»Das mit den Papieren ist eine Sache«, brummte Mumm und stieg aus. »Aber niemand schnüffelt in unseren Sachen herum. Ich weiß, worum es den Burschen wirklich geht. Sie suchen nichts, sie wollen uns nur zeigen, wer hier der Boss ist. Du kommst mit und übersetzt für mich.« Er fügte hinzu: »Keine Sorge, ich werde mir alle Mühe geben, diplomatisch zu sein.«

Zwei Männer versperrten ihnen den Weg. Sie trugen Helme und hatten Waffen, aber ihre Uniformen entsprachen nicht dem, was Mumm für normal hielt. Seiner Ansicht nach sollten Wächter nicht in Rot, Blau und Gelb gekleidet sein. Solche Leute sah man schon von weitem. Mumm zog eine Uniform vor, in der man sich verstecken konnte.

Er holte seine Dienstmarke aus der Tasche, zeigte sie und trat den Männern mit einem freundlichen Lächeln entgegen.

»Wiederhole einfach nur, was ich sage, Herr Schaumlöffel.« Mumm hob die Stimme. »Hallo, Wächterkollegen, ich bin, wie ihr seht, Kommandeur M…«

Eine Klinge schwang herum. Sie hätte Mumm getroffen, wenn er nicht stehen geblieben wäre.

Inigo trat vor, den Lederkoffer bereits geöffnet. In der einen Hand hielt er mehrere beeindruckend aussehende Dokumente, die er mit mehreren sorgfältig formulierten Sätzen vorzeigte. Einer der Wächter nahm ein Dokument entgegen und starrte darauf hinab.

»Es ist eine bewusste Beleidigung«, sagte Inigo. Es gelang ihm, aus dem Mundwinkel zu sprechen, ohne dabei sein Lächeln zu verlieren. »Jemand möchte feststellen, wie du reagierst, mmph, mmhm.«

»Die Wächter?«

»Nein. Man beobachtet uns.«

Das Papier wurde zurückgereicht. Es folgte eine angespannte Konversation.

»Der Hauptmann der Wache erwähnte besondere Umstände und will die Kutsche durchsuchen«, sagte Inigo.

»Nein«, erwiderte Mumm und musterte das bleiche Gesicht des Hauptmanns. »Ich weiß, wann jemand Dumme Dussel spielt. Zu solchen Mitteln habe ich selbst mal gegriffen.«

Er deutete auf die Tür der Kutsche. »Siehst du das?«, fuhr er fort. »Sag ihm, das ist das Wappen von Ankh-Morpork. Die Kutsche kommt aus Ankh-Morpork und gehört Ankh-Morpork. Wenn diese Burschen sie anrühren, läuft das auf eine kriegerische Handlung Ankh-Morpork gegenüber hinaus. Teil ihm das mit.«

Mumm sah, wie sich der Hauptmann nervös die Lippen befeuchtete, als Inigo übersetzte. Ihm lag nichts an einer Auseinandersetzung dieser Art. Wahrscheinlich wünschte er sich nur einen ruhigen Tag am Tor. Doch jemand hatte ihm Befehle erteilt.

»Er meint, es täte ihm sehr Leid«, sagte Inigo. »Aber er muss sich an seine Anweisungen halten. Er bringt Verständnis dafür zum Ausdruck, dass sich Euer Gnaden vielleicht an höchster Stelle beschweren möchte, mmph, mmhm.«

Ein Wächter öffnete die Tür der Kutsche. Mumm stieß sie wieder zu.

»Sag ihm, dass der Krieg hier und heute beginnen wird«, brummte er. »Und anschließend arbeitet er sich nach oben vor.«

»Euer Gnaden!«

Die Wächter sahen zu Detritus. Es war recht schwer, den Friedensstifter lässig in der Hand zu halten, und der Troll machte nicht einmal einen entsprechenden Versuch.

Mumm wahrte Blickkontakt mit dem Hauptmann der Wache. Falls der Mann auch nur einen Funken Verstand hatte, so musste er erkennen: Wenn Detritus das Ding abfeuerte, würde er sie alle töten und die Kutsche mit hoher Geschwindigkeit in die Richtung zurückschicken, aus der sie gekommen war.

Hoffentlich ist er vernünftig genug zu wissen, wann man besser klein beigibt, dachte Mumm.

Die anderen Wächter flüsterten miteinander, und er glaubte, das Wort »Wilinus« zu hören.

Der Hauptmann trat zurück und salutierte. »Er entschuldigt sich für alle Unannehmlichkeiten, die er uns bereitet hat«, sagte Inigo. »Und er hofft, dass dir der Aufenthalt in seiner wunderschönen Stadt gefällt. Insbesondere empfiehlt er dir einen Besuch des Schokoladenmuseums am Prinz-Wodorni-Platz, wo seine Schwester arbeitet.«

Mumm salutierte ebenfalls. »Sag ihm, dass ich ihn für einen Offizier mit großer Zukunft halte«, sagte er. »Womit ich auch eine Zukunft meine, in der das verdammte Tor sehr bald geöffnet wird.«

Der Hauptmann nickte seinen Leuten zu, als Inigo erst die Hälfte übersetzt hatte. Aha…

»Und frag ihn nach seinem Namen«, fügte er hinzu. Der Mann war intelligent genug, erst nach vollständiger Übersetzung zu antworten.

»Hauptmann Tantony«, sagte Inigo.

»Ich werde ihn mir einprägen«, versprach Mumm. »Oh, und sag ihm, dass eine Fliege auf seiner Nase sitzt.«

Eins musste man Tantony lassen: Er verdrehte kaum die Augen. Mumm lächelte.

Was die Stadt betraf… Es war einfach nur ein Ort. Die Dächer waren steiler als in Ankh-Morpork, und man hatte einem Irren mit einer Laubsäge erlaubt, sich an der hölzernen Architektur auszutoben. Außerdem gab es hier mehr Farbe als daheim, was allerdings nicht viel bedeutete. So mancher Reicher war reich geworden, indem er in metaphorischer Hinsicht darauf verzichtete, sein Haus zu streichen.

Die Kutschen rollten über Kopfsteine. Es waren natürlich nicht die richtigen Kopfsteine – das merkte Mumm sofort.

Nach einer Weile hielten sie erneut, und wieder sah Mumm aus dem Fenster. Diesmal blockierten zwei verwahrlost wirkende Wächter die Straße.

»Ah, die beiden erkenne ich«, sagte Mumm grimmig. »Ich schätze, wir haben es mit Colonesk und Nobbski zu tun.«

Er stieg aus und trat den beiden Wächtern entgegen. »Nun?«

Der Dickere zögerte und streckte dann die Hand aus. »Piss«, sagte er.

»Inigo?«, fragte Mumm, ohne den Kopf zu drehen.

»Ah«, meinte Inigo nach einem Wortwechsel mit dem Mann. »Das Problem scheint jetzt Feldwebel Detritus zu betreffen. In diesem Teil der Stadt dürfen sich während der Stunden des Tageslichts nur Trolle aufhalten, die einen von ihrem… Eigentümer unterzeichneten Pass haben. Äh… die einzigen Trolle in Bums sind Kriegsgefangene. Sie müssen sich irgendwie identifizieren können.«

»Detritus ist ein Bürger von Ankh-Morpork und mein Feldwebel«, sagte Mumm.

