzt gab es nur noch die Füße; der Rest war dicht über den Fußknöcheln abgebrochen. Besonders würdevoll wirkten sie nicht.

Als er wieder nach unten kletterte, bemerkte er an der windgeschützten Seite tief in den Sockel gemeißelte Buchstaben. Er versuchte, die Worte im verblassenden Licht zu entziffern:

 

AB HOC POSSUM VIDERE DOMUM TUUM

 

Nun, »domum tuum« bedeutete »dein Haus«. Und »videre« konnte mit »sehen« übersetzt werden…

»Was?« fragte Mumm laut. »›Von hier aus kann ich dein Haus sehen‹? Und das soll eine noble Botschaft sein?«

»Ich glaube, es ist eine Mischung aus Prahlerei und Drohung, Sir Samuel«, sagte 71-Stunden-Ahmed. »Ich dachte immer, das sei typisch für Ankh-Morpork.«

Mumm stand ganz still. Die Stimme hatte sich direkt hinter ihm erhoben.

Und sie gehörte Ahmed. Doch jetzt fehlten die Hinweise auf Kamelspucke und Sand, die er in Ankh-Morpork gehört hatte. Ahmed sprach nun wie ein gebildeter Mann.

»Es liegt an den Echos«, fuhr der Klatschianer fort. »Ich könnte überall sein. Und vielleicht habe ich eine Armbrust auf dich gerichtet.«

»Selbst wenn das der Fall ist… Du schießt bestimmt nicht. Für uns beide steht zuviel auf dem Spiel.«

»Oh, es gibt so etwas wie Ehre unter Dieben, nicht wahr?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Mumm. Dies war der geeignete Zeitpunkt, um festzustellen, ob seine Annahmen richtig waren. »Aber gibt es eine Ehre unter Polizisten?«

 

Feldwebel Colon bekam große Augen.

»Ich soll mein Gewicht auf die Seite verlagern, Herr?« fragte er.

»So steuert man fliegende Teppiche«, erwiderte Lord Vetinari ruhig.

»Ja, aber angenommen, ich verlagere mein Gewicht zu weit, zum Beispiel über den Rand hinaus?«

»Dann haben wir mehr Platz«, sagte Beti ungerührt. »Na los, Feldwebel, jetzt kannst du die Pfunde auf deinen Rippen endlich mal zu einem guten Zweck nutzen.«

»Ich möchte, daß die Pfunde auf meinen Rippen bleiben«, entgegnete Colon fest. Er lag der Länge nach auf dem Teppich und klammerte sich mit beiden Händen fest. »Es ist einfach nicht natürlich. Ich meine, nur ein wenig Stoff zwischen mir und einem fatalen Platschen…«

Der Patrizier sah in die Tiefe. »Wir fliegen nicht überm Wasser, Feldwebel.«

»Trotzdem würde es platschen, Herr. Da bin ich ganz sicher.«

»Könnten wir etwas langsamer fliegen?« fragte Beti. »Der Fahrtwind berührt mich an sehr empfindlichen Stellen.«

Lord Vetinari seufzte. »Wir fliegen nicht einmal sehr schnell. Ich schätze, dieser Teppich ist schon etwas älter.«

»Hier ist eine ausgefranste Stelle«, sagte Beti.

»Sei still«, ächzte Colon.

»Sieh nur, ich kann den Finger durchbohren…«

»Sei still.«

»Und merkst du, wie der Teppich immer wieder wackelt?«

»Meine Güte, von hier aus gesehen, wirken die Palmen da unten ziemlich klein.«

»Nobby, du leidest an Höhenangst«, sagte Colon. »Ich weiß, daß du an Höhenangst leidest.«

»Jetzt greifst du in die Mottenkiste sexueller Klischees!«

»Greife ich nicht!«

»Greifst du doch! Demnächst erwartest du sicher, daß ich mir den Fuß verstauche und immerzu schreie! Aber ich werde dir beweisen, daß eine Frau durchaus ihren Mann stehen kann!«

