Tantony nickte, setzte den Weg über die Brücke fort, blieb dicht vor der Baronin stehen und salutierte.

»Bring diese Leute fort!«, stieß sie hervor.

»Lady Serafine von Überwald?«, fragte Tantony hölzern.

»Du weißt, wer ich bin, Mann!«

»Ich möchte mit dir über gewisse Anklagen sprechen, die in meiner Gegenwart erhoben wurden.«

Mumm schloss die Augen. Du armer Idiot, dachte er. Himmel, ich wollte nicht, dass du wirklich…

»Du möchtest was?«, fragte die Baronin.

»Es wurde behauptet, dass ein oder mehrere Mitglieder deiner Familie in eine Verschwörung verwickelt sind, die…«

»Wie kannsst du ess wagen!«, heulte Serafine.

Wolfgang sprang, und die Zukunft wurde zu einer Serie aus flackernden Bildern.

Mitten in der Luft verwandelte er sich in einen Wolf.

Mumm streckte die Hand nach Detritus’ Armbrust aus und stemmte sie nach oben, als der Troll abdrückte.

Karotte lief los, bevor Wolfgang auf Hauptmann Tantonys Brust landete.

Das Geräusch von der riesigen Armbrust hallte durchs Schloss und überlagerte das Surren der tausend winzigen, über den Himmel jagenden Fragmente.

Karotte sprang, stieß mit der Schulter gegen Wolfgang und riss ihn von Tantony herunter.

Und dann explodierte die Szene regelrecht, wie bei einem Klicker, den jemand zu schnell drehte.

Karotte stand auf und…

Vermutlich liegt es daran, dass wir im Ausland sind, dachte Mumm. Er versuchte, die Dinge richtig zu machen.

Er ging vor dem Werwolf in Kampfstellung und hob beide Fäuste, wie in Abbildung 1 von Die ehrenwerte Kunst des Faustkampfs. Eine solche Pose wirkte recht beeindruckend – bis einem der Gegner die Nase mit einem Bierkrug brach.

Karotte schlug mit der Wucht eines Vorschlaghammers und versetzte Wolfgang zwei Hiebe, als dieser aufstand.

Der Werwolf schien in erster Linie erstaunt zu sein und kaum Schmerzen zu empfinden. Er wechselte die Gestalt, griff mit beiden Händen nach einer Faust und drückte zu. Entsetzt beobachtete Mumm, wie er Karotte ohne erkennbare Mühe zwang zurückzutreten.

»Bleib hübsch brav, Angua«, sagte Wolf und lächelte zufrieden. »Andernfalls breche ich ihm den Arm. Oder vielleicht breche ich ihn trotzdem! Ja!«

Mumm hörte sogar das Knacken. Karotte erblasste. Jemand, der einen gebrochenen Arm hält, hat jede Kontrolle, die er braucht. Noch ein Idiot, fuhr es Mumm durch den Sinn. Wenn der Gegner am Boden liegt, lässt man ihn nicht aufstehen! Verdammter Marquis von Fantailler! Einen Kampf nach bestimmten Regeln zu führen, mochte theoretisch eine gute Idee sein, aber letztendlich kam es nur darauf an, wer als Erster auf dem Boden lag und sich nicht mehr rührte.

»Ah, und er hat noch andere Knochen!«, sagte Wolfgang und schob Karotte vor sich her. Er warf Angua einen kurzen Blick zu. »Zurück mit dir, zurück. Oder ich bereite ihm noch mehr Pein. Ach, soll er leiden!«

Karotte trat ihm in den Bauch.

Wolfgang kippte nach hinten, stieß sich ab und vollführte einen Salto rückwärts. Er landete auf den Beinen, sprang sofort wieder vor und versetzte dem verblüfften Karotte zwei wuchtige Schläge gegen die Brust.

Es hörte sich an, als träfen Schaufeln auf nassen Beton.

Wolfgang packte den fallenden Mann, hob ihn mit einer Hand über den Kopf und schleuderte ihn vor Angua auf die Zugbrücke. »Ein zivilisierter Mann!«, rief er. »Da hast du ihn, Schwester!«

Mumm hörte ein Geräusch neben sich. Gavin beobachtete das Geschehen aufmerksam, und sein dumpfes Knurren klang drängend. Ein kleiner Teil von Mumm, der granitharte Kern aus Zynismus tief in seinem Innern, dachte: Damit wäre für dich alles in Ordnung, nicht wahr?

Dampf stieg von Wolfgang auf. Sein Leib glänzte im Fackelschein. Das blonde Haar an seinen Schultern wirkte wie ein verrutschter Heiligenschein.

Angua kniete mit ausdrucksloser Miene neben Karotte. Mumm hatte einen wütenden Schrei erwartet.

Stattdessen hörte er ein Schluchzen.

Gavin jaulte. Mumm starrte auf den Wolf hinab. Der sah zu Angua, die Karotte hochzuziehen versuchte, dann zu Wolfgang und wieder zu Angua.

»Sonst noch jemand?«, fragte Wolfgang und tänzelte auf der Brücke. »Wir wär’s mit dir, Herr Zivilisiert?«

»Sam!«, zischte Sybil. »Du kannst nicht…«

Mumm zog sein Schwert, obwohl es jetzt keinen Unterschied mehr machte. Wolfgang spielte nicht. Er schlug nicht zu, um anschließend wegzulaufen. Solche Arme konnten eine Faust ganz durch Mumms Brustkasten schieben.

Ein Schemen sauste in Schulterhöhe an ihm vorbei. Gavin prallte an Wolfgangs Kehle und warf ihn von den Beinen. Sie rollten über die Zugbrücke. Wolfgang verwandelte sich in einen Wolf und biss ebenfalls zu. Wenige Sekunden später lösten sie sich voneinander, schlichen umeinander herum und begannen dann mit der zweiten Runde.

Wie im Traum vernahm Mumm eine leise Stimme: »Zu Hause würde er keine fünf Sekunden durchhalten, wenn er so kämpft. Der dumme Kerl bekommt eine Abreibung, wenn er so weitermacht! Verdammter Marquis-von-Fantailler-Kram!«

Gaspode saß kerzengerade, und sein Schwanzstummel vibrierte.

»Dämlicher Kerl! So zieht man sich aus der Affäre, wenn’s ernst wird!«

Während die beiden Wölfe hin und her rollten – Wolfgangs Zähne bohrten sich in Gavins Bauch –, traf Gaspode ein, kläffte und schnappte nach der empfindlichsten Stelle des Werwolfs.

Ein Jaulen erklang, und Gaspodes Knurren wurde dumpfer. Wolfgang kam senkrecht in die Höhe, und Gavin sprang ebenfalls. Zwei große Wölfe und eine kleine Promenadenmischung stießen an die Brüstung, deren bröckliges Gestein nachgab. Für einen Augenblick formten sie einen knurrenden Ball, dann fielen sie dem tief unten schäumenden Fluss entgegen.

Seit Tantony die Brücke überquert hatte, war nicht mehr als eine Minute vergangen.

Die Baronin starrte in die Schlucht. Mumm behielt sie im Auge, als er sich an Detritus wandte.

»Sind Werwölfe für dich wirklich keine Gefahr, Feldwebel?«

»Nein, Herr. Außerdem ich jetzt wieder gespannt habe die Armbrust.«

»Geh ins Schloss und hol den dortigen Igor«, sagte Mumm. »Wenn jemand versucht, dich aufzuhalten, erschieß ihn. Und erschieß auch die Leute in seiner Nähe.«

»Kein Problem, Herr.«

»Wir sind hier nicht bei Herrn Vernünftig zu Hause, Feldwebel.«

»Ich ihn nicht anklopfen höre, Herr.«

»Dann los mit dir. Feldwebel Angua?«

Sie sah nicht auf.

»Feldwebel Angua!«

Jetzt hob sie den Kopf.

»Wie kannst du so… ruhig sein?«, fragte sie scharf. »Er ist verletzt

»Ich weiß. Geh und sprich mit den Wächtern am anderen Ende der Brücke. Sie wirken verunsichert. Ich möchte nicht, dass es zu irgendwelchen Zwischenfällen kommt. Wir brauchen sie noch. Grinsi, deck Karotte und den anderen Mann mit etwas zu. Sie sollen es warm haben.«

Wenn es doch nur etwas gäbe, das mich wärmen könnte, dachte er. Die Gedanken kamen langsam, wie Tropfen aus gefrierendem Wasser. Er hatte das Gefühl, dass sich Eis knisternd von ihm lösen und er Spuren aus Raureif zurücklassen würde, wenn er sich jetzt bewegte. Verharschter Schnee schien seinen Kopf zu füllen.

»Und nun, Verehrteste…«, sagte er zur Baronin. »Gib mir die Steinsemmel.«

»Er kommt zurück!«, fauchte Serafine. »Der Sturz in die Tiefe machte ihm überhaupt nichts aus! Früher oder später findet er dich.«

»Zum letzten Mal… Gib mir die Steinsemmel der Zwerge. Die Wölfe warten dort draußen. Und die Zwerge warten unten in ihrer Stadt. Gib mir die Semmel – dann überleben wir vielleicht. Dies ist Diplomatie. Zwing mich nicht, etwas anderes zu versuchen.«

»Ich brauche nur ein Wort zu sagen…«

Angua knurrte.

Sybil schritt zur Baronin und packte sie an den Schultern. »Du hast nicht einen Brief von mir beantwortet! All die Jahre über habe ich dir geschrieben!«

Die Baronin starrte sie verblüfft an und teilte damit die Reaktion von Leuten, die mit Sybils scharfen, aus dem Zusammenhang gerissenen Bemerkungen konfrontiert wurden.

»Wenn dir bekannt ist, dass wir die Steinsemmel haben, so solltest du auch wissen, dass es nicht das Original ist«, sagte Serafine zu Mumm. »Sie nützt den Zwergen überhaupt nichts!«

»Ja, du hast sie in Ankh-Morpork herstellen lassen! In Ankh-Morpork! Vielleicht sogar mit Stempel auf der Unterseite. Aber jemand hat den Mann umgebracht, der die Nachbildung produziert hat. Das ist Mord. Und Mord ist gegen das Gesetz.« Mumm nickte der Baronin zu. »So etwas haben wir in Ankh-Morpork.«

 

Gaspode zog sich aus dem Wasser und blieb zitternd auf Kies stehen. Er fühlte sich wie durch die Mangel gedreht. Irgendetwas klingelte auf sehr unangenehme Weise in seinen Ohren. Blut tropfte von einem Bein.

Er entsann sich nur vage an die letzten Minuten, aber ein großer Teil dieser Erinnerungen wurde von ziemlich viel Wasser beansprucht, das wie mit Hämmern zuschlug.

Er schüttelte sich. Die Nässe in seinem Fell gefror bereits.

Aus reiner Angewohnheit ging er zum nächsten Baum und hob dort ein Bein, obwohl ihm das Schmerzen bereitete.

ENTSCHULDIGUNG.

Hektische, nachdenkliche Stille folgte.

»Das war nicht besonders nett von dir«, sagte Gaspode.

TUT MIR LEID. VIELLEICHT IST DIES NICHT DER RICHTIGE AUGENBLICK.

»Zumindest nicht für mich. Ich hätte mich verletzen können.«

UNTER SOLCHEN UMSTÄNDEN FÄLLT ES SCHWER, GEEIGNETE WORTE ZU FINDEN.

»Ich meine, normalerweise sprechen Bäume nicht.« Gaspode seufzte. »Was passiert jetzt?«

WIE BITTE?

»Ich bin tot, stimmt’s?«

NEIN. NIEMAND ÜBERRASCHT DAS MEHR ALS MICH, UM GANZ EHRLICH ZU SEIN, ABER OFFENBAR IST DEINE ZEIT NOCH NICHT GEKOMMEN.

Tod holte eine Sanduhr hervor und hob sie kurz ins kalte Licht der Sterne. Dann ging er fort und schritt am Ufer entlang.

»Äh, du könntest mich nicht zufällig mitnehmen, oder?«, fragte Gaspode und versuchte, ihm zu folgen.

NEIN.

»Weißt du, wenn ein kleiner Hund durch tiefen Schnee läuft, so ist das nicht gut für seine Dingsbums, wenn du verstehst, was ich meine…«

Tod blieb an einem formlosen Haufen stehen, der dicht am Ufer im wenige Zentimeter tiefen Wasser lag.

»Oh«, sagte Gaspode.

Tod bückte sich. Etwas blitzte blau, und dann verschwand er.

Gaspode schauderte. Er watete durchs Wasser und stieß Gavins nasses Fell mit der Schnauze an.

»Es sollte nicht auf diese Weise enden«, jaulte er. »Wenn du ein Mensch wärst, würde man dich in ein großes Boot legen und es brennend über den Fluss treiben lassen, damit es alle sehen. Du solltest nicht einfach hier im kalten Wasser liegen.«

Die Umstände verlangten nach etwas. Ein tief in ihm verankerter Instinkt teilte Gaspode dies mit. Er kehrte ans Ufer zurück und kletterte dort auf den Stamm einer umgestürzten Weide.

Er räusperte sich. Und dann heulte er.

Es begann zögernd und nicht sehr eindrucksvoll, aber das Geräusch wurde lauter, gewann mehr Kraft… Und als Gaspode eine kurze Pause einlegte, um Luft zu holen, ging das Heulen weiter, sprang von Kehle zu Kehle durch den Wald.

Es umgab ihn, als er vom Weidenstamm herunterrutschte und versuchte, höheres Gelände zu erreichen. Es hob ihn über den tiefen Schnee. Es wand sich um die Bäume, ein Zopf aus vielen Stimmen, der ein eigenes Leben zu entwickeln schien. Gaspode dachte: Vielleicht erreicht das Geheul sogar Ankh-Morpork. Und vielleicht kommt es noch viel weiter.

 

Die Baronin beeindruckte Mumm. Sie leistete noch immer Widerstand, obwohl es keinen Ausweg mehr für sie gab.

»Ich weiß nichts von irgendwelchen Todesfällen…«

Ein Heulen kam aus dem Wald. Wie viele Wölfe gab es dort? Man sah sie nie, aber wenn sie plötzlich heulten, hatte man das Gefühl, dass hinter jedem Baum einer stand. Diesmal schien das Geheul kein Ende nehmen zu wollen. Es klang wie ein Ruf, den jemand in einen See aus Luft geworfen hatte – Wellen breiteten sich über die Berge aus.

Angua neigte den Kopf nach hinten und schrie. Dann atmete sie zischend, näherte sich der Baronin und krümmte die Finger.

»Gib ihm… den verdammten Stein«, fauchte sie. »Will jemand… von euch… gegen mich… kämpfen? Jetzt? Gib ihm den Stein!«

»Wie kann ich zu Dienften fein?«

Igor humpelte durch die Reste des Tors, gefolgt von Detritus. Er bemerkte die beiden Gestalten, die auf der Zugbrücke lagen, und hastete sofort zu ihnen, wobei er sich bewegte, wie eine ziemlich große Spinne.

»Hol den Stein«, knurrte Angua. »Und dann… gehen… wir. Ich rieche ihn. Soll ich ihn holen

Serafine starrte sie an, drehte sich dann abrupt um und eilte ins Schloss. Die anderen Werwölfe wichen vor Angua zurück, als wäre ihr Blick eine Peitsche.

»Wenn du diesen Männern nicht helfen kannst«, sagte Mumm zum knienden Igor, »ist es um deine Zukunft schlecht bestellt.«

Igor nickte. »Diefer hier…« Er deutete auf Tantony. »Nur Fleischwunden. Kann ihn schnell zufammennähen, kein Problem. Diefer hier…« Er berührte Karotte. »Der Arm ift gebrochen, und zwar auf fiemlich scheufliche Weife.« Er sah auf. »Hat Wolfgang mit ihm gefpielt?«

»Kannst du ihn heilen?«, fragte Mumm scharf.

»Oh, heute ift fein Glückftag«, erwiderte Igor. »Ich kann ihn fogar verbeffern. Ich habe gerade heute Nieren bekommen, ein aufgefeichnetef Paar, gehörten dem jungen Herrn Krapanfki, rührte praktisch nie etwaf Hochprofentigef an, hatte wirklich Pech mit der Lawine…«

»Braucht er neue Nieren?«, fragte Angua.

»Nein, aber man follte jede Gelegenheit nutfen, fich zu verbeffern, daf ift meine Meinung.«

Igor lächelte und bot damit einen sonderbaren Anblick. Die Narben krochen wie Raupen in seinem Gesicht umher.

»Kümmere dich nur um den Arm«, sagte Mumm mit fester Stimme.

Die Baronin erschien wieder, begleitet von mehreren Werwölfen. Sie wichen ebenfalls zurück, als Angua sich ihnen zuwandte.

»Hier, nimm«, sagte Serafine. »Nimm das verdammte Ding. Es ist eine Fälschung. Es wurde kein Verbrechen begangen.«

»Ich bin Polizist«, sagte Mumm. »Ich finde immer ein Verbrechen.«

 

Unter seinem Gewicht glitt der Schlitten den Weg hinunter Richtung Bums. Die Wächter der Stadt liefen daneben her und schoben gelegentlich. Ohne ihren Hauptmann waren sie verunsichert und nicht bereit, Befehle von Mumm entgegenzunehmen. Aber sie akzeptierten Anguas Anweisungen, denn Angua gehörte zu den Leuten, denen sie normalerweise gehorchten.

Die beiden Verletzten lagen auf Decken.

»Angua?«, fragte Mumm.

»Ja, Herr?«

»Wölfe begleiten uns. Ich sehe, wie sie zwischen den Bäumen laufen.«

»Ich weiß.«

»Sind sie auf unserer Seite?«

»Sagen wir, sie sind auf keiner Seite. Sie mögen mich nicht sehr, aber sie wissen, dass… Gavin mich mochte, und nur darauf kommt es jetzt an. Einige von ihnen halten nach meinem Bruder Ausschau.«

»Könnte er den Sturz überlebt haben? Es ging ziemlich tief runter.«

»Nun, es gab weder Feuer noch Silber, nur schäumendes Wasser, meilenweit. Vermutlich hat es sehr wehgetan, aber wir heilen bemerkenswert schnell, Herr.«

»Äh, es tut mir Leid, dass…«

»Nein, Herr Mumm, es tut dir nicht Leid. Und es sollte dir auch gar nicht Leid tun. Karotte verstand einfach nicht, wer Wolfgang ist. Jemanden wie ihn kann man nicht in einem fairen Kampf besiegen. Ich weiß, dass er zur Familie gehört, aber… persönlich ist nicht gleichbedeutend mit wichtig. Das sagte Karotte immer.«

»Er sagt es immer«, erklang Sybils scharfe Stimme.

»Ja.«

Karotte öffnete die Augen. »Was… ist auf der Brücke passiert?«, fragte er.

»Wolfgang hat dich geschlagen.« Angua wischte ihm die Stirn ab.

»Womit?« Karotte versuchte sich aufzusetzen, schnitt eine Grimasse und sank zurück.

»Was habe ich dir über den Marquis von Fantailler erzählt?«, fragte Mumm.

»Entschuldigung, Herr.«

Etwas Helles stieg aus dem fernen Wald auf. Es verschwand, und dann dehnte sich grüner Glanz aus. Wenige Sekunden später ertönte das dumpfe Pochen des Signalmörsers.

»Die Nachrichtenübermittler haben den Turm erreicht«, sagte Mumm.

»Kann dieses verdammte Ding nicht schneller fahren?«, fragte Angua.

»Ich meine, jetzt können wir uns mit Ankh-Morpork in Verbindung setzen«, sagte Mumm. Erstaunlicherweise verbesserte das seine Stimmung beträchtlich. Es war wie eine Art menschliches Heulen. Er zappelte nicht mehr im Nichts, sondern am Ende einer sehr langen Leine, und das war ein großer Unterschied.