»Und er ist auch ein Troll. Vielleicht solltest du um der Diplomatie willen eine kurze Notiz schreiben…«

»Brauche ich Pisse?«

»Einen Pass… nein, Euer Gnaden.«

»Dann braucht er ebenfalls keinen.«

»Trotzdem, Euer Gnaden…«

»In diesem Fall gibt es kein Trotzdem.«

»Aber es wäre ratsam…«

»Es gibt auch nichts Ratsameres.«

Einige weitere Wächter und Zivilisten näherten sich. Mumm fühlte die Blicke von Beobachtern.

»Er könnte mit Gewalt weggebracht werden«, warnte Inigo.

»Nun, das Experiment möchte ich auf keinen Fall versäumen«, erwiderte Mumm.

Detritus grollte. »Ich nichts dagegen habe umzukehren…«

»Sei still, Feldwebel. Du bist ein freier Troll. Das ist ein Befehl.«

Mumm sah kurz zu dem wachsenden, stummen Publikum. Und er bemerkte die Furcht in den Augen der Männer mit den Hellebarden. Ihnen widerstrebte diese Sache ebenso wie zuvor dem Hauptmann.

»Inigo«, begann er, »sag den Wächtern, dass der Botschafter von Ankh-Morpork ihren Eifer lobt, ihnen zu ihrem guten Kleidungsgeschmack gratuliert und dafür sorgen wird, dass ihre Anweisungen unverzüglich befolgt werden. Damit sollte die Sache geregelt sein.«

»Gewiss, Euer Gnaden.«

»Und jetz dreh die Kutsche, Detritus. Kommst du, Inigo?«

Inigos Gesichtsausdruck veränderte sich schnell.

»Vor etwa zehn Meilen sind wir an einem Gasthof vorbeigekommen«, fuhr Mumm vor. »Bis zum Einbruch der Dunkelheit sollten wir ihn erreichen können.«

»Aber das darfst du nicht, Euer Gnaden!«

Mumm drehte sich ganz langsam um. »Würdest du das bitte wiederholen, Herr Schaumlöffel?«

»Ich meine…«

»Wir verlassen die Stadt, Herr Schaumlöffel. Es liegt natürlich ganz bei dir, ob du uns begleitest oder nicht.«

Mumm nahm wieder in der Kutsche Platz. Die ihm gegenüber sitzende Sybil ballte eine Faust. »Bravo!«

»Es tut mir Leid, Schatz«, sagte Mumm, als die Kutsche drehte. »Der Gasthof wirkte nicht besonders einladend.«

»Geschah ihnen ganz recht, den kleinen Rüpeln«, meinte Sybil. »Du hast es ihnen gezeigt.«

Mumm blickte nach draußen und bemerkte am Rand der Menge eine schwarze Kutsche mit dunklen Fenstern. In ihrem düsteren Innern zeichneten sich die Konturen einer Gestalt ab. Die verunsicherten Wächter sahen dorthin und schienen neue Anweisungen zu erwarten. Eine Hand winkte träge.

Mumm zählte stumm. Nach elf Sekunden erschien ein rennender Inigo neben der Kutsche und sprang aufs Trittbrett.

»Euer Gnaden, die Wächter handelten offenbar auf eigene Faust und werden bestraft…«

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Mumm. »Ich habe ihnen in die Augen gesehen. Jemand hat ihnen einen Befehl gegeben.«

»Dennoch wäre es in diplomatischer Hinsicht eine gute Idee, die Erklärung zu akzep…«

»Damit die armen Burschen an ihren Daumen aufgehängt werden?«, fragte Mumm. »Nein. Kehr zurück und teil demjenigen, der die Befehle erteilt, Folgendes mit: Meine Leute können sich frei in dieser Stadt bewegen, und dabei spielt es nicht die geringste Rolle, wer sie sind und welche Gestalt sie haben.«

»Ich glaube nicht, dass du das verlangen kannst, Herr…«

»Die Wächter trugen Waffen von Burlich-und-Starkimarm, Herr Schaumlöffel. In Ankh-Morpork hergestellt. Das gilt auch für die Soldaten am Tor. Handel, Herr Schaumlöffel. Darum geht es doch bei der Diplomatie, oder? Geh jetzt zurück und sprich mit der Person in der schwarzen Kutsche. Anschließend solltest du dir ein schnelles Pferd leihen, denn bis dahin haben wir sicher schon eine gute Strecke zurückgelegt.«

»Vielleicht könntest du warten…«

»Käme mir nicht in den Sinn.«

Die Kutsche befand sich bereits außerhalb der Stadttore, als Schaumlöffel erneut zu ihr aufschloss.

»Deine Forderungen werden erfüllt, Herr«, schnaufte er, und für eine Sekunde zeigte sich in seinem Gesicht so etwas wie Bewunderung.

»Gut. Sag Detritus, er soll die Kutsche erneut drehen.«

»Du lächelst, Sam«, sagte Sybil, als sich Mumm zurücklehnte.

»Ich habe gerade gedacht, dass ich mich an das diplomatische Leben gewöhnen könnte«, erwiderte Mumm.

»Es gibt da noch eine andere Sache«, sagte Inigo und stieg ein. »Sie betrifft ein… historisches Artefakt, das den Zwergen gehört. Nach einem Gerücht…«

»Wann wurde die Steinsemmel gestohlen?«

Inigos Mund blieb offen. Nach einigen Sekunden schloss er ihn und kniff die Augen zusammen.

»Woher in aller Welt weißt du davon, Euer Gnaden? Mmph?«

»Ich habe es am Kribbeln in meinen Daumen gemerkt«, antwortete Mumm mit ausdrucksloser Miene. »Ich habe sehr seltsame Daumen.«

»Tatsächlich?«

»Oh, ja.«

 

Hunde hatten ein viel leichteres Sexleben als Menschen, fand Gaspode. Darüber konnte er sich freuen, wenn es ihm jemals gelang, eins zu bekommen.

Hier würden sich derartige Hoffnungen bestimmt nicht erfüllen, so viel stand fest. Die Wölfinnen schnappten nach ihm, wenn er ihnen zu nahe kam, und das waren nicht nur Warnungen. Er musste sehr vorsichtig sein.

Einer der seltsamsten Aspekte des menschlichen Sex bestand darin, dass er auch dann eine große Rolle spielte, wenn die Leute voll angezogen waren und sich an einem Feuer gegenübersaßen. Der Sex kam in dem zum Ausdruck, was die betreffenden Personen sagten und worüber sie schwiegen, wie sie sich ansahen und wann sie den Blick abwandten.

Im Verlauf der Nacht hatten die Rudel gewechselt. Die Berge waren jetzt höher, der Schnee frischer. Die meisten Wölfe wahrten einen gewissen Abstand zu dem Feuer, das Karotte angezündet hatte. Sie hielten sich fern genug, um zu betonen, dass sie sehr stolze und wilde Geschöpfe waren, die so etwas nicht nötig hatten. Gleichzeitig blieben sie den Flammen nahe genug, um ihre Wärme zu spüren.

Gavin saß abseits der anderen. Sein aufmerksamer Blick wanderte zwischen Angua und Karotte hin und her.

»Gavins Verwandte hassen meine Familie«, sagte Angua. »Ich habe bereits betont, dass die Wölfe immer leiden, wenn Werwölfe zu mächtig werden. Werwölfe können Jägern leichter entkommen. Deshalb sind Wölfen Vampire lieber. Vampire lassen sie in Ruhe. Manchmal machen Werwölfe auf Wölfe Jagd

»Das wundert mich«, erwiderte Karotte.