»Du warst zu lange in der Sonne, Nobby. Ja, das ist der Grund. Du bist doch gar keine Frau!«

Beti schniefte. »Solche sexistischen Bemerkungen habe ich von dir erwartet.«

»Du bist männlichen Geschlechts!«

»Hier geht es ums Prinzip.«

»Wenigstens haben wir jetzt ein Transportmittel«, sagte Lord Vetinari, und sein Tonfall wies darauf hin, daß die Vorstellung beendet war. »Leider konnte ich nicht herausfinden, wo das Heer stationiert ist.«

»Oh, da kann ich dir helfen, Herr!« Colon versuchte zu salutieren und hielt sich dann wieder krampfhaft am Teppich fest. »Mit einigen schlauen Fragen ist es mir gelungen, die benötigten Informationen zu bekommen!«

»Tatsächlich?«

»Ja, Herr! Der Ort heißt…äh… En al Sams la Laisa, Herr.«

Einige Sekunden lang herrschte Stille auf dem fliegenden Teppich.

»›Der Ort, wo die Sonne nie scheinet‹?« übersetzte der Patrizier.

Wieder war es still. Colon versuchte, niemanden anzusehen.

»Gibt es einen Ort namens Gebra?« fragte Nobby verdrießlich.

»Ja, Be… Korporal. Einen solchen Ort gibt es wirklich.«

»Die Soldaten sind dort. Natürlich habt ihr dafür nur das Wort einer Frau.«

»Gute Arbeit, Korporal. Wir fliegen an der Küste entlang.«

Lord Vetinari entspannte sich. In seinem sehr ereignisreichen Leben hatte er nie Personen wie Nobby und Colon kennengelernt. Sie redeten die ganze Zeit, und doch haftete ihnen fast etwas… Ruhiges an.

Aufmerksam beobachtete er den staubigen Horizont, während der Teppich dem Verlauf der Küste folgte. Unter dem Arm des Patriziers steckte der metallene Zylinder, den Leonard für ihn angefertigt hatte.

Drastische Zeiten erforderten drastische Maßnahmen.

»Herr?« fragte Colon. Der Teppich dämpfte seine Stimme.

»Ja, Feldwebel?«

»Ich muß es wissen… Wie…äh… wie ist es dir gelungen, den Esel nach unten zu bekommen?«

»Mit Überredungskunst, Feldwebel.«

»Was, allein mit Worten?«

»Und mit einem Stock.«

»Oh, ich wußte es…«

»Um einen Esel von einem Minarett zu holen«, erklärte der Patrizier und blickte dabei über die klatschianische Wüste, »muß man den Teil des Esels finden, der unbedingt nach unten will.«

 

Der Wind ließ nach, und in der Ferne verklang das Krächzen des Vogels. Mumm hörte nur noch ein leises Zischen und Knistern von den nächtlichen Bewohnern der Wüste.

»Ich bin sehr beeindruckt, Sir Samuel«, ertönte Ahmeds Stimme.

Mumm atmete tief durch. »Du hast mich wirklich getäuscht«, sagte er. »›Mögen deine Lenden Früchte tragen.‹ Nicht übel. Ich hielt dich tatsächlich für…« Er unterbrach sich.

»Für einen Kameltreiber mit einem Handtuch auf dem Kopf?« beendete Ahmed den Satz. »Meine Güte. Und dabei hast du bisher gute Arbeit geleistet, Sir Samuel. Auch der Prinz war beeindruckt.«

»Oh, ich bitte dich. Deine mehrdeutigen Bemerkungen über Melonen… Konnte ich sie anders deuten?«

»Sei unbesorgt, Sir Samuel. Ich fühle mich von all dem geehrt. Übrigens kannst du dich jetzt umdrehen. Es käme mir nicht in den Sinn, dir ein Leid zuzufügen. Es sei denn, du stellst etwas… Törichtes an.«

Mumm drehte sich um und erkannte eine schemenhafte Gestalt.