 

Der Versammlungsraum lag über einem Laden in Bums, und da er allen gehörte, erweckte er den Eindruck, niemandem zu gehören. Staub lag in den Ecken, und die zu einem Kreis angeordneten Stühle waren nicht wegen ihrer Bequemlichkeit ausgewählt worden, sondern vor allem deshalb, weil sie sich gut stapeln ließen.

Lady Margolotta bedachte die versammelten Vampire mit einem freundlichen Lächeln. Sie mochte diese Treffen.

Die anderen bildeten eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, und Lady Margolotta fragte sich, was ihre Motive sein mochten. Vielleicht teilten sie alle eine Überzeugung: Zwar wurde man mit einer bestimmten Identität geboren, aber man blieb nicht in ihr gefangen und konnte zu jemand anderem werden…

Der Trick bestand darin, klein anzufangen. Saugen, aber nicht aufspießen. Kleine Schritte. Und dann stellte man fest, dass man vor allem Macht wollte, und es gab sanftere Methoden, sie zu erringen. Und dann begriff man, dass Macht im Grunde genommen banal war. Jeder Halunke auf der Straße konnte mächtig sein. In Wirklichkeit ging es um Kontrolle. Lord Vetinari wusste das. Wenn schwere Gewichte an der Waage hingen, musste man die Stelle erkennen, wo der Daumen zudrücken sollte.

Und die Kontrolle begann mit der eigenen Person.

Lady Margolotta stand auf. Sie musterte ein wenig besorgte, aber freundliche Gesichter.

»Mein Name lautet in der kurzen Form Lady Margolotta Amaya Katerina Assumpta Crassina von Überwald, und ich bin ein Vampir…«

»Hallo, Lady Margolotta Amaya Katerina Assumpta Crassina von Überwald!«, intonierten die anderen.

»Inzwischen sind es fast vier Jahre«, sagte Lady Margolotta, »und noch immer nehme ich mir jeweils die nächste Nacht vor. Ein Hals wäre auf jeden Fall ein Hals zu viel. Aber… es gibt einen Ausgleich…«

 

Am Tor von Bums standen keine Wachen, aber Zwerge warteten vor der Botschaft, als der Schlitten hielt. Die angespannten Wölfe wurden nervös und jaulten Angua zu.

»Ich muss sie laufen lassen«, sagte sie und stieg aus. »Sie sind nur bis hierher gekommen, weil sie Angst vor mir haben…«

Das überraschte Mumm nicht. Im Moment hätte Angua überall Furcht hervorgerufen.

Trotzdem eilten einige Zwerge zum Schlitten.

Bestimmt brauchten sie einige Sekunden, um sich einen Überblick zu verschaffen, vermutete Mumm. Sie sahen Stadtwächter, einen Igor und einen Werwolf. Das musste sie verwirren und Argwohn in ihnen wecken. Dadurch hatte Mumm einen Ansatzpunkt. Er gab es nur ungern zu, aber ein arroganter Mistkerl hatte immer einen Vorteil.

Er richtete einen scharfen Blick auf den Anführer der Zwerge. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Du bist ver…«

»Weißt du, dass die Steinsemmel gestohlen wurde?«

»Du… was?«

Mumm griff nach unten und hob einen Sack vom Schlitten.

»Bringt die Fackeln näher!«, rief er, und sie gehorchten ihm, weil er die Anweisung in einem Tonfall erteilte, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie der Anweisung nachkommen würden. Ich habe etwa zwanzig Sekunden, dachte Mumm. Dann lässt der Zauber nach.

»Seht euch das an«, sagte er und zog einen Gegenstand aus dem Sack.

Einige Zwerge sanken auf die Knie. Ein Murmeln breitete sich aus. Noch ein Heulen, noch ein Gerücht… In seinem Zustand sah er vor dem blutunterlaufenen inneren Auge, wie sich die Signalarme der Türme bewegten und Gennua exakt die Nachricht übermittelten, die von Ankh-Morpork geschickt worden war.

»Ich möchte das hier dem König bringen«, sagte er und beendete damit die andachtsvolle Stille.

»Wir bringen sie dem König«, sagte der Anführer der Zwerge und trat vor.

Mumm wich zur Seite.

»Guten Abend, Jungs«, sagte Detritus und richtete sich auf dem Schlitten auf.

Die Federn der riesigen Armbrust waren einem enormen Druck ausgesetzt und verursachten ein Geräusch wie ein metallenes Tier, das extreme Schmerzen litt. Etwas mehr als einen halben Meter trennte den Zwerg von mehreren Dutzend Pfeilspitzen.

»Andererseits könnten wir auch unser Gespräch fortsetzen«, sagte Mumm. »Du scheinst mir ein Zwerg zu sein, der gern spricht.«

Der Zwerg nickte.

»Zunächst einmal: Gibt es irgendeinen Grund, warum die beiden Verletzten auf dem Schlitten nicht in die Botschaft gebracht werden könnten, bevor sie sterben?«

Die Armbrust zuckte in Detritus’ Händen.

Der Zwerg schüttelte den Kopf.

»Sie dürfen in der Botschaft behandelt werden?«, vergewisserte sich Mumm.

Der Zwerg nickte erneut und starrte weiter in ein Pfeilbündel, das größer war als sein Kopf.

»Potzblitz. Es ist wirklich erstaunlich, was man mit einem einfachen Gespräch erreichen kann. Und jetzt schlage ich vor, dass du mich verhaftest.«

»Du möchtest dich von mir verhaften lassen?«

»Ja. Und auch Lady Sybil. Wir liefern uns deiner persönlichen Gerichtsbarkeit aus.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Sybil. »Ich verlange, verhaftet zu werden.« Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, in eine Aura rechtschaffener Empörung gehüllt. Die Zwerge wichen vor etwas zurück, das sie für einen bisher noch nicht explodierten Busen halten mussten.

»Und da die Verhaftung des Botschafters zweifellos zu gewissen… Problemen mit Ankh-Morpork führt, rate ich dir dringend, uns sofort zum König zu bringen«, fügte Mumm hinzu.

Der Zufall wollte es, dass genau in diesem Augenblick ein weiteres Signal über dem fernen Nachrichtenturm leuchtete. Für einige Sekunden glänzte grünes Licht auf den Schnee herab.

»Was bedeutet das?«, fragte der Zwerg.

»Es bedeutet, dass Ankh-Morpork schon Bescheid weiß«, behauptete Mumm und hoffte inständig, dass es der Wahrheit entsprach. »Du möchtest bestimmt nicht der Zwerg sein, der den Krieg begonnen hat, oder?«

Der Zwerg sprach mit dem Zwerg an seiner Seite. Ein dritter Zwerg gesellte sich den ersten beiden hinzu. Den folgenden raschen Wortwechsel verstand Mumm nicht, doch hinter ihm flüsterte Grinsi: »Er fühlt sich überfordert. Er möchte auf keinen Fall, dass die Steinsemmel zu Schaden kommt.«

»Gut.«

Die Zwerge wandten sich wieder Mumm zu. »Was ist mit dem Troll?«

»Oh, Detritus bleibt in der Botschaft«, sagte Mumm.

Das schien zumindest ein Problem zu lösen, aber die Debatte blieb weiter recht ernst.

»Was passiert jetzt?«, hauchte Mumm.

»Es gibt keinen Präzedenzfall«, raunte Grinsi. »Du giltst als Mörder, aber du kehrst zurück, um mit dem König zu reden, und du hast die Steinsemmel…«

»Es gibt keinen Präzedenzfall?«, fragte Sybil. »Und ob es einen gibt, verdammt, und entschuldigt mein Klatschianisch…« Sie holte tief Luft und begann zu singen.

»Oh«, brachte Grinsi verblüfft hervor.

»Was?«, fragte Mumm.

Die Zwerge starrten Lady Sybil an, als sie durch die akustischen Gänge schaltete, bis ihre Stimme schließlich volle Opernkapazität erreichte. Für einen Amateursopran zeichnete sie sich durch einen bemerkenswerten Umfang aus. Für den professionellen Einsatz auf der Bühne mochte sie ein wenig zu zittrig sein, aber sie hatte genau die richtige Koloratur, um den Zwergen zu imponieren.

Schnee rutschte von Dächern. Eiszapfen zitterten. Meine Güte, dachte Mumm. Wenn sie ein mit Metallspitzen besetztes Korsett und einen Helm mit Flügeln trüge, könnte sie tote Krieger von einem Schlachtfeld holen, um sie ins Paradies zu geleiten…

»Das ist Eisenhammers Geiselarie«, sagte Grinsi. »Jeder Zwerg kennt sie! Äh, sie lässt sich nur schwer übersetzen, aber… ›Ich bin gekommen, um meine Liebe auszulösen, ich bringe ein sehr wertvolles Geschenk, jetzt hat nur noch der König Macht über mich, es ist gegen alle Gesetze der Welt, sich mir in den Weg zu stellen, denn die Wahrheit hat einen größeren Wert als Gold…‹ Äh, die letzte Zeile wurde immer wieder in Frage gestellt, Herr, aber sie gilt als akzeptabel, wenn die Wahrheit angemessen groß ist…«

Mumm beobachtete die Zwerge. Sie waren fasziniert. Einige von ihnen bewegten die Lippen und formten lautlos die Worte der Arie.

»Klappt es?«, flüsterte er.

»Man kann sich kaum einen wichtigeren Präzedenzfall vorstellen, Herr. Ich meine, dies ist das Lied der Lieder! Der letzte Appell! Es ist fast Teil des Zwergenrechts! Sie können nicht ablehnen. Sie würden praktisch… aufhören, Zwerge zu sein, Herr!«

Mumm sah, wie einer der Zwerge ein aus dünnen Ketten bestehendes Taschentuch hervorholte und sich mit leisem Klirren die Nase putzte. Einige andere brachen in Tränen aus.

Als der letzte Ton verhallte, folgte Stille. Und dann knallten Äxte auf Schilde.

»Es ist alles in Ordnung!«, sagte Grinsi erleichtert. »Sie applaudieren!«

Sybil schnaufte vor Anstrengung und sah ihren Mann an. Ihr Gesicht glühte im Fackelschein. »Glaubst du, das war richtig?«, fragte sie.

»Nach den Geräuschen zu urteilen, bist du jetzt ein Ehrenzwerg«, erwiderte Mumm. Er bot ihr den Arm. »Gehen wir?«

 

Die Neuigkeiten eilten ihnen voraus. Zwerge strömten durch den Zugang zur unterirdischen Stadt, als der Herzog und die Herzogin eintrafen.

Auch hinter ihnen liefen nun Zwerge. Überall herrschte große Aufregung. Ständig streckten sich Hände aus, um die Steinsemmel zu berühren.

Zwerge drängten sich zusammen mit ihnen in den Lift. Unten wich das Donnern zahlloser Stimmen jäher Stille, als Mumm vortrat und die Semmel über den Kopf hob. Eine Sekunde später erzitterten die Felswände, als unbeschreiblicher Jubel erklang.

Und sie sehen das Ding nicht einmal, dachte Mumm. Für die meisten von ihnen ist es nur ein kleiner weißer Fleck. Und das wussten die Verschwörer. Man musste nicht unbedingt etwas stehlen, um es als Druckmittel zu benutzen.

»Sie müssen sofort verhaftet werden!« Dee eilte herbei, gefolgt von weiteren Wächtern.

»Noch einmal?«, fragte Mumm. Er hielt die Semmel noch immer hoch erhoben.

»Du hast versucht, den König zu töten! Und du bist aus der Zelle geflohen!«

»Was das angeht, sollten wir vielleicht zusätzliches Beweismaterial sammeln«, sagte Mumm so ruhig wie möglich. »Du kannst die Leute nicht auf Dauer im Dunkeln lassen, Dee.«

»Du wirst auf keinen Fall mit dem König sprechen!«

»Dann lasse ich die Semmel fallen!«

»Und wenn schon! Es spielt keine…«

Mumm hörte, wie die Zwerge hinter ihm nach Luft schnappten.

»Es spielt keine Rolle?«, wiederholte er. »Aber dies ist die Steinsemmel

Einer der Zwerge, die sie von der Botschaft hierher begleitet hatten, rief etwas, und mehrere andere stimmten mit ein.

»Die Präzedenzien sind auf deiner Seite«, übersetzte Grinsi. »Sie sagen, sie könnten dich genauso gut nach deinem Gespräch mit dem König töten.«

»Nun, es ist nicht unbedingt das, was ich mir erhofft habe, aber es sollte genügen.« Mumm richtete den Blick wieder auf Dee. »Du hast gesagt, dass ich die Semmel finden soll. Und jetzt bringe ich sie ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurück, was mir durchaus angemessen erscheint.«

»Du… der König… Du kannst die Semmel mir geben«, sagte Dee und zog sich bis zur Höhe von Mumms Brust hoch.

»Kommt nicht in Frage!«, schnappte Lady Sybil. »Als Eisenhammer Blutaxt die Semmel zurückbrachte – hätte er sie Slogram gegeben?«

Köpfe wurden geschüttelt.

»Natürlich nicht«, sagte Dee. »Slogram war ein Verrä…«

Er unterbrach sich.

»Ich glaube«, sagte Mumm, »wir gehen jetzt besser zum König.«

»Das kannst du nicht verlangen!«

Mumm deutete auf die vielen Zwerge hinter ihnen. »Du würdest dich wundern, wie schwer es sein kann, ihnen das zu erklären«, entgegnete er.

 

Der König ließ eine halbe Stunde auf sich warten. Er musste geweckt werden und sich ankleiden. Könige beeilten sich nicht.

In der Zwischenzeit saßen Mumm und Sybil im Vorzimmer auf zu kleinen Stühlen, umgeben von Zwergen, die nicht genau wussten, ob sie eine Gefangeneneskorte oder eine Ehrengarde waren. Andere Zwerge sahen zur Tür herein. Mumm hörte das Summen aufgeregter Konversation.

Man hielt sich nicht damit auf, ihn anzustarren. Die Blicke galten stets der Semmel. Die meisten von ihnen sahen sie jetzt sicher zum ersten Mal.

Ihr armen kleinen Kerle, dachte Mumm. An dies hier glaubt ihr alle, und bevor der heutige Tag zu Ende geht, werdet ihr erfahren, dass es sich nur um eine schlechte Fälschung handelt. Ihr werdet es sehen. Und damit wäre eure kleine Welt erledigt. Ich kläre ein Verbrechen auf und begehe gleichzeitig ein noch viel größeres.

Ich kann von Glück sagen, wenn ich diese Sache lebend überstehe.

Eine Tür wurde geöffnet. Zwei schwere Zwerge – so nannte Mumm sie in Gedanken – traten ein und bedachten alle Anwesenden mit jenem offiziellen Profiblick, der folgende Botschaft vermittelte: Ihr könnt ganz beruhigt sein, denn wir haben beschlossen, euch nicht sofort zu töten.

Der König kam herein und rieb sich die Hände.

»Ah, Euer Exzellenz«, sagte er. Er sprach die Worte wie eine Feststellung aus, nicht wie eine Begrüßung. »Wie ich sehe, hast du etwas, das uns gehört.«

Dee löste sich von der Menge an der Tür.

»Ich muss einen schweren Vorwurf erheben, Herr!«, sagte er.

»Tatsächlich? Bring die Leute ins Zimmer der Gesetze. Natürlich bewacht.«

Er schritt fort. Mumm sah Sybil an und zuckte mit den Schultern. Sie folgten dem König und ließen den Lärm der Haupthöhle hinter sich zurück.

Erneut befand sich Mumm in dem Raum mit den vielen Regalen und zu wenigen Kerzen. Der König setzte sich.

»Ist die Semmel schwer, Euer Exzellenz?«

»Ja!«

»Das ist das Gewicht der Geschichte, weißt du? Bitte leg sie mit großer Vorsicht auf den Tisch. Und… Dee?«

»Das… Ding«, sagte Dee und deutete mit dem Zeigefinger auf die Semmel. »Das Ding ist… eine Fälschung, eine Nachbildung. In Ankh-Morpork hergestellt! Und Teil einer Verschwörung, an der Mumm beteiligt ist, wie sicher bewiesen werden kann! Es ist nicht die echte Semmel!«

Der König hielt eine Kerze näher an die Steinsemmel heran und betrachtete sie kritisch aus mehreren Richtungen.

»Ich habe die Semmel schon viele Male gesehen«, sagte er schließlich. »Meiner Ansicht nach ist dies das Ding und die Gesamtheit des Dings.«

»Euer Majestät, ich verlange… Ich meine, ich ersuche dich, eine genaue Überprüfung zu verlangen, Majestät!«

»Tatsächlich?«, erwiderte der König ruhig. »Nun, ich bin kein Experte. Aber wir haben Glück, dass Albrecht Albrechtson zur Krönung gekommen ist. Ich denke, allen Zwergen dürfte bekannt sein, dass er am besten über die Steinsemmel und ihre Geschichte Bescheid weiß. Benachrichtige ihn. Ich bin ziemlich sicher, dass er ganz in der Nähe weilt. Vermutlich haben sich inzwischen alle hinter der Tür dort versammelt.«

»Ich hole ihn, Majestät.« Der triumphierende Ausdruck in Dees Gesicht, als er an Mumm vorbeieilte, wirkte fast obszön.

»Ich glaube, wir brauchen ein anderes Lied, um diesen Ort zu verlassen, Schatz«, murmelte Mumm.

»Ich fürchte, ich kann nur das eine singen, Sam. Bei den anderen ging es hauptsächlich um Gold.«

Dee kehrte mit Albrecht und einigen anderen alten, sehr würdevollen Zwergen zurück.

»Ah, Albrecht«, sagte der König. »Siehst du den Gegenstand auf dem Tisch? Es wurde behauptet, es sei nicht das Ding und die Gesamtheit des Dings. Wir würden gern deine Meinung hören.« Der König nickte Mumm zu. »Mein Freund versteht Morporkianisch, Euer Exzellenz. Allerdings zieht er es vor, die Luft nicht zu verschmutzen, indem er deine Sprache benutzt. Er hat seine eigenen Grundsätze, verstehst du?«

Albrecht warf Mumm einen finsteren Blick zu und ging zum Tisch.

Er sah sich die Steinsemmel von allen Seiten an. Er rückte die Kerzen zurecht und beugte sich vor, um die Kruste zu inspizieren.

Mit einem Messer klopfte er an die Semmel und lauschte mit grimmiger Sorgfalt dem Geräusch. Er drehte die Semmel um und schnupperte daran.

Er trat zurück, machte ein ziemlich böses Gesicht und sagte schließlich: »H’gradz?«

Die Zwerge murmelten untereinander und nickten dann, einer nach dem anderen.

Zu Mumms Entsetzen schnitt Albrecht ein kleines Stück von der Semmel ab und steckte es sich in den Mund.

Gips, dachte Mumm. Gips aus Ankh-Morpork. Und Dee wird sich irgendwie herausreden…

Albrecht spuckte das Stück auf die Hand und blickte einige Zeit zur Decke hoch, während er kaute.

Dann wechselten er und der König einen langen, nachdenklichen Blick.

»P’akga«, sagte Albrecht, »ap’akaga-ad…«

Erneut murmelten viele Stimmen, und Mumm hörte, wie Grinsi übersetzte: »Es ist das Ding und die Gesamtheit des Dings…«

»Ja, ja«, brummte Mumm. Und er dachte: Bei den Göttern, wir sind gut. Ankh-Morpork, ich bin stolz auf dich. Wenn wir eine Fälschung anfertigen, ist sie besser als das Original.

Es sei denn… es sei denn… ich habe irgendetwas übersehen.

»Danke, meine Herren«, sagte der König und winkte. Die Zwerge verließen den Raum widerstrebend, und viele von ihnen sahen zu Mumm zurück.