Angua zuckte mit den Schultern. »Warum? Sie jagen auch Menschen. Wir sind keine netten Leute, Karotte. Ganz im Gegenteil: Wir sind schrecklich. Doch mein Bruder Wolfgang ist etwas Besonderes. Vater hat Angst vor ihm, und Mutter ebenfalls, obwohl sie es nicht zugibt. Aber sie glaubt, er gibt dem Clan zusätzliche Macht, und deshalb ist sie nachsichtig mit ihm. Er hat meinen anderen Bruder vertrieben und meine Schwester umgebracht.«

»Wie…?«

»Er behauptet, es sei ein Unfall gewesen. Arme kleine Elsa. Sie war ein Yennork, so wie auch Andrei. So nennt man einen Werwolf, der seine Gestalt nicht wechseln kann. Bestimmt habe ich das schon einmal erwähnt. Meine Familie bringt gelegentlich Yennorks hervor. Nur Wolfgang und ich sind Werwölfe im klassischen Sinne. Elsa wirkte die ganze Zeit über wie ein Mensch, selbst bei Vollmond, und Andrei blieb immer ein Wolf.«

»Du meinst, du hattest eine menschliche Schwester und einen Wolfsbruder?«

»Nein, Karotte. Beide waren Werwölfe. Aber der… nun, der kleine Schalter in ihnen funktionierte nicht. Verstehst du? Sie blieben in einer Gestalt gefangen. Früher hat der Clan einen Yennork sofort getötet, und Wolfgang hält an den Traditionen fest, wenn sie grässliche Dinge betreffen. Er meint, ihm ginge es um die Reinheit des Blutes. Weißt du, Yennorks leben als vermeintliche Menschen oder Wölfe, aber es steckt nach wie vor ein Werwolf in ihnen, und irgendwann heiraten sie und haben Kinder, oder Junge, und… Nun, auf solche Geschöpfe gehen die Ungeheuer aus Märchen zurück. Menschen, in denen ein Wolf auf der Lauer liegt. Und Wölfe mit einem für Menschen typischen Hang zu Gewalt und Grausamkeit.« Angua seufzte und blickte kurz zu Gavin. »Aber Elsa war harmlos. Danach wartete Andrei nicht darauf, dass es ihm ebenso erging. Er arbeitet jetzt als Schäferhund drüben in Borograwien. Es geht ihm gut, soweit ich weiß. Gewinnt Meisterschaften und so«, fügte sie verdrießlich hinzu.

Einige Sekunden stocherte sie ziellos im Feuer. »Wolfgang muss aufgehalten werden. Er heckt irgendetwas aus, zusammen mit einigen Zwergen. Sie treffen sich heimlich im Wald, meint Gavin.«

»Für einen Wolf scheint er sehr gut informiert zu sein«, kommentierte Karotte.

Angua knurrte fast. »Er ist alles andere als dumm«, sagte sie. »Mehr als achthundert Worte versteht er. Viele Menschen beschränken sich auf weitaus weniger! Und er hat einen Geruchssinn, der fast so gut ist wie meiner! Die Wölfe sehen alles. Die Werwölfe sind jetzt dauernd unterwegs und jagen Menschen. Wir sprechen von einem ›Spiel‹. Die Wölfe bekommen die Schuld. Alles deutet darauf hin, dass die Vereinbarung gebrochen wird. Und es haben Treffen stattgefunden, im Wald, wo sie sich unbeobachtet glaubten. Es heißt, gewisse Zwerge hätten einen scheußlichen Plan entwickelt. Sie haben Wolfgang um Hilfe gebeten! Genauso gut könnte man einen Geier auffordern, einem die Zähne zu reinigen.«

»Was kannst du unternehmen?«, fragte Karotte. »Wenn nicht einmal deine Eltern fähig sind, ihn zu kontrollieren…«

»Früher kämpften wir oft gegeneinander. Er nannte es ›Balgerei‹. Dabei habe ich häufig gewonnen. Wolfgang verabscheut die Vorstellung, dass es eine Person gibt, die ihn schlagen kann. Deshalb freut es ihn bestimmt nicht, dass ich zurückkehre. Er hat etwas vor. Dieser Teil von Überwald hat immer gut funktioniert, weil niemand zu viel Macht angehäuft hat. Aber wenn sich die Zwerge untereinander streiten, versucht Wolfgang bestimmt, mit seinen dummen Uniformen und seiner dummen Fahne davon zu profitieren.«

»Mir liegt nichts daran, euch kämpfen zu sehen.«

»Dann sieh woanders hin! Ich habe dich nicht darum gebeten, mir zu folgen! Glaubst du etwa, ich wäre stolz darauf? Ich habe einen Bruder, der als Schäferhund arbeitet!«

»Er gewinnt Meisterschaften«, sagte Karotte ernst.

Gaspode beobachtete Anguas Gesichtsausdruck. Eine solche Miene bekam man bei Hunden nie zu sehen.

»Du meinst das wirklich ernst«, sagte sie schließlich. »Ja, du meinst es wirklich so. Und bei einer Begegnung mit ihm würdest du keinen Anstoß daran nehmen. Für dich ist jeder eine Person. Sieben Nächte pro Monat schlafe ich in einem Hundekorb, aber das stört dich überhaupt nicht, oder?«

»Nein. Du weißt, dass es mich nicht stört.«

»Aber das sollte es! Frag mich nicht nach dem Grund. Ich weiß nur, dass du deshalb beunruhigt sein solltest. Du bist so… unvorstellbar nett! Und früher oder später kann einem selbst Nettigkeit zu viel werden.«

»Ich versuche nicht, nett zu sein.«

»Ich weiß, ich weiß. Ich wünschte nur, du… Oh, ich weiß nicht. Vielleicht solltest du dich gelegentlich ein wenig beklagen. Nun, nicht direkt beklagen. Nur seufzen oder so.«

»Warum?«

»Weil… weil ich mich dadurch besser fühlen würde! Oh, es ist so schwer zu erklären. Vermutlich hat es etwas mit der Werwolfsnatur zu tun.«

»Es tut mir Leid…«

»Und sag nicht dauernd, dass es dir Leid tut!«

Gaspode rollte sich so dicht am Feuer zusammen, dass er dampfte. Hunde hatten es viel besser, dachte er.

 

Das Gebäude der Botschaft Ankh-Morporks lag in einer ruhigen Nebenstraße. Sie passierten einen Torbogen und erreichten einen Hof mit Ställen. Mumm fühlte sich an einen großen, für Kutschen bestimmten Gasthof erinnert.

»Derzeit ist es nur ein Konsulat«, sagte Inigo und blätterte in seinen Unterlagen. »In Empfang nehmen sollte uns hier ein gewisser… Wando Müde. Lebt schon seit einigen Jahren hier, mhm.«

Hinter den Kutschen schwangen zwei Torflügel zu. Bestimmte Geräusche verrieten, dass schwere Riegel vorgeschoben wurden. Mumm starrte zu der Gestalt, die nun in Richtung Kutschentür humpelte.

»Sieht ganz danach aus«, sagte er.

»Oh, ich glaube, das ist nicht…«

»Guten Abend, Herr und Herrin«, sagte die Gestalt. »Willkommen in Ankh-Morpork. Ich bin Igor.«

»Igor wer?«, fragte Inigo.