»Dee? Bitte hol meine Axt«, sagte der König. »Du selbst. Ich möchte nicht, dass jemand anders meine Axt anrührt. Euer Exzellenz, du bleibst hier, zusammen mit deiner Frau. Aber dein… Zwerg muss gehen. Die Wächter warten an der Tür. Dee?«

Der Ideenschmecker hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

»Dee?«

»Wa… Ja, Majestät?«

»Du wirst tun, was ich dir gesagt habe!«

»Majestät, ein Vorfahr dieses Mannes hat einst einen König getötet!«

»Ich schätze, seine Familie hat es sich inzwischen abgewöhnt! Und jetzt führe meinen Befehl aus!«

Der Zwerg eilte fort. Bevor er die Höhle verließ, drehte er noch einmal den Kopf und starrte Mumm an.

Der König lehnte sich zurück. »Setz dich, Euer Exzellenz. Und du ebenfalls, Lady Sybil.« Den Ellenbogen auf der Armlehne, stützte er das Kinn auf die gewölbte Hand. »Und nun, Herr Mumm, sag mir die Wahrheit. Erzähl mir alles. Gib mir die Wahrheit, die mehr wert ist als eine kleine Menge Gold.«

»Ich bin nicht mehr sicher, ob ich die Wahrheit kenne«, erwiderte Mumm.

»Ah, ein guter Anfang«, kommentierte der König. »Dann sag mir, was du denkst.«

»Majestät, ich schwöre, das Ding ist eine Fälschung.«

»Ach, tatsächlich?«

»Die richtige Steinsemmel wurde nicht gestohlen, sondern zerstört. Ich nehme an, jemand zerbrach und zermahlte sie, um sie anschließend mit dem Sand in der Höhle zu vermischen. Weißt du, Majestät, wenn die Leute merken, dass etwas fehlt, und wenn man ihnen dann ein ähnlich aussehendes Objekt zeigt, so sagen sie: He, das muss es sein, ja, das muss es sein, denn es befindet sich nicht dort, wo wir es vermuten. So sind die Leute. Etwas verschwindet, und ein ähnlicher Gegenstand erscheint woanders, und dann glauben sie, das verschwundene Ding sei irgendwo vom einen Ort zum anderen gelangt…« Mumm zwickte sich in die Nase. »Entschuldige. Ich habe in letzter Zeit nicht viel geschlafen…«

»Für einen Schlafwandler sind deine Ausführungen gar nicht schlecht.«

»Ich glaube, der… Dieb arbeitet mit den Werwölfen zusammen. Sie stecken hinter ›Agi Hammerklaus Söhnen‹. Man wollte dich zwingen, auf den Thron zu verzichten. Nun, das weißt du ja. Überwald sollte isoliert bleiben. Ohne deinen Verzicht auf die Königswürde wäre es zu einem Krieg gekommen, und dein Nachgeben hätte bedeutet, dass Albrecht die gefälschte Semmel bekommt.«

»Was glaubst du sonst noch zu wissen?«

»Nun, die falsche Semmel stammt aus Ankh-Morpork. Wir sind gut, wenn es um solche Dinge geht. Ich glaube, jemand hat den Mann umgebracht, der das Ding hergestellt hat, aber mehr kann ich erst herausfinden, wenn ich wieder zurück bin. Und ich werde mehr herausfinden.«

»Die Fälscher in deiner Heimatstadt müssen sehr gute Arbeit leisten, denn immerhin gelang es ihnen sogar, Albrecht zu täuschen. Wie erklärst du dir das?«

»Möchtest du die Wahrheit hören, Majestät?«

»Unbedingt.«

»Vielleicht ist auch Albrecht in die Sache verwickelt. Finde heraus, wo das Geld steckt, pflegte mein alter Feldwebel zu sagen.«

»Ha. Stammt der Spruch ›Wo es Polizisten gibt, existiert auch das Verbrechen‹, ebenfalls von ihm?«

»Nein, äh, das sind meine Worte, aber…«

»Lass uns Gewissheit erlangen. Dee dürfte inzwischen genug Zeit gehabt haben, um nachzudenken. Ah…«

Die Tür öffnete sich, und der Ideenschmecker kam mit einer Zwergenaxt herein. Die Axt war für den Einsatz in Bergwerken bestimmt: Die Spitze an der einen Seite diente dazu, Gestein zu untersuchen, und mit der Klinge auf der anderen Seite konnte man verhindern, dass einem jemand das gefundene Gold stahl.

»Ruf die Wächter herein, Dee«, sagte der König. »Und den Zwerg Seiner Exzellenz. Bei dieser Angelegenheit soll es Zeugen geben.«

Meine Güte, dachte Mumm und beobachtete Dee, als die anderen hereinkamen. Es muss eine Art Handbuch geben. Jeder Polizist weiß, wie man bei so etwas vorgehen sollte. Man gab den Leuten zu verstehen, dass sie irgendetwas verbrochen hatten, aber man teilte ihnen keine Einzelheiten mit, und natürlich ließ man nicht durchblicken, wie viel man wusste. Man verunsicherte die Verdächtigen, sprach immer ganz ruhig…

»Leg die Hände auf die Semmel, Dee.«

Dee drehte sich ruckartig um. »Majestät?«

»Leg die Hände auf die Semmel. Komm meiner Aufforderung nach, jetzt sofort.«

Man lässt die Drohung deutlich sichtbar werden, fuhr Mumm in Gedanken fort. Aber man fasst sie nicht in Worte und überlässt es der Phantasie der Verdächtigen, sie zu quälen – sie ist das beste Folterinstrument überhaupt. Und auf diese Weise macht man weiter, bis sie schließlich gestehen, weil sich ihre Stiefel mit Schweiß gefüllt haben.

Und es bleibt nicht einmal eine Narbe zurück.

»Erzähl mir, auf welche Weise Langfinger starb, der Hauptmann der Kerzen«, sagte der König, als Dees Hände die Steinsemmel berührten. Im Gesicht des Zwergs zeichnete sich vage Besorgnis ab.

Die Worte platzten aus ihm heraus. »Oh, es war alles so, wie ich gesagt habe…«

»Wenn du die Hände nicht weiterhin auf die Semmel presst, muss ich sie dort befestigen lassen, Dee. Nun, sag es mir noch einmal.«

»Ich… er… hat sich das Leben genommen, Majestät. Wegen der Schande.«

Der König griff nach seiner Axt und hielt sie so, dass die lange Spitze nach außen zeigte.

»Wiederhole das bitte.«

Mumm hörte, wie Dee immer schneller atmete.

»Er hat sich das Leben genommen, Majestät!«

Der König sah Mumm an und lächelte. »Es gibt da einen alten Aberglauben, Euer Exzellenz. Da die Semmel ein Körnchen Wahrheit enthält, wird sie rot glühen, wenn jemand lügt, der sie berührt. Natürlich glaubt in der heutigen Zeit niemand mehr daran.« Er wandte sich wieder an Dee.

»Sag es noch einmal«, flüsterte er.

Die Axt bewegte sich ein wenig, und das Licht der Kerzen blitzte über ihre Klinge.

»Er hat sich das Leben genommen! Wirklich!«

»Oh, ja. Darauf hast du bereits hingewiesen. Danke«, sagte der König. »Und weißt du noch, Dee, als Slogram Eisenhammer eine falsche Nachricht schickte und behauptete, Blutaxt sei im Kampf gestorben, was Eisenhammer veranlasste, aus Kummer Selbstmord zu begehen… Wer trug die Schuld?«

»Slogram, Herr«, entgegnete Dee sofort. Mumm vermutete, dass die Antwort direkt aus den Erinnerungen an die Schulzeit stammte.

»Ja.«

Der König ließ dieses eine Wort mehrere Sekunden in der Luft hängen und fuhr dann fort: »Und wer gab den Befehl, den Handwerker in Ankh-Morpork zu töten?«

»Majestät?«, fragte Dee.

»Wer gab den Befehl, den Handwerker in Ankh-Morpork zu töten?« Der Tonfall des Königs veränderte sich nicht. Er sprach noch immer mit einer recht angenehm klingenden Singsangstimme, als sei er bereit, die letzte Frage bis in alle Ewigkeit zu wiederholen.

»Ich weiß nichts von…«

»Wächter, presst seine Hände fest auf die Semmel.«

Die beiden Wächter traten vor. Jeder von ihnen griff nach einem Arm.

»Noch einmal, Dee. Wer gab den Befehl?«

Dee wand sich hin und her, als litte er Schmerzen. Vergeblich versuchte er, die Hände von der Steinsemmel zu lösen.

Aber es ist eine Fälschung, dachte Mumm. Er selbst hat das echte Exemplar zerstört und weiß daher, dass es sich nur um eine Nachbildung handelt. Es ist nur ein Haufen Gips, innen wahrscheinlich noch feucht. Mumm versuchte, klar zu denken. Die echte Steinsemmel hatte in der Höhle gelegen, oder? Und wenn nicht… Wo hatte sie dann gesteckt? Die Werwölfe glaubten, die echte Semmel erbeutet zu haben, und Mumm hatte das Ding nicht aus den Augen gelassen, seit es in seinem Besitz war. Er versuchte, seine Gedanken durch den Nebel der Benommenheit zu steuern.

Einmal hatte er sich gefragt, ob die Semmel im Zwergenbrotmuseum von Ankh-Morpork das echte Exemplar gewesen war. Das garantierte ihre Sicherheit. Niemand würde etwas stehlen, das man für eine Nachbildung hielt. Alles erschien ihm wie die Sache mit dem Fünften Elefanten. Nichts war das, was es zu sein schien; die Dinge blieben vage und verschwommen.

Welche Steinsemmel war das Original?

»Wer gab den Befehl, Dee?«, fragte der König.

»Ich nicht! Ich habe betont, es müsste alles Notwendige unternommen werden, um das Geheimnis zu wahren.«

»Wem gegenüber hast du das betont?«

»Ich kann dir die Namen nennen!«

»Später wirst du das, Junge, das garantiere ich dir«, sagte der König. »Und die Werwölfe?«

»Die Baronin hat es vorgeschlagen! Das ist die Wahrheit!«

»Überwald den Werwölfen. Ah, ja… Freude durch Kraft. Ich nehme an, man hat dir alle möglichen Dinge versprochen. Du kannst jetzt die Hände von der Semmel nehmen – ich möchte dir keine weiteren Schmerzen bereiten. Aber warum? Meine Vorgänger lobten dich. Du hast großen Einfluss… Und dann hast du dich von den Werwölfen benutzen lassen. Warum?«

»Warum sollte man sie damit durchkommen lassen?«, schnappte Dee. Die Anspannung wurde zu viel für ihn – seine Stimme überschlug sich.

Der König sah zu Mumm. »Oh, ich glaube, die Werwölfe werden bedauern, dass sie…«, begann er.

»Nicht sie! Ich meine… die in Ankh-Morpork! Sie schminken sich und tragen Kleider und… abscheuliche Dinge!« Dee richtete den Zeigefinger auf Grinsi. »Ha’ak! Wie könnt ihr euch das nur ansehen! Ihr lasst zu, dass sie…« Mumm hatte nur selten ein Wort gehört, das mit so viel Gift und Gehässigkeit ausgesprochen wurde. »… sich hier zur Schau stellt! Und es geschieht überall, weil es an Entschlossenheit mangelt, weil niemand widerspricht, weil wir den alten Traditionen nicht genug Bedeutung beimessen. Überall gibt es Berichte. Sie zerstören alles Zwergische mit… ihren weichen Kleidern und Schminke und anderen Scheußlichkeiten. Wie kannst du König sein und so etwas zulassen? Es findet überall statt, und du unternimmst nichts dagegen. Warum sollte man ihnen das erlauben?« Dee schluchzte jetzt. »Ich kann es nicht!«

Mumm beobachtete verblüfft, wie sich Grinsis Augen mit Tränen füllten.

»Ich verstehe«, sagte der König. »Nun, ich schätze, das ist eine Erklärung.« Er nickte den Wächtern zu. »Bringt… sie fort. Gewisse Dinge müssen ein oder zwei Tage warten.«

Grinsi salutierte plötzlich. »Bitte um Erlaubnis, sie zu begleiten, Majestät!«

»Meine Güte, warum denn, junger… junger Zwerg?«

»Vielleicht möchte sie mit jemandem reden. Ich würde an ihrer Stelle diesen Wunsch verspüren.«

»Tatsächlich? Wie ich sehe, erhebt dein Vorgesetzter keine Einwände. Also geh nur.«

Der König lehnte sich zurück, als die Wächter das Zimmer mit der Gefangenen und ihrem psychologischen Beistand verlassen hatten.

»Nun, Euer Exzellenz?«

»Dies ist die echte Steinsemmel?«

»Du bist nicht sicher?«

»Dee war es!«

»Dee… befindet sich derzeit in einer schwierigen geistigen Verfassung.« Der König sah zur Decke hoch. »Euer Exzellenz, ich sage dir dies, weil ich nicht möchte, dass du den Rest der Zeit bei uns damit verbringst, dumme Fragen zu stellen. Ja, dies ist die echte Semmel.«

»Aber wie kann…«

»Warte! Das gilt auch für die Semmel, die in der Höhle vom verblendeten Dee zerbrochen und zerrieben worden ist«, fuhr der König fort. »Und auch die… lass mich überlegen… fünf anderen Semmeln davor waren echt. Von eintausendfünfhundert Jahren unbeeinflusst? Wie romantisch wir Zwerge noch sind! Selbst das beste Zwergenbrot zerbröckelt nach einigen Jahrhunderten.«

»Fälschungen?«, brachte Mumm hervor. »Es waren alles Fälschungen?«

Plötzlich hielt der König wieder seine Axt in der Hand. »Dies hier, Milord, ist meine Familienaxt. Sie gehört uns seit fast neunhundert Jahren. Natürlich musste manchmal ihre Klinge ersetzt werden. Und gelegentlich brauchte sie einen neuen Stiel, neue Muster im Metall, weitere Ausschmückungen… Trotzdem ist dies unsere neunhundert Jahre alte Familienaxt. Und weil sie sich im Lauf der Zeit nach und nach verändert hat, ist sie noch immer eine recht gute Axt. Sogar eine ziemlich gute. Du willst sie doch nicht als Fälschung bezeichnen, oder?« Er lehnte sich wieder zurück.

Mumm erinnerte sich an Albrechts Gesichtsausdruck. »Er wusste es.«

»Oh, natürlich. Einige der… älteren Zwerge kennen die Wahrheit. Das Wissen wird in den Familien weitergegeben. Die erste Semmel zerbröckelte nach dreihundert Jahren, als der damalige König sie berührte. Einer meiner Vorfahren war Wächter und beobachtete alles. Seine berufliche Laufbahn erfuhr eine jähe Beschleunigung – ich glaube, man könnte es so ausdrücken. Anschließend waren wir besser vorbereitet. In fünfzig Jahren oder so hätten wir uns ohnehin eine Neue zulegen müssen. Es freut mich, dass dieses Exemplar aus der großen Zwergenstadt Ankh-Morpork stammt, und ich wäre ganz und gar nicht überrascht, wenn sich ihre Qualität als hervorragend erweist. Sieh nur, selbst mit den Korinthen stimmt alles.«

»Aber Albrecht hätte alles verraten können!«

»Zu welchem Zweck? Er ist nicht König, aber früher oder später wird jemandem aus seiner Familie die Königswürde zufallen, und dann schließt sich der Kreis wieder.« Der König beugte sich vor.

»Ich glaube, du bist bei deinen Überlegungen von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Albrecht steht Ankh-Morpork ablehnend gegenüber und hält an… altmodischen Ideen fest. Deshalb hast du ihn für einen schlechten Zwerg gehalten. Aber ich kenne ihn seit zweihundert Jahren. Er ist ehrlich und ehrenhaft, sogar noch mehr als ich. Vor fünfhundert Jahren wäre er ein ausgezeichneter König gewesen. Heute sieht die Sache ein wenig anders aus. Vielleicht – ha – braucht die Axt meiner Vorfahren einen neuen Stiel. Wie dem auch sei: Jetzt bin ich König, und das akzeptiert er vorbehaltlos, denn andernfalls wäre er kein richtiger Zwerg, verstehst du? Natürlich wird er jede Gelegenheit nutzen, gegen mich zu opponieren, aber das Amt des Niederen Königs war nie leicht. Um eine deiner Metaphern zu benutzen: Wir sitzen alle in einem Boot. Natürlich versuchen wir dann und wann, jemanden ins Wasser zu stoßen, aber nur ein Irrer wie Dee würde ein Loch in den Boden bohren.«

»Korporal Kleinpo befürchtete einen Krieg…«, sagte Mumm schwach.

»Nun, es gibt immer Hitzköpfe. Aber während wir darüber streiten, wer das Boot steuern darf, zweifelt doch niemand daran, dass die Reise wichtig ist. Wie ich sehe, bist du sehr müde… Lass dich von deiner werten Gemahlin nach Hause bringen. Und gewissermaßen als Schlaftrunk… Was möchte Ankh-Morpork, Euer Exzellenz?«

»Ankh-Morpork möchte die Namen der Mörder«, murmelte Mumm.

»Nein, das möchte Kommandeur Mumm. Was wünscht sich Ankh-Morpork? Gold? Oft geht es um Gold. Oder vielleicht Eisen? Ihr braucht viel Eisen.«

Mumm blinzelte. Sein Gehirn hatte schließlich aufgegeben. Es war nichts mehr übrig. Er wusste nicht einmal, ob er aufstehen konnte.

Er erinnerte sich an ein Wort.

»Fett«, sagte er leise.

»Aha. Der Fünfte Elefant. Bist du sicher? Wir haben gutes Eisen. Durch Eisen wird man stark. Fett macht einen nur glitschig.«

»Fett«, wiederholte Mumm und spürte, wie ihm Dunkelheit entgegenwogte. »Jede Menge Fett.«

»Na schön. Der Preis beträgt zehn Ankh-Morpork-Cent pro Fass, aber da ich dich jetzt besser kenne, Euer Exzellenz, gewähre ich dir einen Rabatt…«

»Fünf Cent pro Fass für Güteklasse eins, extra rein, drei Cent für Güteklasse zwei, zehn Cent für schweren Talg, kostenfrei geliefert nach Ankh-Morpork«, sagte Sybil. »Und alles aus dem Krummbereich des Schmalzbergs und nach der Eisenkrustenorm gemessen. Ich habe einige Zweifel an der langfristigen Qualität der Großen Stoßzahn-Schächte.«

Mumm versuchte, den Blick auf seine Frau zu fokussieren. Er sah sie wie aus weiter Ferne. »Wie bitte?«

»Äh, während meines Aufenthalts in der Botschaft habe ich ein wenig gelesen, Sam. In den Notizbüchern. Entschuldige.«

»Willst du uns in den Ruin treiben, Verehrteste?«, fragte der König und hob die Hände.

»Die Lieferung betreffend könnte es noch etwas Verhandlungsspielraum geben«, sagte Sybil.

»Klatsch würde mindestens neun Cent für Güteklasse eins bezahlen«, erwiderte der König.

»Aber der klatschianische Botschafter sitzt nicht hier«, gab Sybil zu bedenken.

Der König lächelte. »Und er ist auch nicht mit dir verheiratet, so ein Pech für ihn. Sechs, fünf und fünfzehn.«

»Sechs und fünf nach zwanzigtausend, dreieinhalb pauschal für Güteklasse zwei. Dreizehn für den Talg.«

»Das ist akzeptabel. Einigen wir uns auf vierzehn für weißen Talg – dann bin ich mit sieben für die neuen Fettvorkommen einverstanden. Daraus lassen sich ausgezeichnete Kerzen herstellen.«

»Ich fürchte, ich kann nicht über sechs hinausgehen. Das volle Ausmaß jener Vorkommen ist noch nicht festgestellt, und ich halte es für vernünftig, in den unteren Schichten hohe Anteile an PKB zu vermuten. Außerdem glaube ich, dass ihr hinsichtlich der Größe der Lagerstätten von zu optimistischen Schätzungen ausgeht.«

»Was ist PKB?«, fragte Mumm.

»Die Abkürzung für ›pechschwarze knusprige Brocken‹«, sagte Sybil. »In den meisten Fällen handelt es sich um unglaublich große durchgebratene Tiere.«

»Du erstaunst mich, Lady Sybil«, sagte der König. »Ich wusste nicht, dass du dich mit dem Fettabbau auskennst.«

»Es kann sehr aufschlussreich sein, jeden Morgen für Sam das Frühstück zuzubereiten, Euer Majestät.«

»Nun, einem einfachen König wie mir steht es nicht zu, dir zu widersprechen. Also sechs. Und der Preis wird für zwei Jahre garantiert…« Der König sah, wie Sybil den Mund öffnete. »Na schön, für drei Jahre. Ich bin kein unvernünftiger König.«

»Lieferung frei Ankh-Morpork.«

»Wenn du darauf bestehst…«

»Dann ist alles klar.«

»Morgen früh werden euch die notwendigen Dokumente zugestellt. Und jetzt müssen wir getrennte Wege gehen«, sagte der König. »Seine Exzellenz hat zweifellos einen sehr anstrengenden Tag hinter sich. Ankh-Morpork wird in Fett schwimmen. Ich frage mich wirklich, wofür ihr solche Mengen verwenden wollt.«

»Für Licht«, sagte Mumm. Die Dunkelheit erreichte ihn, und er sank nach vorn, den ihn willkommen heißenden Armen des Schlafs entgegen.

 

Sam Mumm erwachte und nahm den Geruch von heißem Fett wahr.

Etwas Weiches umgab ihn, hielt ihn praktisch gefangen.

Ein oder zwei Sekunden vermutete er Schnee, doch normalerweise war Schnee nicht so warm. Dann identifizierte er die wolkenartige Weichheit der Matratze des Botschafterbettes.

Seine Aufmerksamkeit kehrte zum Fettgeruch zurück. Es gab gewisse… Nuancen. Eine olfaktorische Komponente wies darauf hin, dass etwas verbrannt war. Mumms Spektrum des kulinarischen Genusses reichte von »gut durchgebraten« bis zu »verkohlt«, deshalb erschien ihm dieser Geruch vielversprechend.

Er schob sich ein wenig zur Seite und bereute es sofort. Jeder Muskel in seinem Körper kreischte protestierend. Er blieb still liegen und wartete darauf, dass das Brennen im Rücken nachließ.

Erinnerungsbilder zeigten ihm die Ereignisse des vergangenen Tages. Dann und wann schnitt er eine Grimasse. Hatte er wirklich einfach so das Eis durchbrochen? Und der Mann, der sich einem Werwolf zum Kampf gestellt hatte, obwohl sein Gegner stark genug war, ein Schwert zu einem großen Ring zu verbiegen… Hieß er wirklich Sam Mumm? Und hatte Sybil gute Preise für Fett beim König ausgehandelt? Und…

Wenigstens lag er in einem warmen Bett, und der Geruch verriet, dass ihn ein Frühstück erwartete.

Noch eine Erinnerung regte sich in ihm. Mumm stöhnte und zwang die Beine aus dem Bett. Nein, Wolfgang konnte den Sturz unmöglich überlebt haben.

Nackt wankte er ins Bad und drehte dort die großen Hähne auf. Heißes, stinkendes Wasser strömte in die Wanne.

Kurze Zeit später lag er wieder. Eigentlich war das Wasser zu heiß, aber er entsann sich deutlich an den kalten Schnee – vielleicht konnte Wasser von jetzt an nie mehr zu heiß sein.

Einige der Schmerzen wichen aus ihm.

Jemand klopfte an die Tür. »Ich bin’s, Sam.«

»Sybil?«

Sie kam mit zwei großen Handtüchern und frischer Kleidung herein.

»Freut mich, dass du aufgestanden bist. Igor brät Würstchen, was ihm nicht sehr gefällt – seiner Ansicht nach sollten sie gekocht werden. Außerdem bereitet er einige Spezialitäten mit unaussprechlichen Namen zu – damit die Lebensmittel nicht verderben. Ich glaube nicht, dass ich bis zum Schluss der Krönungsfeierlichkeiten hier bleiben möchte.«

»Ich verstehe, was du meinst. Wie geht es Karotte?«

»Nun, er wies darauf hin, dass er keine Würstchen möchte.«

»Was? Er ist… auf den Beinen?«

»Zumindest sitzt er. Igor hat gute Arbeit geleistet. Angua sprach von einem ziemlich schlimmen Bruch, aber er trägt eine Art Apparat, der… Nun, Karottes Arm liegt nicht einmal in einer Schlinge!«

»Es scheint recht nützlich zu sein, einen solchen Mann in der Nähe zu haben«, sagte Mumm und zog seine zivilisierte Hose an.

»Angua meinte, Igor hätte einen Eiskeller, und dort bewahrt er Gläser auf, die… Nun, ich möchte nur sagen, dass er dir Leber und Zwiebeln zum Frühstück anbieten wollte, aber ich habe abgelehnt.«

»Ich mag Leber mit Zwiebeln«, erwiderte Mumm. Er dachte darüber nach. »Zumindest bis jetzt.«

»Ich glaube, es ist der Wunsch des Königs, dass wir Überwald möglichst bald verlassen. Natürlich ist er zu höflich, um das deutlich zu sagen. Heute Morgen kamen recht viele respektvolle Zwerge mit Dokumenten.«

Mumm nickte grimmig. Es ergab durchaus einen Sinn. Wäre er der König gewesen, hätte er sich ebenfalls gewünscht, dass Mumm verschwand. Herzlichen Dank, hier ist ein hübsches Handelsabkommen, tut mir sehr Leid, dass du schon gehen musst, ich freue mich schon auf deinen nächsten Besuch, aber lass dir ruhig Zeit…

Das Frühstück bestand genau aus den Dingen, die sich Mumm erträumt hatte. Anschließend besuchte er den Invaliden.

Karotte war blass und grau unter den Augen, aber er lächelte. Er saß im Bett und trank Fetsup.

»Hallo, Herr Mumm! Wir haben gewonnen, nicht wahr?«

»Hat es dir Angua nicht gesagt?«

»Von Lady Sybil weiß ich, dass sie mit den anderen Wölfen loszog, während ich schlief.«

Mumm schilderte die Ereignisse des vergangenen Abends, so gut er konnte.

»Gavin war ein sehr ehrenwertes Geschöpf«, sagte Karotte schließlich. »Ich bedauere seinen Tod sehr. Bestimmt wären wir gute Freunde geworden.«

Du meinst jedes Wort ernst, dachte Mumm. Ich zweifle nicht eine Sekunde daran. Aber es hat sich alles zu deinem Vorteil entwickelt. Das ist immer so. Wenn die Dinge anders verlaufen wären, wenn Wolfgang sofort von Gavin angegriffen und verletzt worden wäre… Dann hättest du nicht gezögert, ihm zu Hilfe zu kommen. Und dann wärst du zusammen mit dem Mistkerl in die Tiefe gestürzt. Aber es blieb bei dieser Möglichkeit. Wenn du ein Würfel wärst, Karotte, würde man mit dir immer eine Sechs würfeln.

Würfel rollten nicht von allein. Wenn es nicht allem widersprochen hätte, was Mumm in Bezug auf die Welt für wahr halten wollte, wäre er vielleicht bereit gewesen, an ein Schicksal zu glauben, das die Leute kontrollierte. Mochten die Götter den Leuten beistehen, die in der Nähe weilten, wenn sich ein großes Schicksal auf der Welt auswirkte und bestimmte Personen wie Knetmasse behandelte…

Laut sagte Mumm: »Der arme alte Gaspode ist ebenfalls in die Tiefe gestürzt.«

»Wie kam es dazu?«

»Nun, man könnte sagen, dass er zum betreffenden Zeitpunkt Wolfgangs volle Aufmerksamkeit hatte. Ein echter Straßenkämpfer.«

»Armer kleiner Kerl. Er war ein guter Hund, tief in seinem Herzen.«

Von jemand anderem hätten diese Worte banal und abgedroschen geklungen, aber Karottes Lippen verliehen ihnen neue Bedeutung.

»Was ist mit Tantony?«, fragte Mumm.

»Er ist heute Morgen aufgebrochen«, meinte Lady Sybil.

»Meine Güte! Wolfgang hat auf seiner Brust Tick-tack-toe gespielt!«

»Igor kann gut mit der Nadel umgehen, Herr.«

Etwas später trat ein nachdenklicher Mumm auf den Kutschenhof. Ein Igor verlud bereits das Gepäck.

»Äh, welcher bist du?«, fragte Mumm.

»Ich bin Igor, Herr.«

»Äh. Ja. Und, äh, bist du glücklich hier, Igor? Eins steht fest. In der Wache könnten wir einen… Mann mit deinen Talenten gebrauchen.«

Igor blickte vom Dach der Kutsche herunter. »In Ankh-Morpork, Herr? Meine Güte. Jeder möchte nach Ankh-Morpork. Dein Angebot ift fehr verlockend, aber ich weif, wo meine Pflicht liegt. Ich muff diefen Ort für die nächfte Ekfellenf vorbereiten.«

»Oh, natürlich…«

»Aber mein Neffe Igor fucht eine Ftellung, Herr. In Ankh-Morpork kommt er beftimmt gut zurecht. Für Überwald ift er viel zu modern.«

»Ein guter Junge?«

»Er hat daf Herz an der richtigen Ftelle, zumindeft da bin ich ficher.«

»Äh, gut. Nun, gib ihm Bescheid. Wir brechen so bald wie möglich auf.«

»Er wird fehr aufgeregt fein, Herr! Wie ich hörte, liegen in Ankh-Morpork die Leichen einfach fo auf der Ftrafe, und jeder kann fie nehmen!«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht, Igor.«

»Nein? Nun, man kann nicht allef haben. Ich fage ef ihm fofort.« Igor eilte im Humpelsprint davon.

Ich frage mich, warum sie alle so gehen, dachte Mumm. Vielleicht ist bei ihnen ein Bein kürzer als das andere. Entweder das, oder sie lassen es bei der Auswahl ihrer Stiefel an der notwendigen Sorgfalt mangeln.

Er nahm auf den Stufen vor dem Haus Platz und holte eine Zigarre hervor. Das war’s also. Verdammte Politik. Es lief immer auf verdammte Politik oder verdammte Diplomatie hinaus. Feine Kleidung machte den verdammten Unterschied. Wenn man die Straßen verließ, rannen einem die Kriminellen praktisch durch die Finger. Der König, Lady Margolotta und Vetinari… Sie betrachteten immer das große Bild. Mumm wusste, dass er ein Mann des kleinen Bildes war und sicher immer bleiben würde. Dee wurde gebraucht, deshalb musste sie vermutlich nur einige Tage lang Brot brechen oder womit auch immer man hier Unartigkeiten bestrafte. Immerhin hatte sie nur eine Fälschung zerstört.

Nicht wahr?

Aber in Gedanken hatte sie ein viel größeres Verbrechen begangen. In Mumms persönlicher Galerie aus kleinen Bildern sollte das etwas bedeuten.

Und die Baronin war so schuldig wie die Schuld selbst. Personen waren gestorben. Was Wolfgang betraf… Nun, manche Leute waren von Natur aus dazu bestimmt, schuldig zu sein. Punktum! Was auch immer sie anstellten – es wurde ein Verbrechen daraus, einfach deshalb, weil die entsprechenden Aktivitäten von ihnen ausgingen.

Mumm blies Rauch von sich.

Eigentlich sollte man solchen Leuten nicht erlauben, sich mit dem eigenen Tod aus der Affäre zu ziehen.

Aber… Er war doch gestorben, oder?

Von Sybil wusste er, dass die Wölfe beide Ufer kontrolliert hatten, und zwar ziemlich weit flussabwärts. Nirgends eine Spur von Wolfgang. Noch weiter am unteren Verlauf des Flusses gab es Stromschnellen und einen zweiten Wasserfall. Was ihn nicht umbringen konnte, mochte zumindest den Wunsch in ihm wecken, nicht mehr am Leben zu sein.

Vorausgesetzt natürlich, er hatte sich flussabwärts treiben lassen. Flussaufwärts… auch dort gab es nur sehr schnell fließendes, weiß schäumendes Wasser, bis hin zur Stadt.

Nein, unmöglich. Niemand konnte einen Wasserfall hinaufschwimmen, oder?

Eine sonderbare Kühle breitete sich in Mumms Nacken aus. Aber jede nur einigermaßen vernünftige Person würde das Land verlassen. Wölfe suchten nach ihm. Tantony hatte ihn wohl kaum ins Herz geschlossen, und wenn Mumm den König richtig einschätzte, schmiedeten auch die Zwerge Rachepläne.

Es gab nur ein Problem: Wenn man das Bild einer vernünftigen Person nahm und es auf das von Wolfgang legte, so erkannte man überhaupt keine Übereinstimmung.

Es gab da eine alte Redensart: So wie ein Hund zum eigenen Erbrochenem zurückkehrte, so wurde der Narr von seiner Torheit angezogen. Wenn das stimmte, konnte Wolfgang nicht mehr weit sein.

Mumm stand auf und drehte sich langsam um. Niemand lauerte hinter ihm. Geräusche drangen vom Tor zur Straße: Gelächter, das Geschirr von Pferden, das dumpfe Pochen von Schaufeln, die in der Nacht gefallenen Schnee beiseite räumten.

Er kehrte in die Botschaft zurück und achtete darauf, dass er immer mit dem Rücken zur Wand stand. Vorsichtig schlich er zur Treppe und blickte dabei durch jede offene Tür. Er lief durch den Flur, sprang, rollte sich auf dem Boden ab und verharrte an der gegenüberliegenden Wand.

»Stimmt was nicht, Herr?«, fragte Grinsi. Sie beobachtete ihn vom oberen Ende der Treppe aus.

»Äh, ist dir irgendetwas Seltsames aufgefallen?«, fragte Mumm und klopfte sich verlegen Staub von der Kleidung. »Und mir ist klar, dass wir uns hier in einem Haus mit einem Igor aufhalten.«

»Könntest du mir einen Hinweis geben, Herr?«

»Wolfgang, verdammt!«

»Aber er ist tot, Herr. Das ist er doch, oder?«

»Nicht tot genug!«

»Äh, hast du Anweisungen für mich?«

»Wo ist Detritus?«

»Er putzt seinen Helm, Herr!«, sagte Grinsi und schien der Panik nahe zu sein.

»Bei den Göttern, warum vergeudet er seine Zeit mit so etwas?«

»Äh, weil wir in zehn Minuten aufbrechen müssen, um bei der Krönungszeremonie zugegen zu sein.«

»Oh, ja…«

»Lady Sybil hat mich aufgefordert, dich zu suchen, und zwar mit sehr fester Stimme.«

Genau in diesem Augenblick hallte Sybils Stimme durch den Flur. »Sam Mumm! Komm sofort hierher!«

»Diesen Tonfall meine ich«, sagte Grinsi.

Mumm betrat das Schlafzimmer. Sybil trug ein anderes blaues Kleid und ein Diadem. Ihre Miene war entschlossen.

»Ist es wieder eine vornehme Angelegenheit?«, fragte Mumm. »Ich dachte, ein sauberes Hemd würde genügen…«

»Deine Galauniform hängt im Ankleidezimmer«, sagte Sybil.

»Der gestrige Tag war ziemlich lang und anstrengend…«

»Dies ist eine Krönung, Samuel Mumm, keine zwanglose Party! Geh und zieh dich rasch an. Setz auch – und das möchte ich nicht zwei Mal sagen müssen – den Helm mit den Federn auf.«

»Aber nicht die rote Strumpfhose«, erwiderte Mumm entgegen aller Hoffnung. »Bitte!«

»Die rote Strumpfhose ist ein absolutes Muss, Sam.«

»Sie kneift an den Knien«, entgegnete Mumm, aber es war das Murren des Besiegten.

»Ich sage Igor, er soll dir helfen.«

»Die Dinge müssen ziemlich schlecht stehen, wenn ich meine Strumpfhose nicht mehr allein anziehen kann, herzlichen Dank.«

Mumm wechselte die Kleidung und lauschte dabei nach… irgendetwas. Vielleicht nach einem Knarren am falschen Ort.

Wenigstens war es eine Wächteruniform, auch wenn die Schuhe mit Schnallen versehen waren. Ein Schwert gehörte dazu. Bei der Kluft des Herzogs fehlte dieses, was Mumm von Anfang an für ziemlich dumm gehalten hatte. Man wurde zum Herzog, weil man gut kämpfte, und dann stand man plötzlich mit leeren Händen da.

Glas klirrte im Schlafzimmer, und Lady Sybil hob erstaunt die Brauen, als ihr Mann mit erhobenem Schwert hereinstürmte.

»Ich habe den Stöpsel des Duftfläschchens fallen gelassen, Sam! Was ist denn los mit dir? Selbst Angua meint, er sei viele Meilen entfernt und nicht in der Verfassung, irgendwelche Probleme zu verursachen! Warum bist du so nervös?«

Mumm ließ das Schwert sinken und versuchte, sich zu entspannen.

»Weil unser Wolfgang ein verdammter Irrer ist. Ich kenne Leute wie ihn. Eine normale Person kriecht fort, wenn sie Prügel bezogen hat. Oder sie ist vernünftig genug, nicht erneut aufzumucken. Aber manchmal bekommt man es mit jemandem zu tun, der einfach nicht aufhören will. Fünfzig Kilo leichte Schwächlinge, die versuchen, Detritus mit dem Kopf von den Beinen zu stoßen. Oder hirnrissige Fliegengewichte, die eine Flasche an der Theke zerbrechen und dann fünf Wächter angreifen. Verstehst du, was ich meine? Idioten, die einfach nicht begreifen, wann man besser aufhört zu kämpfen. Man kann sie nur zur Ruhe bringen, indem man sie entweder bewusstlos schlägt oder ganz und gar unschädlich macht.«

»Ja, ich glaube, ich kenne den Typ«, sagte Lady Sybil mit einer Ironie, die Sam Mumm erst einige Tage später bemerkte. Sie strich ihm einige Flusen vom Mantel.

»Er wird zurückkehren«, murmelte Mumm. »Ich spüre es, ganz deutlich.«

»Sam?«

»Ja?«

»Könnte ich bitte für einige Minuten deine Aufmerksamkeit haben? Wolfgang ist Anguas Problem, nicht deins. Ich brauche Gelegenheit, eine Zeit lang in aller Ruhe mit dir zu reden, ohne dass du irgendwelchen Werwölfen hinterher rennst.« Sie sagte es so, als sei es ein kleiner Charakterfehler, wie die Angewohnheit, die Stiefel dort stehen zu lassen, wo andere Leute über sie stolpern konnten.

»Äh, sie liefen hinter mir her«, gab er zurück.

»Aber es gibt immer Leute, die tot aufgefunden werden oder versuchen, dich zu töten…«

»Ich bitte sie nicht darum, Schatz.«

»Sam, ich bekomme ein Kind.«

Sams Kopf steckte voller Werwölfe, und seine Ehemann-Automatik wurde aktiv, um mit »Ja, Schatz«, »Such die Farbe aus, die dir gefällt« oder »Ich beauftrage jemanden, sich darum zu kümmern« zu antworten. Glücklicherweise verfügte sein Gehirn über einen eigenen Selbsterhaltungstrieb und wollte nicht im Innern eines Schädels stecken, der von einer Nachttischlampe eingeschlagen wurde. Es schrieb Sybils Worte mit grellem Weiß auf die Innenseite seiner Augen und versteckte sich dann irgendwo.