»Einfach nur Igor«, sagte Igor ruhig und klappte die Treppe auseinander. »Ef heift einfach nur Igor. Ich bin hier fofufagen daf Mädchen für allef.«

»Tatsächlich?«, erwiderte Mumm fasziniert.

»Hattest du vielleicht einen schrecklichen Unfall?«, fragte Lady Sybil.

»Heute Morgen habe ich mir Tee auff Hemd geschüttet«, sagte Igor. »Sehr freundlich von dir, daf zu bemerken.«

»Wo ist Herr Müde?«, fragte Inigo.

»Ich fürchte, von Herrn Müde fehlt jede Fpur. Ich hatte gehofft, von euch fu erfahren, waf mit ihm geschehen ift.«

»Von uns?«, erwiderte Inigo. »Mmhm, mmph! Wir dachten, ihn hier anzutreffen!«

»Vor fwei Wochen brach er in aller Eile auf«, sagte Igor. »Er hatte nicht die Güte, mir anfuvertrauen, wohin er wollte. Tretet ein; ich kümmere mich um daf Gepäck.«

Mumm sah nach oben. Es schneite leicht, doch es gab noch genug Tageslicht, um den Maschendraht zu erkennen, der den ganzen Hof überspannte. Zusammen mit dem verriegelten Tor und den Mauern des Gebäudes ergab dies eine Art Käfig.

»Ein kleinef Überbleibfel auf der alten Feit«, sagte Igor fröhlich. »Macht euch defhalb keine Forgen.«

»Ein Bild von einem Mann«, sagte Sybil vorsichtig, als sie das Gebäude betraten.

»Von mehreren, wie es scheint.«

»Sam!«

»Entschuldige. Ich bin sicher, er hat das Herz an der richtigen Stelle.«

»Gut.«

»Auch wenn es vielleicht nicht sein eigenes ist.«

»Ich bitte dich, Sam!«

»Schon gut, schon gut. Aber du musst zugeben, dass er ein wenig… seltsam aussieht.«

»Niemand von uns kann etwas an der eigenen Beschaffenheit ändern, Sam.«

»Er scheint es ziemlich hingebungsvoll versucht zu haben. Meine Güte…«

»Lieber Himmel«, sagte Lady Sybil.

Mumm war nicht gegen die Jagd, wenn auch nur deshalb, weil Ankh-Morpork kaum besseres Wild zu bieten hatte als die großen Ratten am Fluss. Aber die Wände der Botschaft boten einen Anblick, bei denen selbst der leidenschaftlichste Jäger nach Luft geschnappt und »Ist das zu fassen?«, gehaucht hätte.

Der frühere Bewohner dieses Hauses schien nicht nur von der Jagd begeistert gewesen zu sein, sondern auch vom Schießen und Angeln. Die Anzahl der Trophäen an den Wänden deutete darauf hin, dass er diesen drei Aktivitäten gleichzeitig nachgegangen war.

Hunderte von Glasaugen starrten zu Mumm herab, und das Feuer im großen Kamin ließ sie gespenstisch lebendig erscheinen.

»So war’s auch im Arbeitszimmer meines Großvaters«, sagte Lady Sybil. »Der Kopf des Hirschs jagte mir große Angst ein.«

»Hier ist praktisch jede Spezies vertreten. O nein…«

»Bei den Göttern«, flüsterte Lady Sybil.

Mumm sah sich erschrocken um. Detritus kam gerade mit einigen Koffern herein.

»Stell dich davor!«, forderte Mumm seine Frau leise auf.

»Ich bin nicht so groß, Sam! Und auch nicht so breit!«

Der Troll sah sie an, blickte dann zu den Trophäen und lächelte. Es ist kälter hier, dachte Mumm. Deshalb begreift er schneller.14 Selbst Nobby vermeidet es im Winter, mit ihm zu pokern. Verdammt!

»Stimmt was nicht?«, fragte Detritus.

Mumm seufzte. Welchen Sinn hatte es, so etwas verbergen zu wollen? Früher oder später kam Detritus doch dahinter.

»Ich bedauere dies sehr«, sagte er und trat beiseite.

Detritus betrachtete die grässliche Trophäe und nickte.

»Ja, früher das recht häufig geschah«, meinte er ruhig und stellte die Koffer ab. »Natürlich das nicht sind die echten Diamantzähne. Man sie fortnahm und durch welche aus Glas ersetzte.«

»Es macht dir überhaupt nichts aus?«, fragte Lady Sybil. »Es ist ein Trollkopf! Jemand war so dreist, einen Trollkopf zu präparieren und an die Wand zu hängen!«

»Es nicht meiner sein«, sagte Detritus.

»Aber es ist schrecklich

Detritus überlegte kurz und öffnete dann seinen fleckigen Holzkasten – er enthielt alle Dinge, die er für wichtig genug gehalten hatte, um sie mitzunehmen.

»Wir sind hier im alten Land«, sagte er. »Wenn ihr euch dadurch besser fühlt…«

Er holte einen kleineren Kasten hervor und kramte zwischen Objekten, die nach Steinen und Stofffetzen aussahen. Schließlich fand er einen gelblich braunen, runden Gegenstand, der wie eine flache Tasse aussah.

»Hätte es längst wegwerfen sollen«, meinte der Troll. »Aber nur dies mich erinnert an meine Oma. Sie darin aufbewahrte Dinge.«

»Es ist Teil eines menschlichen Schädels, nicht wahr?«, fragte Mumm.

»Ja.«

»Wessen?«

»Hat jemand gefragt den Troll hier nach seinem Namen?«, erwiderte Detritus, und dabei klang seine Stimme ein wenig schärfer. Dann legte er die Schale vorsichtig beiseite. »Damals alles anders war. Heute ihr nicht mehr abschlagt uns den Kopf, und wir verzichten darauf, herzustellen Trommeln aus eurer Haut. Heute alles in Butter ist, und so ich es besser finde.«

Er griff nach den Kästen und folgte Lady Sybil zur Treppe. Mumm sah noch einmal zu der Trophäe. Die Zähne waren länger, viel länger als bei einem echten Troll. Ein Jäger musste sehr tapfer sein und viel Glück haben, um gegen ein solches Geschöpf zu kämpfen und zu überleben. Viel einfacher würde es sein, einen alten Troll zu töten und anschließend die abgenutzten Zahnstummel durch funkelnde Reißzähne zu ersetzen.

Bei den Göttern, wozu wir fähig sind, dachte Mumm.

»Igor?«, fragte er, als das Mädchen für alles zwei weitere Koffer vorbeischleppte.

»Ja, Euer Ekfellenf?«

»Ich bin eine Exzellenz?«, wandte sich Mumm an Inigo.

»Ja, Euer Gnaden.«

»Und außerdem auch noch Euer Gnaden?«

»Ja, Euer Gnaden. Du bist seine Gnaden und seine Exzellenz, der Herzog von Ankh, Kommandeur Sir Samuel Mumm, Euer Gnaden.«

»Augenblick, warte mal. Ich weiß, dass ›Seine Gnaden‹ das ›Sir‹ aufhebt. Es ist wie mit einem Ass beim Pokern.«

»Im Grunde genommen hast du Recht, Euer Gnaden, aber hier legt man großen Wert auf Titel, und deshalb sollte man alle Trümpfe ausspielen.«

»Während meiner Schulzeit bin ich einmal Tafelwart gewesen, und zwar mehrere Monate lang. Lässt sich damit etwas anfangen? Lehrerin Windig meinte, niemand könnte die Tafel so gut putzen wie ich.«

»Ein nützlicher Hinweis«, entgegnete Inigo mit ausdrucksloser Miene. »Darauf könnten wir im Notfall zurückgreifen.«

»Unf Igorf war immer ›Herr‹ am liebften«, sagte Igor. »Wie kann ich fu Dienften sein?«

Mumm deutete auf die Trophäen an der Wand.