Deshalb war seine Antwort ein schwaches: »Was? Wie?«

»Auf normale Weise, hoffe ich.«

Mumm setzte sich aufs Bett. »Doch nicht jetzt sofort?«

»Das bezweifle ich sehr. Frau Zufrieden meinte, es sei alles klar, und sie ist seit fünfzig Jahren Hebamme.«

»Oh.« Einige Hirnfunktionen krochen zurück. »Gut. Das ist… gut.«

»Du brauchst wahrscheinlich eine Weile, um es zu verarbeiten.«

»Ja.« Noch ein Neuron leuchtete auf. »Äh, es kommt doch alles in Ordnung, nicht wahr?«

»Wie meinst du das?«

»Äh, du bist, du bist nicht… du…«

»Sam, in meiner Familie wurden die Frauen dazu gezüchtet, Kinder zur Welt zu bringen. Natürlich kommt alles in Ordnung.«

»Oh. Gut.«

Mumm saß da und starrte. Sein Kopf fühlte sich an wie ein großes Meer, das sich gerade vor einem Propheten geteilt hatte. Wo es eigentlich aktiv sein sollte, erstreckte sich nur Sand, auf dem hier und dort ein Fisch zappelte. Doch zu beiden Seiten türmten sich gewaltige Wogen auf, und gleich würden sie herabdonnern, um noch hundert Meilen entfernte Städte zu überfluten.

Wieder klirrte Glas, diesmal im Erdgeschoss.

»Vermutlich hat Igor etwas fallen gelassen«, sagte Sybil, als sie den Gesichtsausdruck ihres Mannes bemerkte. »Mehr ist es nicht. Nur ein umgestoßenes Glas.«

Etwas knurrte, und ein erstickter Schrei erklang, der jäher Stille wich.

Mumm sprang auf. »Schließ die Tür hinter mir ab und schieb das Bett vor!« Er verharrte kurz im Flur. »Ohne dich dabei zu überanstrengen!«, fügte er hinzu und lief zur Treppe.

Wolfgang kam ihm entgegen.

Diesmal bot er ein anderes Erscheinungsbild. Wolfsohren steckten an einem immer noch menschlichen Kopf, und sein Haar bildete eine Mähne. Hier und dort zeigten sich Fellbüschel an seiner Haut, die meisten von ihnen blutverklebt.

Der Rest von ihm… schien Schwierigkeiten zu haben, sich für eine Gestalt zu entscheiden. Eine Hand versuchte, zu einer Pfote zu werden.

Mumm griff nach seinem Schwert – und erinnerte sich daran, dass es auf dem Bett lag. Er suchte in den Taschen, denn er wusste, dass er ein ganz bestimmtes Objekt bei sich trug. Ganz deutlich erinnerte er sich daran, es von der Kommode genommen zu haben…

Seine Finger schlossen sich um die Dienstmarke und zeigten sie vor.

»Stehen bleiben! Im Namen des Gesetzes!«

Wolfgang sah ihn an, und ein Auge glühte gelb. Das andere war eine blutige Masse.

»Hallo, Herr Zivilisiert«, knurrte er. »Du hast mich erwartet, nicht wahr?«

Er duckte sich in den Flur, der zu Karottes Zimmer führte. Mumm versuchte, zu ihm aufzuschließen, beobachtete, wie sich Krallen um die Tür schlossen und sie einfach aus dem Rahmen rissen.

Karotte streckte die Hand nach seinem Schwert aus…

Und dann flog Wolfgang unter dem Gewicht von Angua zurück. Sie landeten im Flur, eine dahinrollende Kugel aus Fell, Krallen und Zähnen.

Bei einem Kampf Werwolf gegen Werwolf bietet jede Gestalt Vorteile. Jeder ist bestrebt, in eine Position zu gelangen, in der Hände besser sind als Krallen. Und Körperformen haben ein eigenes Leben, was ohne angemessene Kontrolle recht gefährlich sein kann. Es ist der Instinkt einer Katze, auf etwas zu springen, das sich bewegt, doch dieses Verhalten ist nicht richtig, wenn das bewegliche Objekt eine brennende Lunte hat. Der Geist muss gegen den eigenen Körper kämpfen, um nicht die Kontrolle zu verlieren, und gegen den anderen, um zu überleben.

Ein Schatten ließ Mumm herumwirbeln. Detritus trug eine glänzende Rüstung und legte den Friedensstifter über das Geländer hinweg an.

»Feldwebel! Nein! Du würdest auch Angua treffen!«

»Kein Problem, Herr«, sagte Detritus. »Weil sie nicht sterben. Wir später brauchen nur finden Wolfgangs Teile, um ihm dann eins zu geben über die Rübe, wenn er zusammengesetzt sich und heilt…«

»Wenn du mit dem Ding hier drin schießt, sind Wolfgangs Teile mit unseren Teilen vermischt, und dann wird das Sortieren verdammt schwierig. Nimm die Armbrust weg

Wolfgang konnte seine Gestalt nicht sehr gut kontrollieren, wie Mumm beobachtete. Er schaffte es nicht, entweder ganz Wolf oder ganz Mensch zu sein, und Angua nutzte das zu ihrem Vorteil. Sie duckte sich, wich aus, biss zu…

Aber selbst wenn es gelang, ihn zu überwältigen – er ließ sich nicht unschädlich machen.

»Herr Mumm!« Grinsi winkte in dem Flur, der zur Küche führte. »Du solltest sofort hierher kommen!«

Sie wirkte sehr blass. Mumm stieß Detritus an. »Wenn sie voneinander ablassen… Pack ihn und versuch, ihn festzuhalten!«

Igor lag in der Küche, umgeben von Glassplittern. Wolfgang musste auf ihm gelandet sein, um anschließend seinen Zorn an dem Wehrlosen auszulassen. Der zusammengeflickte Mann blutete stark und lag wie eine Puppe, die jemand gegen die Wand geschleudert hatte. »Herr«, stöhnte er.

»Kannst du ihm irgendwie helfen, Grinsi?«

»Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll!«

»Du muft dir etwaf merken, Herr«, ächzte Igor.

»Äh, ja… was denn?«

»Du muft mich in den Eifkeller bringen und Igor Bescheid geben, in Ordnung?«

»Welchem Igor?«, fragte Mumm verzweifelt.

»Irgendeinem!« Igor klammerte sich an Mumms Ärmel fest. »Mein Herf taugt nichtf mehr, aber die Leber ift in einem guten Fuftand, fag ihm daf! Waf mein Gehirn betrifft… Ein starker Blitf genügt, um allef in Ordnung fu bringen. Igor kann meine rechte Hand haben – er hat einen Kunden, der darauf wartet. Mein Dickdarm kann noch jahrelang gute Dienfte leiften. Mit dem linken Auge ift nicht mehr viel lof, aber vermutlich gibt ef jemanden, der noch etwaf damit anzufangen weif. Daf rechte Knie ift faft neu. Der alte Prodfiki weiter unten an der Ftrafe würde mein Hüftgelenk zu schätfen wiffen. Haft du allef verftanden?«

»Ja, ja, ich glaube schon.«

»Gut. Und denk daran. Irgendwann schlieft fich der Kreif.«

Igor sank zurück.

»Er ist tot, Herr«, sagte Grinsi.

Aber bald dürfte er wieder auf den Beinen sein, wenn auch nicht auf den eigenen, dachte Mumm. Er sprach diese Worte nicht aus, um auf Grinsis Gefühle Rücksicht zu nehmen. Sie konnte recht sentimental sein. »Kannst du ihn in den Eiskeller bringen?«, fragte er stattdessen. »Nach den Geräuschen zu urteilen, zeichnet sich ein Sieg Anguas ab…«

Er kehrte in den Flur zurück, in dem ein ziemliches Durcheinander herrschte. Angua gelang gerade eine Kopfzange, und sie rammte Wolfgangs Schädel gegen eine Holzsäule. Er taumelte, seine Schwester drehte sich und brachte ihn mit einem Tritt in die Beine zu Fall.

Den Trick habe ich ihr beigebracht, dachte Mumm, als Wolfgang auf den Boden prallte. So sieht der Kampfstil von Ankh-Morpork aus – jedes Mittel ist recht.

Doch wie ein Gummiball kam Wolfgang wieder nach oben, sprang einen Salto über Angua hinweg und erreichte so die Eingangstür. Ein Hieb stieß sie auf, und er sprang hinaus.

Und… das war es. Ein Zimmer voller Trümmer, hereinwehende Schneeflocken und eine auf dem Boden schluchzende Angua.

Mumm zog sie behutsam hoch. Sie blutete aus mehreren Wunden. Anstand hinderte ihn an einer genaueren Diagnose, denn er war es nicht gewohnt, nackte junge Damen mit großer Aufmerksamkeit aus der Nähe zu betrachten.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Mumm, weil er glaubte, irgendetwas sagen zu müssen. »Er hat die Flucht ergriffen!«

»Es ist nicht alles in Ordnung! Er wird eine Zeit lang ausruhen, irgendwo, und dann kehrt er zurück! Ich kenne ihn! Es spielt keine Rolle, wohin wir gehen! Du hast ihn gesehen! Er wird unseren Spuren folgen und versuchen, Karotte zu töten!«

»Warum?«

»Weil mir Karotte etwas bedeutet!«

Sybil kam die Treppe herunter und hielt Mumms Armbrust.

»Oh, du armes Ding«, sagte sie. »Komm zu mir, bestimmt finden wir etwas zum Anziehen für dich. Kannst du nicht irgendetwas tun, Sam?«

Mumm starrte sie an. Sybils Gesicht brachte die felsenfeste Überzeugung zum Ausdruck, dass er etwas tun konnte.

Das Frühstück lag eine Stunde zurück. Vor zehn Minuten hatte er diese dämliche Uniform angezogen, in einem Zimmer, das zu einer ganz bestimmten Realität gehörte. Zu einer Realität mit einer realen Zukunft. Und jetzt kehrte plötzlich die Finsternis zurück, durchsetzt mit rotem Zorn.

Und wenn er ihr nachgab, würde er verlieren. Das Tier in ihm heulte, doch Wolfgang war ein besseres Tier. Mumm begriff, dass er einfach nicht die notwendige Gemeinheit aufbringen konnte. Früher oder später würde sich sein Gehirn zu Wort melden und ihn umbringen.

Vielleicht solltest du damit beginnen, mich zu benutzen, teilte ihm das Gehirn mit.

»Ja…«, sagte er langsam. »Ja, ich glaube, ich kann tatsächlich etwas tun…«

Feuer und Silber, dachte Mumm. Und Silber fehlt in Überwald.

»Ich mitkommen soll?«, fragte Detritus, der gewisse Signale zu deuten verstand.

»Nein, ich glaube… ich glaube, ich breche jetzt auf, um jemanden zu verhaften. Ich möchte keinen Krieg beginnen. Außerdem solltest du für den Fall hier bleiben, dass Wolfgang zurückkehrt. Aber du könntest mir dein Taschenmesser leihen.«

In einer der aufgebrochenen Kisten fand Mumm ein Laken und riss einen langen Streifen ab. Dann nahm er die Armbrust von seiner Frau entgegen.

»Er hat jetzt ein Verbrechen in Ankh-Morpork begangen«, sagte er. »Und dadurch gehört er mir

»Sam, wir sind nicht in…«

»Weißt du, man hat mich so oft darauf hingewiesen, wir seien hier nicht in Ankh-Morpork, dass ich daran geglaubt habe. Aber diese Botschaft ist Ankh-Morpork. Und ich…« Er hob die Armbrust. »Ich bin jetzt das Gesetz.«

»Sam?«

»Ja, Schatz?«

»Ich kenne diesen Blick. Achte darauf, dass du keine Unschuldigen verletzt.«

»Keine Sorge, Schatz. Ich werde zivilisiert sein.«

 

Draußen standen mehrere Zwerge bei einem Artgenossen, der in einer Lache aus Blut im Schnee lag.

»Welche Richtung?«, fragte Mumm. Die Worte mochten sie nicht verstehen, aber sie verstanden die Frage. Mehrere von ihnen deuteten über die Straße.

Mumm ging weiter, hielt die Waffe in der Armbeuge und zündete sich eine Zigarre an.

Dies verstand er. Mit Politik kam er nicht gut zurecht. Dabei schienen sich Gut und Böse nur dadurch zu unterscheiden, aus welchem Blickwinkel man eine bestimmte Sache betrachtete. So etwas sagten zumindest die Leute, die auf jener Seite standen, die Mumm als »böse« ansah.

In der Politik war alles viel zu kompliziert, und wenn es kompliziert wurde, versuchte jemand einen zum Narren zu halten. Doch auf der Straße, bei einer Verfolgungsjagd, war alles klar. Am Ende der Jagd würde jemand auf den Beinen bleiben, und man musste nur dafür Sorge tragen, dass man selbst dieser Jemand war.

An der nächsten Straßenecke lag ein umgestürzter Karren, und der Fahrer kniete neben einem Pferd mit aufgerissenem Leib.

»Welche Richtung?«

Der Mann streckte die Hand aus.

Die nächste Straße erwies sich als breiter, und es gab mehr Verkehr. Elegante Kutschen rollten langsam durch die Menge. Natürlich, die Krönung…

Aber das gehörte zur Welt des Herzogs von Ankh, und dort hielt er sich derzeit nicht auf. Er beschränkte sich darauf, Sam Mumm zu sein, und der hielt nicht viel von Krönungen.

Weiter vorn erklangen Schreie, und das Bewegungsmuster der Leute veränderte sich – sie drängten ihm plötzlich entgegen. Mumm kam sich wie ein Lachs vor, der flussaufwärts schwamm.

Die Straße mündete auf einen großen Platz. Die Leute rannten nun, woraus Mumm den Schluss zog, dass er noch immer in der richtigen Richtung unterwegs war. Für ihn stand fest, dass er Wolfgang dort finden würde, wo sich niemand sonst aufhalten wollte.

Mumm bemerkte hastige Bewegungen auf der Seite und sah eine Gruppe rennender Stadtwächter. Sie blieben stehen, und einer von ihnen kehrte zurück – Tantony.

Er musterte Mumm von Kopf bis Fuß. »Muss ich dir für vergangene Nacht danken?«, fragte er. Frische Narben zeigten sich in seinem Gesicht, aber sie heilten bereits. Wir brauchen einen Igor, dachte Mumm.

»Ja«, bestätigte er. »Für die guten Dinge ebenso wie für die schlechten.«

»Und jetzt weißt du, was geschieht, wenn man die Konfrontation mit einem Werwolf sucht.«

Mumm öffnete den Mund, um zu erwidern: »Trägst du da eine Uniform, Hauptmann, oder eine Art Kostüm?« Aber er schluckte die Worte runter und erwiderte stattdessen: »Nein. Ich weiß jetzt, was passiert, wenn man dumm genug ist, einem Werwolf ohne Helfer und Feuerkraft gegenüberzutreten. Ich fürchte, diese Lektion müssen wir alle lernen. Integrität ist keine besonders gute Rüstung.«

Tantonys Wangen röteten sich. »Was machst du hier?«, fragte er.

»Unser haariger Freund hat gerade jemanden in der Botschaft ermordet, die…«

»Ja, ja, sie gehört zum Territorium von Ankh-Morpork. Aber jetzt bist du in der Stadt! Und ich leite hier die Wache!«

»Ich verfolge einen flüchtigen Verbrecher, Hauptmann. Ah, du weißt, was das bedeutet, wie ich sehe.«

»Ich… ich… so etwas gilt hier nicht!«

»Wirklich nicht? Jeder Polizist weiß über eine Verfolgungsjagd Bescheid. Wenn man einem Kriminellen dicht auf den Fersen ist, darf man ihn über die Grenzen der eigenen Zuständigkeit hinaus verfolgen. Wenn er gefasst ist, mag es ein kleines juristisches Hin und Her geben, aber ich schlage vor, das verschieben wir auf später.«

»Ich beabsichtige, ihn selbst für die heute verübten Verbrechen zu verhaften!«

»Du bist zu jung, um zu sterben. Außerdem habe ich ihn zuerst gesehen. Ich sag dir was… Wenn er mich umgebracht hat, kannst du versuchen, ihn zu verhaften, einverstanden?« Mumm sah Tantony in die Augen. »Und jetzt geh mir aus dem Weg.«

»Ich könnte dich unter Arrest stellen lassen.«

»Mag sein. Aber bisher habe ich dich für einen intelligenten Mann gehalten.«

Tantony nickte und bewies, dass Mumm Recht hatte. »Na schön. Wie können wir dir helfen?«

»Indem ihr mir nicht in die Quere kommt. Und meine Überreste wegkratzt, wenn ich keinen Erfolg habe.«

Mumm spürte Tantonys Blick im Nacken, als er den Weg fortsetzte.

In der Mitte des Platzes stand eine Statue des Fünften Elefanten. Ein Künstler hatte versucht, in Bronze und Stein jenen Moment darzustellen, an dem das allegorische Tier vom Himmel herabgedonnert war und Überwald seinen unglaublichen Rohstoffreichtum beschert hatte. In unmittelbarer Nähe standen die idealisierten und sehr kräftig anmutenden Gestalten von Zwergen und Menschen. Sie nahmen eine würdevolle Haltung ein, hielten Hämmer und Schwerter in den Händen. Wahrscheinlich repräsentierten sie Wahrheit, Industrie, Gerechtigkeit und Mutters-daheim-gebratenen-fettigen-Pfannkuchen, vermutete Mumm. Wie dem auch sei: In einem Land, in dem niemand Graffiti an Statuen hinterließ, fühlte er sich sehr fremd.

Ein Mann lag auf dem Kopfsteinpflaster, und neben ihm kniete eine Frau. Tränenüberströmt sah sie zu Mumm auf und sagte etwas auf überwaldisch. Er konnte nur nicken.

Wolfgang sprang von der Statue herunter, die schlechter Bildhauerkunst gewidmet zu sein schien, landete wenige Meter vor Mumm und lächelte.

»Herr Zivilisiert! Wie wär’s mit einem neuen Spiel?«

»Siehst du diese Dienstmarke hier?«, fragte Mumm.

»Sie ist ziemlich klein!«

»Aber du siehst sie?«

»Ja, ich sehe deine kleine Dienstmarke!« Wolfgang schob sich zur Seite, ließ dabei beide Arme hängen.

»Und ich bin bewaffnet. Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich bin bewaffnet!«

»Mit der lächerlichen Armbrust?«

»Ich habe dich darauf hingewiesen, dass ich bewaffnet bin, und du hast es gehört, nicht wahr?« Mumm sprach laut und folgte den Bewegungen des Werwolfs, immer ihm zugewandt. Er paffte an seiner Zigarre und ließ ihr Ende so stärker glühen.

»Ja! So etwas nennst du zivilisiert?«

Mumm lächelte. »Ja, auf diese Weise gehen wir vor.«

»Meine Art ist besser!«

»Und hiermit verhafte ich dich«, sagte Mumm. »Komm mit, ohne Schwierigkeiten zu machen. Wir fesseln dich, und anschließend wirst du den hiesigen Justizbehörden überstellt. Falls es welche gibt.«

»Ha! Dein Ankh-Morpork-Humor!«

»Ja, gleich lasse ich die Hose runter. Und nun… Widersetzt du dich der Verhaftung?«

»Was sollen diese dummen Fragen?« Inzwischen tanzte Wolfgang fast.

»Widersetzt du dich der Verhaftung?«

»Ja, natürlich! Ja! Guter Witz!«

»Hör nur, wie ich lache.«

Mumm warf die Armbrust beiseite und holte ein Rohr unter seinem Mantel hervor. Es bestand aus harter Pappe, und ein roter Kegel ragte aus dem einen Ende.

»Ein dummer Feuerwerkskörper«, rief Wolfgang und griff an.

»Könnte sein«, sagte Mumm.

Er versuchte erst gar nicht zu zielen. Präzision und Geschwindigkeit hatten bei diesen Dingen nie eine Rolle gespielt. Mumm nahm einfach die Zigarre aus dem Mund und presste sie in das Zündloch, als Wolfgang auf ihn zulief.

Der Mörser zitterte, als die Ladung zündete. Die Rakete sauste nicht besonders schnell aus dem Rohr, zog eine Rauchfahne hinter sich her und wirkte wie die dümmste Waffe seit dem Schokoladenspeer.

Wolfgang tänzelte unter ihr und lächelte. Als sie einen halben Meter über seinem Kopf dahinflog, sprang er und schnappte mit dem Mund danach.

Und dann explodierte sie.

Die Leuchtsignale sollten noch in einer Entfernung von zwanzig Meilen zu sehen sein. Mumm hatte die Augen fest zugekniffen, trotzdem drang das Glühen durch die Lider.

Die Leiche rollte übers Kopfsteinpflaster, und als sie schließlich reglos liegen blieb, blickte sich Mumm auf dem Platz um. Aus den Kutschen starrten die Leute herüber. Stille herrschte.

Unter den gegebenen Umständen wären mehrere Bemerkungen möglich gewesen. »Verdammter Mistkerl!«, hätte sich in jedem Fall gut geeignet, aber in Frage kamen auch »Willkommen in der Zivilisation!«, oder »Ist dir jetzt noch immer zum Lachen zumute?«, oder »Fass!«

Doch er schwieg, und das aus gutem Grund: Hätte er eine dieser Bemerkungen von sich gegeben, wäre ihm dadurch klar geworden, dass er gerade einen Mord begangen hatte.

Er wandte sich ab, warf den leeren Mörser über die Schulter und brummte: »Zur Hölle damit!«

Unter solchen Umständen fiel es ihm sehr schwer, abstinent zu bleiben.

Tantony beobachtete ihn.

»Überleg dir genau, was du sagst«, teilte ihm Mumm mit und ging weiter. »Ganz genau.«

»Ich habe die Signalraketen immer für sehr schnell gehalten…«

»Ich habe einen Teil des Treibsatzes entfernt«, sagte Mumm. Er warf Detritus’ Taschenmesser in die Luft und fing es wieder auf. »Schließlich sollte niemand verletzt werden.«

»Ich habe gehört, wie du ihn darauf hingewiesen hast, dass du bewaffnet warst. Ich habe gehört, wie er sich zwei Mal der Verhaftung widersetzt hat. Ich habe alles gehört. Ich habe alles gehört, was ich hören sollte.«

»Ja.«

»Es ist natürlich möglich, dass er dieses Gesetz nicht kannte.«

»Ach, tatsächlich? Nun, ich wusste nicht, dass es hier erlaubt ist, irgendeinem armen Kerl übers Land zu jagen und ihn übel zuzurichten. Doch daran hat sich niemand gestört.« Mumm schüttelte den Kopf. »Und spar dir den schmerzerfüllten Blick. Oh, ja, jetzt kannst du sagen, dass ich falsch an die Sache herangegangen bin, dass es besser gewesen wäre, das Problem auf andere Weise zu lösen. Nachher fallen einem solche Worte leicht. Vielleicht sage ich es mir auch selbst.« Mitten in der Nacht, dachte er. Nachdem ich aus dem Albtraum erwacht bin, der mir die Augen des Wahnsinns gezeigt hat. »Aber du wolltest ihm ebenso sehr das Handwerk legen wie ich. Oh, ja. Aber du konntest es nicht, weil dir die notwendigen Mittel fehlten. Und ich konnte es, weil mir die notwendigen Mittel zur Verfügung standen. Und jetzt genießt du den Luxus, über mich zu urteilen, weil du noch lebst. Und das ist die Wahrheit, im Großen und Ganzen. Du kannst wirklich von Glück sagen.«

Vor Mumm teilte sich die Menge. Er hörte überall flüsternde Stimmen.

»Andererseits«, sagte Tantony, als hätte er Mumms Worte überhaupt nicht gehört, »hast du das Ding nur abgefeuert, um Wolfgang zu warnen…«

»Wie bitte?«

»Du konntest natürlich nicht wissen, dass er aus einem Reflex heraus versuchen würde, den… Sprengkörper zu fangen«, fuhr Tantony fort, und Mumm gewann den Eindruck, dass er eine Aussage probte. »Die… hundeartigen Eigenschaften eines Werwolfs können niemandem bekannt sein, der aus einer großen, fernen Stadt kommt.«

Mumm sah dem Hauptmann noch einmal in die Augen und klopfte ihm dann auf die Schulter. »An diesem Gedanken solltest du festhalten.«

Als er den Weg fortsetzen wollte, hielt eine Kutsche neben ihm. Sie war so leise – das Geschirr rasselte nicht, und es pochte kein einziger Huf –, dass Mumm unwillkürlich zur Seite sprang.

Die schwarzen Pferde trugen schwarze Federn auf den Köpfen. Die Kutsche selbst war ganz offensichtlich ein Leichenwagen, und in den traditionellen langen Fenstern steckten jetzt geschwärzte Scheiben. Niemand saß auf dem Kutschbock; die Zügel waren einfach locker um das Messinggeländer geschlungen.

Die Tür schwang auf. Eine verschleierte Gestalt beugte sich vor. »Euer Exzellenz? Darf ich dich zur Botschaft zurückbringen? Du wirkst sehr erschöpft.«

»Nein, danke«, erwiderte Mumm grimmig.

»Bitte entschuldige das ganze Schwarz«, sagte Lady Margolotta. »Ich fürchte, bei solchen Gelegenheiten erwartet man das…«

Mit der Geschwindigkeit des Zorns schwang sich Mumm nach oben und in die Kabine.

»Sag du mir, wie irgendjemand einen vertikalen Wasserfall hochschwimmen kann«, knurrte er und fuchtelte mit dem Zeigefinger unter Lady Margolottas Nase. »In Hinsicht auf den Mistkerl hätte ich praktisch alles geglaubt, aber selbst er hätte das nicht fertig bringen können.«

»Es ist zweifellos ein Rätsel«, erwiderte die Vampirin ruhig, als die kutscherlose Kutsche weiterrollte. »Vielleicht lautet die Erklärung ›übermenschliche Kräfte‹?«

»Und jetzt lebt er nicht mehr, worüber sich auch die Vampire freuen, nicht wahr?«

»Ich glaube, sein Ende ist ein Segen für das ganze Land.« Lady Margolotta lehnte sich zurück. Ihre Ratte mit der Schleife um den Hals lag auf einem rosaroten Kissen und beobachtete Mumm argwöhnisch. »Wolfgang war ein sadistischer Mörder, ein Irrer, der sogar seiner eigenen Familie Angst machte. Delfine – Entschuldigung, ich meine Angua – wird jetzt Ruhe finden. Ich habe sie immer für eine intelligente junge Dame gehalten. Sie hat eine gute Entscheidung getroffen, dieses Land zu verlassen. Die Dunkelheit ist dadurch etwas weniger Furcht erregend, die Welt ein etwas besserer Ort.«

»Und ich habe dir Überwald gegeben?«, fragte Mumm.

»Oh, mach dir nichts vor. Dieses Land ist nur ein kleiner Teil von Überwald. Und jetzt werden sich hier einige Dinge ändern. Du warst wie ein Hauch frischer Luft.«

Lady Margolotta holte eine lange Spitze aus ihrer Handtasche und schob eine schwarze Zigarette hinein. Sie entzündete sich von selbst.

»Wie du habe ich Trost in einem… anderen Laster gefunden«, fuhr sie fort. »Schwarzer Scopani. Der Tabak wird in völliger Finsternis angebaut. Du solltest ihn mal probieren. Man könnte Dächer damit abdichten. Soweit ich weiß, dreht Igor daraus Zigarren, indem er die Blätter zwischen seinen Oberschenkeln rollt.« Sie blies Rauch von sich. »Besser gesagt, zwischen irgendwelchen Oberschenkeln. Natürlich tut mir die Baronin Leid. Für einen Werwolf muss es sehr schwer sein, sich damit abzufinden, ein Ungeheuer großgezogen zu haben. Was den Baron betrifft… Gib ihm einen Knochen, und für die nächsten Stunden ist er zufrieden.« Eine weitere Rauchwolke. »Gib auf Angua Acht. Glückliche Familie ist kein sehr populäres Spiel bei den Untoten.«

»Du hast ihm bei der Rückkehr geholfen! So wie auch mir!«

»Oh, er wäre ohnehin zurückgekehrt, früher oder später. Irgendwann, wenn du ihn nicht erwartet hättest. Er wäre Anguas Fährte gefolgt, wohin auch immer sie führte. Es war besser, dass die Dinge heute endeten.« Lady Margolotta sah durch den Rauch und bedachte Mumm mit einem anerkennenden Blick. »Du kannst gut mit Zorn umgehen, Euer Gnaden. Du sparst ihn auf, bis du ihn brauchst.«

»Du konntest nicht wissen, dass ich ihn besiegen würde. Du hast mich allein im Schnee zurückgelassen. Ich war nicht einmal bewaffnet!«

»Havelock Vetinari hätte keinen Narren nach Überwald geschickt.« Noch mehr Rauch wogte in der Luft. »Zumindest keinen dummen Narren.«

Mumm kniff die Augen zusammen. »Du bist ihm begegnet, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und du hast ihn all das gelehrt, was er weiß, stimmt’s?«

Lady Margolotta blies Rauch durch die Nase und gab ihm ein strahlendes Lächeln.

»Wie bitte? Du glaubst, ich hätte ihn unterrichtet? Meine Güte… Wenn du dich fragst, welche Vorteile ich aus dieser Sache ziehe… Ich habe eine kleine Atempause bekommen. Ein wenig Einfluss. Politik ist interessanter als Blut, Euer Gnaden. Und sie macht viel mehr Spaß. Hüte dich vor den reformierten Vampiren, Herr – das Verlangen nach Blut ist nur ein Verlangen, und mit der notwendigen Sorgfalt kann es in andere Kanäle gelenkt werden. Überwald wird Politiker brauchen. Ah, ich glaube, wir sind da«, fügte Lady Margolotta hinzu, obwohl Mumm schwören konnte, dass sie nicht aus dem Fenster gesehen hatte.

Die Tür öffnete sich.

»Wenn mein Igor noch da ist… Sag ihm, dass ich ihn unten in der Zwergenstadt erwarte. Freut mich sehr, dich kennen gelernt zu haben. Bestimmt sehen wir uns wieder. Und bitte richte Lord Vetinari herzliche Grüße von mir aus.«

Die Tür schloss sich hinter Mumm, und die Kutsche rollte davon.

Er fluchte leise.

Die Botschaft war voller Igors. Einige von ihnen berührten ihre Stirnlocken – oder zumindest die dortige Naht –, um ihm Reverenz zu erweisen. Sie trugen schwere unterschiedlich große Metallbehälter, auf denen Raureif lag.

»Was ist das?«, fragte Mumm. »Igors Bestattung?« Dann begriff er. »Oh, bei den Göttern… Sie sind mit Partytüten gekommen, denn jeder von ihnen kann etwas von den Resten mit nach Hause nehmen…«

»Ja, fo könnte man ef aufdrücken, Herr«, sagte ein Igor. »Aber wir finden ef ziemlich scheuflich, Leichen im Boden zu verscharren. All die Würmer und fo.« Er klopfte auf den Metallkasten unter seinem Arm. »Auf diefe Weife ift er bald wieder unter unf«, fügte er zufrieden hinzu.

»Reinkarnation auf Raten, wie?«, erwiderte Mumm schwach.

»Fehr luftig, Herr«, sagte der Igor ernst. »Ef ift erftaunlich, waf die Leute fo allef brauchen. Herf, Leber, Hände… Wir führen eine Bedarfflifte. Heute Abend wird ef einige fehr glückliche Perfonen in diefem Teil def Landef geben…«

»Und diese Teile stecken dann in den glücklichen Personen, nicht wahr?«

»Aufgefeichnet, Herr. Fweifellof bift du fehr geiftreich. Und einef Tagef wird irgendjemand eine fehr ernfte Gehirnverletfung erleiden, und dann…« Erneut klopfte er auf den kalten Behälter. »Dann schlieft fich der Kreif.«

Er nickte Grinsi und Mumm zu. »Ich muff jetft gehen, Herr. Ef gibt fo viel fu tun, du weift ja, wie daf ift.«

»Ich kann’s mir vorstellen«, sagte Mumm und dachte: die Axt meines Großvaters. Man verändert das eine oder andere, aber es bleibt immer ein Igor.

»Eigentlich sind es sehr selbstlose Leute, Herr«, meinte Grinsi, als der letzte Igor fortgehumpelt war. »Sie leisten viel gute Arbeit. Äh, sie haben sogar seinen Mantel und die Stiefel genommen, weil sie für jemanden nützlich sein könnten.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber…«

»Ich verstehe, Herr. Die anderen sind im Salon. Lady Sybil war sicher, dass du überlebst. Sie meinte, jemand mit einem solchen Blick kehrt zurück.«

»Wir nehmen an der Krönungszeremonie teil. Um alles hinter uns zu bringen. Wirst du dabei diese Kleidung tragen, Grinsi?«

»Ja, Herr.«

»Aber das ist… gewöhnliche Zwergenkleidung. Eine Hose und so.«

»Ja, Herr.«

»Aber Sybil erwähnte ein hübsches grünes Kleid und einen Helm mit einer Feder.«

»Ja, Herr.«

»Du kannst anziehen, was du willst, das weißt du.«

»Ja, Herr. Aber dann dachte ich an Dee. Und ich habe den König beobachtet, als er mit dir sprach, und… Nun, ich kann anziehen, was ich will, Herr. Und genau darum geht es. Ich muss das Kleid nicht tragen, und ich sollte es nicht allein deshalb anziehen, weil andere Leute nicht wollen, dass ich es trage. Außerdem sehe ich in dem Ding aus wie ein dummer Kopfsalat.«

»Für mich klingt das alles ziemlich kompliziert, Grinsi.«

»Vermutlich ist es eine Zwergenangelegenheit, Herr.«

Mumm öffnete die Tür des Salons. »Es ist vorbei«, sagte er.

»Hast du jemanden verletzt?«, fragte Sybil.

»Nur Wolfgang.«

»Er wird zurückkehren«, sagte Angua.

»Nein.«

»Hast du ihn getötet?«

»Ich habe ihn unschädlich gemacht. Wie ich sehe, bist du wieder auf den Beinen, Hauptmann.«

Karotte erhob sich ein wenig unbeholfen und salutierte. »Tut mir Leid, dass ich dir nicht helfen konnte, Herr.«

»Du hast den falschen Zeitpunkt gewählt, um fair zu kämpfen. Geht es dir gut genug, um mitzukommen?«

»Äh, Angua und ich möchten hier bleiben, wenn du nichts dagegen hast, Herr. Wir müssen über gewisse Dinge reden. Und… äh… nicht nur reden.«

 

Es war die erste Krönungszeremonie, an der Mumm teilnahm. Er hatte sie sich anders vorgestellt, seltsamer und voller… Glorie.

Stattdessen war sie ziemlich langweilig. Aber wenigstens handelte es sich um große Langeweile, die man über Jahrtausende hinweg destilliert und kultiviert hatte, bis sie einen beeindruckenden Glanz bekam, so wie sogar Dreck, wenn man ihn lange genug putzt. Es war eine Langeweile, die man in die Form einer Zeremonie gehämmert hatte.

Sie eignete sich bestens dafür, die Kapazität einer durchschnittlichen Blase zu testen.

Mehrere Zwerge lasen aus uralten Schriftrollen vor. Es klang nach Auszügen aus der Koboldeanischen Sage, und Mumm fragte sich verzweifelt, ob ihnen eine weitere Oper drohte. Aber nach nur einer Stunde ging dieser Teil des Rituals zu Ende. Andere Zwerge lasen andere Dinge vor. Der König stand allein in einem Kreis aus Kerzen, und an einer Stelle reichte man ihm einen Lederbeutel, eine kleine Bergbauaxt und einen Rubin. Mumm wusste nicht, was es damit auf sich hatte, aber die Geräusche deuteten darauf hin, dass jedem Gegenstand enorme Bedeutung zukam, zumindest für Tausende von Zwergen hinter Mumm. Tausende? Es mussten Zehntausende sein. Die Zwerge bildeten zahllose Reihen in der riesigen Höhle. Vielleicht waren es sogar hunderttausend…

Und Mumm stand ganz vorn. Niemand hatte ein Wort gesagt. Mumm und seine drei Begleiter waren einfach nach vorn geführt und dort sich selbst überlassen worden. Allerdings wies gelegentliches Murmeln darauf hin, dass die Anwesenheit von Detritus alles andere als unbemerkt blieb. Überall um sie herum standen alte, würdevoll gekleidete Zwerge mit langen Bärten.

Jemand wurde unterwiesen. Mumm fragte sich, wem die Lektion galt.

Schließlich brachten sie die Steinsemmel herein. Zwar war sie nicht besonders groß und auch nicht übermäßig schwer, aber vierundzwanzig Zwerge trugen sie auf einer Trage. Voller Ehrfurcht legten sie sie auf einen Stuhl.

Mumm spürte, wie sich die Atmosphäre in der gewaltigen Höhle veränderte, und erneut dachte er: Hier gibt es weder Magie noch Geschichte, ihr armen Teufel. Ich wette meinen Sold, dass die Form dieses Objekts auf das Gummi eines Bottichs zurückgeht, der zur Herstellung von Keinesorges »Sicher und zuverlässig« diente. Heilige Relikte können einen sehr seltsamen Ursprung haben…

Erneut wurde vorgelesen, aber diesmal nicht mehr so lange.

Dann zogen sich diejenigen Zwerge zurück, die während der endlosen und verwirrenden Stunden auf die eine oder andere Weise aktiv geworden waren. Der König blieb allein zurück, wirkte plötzlich so klein und verlassen wie die Semmel.

Er sah sich um. Im Halbdunkel konnte er Mumm in dem viele tausend Personen zählenden Publikum bestimmt nicht erkennen, aber der Botschafter von Ankh-Morpork gewann trotzdem den Eindruck, dass der Blick des Zwergs kurz auf ihm verweilte.

Der König setzte sich.

Ein Seufzen hob an. Es wurde lauter und lauter, ein Orkan aus dem Atem einer Nation. Es hallte von den Felswänden wider, übertönte alle anderen Geräusche.

Mumm hatte halb damit gerechnet, dass die Semmel explodierte oder zerbröckelte oder plötzlich rot glühte. Aber das ist natürlich Unsinn, sagte eine leiser werdende Stimme in Mumm. Es ist eine Fälschung, ein in Ankh-Morpork hergestelltes Ding, das Geld und mehreren Personen das Leben gekostet hat. Es kann nicht echt sein.

Doch im lauten Rauschen wusste er, dass es Realität war in einem unerschütterlich festen Glauben, und daraufhin begriff Mumm. Wahrheit und Fakt waren nicht miteinander identisch. Das wusste er jetzt, gestern und morgen – das Ding und die Gesamtheit des Dings.

 

Angua merkte, dass Karotte müheloser ging, als sie den Wald unterm Wasserfall erreichten. Die auf seine Schulter gestützte Schaufel schien ihn kaum mehr zu belasten.

Der Schnee war übersät mit Wolfsspuren.