»Ich möchte, dass sie so schnell wie möglich abgenommen werden. Das kann ich doch verlangen, Herr Schaumlöffel, oder?«

»Du bist der Botschafter, Herr. Mmph, mmhm.«

»Nun, die Dinger verschwinden von der Wand. Und zwar alle.«

Igor bedachte die nach Kampfer riechende Trophäenmenge mit einem besorgten Blick. »Auch der Schwertfisch?«

»Auch der Schwertfisch«, sagte Mumm fest.

»Und der Schneeleopard?«

»Beide, ja.«

»Und der Troll?«

»Vor allem der Troll. Kümmere dich darum.«

Igor erweckte jetzt den Eindruck, als wäre die an seine Ohren grenzende Welt eingestürzt. Allerdings schien das sein normales Aussehen zu sein.

»Waf foll ich mit ihnen machen, Herr?«

»Das liegt bei dir. Wirf sie von mir aus in den Fluss. Frag Detritus nach dem Troll… Vielleicht sollte er beerdigt werden oder so. Was gibt es zum Abendessen?«

»Wir haben frischen Walago15, Noggi16, Fclot17, Würftchen und Schweinefleisch«, antwortete Igor, den die Sache mit den Trophäen aus der Fassung gebracht hatte. »Ich gehe morgen einkaufen, wenn mir die Lady Anweifungen gibt.«

»Ist mit Schweinefleisch Schinken gemeint?«, fragte Mumm.

»Fo ungefähr«, erwiderte Igor.

»Und was ist in den Würstchen?«

»Äh… Fleisch?«, fragte Igor und schien bereit, die Flucht zu ergreifen.

»Gut. Wir probieren sie.«

Mumm ging nach oben, folgte dem Geräusch der Stimmen und betrat ein Schlafzimmer, in dem Sybil Kleidung auf ein Bett legte, das so groß war wie ein kleines Land. Grinsi half ihr.

Die Wände waren vertäfelt, und am Holz des Bettes hatte sich der Irre mit der Laubsäge ausgetobt. Nur der Boden bestand nicht aus Holz, sondern aus Stein. Kälte ging davon aus.

»Hier sieht’s ein bisschen wie im Innern einer Kuckucksuhr aus, nicht wahr?«, meinte Sybil. »Grinsi hat sich dazu bereit erklärt, meine Zofe zu sein.«

Grinsi salutierte.

»Warum nicht?«, fragte Mumm. Nach einem solchen Tag erschien ihm eine Kammerzofe mit einem langen Bart vollkommen normal.

»Die Böden in diesem Gebäude sind ein wenig kalt. Morgen nehme ich Maß für Teppiche«, sagte Sybil fest. »Ich weiß, dass wir nicht lange hier bleiben, aber wir sollten unseren Nachfolgern etwas Ordentliches hinterlassen.«

»Ja, Schatz. Das ist sicher eine gute Idee.«

»Dort geht’s zum Bad«, fuhr Sybil fort und deutete in die entsprechende Richtung. »Offenbar gibt es heiße Quellen in der Nähe, und das Wasser wird hierher geleitet. Nach einem heißen Bad fühlst du dich bestimmt besser.«

Zehn Minuten später schloss sich Mumm der Meinung seiner Frau an. Das Wasser hatte eine seltsame Farbe und einen Geruch, wie man ihn unter anderem von faulen Eiern erwartete, aber es war heiß, und Mumm spürte, wie die Anspannung aus seinen Muskeln wich.

Das nicht sehr angenehme Aroma von halb verdauten Bohnen umgab ihn, als er sich zurücklehnte und ins Wasser sinken ließ. Am anderen Ende der großen Wanne schwamm der Bimsstein, mit dem er sich die Füße abgekratzt hatte. Er beobachtete ihn, ohne ihn bewusst wahrzunehmen, während er die Gedanken dieses Tages ordnete.

Die Dinge begannen tatsächlich zu stinken, so wie das Badewasser. Die Steinsemmel war gestohlen. Na so ein Zufall…

Es war ein Schuss ins Blaue gewesen, aber in letzter Zeit erwies er sich als erstaunlich treffsicher. Jemand hatte die Nachbildung der Steinsemmel geklaut, und dann verschwand auch das Original. Und in Ankh-Morpork war jemand ermordet worden, der Gussformen benutzte, um Dinge aus Gummi herzustellen. Man brauchte nicht die Intelligenz von Detritus in einer Schneewehe, um eine Verbindung zu erkennen.

Eine Erinnerung nagte an Mumm. Jemand hatte etwas gesagt, das ihm zu jenem Zeitpunkt seltsam erschienen war, doch dann hatten ihn andere Ereignisse davon abgelenkt. Es ging um… ein Willkommen in Bums. Allerdings…

Nun, jetzt befand er sich hier. Daran konnte kein Zweifel bestehen.

Eine absolute Bestätigung dieser Tatsache erhielt er eine halbe Stunde später beim Abendessen.

Mumm schnitt in ein Würstchen und riss die Augen auf. »Was ist das denn?«, fragte er. »Ich meine, all dieser rosarote Kram… Was hat es damit auf sich?«

»Äh, es ist Fleisch, Euer Gnaden«, sagte Inigo, der auf der anderen Seite des Tisches saß.

»Nun, wo ist die Textur? Wo sind die weißen Teile und die gelben und die grünen, von denen man hofft, dass es Kräuter sind?«

»Ein hiesiger Kenner, Euer Gnaden, würde das, was in Ankh-Morpork als Würstchen gilt, nicht für richtige Würstchen halten, mmph, mmhm.«

»Ach? Und wovon würde er sprechen?«

»Vielleicht von Brot, Euer Gnaden. Oder von Holz in Wurstform. Hier kann ein Metzger gehängt werden, wenn seine Würstchen nicht ganz aus Fleisch bestehen. Außerdem muss das Fleisch von einem domestizierten Tier stammen, dessen Name bekannt ist. Und er sollte nicht ›Miezi‹ oder ›Fiffi‹ lauten, möchte ich hinzufügen, mmm, mmhm. Wenn Euer Gnaden den unverfälschten Geschmack der Spezialitäten von Ankh-Morpork bevorzugt, so sollte Igor eigentlich fähig sein, Mahlzeiten aus altem Brot und Sägemehl zuzubereiten.«

»Danke für deinen patriotischen Kommentar«, sagte Mumm. »Nun, ich schätze, hiermit ist alles… in Ordnung. Die Würstchen waren nur eine große Überraschung. Nein!«

Er hielt die Hand über den Krug, um zu verhindern, dass Igor ihn mit Bier füllte.