»Sie sind nicht geblieben«, sagte Angua, als sie zwischen den Bäumen wanderten. »Sie waren voller Kummer, als er starb, aber… Wölfe blicken in die Zukunft. Sie versuchen nicht, sich an Dinge zu erinnern.«

»Da können sie von Glück sagen«, meinte Karotte.

»Sie sind Realisten. In der Zukunft liegt die nächste Mahlzeit, und die nächste Gefahr. Ist mit deinem Arm alles in Ordnung?«

»Fühlt sich so gut wie neu an.«

Sie fanden den gefrierenden Pelzhaufen dicht am Ufer. Karotte zog ihn aus dem Wasser, strich den Schnee beiseite und begann zu graben.

Nach einer Weile zog er das Hemd aus. Die blauen Flecken an seinem Oberkörper verblassten bereits.

Angua setzte sich und blickte über den Fluss, lauschte dabei dem Pochen der Schaufel und einem gelegentlichen Knirschen, wenn Karotte auf eine Baumwurzel stieß. Kurze Zeit später hörte sie, wie etwas über den Schnee gezogen wurde. Es wurde kurz still, und dann klackten Steine, als Karotte das Grab zuschaufelte.

»Möchtest du einige Worte sprechen?«, fragte er.

»Du hast das Heulen in der vergangenen Nacht gehört«, erwiderte Angua und blickte weiter übers Wasser. »So verabschieden sich Wölfe von einem toten Gefährten. Worte sind nicht notwendig.«

»Nun, vielleicht einige Sekunden des Schweigens…«

Angua drehte sich abrupt um. »Karotte! Erinnerst du dich nicht an gestern? Fragst du dich nicht, was aus mir werden könnte? Machst du dir keine Sorgen um die Zukunft?«

»Nein.«

»Meine Güte, und warum nicht?«

»Weil die Zukunft noch nicht geschehen ist. Sollen wir jetzt zurückgehen? Es wird bald dunkel?«

»Und morgen?«

»Ich würde mich freuen, wenn du nach Ankh-Morpork zurückkehrst.«

»Warum? Dort gibt es nichts für mich.«

Karotte klopfte den Boden über dem Grab fest. »Ist hier etwas für dich übrig geblieben?«, fragte er. »Äh, und ich…«

Wag es nicht, diese Worte auszusprechen, dachte Angua. Nicht ausgerechnet jetzt.

Und dann bemerkten sie beide die Wölfe. Sie schlichen an den Bäumen vorbei, dunkle Schatten im letzten, verblassenden Licht des Tages.

»Sie sind auf der Jagd«, sagte Angua und griff nach Karottes Arm.

»Oh, keine Sorge. Sie greifen Menschen nicht grundlos an.«

»Karotte?«

»Ja?« Die Wölfe näherten sich.

»Ich bin kein Mensch!«

»Aber gestern Abend…«

»Das war etwas anderes. Sie erinnerten sich an Gavin. Jetzt bin ich nur ein Werwolf für sie…«

Angua sah, wie sich Karotte den Wölfen zuwandte. Ihr Fell war gesträubt, und sie knurrten. Sie bewegten sich mit jener Art zögernder Zurückhaltung, die auf einen Hass hindeutete, der Furcht überwinden kann. Jeden Augenblick konnte sich in einem der Wölfe die Waagschale des Empfindens ganz zur einen Seite neigen, und dann war es geschehen.

Jemand sprang – Karotte. Er packte den Anführer des Rudels an Hals und Schwanz, hielt das Tier fest, als es zappelte und nach ihm zu schnappen versuchte. Seine Bemühungen, dem Griff zu entkommen, ließen den Wolf im Kreis laufen, mit Karotte in der Mitte. Die anderen Wölfe wichen vor dem grauen Wirbel zurück.

Als das Oberhaupt des Rudels stolperte, beugte sich Karotte vor und biss es in den Nacken. Der Wolf heulte.

Karotte ließ ihn los, richtete sich auf und sah zu den anderen Wölfen. Sie mieden seinen Blick.

»Hmmm?«, fragte er.

Der Wolf auf dem Boden jaulte und erhob sich schwerfällig.

»Hmmm?«

Er zog den Schwanz zwischen die Hinterbeine und schlich zurück, doch eine unsichtbare Leine schien ihn mit Karotte zu verbinden.

»Angua?«, fragte Karotte, ohne den Wolf aus den Augen zu lassen.

»Ja?«

»Sprichst du Wölfisch? Ich meine, in deiner gegenwärtigen Gestalt?«

»Ein wenig. Woher wusstest du, worauf es ankommt?«

»Oh, ich habe die Tiere beobachtet…«, sagte Karotte, als sei das Erklärung genug. »Bitte sag ihnen… Sag ihnen, dass ich ihnen nichts zu Leide tue, wenn sie jetzt verschwinden.«

Angua bellte einige Worte. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich die Situation völlig verändert. Jetzt bestimmte Karotte alles.

»Und sag ihnen, dass ich zwar fortgehe, aber vielleicht zurückkehre. Wie heißt er?« Er deutete auf den sich duckenden Wolf.

»Das ist Frisst Falsches Fleisch«, flüsterte Angua. »Er war… Nach Gavins Tod wurde er zum Anführer des Rudels.«

»Sag ihm, dass ich nichts dagegen habe, wenn er das Rudel weiterhin anführt. Sag ihnen all das.«

Die Wölfe beobachteten Angua aufmerksam. Sie wusste, was ihnen durch den Kopf ging. Karotte hatte den Anführer besiegt. Damit war alles klar. Für Ungewissheit gab es in ihrem Denken nicht viel Platz. Den Luxus des Zweifels konnten sich nur Geschöpfe leisten, die nicht ständig nur eine Mahlzeit vom Hungertod entfernt waren. Im mentalen Kosmos der Wölfe klaffte nach wie vor ein gavinförmiges Loch, und Karotte hatte es gerade gefüllt. Natürlich würde die Wirkung nicht lange anhalten, aber das war auch nicht nötig.

Er findet immer einen Weg, dachte Angua. Er denkt nicht darüber nach. Er plant nicht. Er schiebt sich einfach an die richtige Stelle. Ich habe ihn gerettet, weil er sich nicht selbst retten konnte, und Gavin rettete ihn, weil… weil… weil er einen Grund dafür hatte. Ich bin fast sicher, dass Karotte nicht weiß, auf welche Weise er die Welt um sich wickelt. Ja, ich bin fast sicher. Er ist gut und freundlich und dazu geboren, ein König von der alten Art zu sein, die einst Eichenblätter trug und von einem Sitz unterm Baum aus regierte. Und sosehr er es auch versucht: Er hat nie einen zynischen Gedanken.

Ich bin fast sicher.

»Lass uns gehen«, sagte Karotte. »Die Krönungszeremonie wird bald vorbei sein, und ich möchte nicht, dass sich Herr Mumm Sorgen macht.«

»Karotte! Ich muss etwas wissen.«

»Ja?«

»Das könnte mit mir passieren. Hast du jemals darüber nachgedacht? Immerhin war er mein Bruder. Zwei Wesen gleichzeitig zu sein, und nie ganz eins… Bei uns gibt es keine innere Ausgeglichenheit.«

»Gold und Schlamm kommen aus dem gleichen Schacht«, sagte Karotte.

»Das ist nur eine Redensart der Zwerge!«

»Aber sie trifft den Kern der Sache. Du bist nicht Wolfgang.«

»Nun, wenn so etwas mit mir passieren würde… Wärst du bereit, Mumms Beispiel zu folgen? Karotte? Würdest du eine Waffe nehmen und mich verfolgen? Ich weiß, dass du nicht lügst. Ich muss es wissen. Wärst du dazu bereit?«

Etwas Schnee rutschte von den Ästen. Die Wölfe beobachteten alles. Karotte sah kurz zum grauen Himmel empor und nickte dann.

»Ja.«

Angua seufzte. »Versprochen?«, fragte sie.

 

Es verblüffte Mumm, wie schnell aus der Krönungszeremonie wieder Alltag wurde. Hornklänge tönten durch die große Höhle, die Menge geriet in Bewegung, und es formte sich eine Schlange vor dem König.

»Man hat ihm nicht einmal genug Zeit gegeben, es sich gemütlich zu machen!«, sagte Lady Sybil, als sie zum Ausgang schritten.

»Unsere Könige sind vor allem… Arbeitskönige«, meinte Grinsi, und Mumm glaubte, Stolz in ihrer Stimme zu hören. »Und jetzt nutzt der König die Gelegenheit, ihnen seine Gunst zu erweisen.«

Ein Zwerg eilte zu Mumm und zog respektvoll an seinem Mantel.

»Der König wünscht mit dir zu sprechen, Euer Exzellenz«, sagte er.

»Die Warteschlange ist praktisch endlos!«

»Trotzdem.« Der Zwerg hüstelte höflich. »Der König möchte dich jetzt sehen. Dich und deine Begleiter.«

Er führte sie zum Beginn der Schlange. Mumm spürte, wie sich ihm viele Blicke in den Rücken bohrten.

Der König entließ den aktuellen Bittsteller mit einem majestätischen Nicken, als man die Ankh-Morpork-Gruppe geschickt in die Schlange einfügte, direkt vor einem Zwerg, dessen Bart bis auf den Boden reichte.

Der König musterte sie einige Sekunden, dann lieferte sein geistiger Aktenschrank die benötigte Karteikarte.

»Ah, du bist es, so gut wie neu«, sagte er. »Nun, was hatte ich vor? Oh, jetzt fällt es mir wieder ein… Lady Sybil?«

Sie machte einen Knicks.

»Die Tradition verlangt, dass wir in einer solchen Situation Ringe schenken«, sagte der König. »Unter uns: Viele Zwerge halten das für… abgedroschen. Aber ich glaube, dass ein Ring in diesem Fall willkommen ist. Nimm ihn als ein Symbol für die Dinge, die uns in der Zukunft erwarten, Lady Sybil.«

Er hob einen dünnen Silberring. Der offensichtliche Geiz verschlug Mumm den Atem, aber Sybil hätte selbst einen Korb mit toten Ratten würdevoll entgegengenommen.

»Oh, wie wunder…«

»Normalerweise geben wir Gold«, fuhr der König fort. »Es ist sehr beliebt, und man kann Lieder darüber singen. Aber dies hier hat… Seltenheitswert. Es ist das erste Silber, das in Überwald seit vielen hundert Jahren gewonnen wurde.«

»Ich dachte, es sei verboten…«, begann Mumm.

»Gestern habe ich angeordnet, die alten Silberminen wieder zu öffnen«, sagte der König freundlich. »Es schien mir ein günstiger Zeitpunkt zu sein. Bald können wir entsprechendes Erz verkaufen, und ich wäre sehr dankbar, wenn Lady Sybil darauf verzichten würde, an Verhandlungen über den Preis teilzunehmen – ich fürchte, sie könnte unseren Bankrott herbeiführen«, fügte der König hinzu. »Wie ich sehe, beehrt uns Fräulein Kleinpo heute nicht mit modischen Extravaganzen.«

Grinsi starrte wortlos.

»Du trägst kein Kleid«, erklärte der König.

»Nein, Majestät.«

»Allerdings bemerke ich Anzeichen der zurückhaltenden Verwendung von Wimperntusche und Lidschatten.«

»Ja, Majestät«, quiekte Grinsi und erweckte den Eindruck, allein durch den Schock sterben zu können.

»Das ist nett. Bitte vergiss nicht, mir die Namen und Adresse deiner Schneiderin mitzuteilen«, fuhr der König fort. »Es könnte bald Arbeit für sie geben. Ich habe lange und gründlich nachgedacht…«

Mumm blinzelte. Grinsi war erblasst. Hatte sonst jemand die letzten Worte vernommen? Hatte er selbst richtig gehört?

Sybil gab ihm einen Stoß in die Rippen. »Dein Mund steht offen, Sam«, flüsterte sie.

Er hatte also richtig gehört…

Erneut erklang die Stimme des Königs. »… und ein Beutel mit Gold ist in jedem Fall akzeptabel.«

Grinsi starrte noch immer.

Mumm schüttelte sie vorsichtig an der Schulter.

»D-danke, Majestät.«

Der König streckte die Hand aus. Mumm rüttelte Grinsi noch einmal, daraufhin hob sie ebenfalls wie hypnotisiert die Hand. Der König ergriff sie.

Schockiertes Flüstern breitete sich hinter Mumm aus. Der König hatte die Hand eines Zwerges geschüttelt, der sich ganz offen als Frau zu erkennen gab…

»Und damit bleibt noch… Detritus«, sagte der König. »Ich weiß nicht recht, was ein Zwerg einem Troll geben könnte – vielleicht das, was auch ein Zwerg von mir bekommen würde. Du erhältst also einen Beutel Gold. Hoffentlich kannst du etwas damit anfangen. Und…«

Er stand auf und streckte die Hand aus.

In den fernen Regionen von Überwald kämpften Zwerge und Trolle noch immer gegeneinander. In den übrigen Gebieten herrschte jene Art von Frieden, die sich ergibt, wenn beide Seiten mit Aufrüsten beschäftigt sind.

Das Flüstern verstummte. Stille dehnte sich aus, bis in alle Winkel der riesigen Höhle.

Detritus blinzelte. Dann griff er ganz vorsichtig nach der Hand und versuchte, sie nicht zu zerquetschen.

Das Flüstern erhob sich erneut. Und diesmal, so wusste Mumm, würde es sich viele Meilen weit fortsetzen.

Indem er zwei Hände schüttelte, bewirkte dieser alte Zwerg mit dem weißen Bart mehr, als ein Dutzend gut geplanter Verschwörungen jemals erreichen konnten. Kleine Wellen gingen von dieser Höhle aus, breiteten sich in ganz Überwald aus und schwollen dabei immer mehr an, bis sie schließlich zu einer regelrechten Flut wurden. Dreißig Männer und ein Hund waren nichts dagegen.

»Hmmm?«

»Ich habe gefragt, was ein König einem Mumm geben könnte«, sagte der König.

»Äh, nichts, glaube ich«, erwiderte Mumm geistesabwesend. Zwei geschüttelte Hände! In aller Ruhe, begleitet von einem sanften Lächeln, hatte der König die alten Bräuche der Zwerge auf den Kopf gestellt – so sanft, dass man noch jahrelang darüber reden würde…

»Sam!«, schnappte Sybil.

»Nun, dann möchte ich dir etwas für deine Nachkommen geben«, sagte der König weiterhin völlig gelassen. Man brachte ihm eine lange, flache Schachtel. Als er sie öffnete, kam eine Zwergenaxt zum Vorschein – neues Metall glänzte auf schwarzem Samt.

»Im Lauf der Zeit wird dies zur Axt eines Großvaters«, sagte der König. »Wenn genügend Jahre verstrichen sind, braucht sie sicher einen neuen Stiel und eine neue Klinge. Nach einigen Jahrhunderten verändert sich vielleicht die Form, um neuen ästhetischen Vorstellungen zu genügen. Trotzdem bleibt sie in jeder Hinsicht und in jedem einzelnen Detail die Axt, die ich dir heute gebe. Und weil sie sich im Laufe der Zeit ändern wird, bleibt die Klinge immer scharf. Ein Körnchen Wahrheit steckt in ihr. Freut mich sehr, dich kennen gelernt zu haben. Ich wünsche dir eine angenehme Heimreise, Euer Exzellenz.«

 

Sie schwiegen in der Kutsche, die sie zur Botschaft zurückbrachte. Schließlich sagte Grinsi: »Der König meinte…«

»Ich hab’s gehört«, brummte Mumm.

»Aber genauso gut hätte er sagen können, er…«

»Die Dinge werden sich ändern«, warf Sybil ein. »Darauf wollte der König hinaus.«

»Ich nie zuvor geschüttelt habe einem König die Hand«, ließ sich Detritus vernehmen. »Und auch keinem Zwerg.«

»Einmal hast du mir die Hand geschüttelt«, gab Grinsi zu bedenken.

»Wächter nicht zählen«, sagte Detritus. »Wächter sind Wächter

»Ich frage mich, ob sich alles ändern wird«, sagte Lady Sybil.

Mumm sah aus dem Fenster. Bestimmt fühlten sich die Leute gut, dachte er. Aber Trolle und Zwerge kämpften seit Jahrhunderten gegeneinander. Um einen Schlussstrich unter eine solche Sache zu ziehen, brauchte es mehr als nur einen Händedruck, dessen Bedeutung rein symbolisch war.

Andererseits… Helden, Schurken oder gar Polizisten konnten die Entwicklung der Welt nicht in eine neue Richtung lenken, aber vielleicht schafften Symbole so etwas. Mumm wusste, dass es kaum einen Sinn hatte, sich an den großen Dingen zu versuchen, zum Beispiel Weltfrieden und Glück für alle. Aber möglicherweise ließ sich eine wesentlich kleinere gute Tat vollbringen, durch die die Welt ein klein wenig besser wurde.

Zum Beispiel jemanden erschießen.

»Ich habe ganz vergessen, dir zu sagen, dass du gestern sehr nett gewesen bist, Grinsi«, erklang Lady Sybils Stimme. »Ich meine, als du beschlossen hast, Dee zu trösten.«

»Sie hätte mich von den Werwölfen umbringen lassen«, sagte Mumm. Er hielt es für angebracht, diesen Punkt hervorzuheben.

»Ja, natürlich«, räumte Sybil ein. »Aber… ich fand es trotzdem nett.«

Grinsi blickte auf ihre Stiefel und mied Sybils Blick. Dann hüstelte sie nervös, zog einen kleinen Zettel aus dem Ärmel und gab ihn Mumm.

Er entfaltete ihn.

»Sie hat dir diese Namen genannt?«, fragte er. »Auf dieser Liste stehen einige sehr hochrangige Zwerge von Ankh-Morpork…«

»Ja, Herr.« Grinsi hüstelte erneut. »Ich wusste, dass Dee mit jemandem reden wollte, und, äh, ich schlug ihr das eine oder andere Thema vor. Entschuldige bitte, Lady Sybil. Es ist sehr schwer, damit aufzuhören, ein Polizist zu sein.«

»Das ist mir schon seit einer ganzen Weile klar«, erwiderte Sybil.

»Wenn wir morgen beim ersten Licht des Tages aufbrechen«, sagte Mumm, um das Schweigen zu brechen, »können wir den Pass vor Sonnenaufgang hinter uns bringen.«

Er verbrachte eine komfortable Nacht, irgendwo in den Tiefen der Matratze. Mumm erwachte mehrmals und glaubte, Stimmen zu hören. Dann sank er in die weiche Umarmung des Federbetts zurück und träumte von warmem Schnee.

Detritus weckte ihn. »Es draußen hell wird, Herr.«

»Mm?«

»Und da ein Igor ist mit einem… einem jungen Mann. Sie unten warten«, sagte Detritus. »Er hat ein großes Glas mit Nasen und ein Kaninchen mit vielen Ohren.«

Mumm versuchte, wieder einzuschlafen. Dann richtete er sich plötzlich kerzengerade auf.

»Was?«

»Es hat viele Ohren, Herr.«

»Meinst du ein Kaninchen mit großen Schlappohren?«

»Du dir besser ansehen solltest dieses Kaninchen«, schniefte der Troll.

Mumm ließ Lady Sybil in beneidenswertem Schlaf zurück, streifte den Bademantel über und ging barfuss in den eiskalten Saal hinunter.

In der Mitte des Raums wartete ein nervöser Igor. Mumm gelang es immer besser, die Igors voneinander zu unterscheiden21, und daher wusste er: Diesem begegnete er jetzt zum ersten Mal. Begleitet wurde er von einem wesentlich jüngeren… äh… Mann, vermutlich knapp über zwanzig, zumindest stellenweise. Doch Narben und Nähte deuteten bereits auf das für einen guten Igor typische erbarmungslose Verlangen nach Selbstverbesserung hin.

»Euer Ekfellenf?«

»Du bist… Igor, nicht wahr?«

»Gut geraten, Herr. Wir haben unf noch nicht kennen gelernt. Ich arbeite für Doktor Thaumik auf der anderen Feite def Bergef, und dief ift mein Fohn Igor.« Seine flache Hand klatschte gegen den Hinterkopf des Jungen. »Begrüfe Feine Gnaden, Igor.«

»Ich glaube nicht an die Adelswürde«, sagte der junge Igor mürrisch. »Und ich bin auch nicht bereit, jemanden mit irgendwelchen blöden Titeln anzusprechen.«

»Ef tut mir fehr Leid, Euer Gnaden«, meinte der Vater. »Aber fo ift daf eben mit der jungen Generation. Ich hoffe, du findeft eine Arbeit für ihn in der grofen Stadt, denn in Überwald will ihn niemand einftellen. Aber er ift ein guter Chirurg, trotf der komischen Ideen. Hat die Hände feinef Grofvaterf, weift du.«

»Ich sehe die Narben«, sagte Mumm.

»Hatte verdammtef Glück, der Bursche. Eigentlich follte ich die Hände bekommen, aber er war alt genug, um an der Lotterie teilfunehmen.«

»Möchtest du ein Wächter werden, Igor?«, fragte Mumm.

»Ja. Ich glaube, in Ankh-Morpork liegt die Zukunft, För.«

Sein Vater beugte sich zu Mumm vor. »Wir reden nicht über feinen kleinen Fprachfehler, Herr«, flüsterte er. »Hier ift daf natürlich ein Nachteil für ihn, im Igor-Geschäft, meine ich, aber in Ankh-Morpork find die Leute beftimmt netter zu ihm.«

»Ja, bestimmt«, sagte Mumm, holte ein Taschentuch hervor und betupfte sich geistesabwesend das Ohr. »Und…äh… das Kaninchen?«

»Es heißt Schreck, För.«

»Guter Name. Guter Name. Hat es deshalb all die menschlichen Ohren auf dem Rücken?«

»Ein frühes Experiment, För.«

»Und, äh, die Nasen?«

Das große Einmachglas enthielt etwa ein Dutzend. Es waren einfach nur… Nasen. Soweit Mumm das feststellen konnte, schienen sie niemandem abgeschnitten worden zu sein. Sie hatten kleine Beine und sprangen innen am Glas hoffnungsvoll auf und ab, wie kleine Hunde in einem Tierladen. Er glaubte, leise schnaufende Geräusche zu hören.

»Das ist die Zukunft, För«, sagte der junge Igor. »Ich lasse sie in speziellen Bottichen wachsen. Augen und Finger kann ich auf ähnliche Weise produzieren.«

»Aber sie haben kleine Beine!«

»Oh, wenn die Nasen einen festen Platz gefunden haben, fallen ihre Beine einige Sekunden später ab, För. Und sie wollen nützlich sein, meine kleinen Nasen. Bio-Kunsthandwerk für das nächste Jahrhundert, För. Nicht mehr das altmodische Herausschneiden aus Leichen…«

Der Vater schlug ihn erneut auf den Hinterkopf. »Fiehft du? Fiehft du? Welchen Finn hat fo etwaf? Er ift ein echter Nichtfnutf! Ich hoffe, du findeft etwaf für ihn, denn ich habe die Hoffnung praktisch aufgegeben! Er ift ef nicht wert, in feine Einfelteile ferlegt und weiterverwendet fu werden, wie wir fagen!«

Mumm seufzte. Als Wächter in Ankh-Morpork lief man jeden Tag Gefahr, das eine oder andere Körperteil zu verlieren, und der Junge war trotz allem ein Igor. Außerdem konnte man ohnehin nicht behaupten, dass die Wache aus normalen Personen bestand. Und ein Nasenzüchter war immer noch besser als Operationen, die nicht ohne laute Schreie und Eimer mit kochendem Pech auskamen.

Er deutete auf den Karton neben dem jungen Mann. Er knurrte und neigte sich gelegentlich von einer Seite zur anderen.

»Hast du da vielleicht einen Hund drin?«, fragte Mumm und verlieh der Frage einen scherzhaften Klang.

»Das sind meine Tomaten«, sagte Igor. »Ein Triumph des modernen Igoring. Sie werden enorm groß.«

»Weil fie jedef andere Gemüfe angreifen!«, erwiderte sein Vater. »Aber einf muff ich dem Jungen laffen, Herr: Bei ihm find die Nähte kleiner alf bei jedem anderen Igor, den ich kenne.«

»Na schön, na schön, klingt ganz nach dem Mann, den ich brauche«, sagte Mumm. »Zumindest kommt er meinen Vorstellungen recht nahe. Setz dich, junger Mann. Ich hoffe nur, es gibt genug Platz in den Kutschen…«

Die Tür zum Hof schwang auf, und Schneeflocken wehten herein. Karotte folgte ihnen und stampfte mit den Füßen.

»In der Nacht hat’s Neuschnee gegeben, aber die Straße dürfte passierbar sein«, sagte er. »Bis zur nächsten Nacht soll sich das Wetter verschlechtern, deshalb schlage ich vor… Oh, guten Morgen, Herr.«

»Hast du dich gut genug erholt, um nach Ankh-Morpork zurückzukehren?«, fragte Mumm.

»Es geht uns beiden gut genug«, sagte Angua, durchquerte den Saal und blieb neben Karotte stehen.

Erneut spürte Mumm die Präsenz vieler Worte, die er nicht gehört hatte. Bei solchen Gelegenheiten verzichtete ein kluger Mann auf Fragen.

Mumm spürte, wie ihm die Kälte durch die Füße kroch.

Er traf eine Entscheidung. »Gib mir dein Notizbuch, Hauptmann«, sagte er.

Die anderen beobachteten, wie er einige Zeilen schrieb.

»Mach beim Nachrichtenturm halt und schick der Wache eine Mitteilung«, sagte er und gab Karotte das Notizbuch zurück. »Lass sie wissen, dass du unterwegs bist. Nimm den jungen Igor hier mit und hilf ihm dabei, sich einzugewöhnen. Und erstatte Lord Vetinari Bericht.«

»Äh, kommst du nicht mit?«, fragte Karotte.

»Lady Sybil und ich nehmen die andere Kutsche«, sagte Mumm. »Oder wir kaufen uns einen Schlitten. Die sind sehr komfortabel. Und außerdem… Wir lassen es ein wenig ruhiger angehen. Wir sehen uns die… Sehenswürdigkeiten an. Wir lassen uns Zeit. Verstanden?«

Er sah, wie Angua lächelte und fragte sich, ob Sybil sie ins Vertrauen gezogen hatte.

»Vollkommen, Herr«, erwiderte Karotte.

»Oh, und, äh, statte Burlich-und-Starkimarm einen Besuch ab. Bestell jeweils zwei Dutzend Exemplare von allen kleinen Waffen, die auf ihren entsprechenden Listen ganz oben stehen. Schick sie mit der nächsten Postkutsche nach Bums, und zwar zu Händen von Hauptmann Tantony.«

»Der Transport wird ziemlich teuer sein, Herr…«, begann Karotte.

»Das wollte ich nicht von dir hören, Hauptmann. Ich habe ein ›Ja, Herr‹ erwartet.«

»Ja, Herr.«

»Und frag am Tor nach… drei traurigen Tantchen, die nicht weit von hier in einem großen Haus wohnen. Ein Kirschgarten gehört zu dem Anwesen. Finde die Adresse heraus und schick ihnen drei Kutschenfahrkarten nach Ankh-Morpork.«

»In Ordnung, Herr.«

»Gut. Ich wünsche euch eine gute Reise. Wir sehen uns in einer Woche. Oder vielleicht in zwei. Höchstens in drei. Alles klar?«

Wenige Minuten später stand er fröstelnd auf der Treppe und beobachtete, wie die Kutsche im kalten Morgen verschwand.

Schuldgefühle regten sich in ihm, aber sie waren nicht sehr stark. Er hatte der Wache jeden Tag gegeben, und jetzt wurde es Zeit, dass sie ihm eine Woche gab. Oder zwei. Höchstens drei.

Die Schuldgefühle reichten nicht einmal aus, um Gewissensbisse hervorzurufen. Derzeit sah er eine Zukunft, und damit hatte er mehr als jemals zuvor.

Mumm verriegelte die Tür und kehrte ins Bett zurück.

 

An einem klaren Tag konnte man von einem geeigneten Ort in den Spitzhornbergen aus weit über die Ebene sehen.

Die Zwerge hatten Bergflüsse umgeleitet und ein System aus Schleusen geschaffen, das vom Grasland der Ebene eine Meile weit emporführte und für dessen Benutzung sie sich gut bezahlen ließen. Ständig fuhren Kähne nach oben oder nach unten, wo sie den Fluss Smarl erreichten, der die Verbindung zu den Städten der Ebene bildete. Sie transportierten Kohle, Eisenerz, feuerfesten Ton, Schweinesirup22 und Fett, die langweiligen Ingredienzen der Zivilisation.

In der klaren, dünnen Luft dauerte es Tage, bis die Kähne außer Sicht waren. An einem besonders guten Tag konnte man den nächsten Mittwoch sehen.

Während der Kapitän eines Kahns darauf wartete, dass sich die oberste Schleuse öffnete, trat er an die Reling, um die Teekanne auszuschütten. Am schneebedeckten Ufer bemerkte er einen kleinen Hund, der sich aufrichtete und hoffnungsvoll bellte.

Er drehte sich um und wollte in die Kajüte zurückkehren, als er dachte: Was für ein liebes kleines Hündchen.

Es war ein so klarer Gedanke, dass er fast glaubte, ihn gehört zu haben. Er drehte den Kopf von einer Seite zur anderen – niemand war in der Nähe. Und Hunde konnten natürlich nicht sprechen.

Er hörte sich denken: »Dieses liebe Hündchen könnte dabei helfen, Ratten von der Fracht fern zu halten.«

Es mussten seine Gedanken sein, fand der Kapitän. Es hielt sich niemand in der Nähe auf, und jeder wusste, dass Hunde nicht sprechen konnten.

»Aber Ratten fressen keine Kohle, oder?«, fragte er laut.

Und er dachte sonnenklar: »Ah, nun, aber man kann nie wissen, ob sie nicht doch auf den Geschmack kommen. Außerdem ist es ein so lieber kleiner Hund, und tagelang hat er sich durch den tiefen Schnee gequält, was offenbar niemanden schert.«

Der Kapitän gab auf. Man kann sich nur für eine gewisse Zeit selbst widersprechen.

 

Nobby Nobbs hatte sich einen Unterstand an der Mauer des Wachhauses gebaut und wärmte sich verdrießlich die Hände, als ein Schatten auf ihn fiel.

»Was machst du hier, Nobby?«, fragte Karotte.

»Was? Hauptmann?«

»Niemand steht am Tor. Niemand ist auf Streife. Habt ihr meine Nachricht nicht bekommen? Was geht hier vor?«

Nobby befeuchtete sich die Lippen. »Nun…«, begann er vorsichtig, »derzeit gibt es keine Wache, zumindest nicht per se.« Er schnitt eine Grimasse und sah Angua hinter Karotte. »Äh, ist Herr Mumm bei euch?«

»Was geht hier vor, Nobby?«

»Nun, weißt du… Fred hat… Und dann wurde er… Und dann wollte er plötzlich… Und dann haben wir… Und dann wollte er nicht herauskommen… Und dann haben wir… Und dann vernagelte er die Tür… Und Frau Fred kam und schrie ihn durch den Briefschlitz an… Und die meisten Wächter sind fortgegangen und haben sich andere Arbeit gesucht… Und jetzt gibt es nur noch mich und Dorfl und Reg und Waschtopf, und wir wechseln uns hier ab, und wir schieben ihm was zu essen durch den Briefschlitz… und das ist es, im Großen und Ganzen…«

»Würdest du das bitte wiederholen und dabei die Lücken füllen?«, fragte Karotte.

Diesmal dauerte Nobbys Vortrag erheblich länger. Noch immer blieben einige Lücken offen, und Karotte sorgte dafür, dass sie mit Informationen zugestopft wurden.

»Ich verstehe«, sagte er schließlich.

»Herr Mumm dreht bestimmt durch«, kam es kummervoll von Nobbys Lippen.

»Wegen Herrn Mumm würde ich mir an deiner Stelle keine Sorgen machen«, sagte Angua. »Zumindest nicht jetzt.«

Karotte sah zur Eingangstür, die aus massivem Eichenholz bestand. Die Fenster waren vergittert.

»Geh und hol den Obergefreiten Dorfl, Nobby«, sagte er.

Zehn Minuten später hatte das Wachhaus einen neuen Eingang. Karotte trat über die Trümmer hinweg und ging nach oben.

Fred Colon saß zusammengekauert hinterm Schreibtisch und starrte auf einen Zuckerwürfel.

»Sei vorsichtig«, flüsterte Angua. »Seine geistige Verfassung könnte recht delikater Natur sein.«

»Das ist sehr wahrscheinlich«, sagte Karotte. Er beugte sich vor und hauchte: »Fred?«

»Mm?«, murmelte Colon.

»Auf die Beine, Feldwebel! Tu ich dir weh? Eigentlich sollte das der Fall sein, denn ich stehe auf deinem Bart! Du hast fünf Minuten, um dich zu waschen und zu rasieren und mit einem ordentlichen Gesicht zurückzukommen! Auf die Beine! Zum Waschraum! Zackzack! Bewegung! Eins-zwei, eins-zwei!«

Angua gewann den Eindruck, dass bei den nächsten Ereignissen jene Teile von Fred, die sich über dem Hals befanden, unbeteiligt blieben, von seinen Ohren vielleicht abgesehen. Er nahm bereits Haltung an, während er aufstand, machte zackig kehrt und sauste durch die Tür.

Karotte wirbelte zu Nobby herum. »Das gilt auch für dich, Korporal!«

Der Schock ließ Nobby zittern. Er salutierte mit beiden Händen und folgte Colon.

Karotte ging zum Kamin und stocherte in der Asche. »Meine Güte«, sagte er.

»Alles verbrannt?«, fragte Angua.

»Ich fürchte ja.«

»Einige Papierstapel waren wie alte Freunde.«

»Nun, vermutlich können wir bald mit Massen an Beschwerdebriefen rechnen, die uns an all die wichtigen Dinge erinnern, die wir versäumt haben«, sagte Karotte.

Nobby und Colon kehrten zurück, atemlos und sauber. In Colons Gesicht wiesen kleine Fetzen aus Seidenpapier auf Stellen hin, an denen er sich zu hingebungsvoll rasiert hatte. Trotzdem bot er einen besseren Anblick. Er war wieder Feldwebel. Jemand gab ihm Befehle. Die Welt stand wieder mit der richtigen Seite nach oben.

»Fred?«, fragte Karotte.

»Ja, Herr?«

»Du hast da Vogeldingsbums auf der Schulter.«

»Das bringe ich gleich in Ordnung, Herr!«, sagte Nobby und sprang zur Seite. Er holte ein Taschentuch hervor, spuckte hinein und rieb Colons provisorischen Rangknopf fort. »Alles weg, Fred!«, brachte er hervor.

»Ausgezeichnet«, sagte Karotte.

Er stand auf und ging zum Fenster. Es bot kein sehr beeindruckendes Panorama, aber Karotte blickte hinaus, als könnte er bis zum Ende der Welt sehen.

In Colon und Nobby wuchs das Unbehagen. Im Moment fanden sie überhaupt keinen Gefallen am Klang der Stille. Als Karotte schließlich sprach, blinzelten sie, als hätte ihnen jemand einen kalten Waschlappen ins Gesicht geklatscht.

»Ich glaube, wir haben es hier mit einer verworrenen Situation zu tun«, sagte er.

»Ja, das stimmt«, bestätigte Nobby sofort. »Alles war sehr verworren. Fred?«

Er stieß Fred Colon mit dem Ellenbogen an und weckte ihn aus einem Alptraum.

»Wie? Oh. Ja. Genau. Verworrenheit«, murmelte er.

»Und ich weiß auch, wer letztendlich die Schuld daran hat«, fuhr Karotte fort. Er schien noch immer auf das grandiose Schauspiel eines Mannes, der die Treppe des Opernhauses fegte, konzentriert zu sein.

Wieder folgte Stille. Nobbys Lippen bewegten sich in einem stummen Gebet. Von Fred Colons Augen war nur das Weiße zu sehen.

»Es ist meine Schuld«, sagte Karotte. »Ja, ich bin dafür verantwortlich. Herr Mumm hat mich als seinen Stellvertreter zurückgelassen, aber ich bin einfach aufgebrochen, ohne an meine Pflicht zu denken. Das brachte alle in eine unmögliche Situation.«

Fred und Nobby trugen den gleichen Gesichtsausdruck. Eine solche Miene erwartet man bei jemandem, der Licht am Ende des Tunnels gesehen hat – ein Licht, das sich als das Glitzern der Hoffnungsfee herausstellt.

»Es beschämt mich fast, euch zu bitten, mir aus der Grube zu helfen, die ich mir selbst gegraben habe«, fuhr Karotte fort. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was Herr Mumm dazu sagen wird.«

Für Fred und Nobby verschwand das Licht am Ende des Tunnels. Sie konnten sich vorstellen, was Herr Mumm sagen würde.

»Andererseits…« Karotte kehrte zum Schreibtisch zurück, zog die unterste Schublade auf und holte einige fleckige, zusammengeheftete Blätter daraus hervor.

Fred und Nobby warteten.

»Andererseits haben diese Männer den Schilling des Königs genommen und sich mit einem Eid dazu verpflichtet, des Königs Frieden zu wahren«, sagte Karotte und klopfte auf das Papier. »Sie haben dem König einen Schwur geleistet.«

»Ja, aber das war doch nur… Aargh!«, sagte Fred Colon.

»Bitte um Entschuldigung, Herr«, ließ sich Nobby vernehmen. »Bin beim Stillstehen versehentlich auf Freds großen Zeh getreten.«

Ein langes, seidenes Geräusch erklang, als Karotte sein Schwert aus der Scheide zog. Er legte es auf den Schreibtisch. Nobby und Colon versuchten, sich von der anklagenden Spitze fortzuneigen.

»Es sind alles gute Leute«, sagte Karotte sanft. »Wenn ihr euch mit jedem Einzelnen von ihnen in Verbindung setzt und die Situation erklärt, so erkennen sie bestimmt, wo ihre Pflicht liegt. Sagt ihnen… sagt ihnen, es gibt einen leichten Weg, wenn man weiß, wonach es Ausschau zu halten gilt. Und dann können wir unsere Arbeit fortsetzen, und wenn Herr Mumm aus seinem wohlverdienten Urlaub zurückkehrt, sind die verworrenen Ereignisse der Vergangenheit nur…«

»Verworren?«, schlug Nobby hoffnungsvoll vor.

»Ja«, sagte Karotte. »Übrigens freut es mich, dass du mit der Schreibarbeit so gut zurechtgekommen bist, Fred.«

Colon stand wie angewurzelt, bis Nobby ihn mit einer Hand aus dem Büro zog, während er mit der anderen verzweifelt salutierte.

Angua hörte, wie sie sich stritten, als sie die Treppe hinuntereilten.

Karotte stand auf, staubte den Stuhl ab und schob ihn sorgfältig unter den Schreibtisch.

»Nun, wir sind daheim«, sagte er.

»Ja«, erwiderte Angua und dachte: Du kannst scheußlich sein. Aber du nutzt diese Fähigkeit wie eine Kralle: Du fährst sie aus, wenn du sie brauchst, und wenn du sie nicht benötigst, bleibt sie unsichtbar.

Karotte beugte sich vor und griff nach ihrer Hand.

»Wölfe sehen nie zurück«, flüsterte er.

 

ENDE