»Ftimmt etwaf nicht, Herr.«

»Nur Wasser, bitte«, sagte Mumm. »Kein Bier.«

»Der Herr trinkt kein… Bier?«

»Nein. Und wie wär’s mit einem Krug ohne Gesicht?« Er sah sich den Humpen genauer an. »Wozu dient der Deckel?«

»In dieser Beziehung bin ich mir nicht ganz sicher«, sagte Inigo, als Igor fortschlurfte. »Aufgrund meiner Beobachtungen vermute ich, dass der Deckel ein Verschütten des Biers verhindern soll, wenn man den Humpen beim Singen hin und her schwingt, mmm, mhm.«

»Ach, das alte Problem beim Zechen«, erwiderte Mumm. »Wirklich schlau.«

Sybil klopfte ihm aufs Knie. »Du bist nicht mehr in Ankh-Morpork, mein Lieber.«

»Da wir jetzt allein sind, Euer Gnaden…«, sagte Inigo und beugte sich vor. »Ich mache mir große Sorgen um Herrn Müde. Der Konsul, erinnerst du dich? Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, mmm, mhm. Und einige seiner persönlichen Sachen sind ebenfalls verschwunden.«

»Urlaub?«

»Nicht in der gegenwärtigen Situation, Herr! Und…«

Holz pochte auf Holz, als Igor wieder hereinkam und demonstrativ eine Trittleiter trug. Inigo lehnte sich zurück.

Mumm stellte fest, dass er gähnte. »Wir sollten morgen darüber reden«, sagte er, als die Leiter in Richtung der grässlichen Trophäen gezogen wurde. »Ein langer und recht ereignisreicher Tag liegt hinter uns.«

»Wie du wünschst, Euer Gnaden.«

Die Matratze des Bettes war so weich, dass sich Mumm ganz vorsichtig hineinsinken ließ – er befürchtete, dass sie sich vielleicht über ihm schloss. Was das Kopfkissen betraf… Nun, jeder wusste, dass ein Kissen nichts weiter war als ein mit Federn gefüllter Beutel. In diesem Fall schien es bestrebt zu sein, zu einer Daunendecke zu werden.

»Falte es einfach zusammen, Sam«, erklang Sybils Stimme aus den Tiefen ihrer Matratze. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht.«

»Sam…?«

Sam Mumm schnarchte leise. Sybil seufzte und drehte sich auf die Seite.

Mumm erwachte mehrmals, als es unten pochte.

»Die Schneeleoparden«, murmelte er und schlief wieder ein.

Es krachte lauter.

»Elentier«, flüsterte Lady Sybil.

»Elch?«, fragte Mumm.

»Eindeutig das Elentier.«

Irgendwann später ertönte ein gedämpfter Schrei, gefolgt von einem Pochen und einem anderen Geräusch: Es klang nach einem großen Holzlineal, das jemand an einen Schreibtisch hielt, nach hinten bog und dann zurückklatschen ließ.

»Der Schwertfisch«, sagten Sam und Sybil wie aus einem Mund, um anschließend wieder einzuschlafen.

 

»Du sollst deine Papiere den Herrschern von Bums vorlegen«, sagte Inigo am nächsten Morgen.

Mumm blickte aus dem Fenster. Zwei Wächter in bunten Uniformen standen vor der Botschaft Wache.

»Was machen sie da?«, fragte er.

»Sie halten Wache«, antwortete Inigo.

»Und was bewachen sie vor wem

»Ich schätze, es ist ganz allgemeines Wachehalten, mmph. Das gibt wichtigen Gebäuden gewissermaßen den letzten Schliff.«

»Welche Papiere hast du eben gemeint?«

»Die offiziellen Briefe von Lord Vetinari, die deine Berufung zum Botschafter bestätigen. Mmph, mmm… Die hiesigen Machtstrukturen sind recht komplex, doch derzeit sieht die Reihenfolge so aus: der zukünftige Niedere König, Lady Margolotta und der Baron von Überwald. Jeder von ihnen wird sich so verhalten, als würdest du nicht auch bei den beiden anderen vorstellig. Man spricht in diesem Zusammenhang von der ›Vereinbarung‹. Es ist ein ziemlich kompliziertes System, aber bisher hat es den Frieden bewahrt.«

»Wenn ich dich richtig verstanden habe«, sagte Mumm und beobachtete noch immer die beiden Wächter, »so herrschten früher die Werwölfe und Vampire über Überwald, und alle anderen waren Nahrung.«

»Das ist eine vereinfachte Darstellung, die aber im Großen und Ganzen stimmt, mhm«, bestätigte Inigo und klopfte Staub von Mumms Schulter.

»Doch dann veränderte sich etwas, und die Macht der Zwerge nahm zu, denn Überwald ist vom einen Ende bis zum anderen voller Zwerge, und sie bleiben untereinander in Kontakt…«

»Ihr System übersteht politischen Aufruhr, ja.«

»Und dann… Wie hieß es noch? Die Reichsnacht der Käfer?«

»Die Reichsnacht der Würmer, mmm. Mit diesen Worten ist ein Treffen an einem wichtigen Ort weiter flussaufwärts gemeint – er ist berühmt für seine aus Flachs gebackenen Kuchen. Bei der Gelegenheit wurde eine… Vereinbarung getroffen. Niemand durfte mehr Krieg gegen die anderen führen; alle sollten in Frieden leben können. Der Anbau von Knoblauch wurde ebenso verboten wie die Förderung von Silber. Die Werwölfe und Vampire versprachen, dass solche Dinge nicht mehr notwendig sein würden. Mmm, mmm.«

»So etwas erfordert viel Vertrauen«, kommentierte Mumm.

»Aber es scheint geklappt zu haben, mhm.«

»Was hielten die Menschen davon?«

»Nun, Menschen sind kaum mehr als Hintergrundrauschen in der Geschichte von Überwald gewesen, Euer Gnaden.«

»Für die Untoten muss es recht langweilig sein.«

»Oh, die Intelligenten von ihnen wissen, dass sie nicht zur guten alten Zeit zurückkehren können.«

»Ah, ja, darauf läuft es letztendlich hinaus. Der Trick ist immer, die Intelligenten zu finden.« Mumm setzte seinen Helm auf. »Und die Zwerge?«

»Der zukünftige Niedere König gilt als sehr clever, Euer Gnaden. Mhm.«

»Welche Einstellung hat er gegenüber Ankh-Morpork?«

»Er könnte sich die Stadt nehmen oder sie in Ruhe lassen. Ich glaube, er mag uns nicht besonders.«

»Ich dachte, Albrecht wäre derjenige, der uns nicht mag.«

»Nein, Euer Gnaden. Albrecht ist derjenige, der Ankh-Morpork am liebsten niederbrennen würde. Rhys wünscht sich nur, dass wir nicht existieren.«

»Und ich dachte, er gehört zu den guten Jungs!«

»Euer Gnaden, auf dem Weg hierher habe ich von dir einige negative Bemerkungen über Ankh-Morpork gehört, mhm, mhm.«

»Ja, aber ich lebe dort! Ich darf Schlechtes über die Stadt sagen! Bei mir ist das patriotisch

»In den verschiedenen Regionen der Scheibenwelt scheint es unterschiedliche Definitionen für ›gute Jungs‹ zu geben, und nicht alle von ihnen sind gleichbedeutend mit ›Ich mag Ankh-Morpork‹, Euer Gnaden. Nun, die beiden anderen Personen dürften kein großes Problem darstellen. Es mag Lady Margolotta gewesen sein, die für die Sache mit den Wächtern gestern Abend verantwortlich war. Auf jeden Fall hat sie mich aufgefordert, dich zurückzuholen. Sie hat dich zu einem Drink eingeladen.«

»Oh.«

»Sie ist ein Vampir, mmm, mmm.«

»Was?«

Inigo seufzte. »Ich dachte, du hättest das verstanden, Euer Gnaden. Vampire sind schlicht und einfach ein Teil von Überwald. Sie gehören hierher. Ich fürchte, damit wirst du dich abfinden müssen. Soweit ich weiß, bekommen sie ihr Blut inzwischen aufgrund von… Vereinbarungen. Bestimmte Leute lassen sich von… Titeln beeindrucken, Euer Gnaden.«

»Meine Güte.«

»In der Tat. Nun, dir droht keine Gefahr. Denk an deine diplomatische Immunität, mmm, mhm.«

»Beim Wilinus-Pass hat sie mir nicht viel genützt.«

»Oh, das waren gewöhnliche Räuber.«

»Ach? Ist der Konsul Müde wieder aufgetaucht? Hast du die hiesige Wache auf sein Verschwinden hingewiesen?«

»Es gibt hier keine Wache in dem Sinne. Du hast sie gesehen. Es sind… Torwächter und Soldaten, die die Anweisungen der lokalen Machthaber ausführen, mhm, mmm. Ihre Aufgabe besteht nicht darin, dem Gesetz Genüge zu verschaffen. Wie dem auch sei: Ermittlungen sind eingeleitet.«

»Kommt Sybil mit?«, fragte Mumm und dachte: Auch wir waren einmal solche Wächter, vor nicht allzu langer Zeit…

»Für gewöhnlich wird der Botschafter nur von seiner Leibgarde begleitet, wenn er sich vorstellt.«

»Dann bleibt Detritus hier, um für ihre Sicherheit zu sorgen. Heute Morgen meinte sie, dass dieses Haus unbedingt Teppiche braucht, und niemand kann sie aufhalten, wenn sie Maß nehmen will. Ich nehme Grinsi und einen der Wächter vor dem Gebäude mit. Ich vermute, du gehörst ebenfalls zu meiner Gruppe.«

»Meine Anwesenheit ist nicht erforderlich. Mmm. Der neue Kutscher kennt den Weg, und Morporkianisch ist immerhin die Diplomatensprache. Ich nutze die Gelegenheit für… Nachforschungen.«

»Delikater Natur?«

»Ja, Euer Gnaden.«

»Wenn der Konsul getötet wurde… Käme das nicht einer Kriegserklärung gleich?«

»Ja und nein, Euer Gnaden.«

»Wie bitte? Müde war… ist unser Mann!«

Inigo wirkte verlegen. »Es kommt darauf an, wo er sich aufhielt und… in welche Aktivitäten er verwickelt war…«

Mumm musterte ihn verwirrt. Dann fiel der Groschen und ließ sein Gehirn wieder funktionieren. »Spionage?«

»Informationsgewinnung. Alle sind damit beschäftigt, mmm, mhm.«

»Ja, aber wenn man einen Diplomaten dabei ertappt, dass er zu weit geht, schickt man ihn mit einem Beschwerdebrief heim.«

»Am Runden Meer vielleicht, Euer Gnaden, aber hier reagiert man anders auf solche Dinge.«

»Mit spitzeren Dingen als mit Beschwerdebriefen?«

»Genau. Mmm.«

Einer der Wächter war Hauptmann Tantony. Das ergab gewisse Schwierigkeiten, doch das Argument, dass er Mumm besser bewachen konnte, wenn er ihm Gesellschaft leistete, ließ sich nicht von der Hand weisen. Tantony erwies sich als geradezu qualvoll logischer Mann.

Er bedachte Mumm immer wieder mit neugierigen Blicken, als die Kutsche durch die Stadt rollte. Neben ihm saß Grinsi mit baumelnden Beinen. Mumm bemerkte – obwohl er solchen Dingen normalerweise keine bewusste Aufmerksamkeit schenkte –, dass die Form ihres Brustharnischs auf subtile Weise verändert worden war, vermutlich vom gleichen Waffenschmied, dessen Dienste auch Angua in Anspruch nahm. Die Modifizierung sollte darauf hinweisen, dass die Brust unter diesem besonderen Harnisch anders beschaffen war als zum Beispiel die von Korporal Nobbs. Wobei allerdings gesagt werden muss, dass vermutlich niemand eine Brust hatte, die auch nur entfernte Ähnlichkeit mit der von Korporal Nobbs aufwies.

Darüber hinaus trug Grinsi ihre mit hohen Absätzen ausgestatteten eisernen Stiefel.

»Du musst nicht unbedingt mitkommen«, sagte Mumm.

»Oh, schon gut.«

»Ich meine, ich könnte mich von Detritus begleiten lassen. Obwohl die Anwesenheit eines Trolls in einer Zwergenmine sicher noch mehr Unruhe stiftet als ein… ein…«

»Mädchen«, sagte Grinsi.

»Äh, ja.« Mumm spürte, wie die Kutsche langsamer wurde und anhielt, obwohl sie die Stadt noch nicht verlassen hatten. Er sah aus dem Fenster.

Vor ihnen, auf einem kleinen Platz, stand eine Art Fort mit erstaunlich großen Toren. Sie schwangen auf, während Mumm starrte.

Jenseits davon erstreckte sich ein Hang. Das Fort bestand nur aus vier Wänden, und in seinem Innern führte ein Tunnel in die Tiefe.

»Die Zwerge leben unter der Stadt?«, fragte er, als das Tageslicht spärlichem Fackelschein wich. Ihr Flackern zeigte, dass die Kutsche an einer ziemlich langen Kolonne aus stehenden Wagen und Karren vorbeirollte. Mumms Blick fiel auf Pferde und Gruppen diskutierender Fuhrmänner.

»Unter einem recht großen Teil von Überwald«, sagte Grinsi. »Dies ist nur der nächste Zugang, Herr. Vermutlich müssen wir gleich anhalten, weil die Pferde… Ah.«

Die Kutsche hielt erneut, und der Kutscher klopfte gegen die Seite, um darauf hinzuweisen, dass sie die Endstation erreicht hatten. Die Karrenkolonne bewegte sich durch einen anderen Tunnel weiter in die Tiefe, doch die Kutsche hatte in einer kleinen Höhle mit einer großen Tür angehalten. Zwei Zwerge warteten dort. Sie trugen Äxte auf dem Rücken, doch unter Zwergen galt dies als »fein angezogen« und nicht als »schwer bewaffnet«. Ihre Einstellung hingegen entsprach der von Leuten, die Türen und Tore bewachten – das machte die internationale Körpersprache deutlich.

»Kommandeur Sam Mumm, Stadtwache von… Botschafter von Ankh-Morpork«, sagte Mumm und reichte einem von ihnen seine Papiere. Zwergen gegenüber war es wenigstens nicht schwer, großspurig aufzutreten.

Überrascht stellte er fest, dass das Dokument sorgfältig gelesen wurde. Der andere Zwerg sah dem ersten über die Schulter und zeigte auf interessante Unterabschnitte. Beide überprüften mit großer Sorgfalt das offizielle Siegel.

Ein Wächter deutete auf Grinsi. »Kra’k?«

»Meine Eskorte«, sagte Mumm. »Im Abschnitt ›Zusätzliche Mitarbeiter‹ auf Seite zwei steht ein entsprechender Hinweis.«

»Wir müssen durchschuchen die Kutsche«, sagte der Wächter.

»Nein«, erwiderte Mumm. »Wir genießen diplomatische Immunität. Erklär’s ihnen, Grinsi.«

Die beiden Wächter hörten aufmerksam zu, als Grinsi auf Zwergisch zu ihnen sprach. Der andere Zwerg – in seinem Gesicht deutete etwas darauf hin, dass hinter seiner Stirn eine mentale Klingel schrillte – zog am Arm seines Kollegen und nahm ihn beiseite.

Zwei Stimmen flüsterten. Mumm konnte zunächst nur ein Wort verstehen: Es lautete »Wilinus«. Kurze Zeit später hörte er ›hr’grag‹, das zwergische Wort für »dreißig«.

»Lieber Himmel«, brummte er. »Und ein Hund?«

»Gut geraten, Herr«, sagte Grinsi.

Das Dokument wurde hastig zurückgegeben. Mumm las die Körpersprache, obwohl die jetzt noch kleiner geschrieben war als sonst: Hier gab es ein brenzliges Problem; sollte es jemand lösen, der sich nicht so leicht die Finger verbrennen konnte.

Einer von ihnen zog einen Klingelzug, und schließlich glitt die Tür beiseite. Dahinter kam ein kleiner Raum zum Vorschein.

»Wir müssen eintreten, Herr«, sagte Grinsi.

»Aber da drin ist keine andere Tür!«

»Damit ist alles in Ordnung, Herr.«

Mumm betrat den Raum. Die Zwerge schlossen die Tür wieder, daraufhin waren sie allein. Das wenige Licht stammte von einer einzelnen Kerze.

»Eine Art Wartezimmer?«, vermutete Mumm.

Irgendwo in der Ferne machte es Klonk. Der Boden erzitterte kurz, und dann spürte Mumm auf unangenehme Weise Bewegung.

»Der Raum bewegt sich?«, brachte er hervor.

»Ja, Herr. Wahrscheinlich gleitet er Dutzende von Metern in die Tiefe. Ich glaube, das wird alles von Gegengewichten erledigt.«

Stumm standen sie da, während die Wände um sie herum knirschten und ächzten. Dann rasselte es, und nach einem kurzen Gefühl der Schwere kam der Raum zur Ruhe.

»Wohin wir auch unterwegs sind: Haltet die Augen offen«, sagte Mumm. »Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu, das spüre ich ganz deutlich.«

Die Tür öffnete sich wieder. Mumms Blick offenbarte sich ein unterirdischer Nachthimmel. Sterne leuchteten um ihn herum und auch weiter unten…

»Ich glaube, wir sind zu weit in die Tiefe vorgestoßen«, sagte er. Dann verarbeitete sein Gehirn die von den Augen übermittelten Informationen. Das bewegliche Zimmer hatte sie zur einen Seite einer riesigen Höhle gebracht. Er sah den Schein zahlloser Kerzen, die auf dem Boden der Kaverne einen Lichterteppich bildeten und auch in zahlreichen Galerien brannten. Als Mumm eine Vorstellung von den Ausmaßen gewonnen hatte, wurde ihm klar, dass sich viele der Kerzen bewegten.

Die Luft war erfüllt von dem Geräusch tausender Stimmen, die gleich mehrere Echos warfen. Manchmal war ein einzelner Ruf oder ein Lachen erkennbar, doch abgesehen davon fühlte sich Mumm wie in einem endlosen akustischen Meer, das ans Ufer seiner Trommelfelle brandete.

»Ich dachte immer, dein Volk lebt in kleinen Höhlen«, sagte er.

»Und ich dachte, Menschen wohnen in kleinen Dörfern, Herr«, erwiderte Grinsi. Sie nahm eine Kerze aus dem großen Gestell neben der Tür und zündete sie an. »Und dann sah ich Ankh-Morpork.«

Die Bewegungen der Lichter ergaben ein erkennbares Muster. Eine große Anzahl von ihnen strebte einer unsichtbaren Wand entgegen, wo sich in der Dunkelheit die Konturen einer Tunnelöffnung abzeichneten. Davor bildeten Lichter eine Reihe.

Mumm stellte sich Leute vor, die etwas erreichen wollten, das eine Reihe anderer Leute… bewachte.

»Die Zwerge dort unten sind nicht sehr glücklich«, sagte Mumm. »Sie scheinen eine aufgebrachte Menge zu bilden. Das sieht man daran, wie sie sich bewegen.«

»Kommandeur Mumm?«

Er drehte sich um und bemerkte mehrere Zwerge in der Düsternis. Jeder von ihnen hatte eine Kerze an seinem Helm befestigt, und vor ihnen stand ein weiterer Zwerg.

Mumm hatte solche Zwerge in Ankh-Morpork gesehen, aber immer nur kurz – sie schienen ständig bestrebt zu sein, sich im Dunkeln zu verbergen. Dies war ein Tiefenzwerg.

Sein Mantel bestand aus sich schuppenartig überlappenden Lederteilen. Den Kopf zierte nicht der kleine runde Eisenhelm, von dem Mumm immer geglaubt hatte, dass Zwerge mit ihm zur Welt kamen, sondern ein spitz zulaufender Helm, der ebenfalls mit Lederklappen ausgestattet war. Die ganz vorn war nach oben gewölbt und festgebunden, damit der Zwerg die Welt sehen konnte, zumindest den unterirdischen Teil von ihr. Sein Erscheinungsbild entsprach dem eines wandelnden Kegels.

»Äh, ja, das bin ich«, sagte Mumm.

»Willkommen in Schmalzberg, Euer Exzellenz. Ich bin des Königs Jar’ahk’haga, was in deiner Sprache so viel bedeutet wie…«

Mumms Lippen hatten sich schnell bewegt, als er zu übersetzen versuchte.

»Ideenschmecker?«, fragte er.

»Ha! So könnte man es auch ausdrücken, ja. Ich heiße Dee. Wenn du mir bitte folgen würdest… Es dauert nicht lange.«

Die Gestalten schritten fort. Ein Zwerg gab Mumm mit einem sanften Stoß zu verstehen, dass er ihnen folgen sollte.

Die Geräusche von tief unten wurden lauter. Jemand schrie etwas.

»Gibt es ein Problem?«, fragte Mumm und schloss zu dem schnell gehenden Dee auf.

»Wir haben keine Probleme.«

Ah, er hat bereits gelogen, dachte Mumm. Wir sind diplomatisch.

Er folgte Dee durch mehrere Höhlen beziehungsweise Tunnel – der Unterschied ließ sich kaum feststellen, denn in der Dunkelheit konnte sich Mumm nur auf sein Gefühl verlassen. Gelegentlich kamen sie am beleuchteten Eingang einer weiteren Höhle oder eines weiteren Tunnels vorbei, wo immer Wächter mit Kerzen auf den Helmen standen.

Mumms gut funktionierendes Polizistenradar piepte unaufhörlich. Irgendetwas ging hier vor. Er spürte die Anspannung, nahm den Geruch stiller Panik wahr – wie Qualm hing er in der Luft. Ab und zu eilten andere Zwerge vorbei, geistesabwesend und mit irgendeiner Aufgabe betraut. Ja, etwas bahnte sich an. Die Leute wussten nicht, was sie als Nächstes tun sollten, und deshalb versuchten sie, alles gleichzeitig zu erledigen. Und mitten in diesem Durcheinander mussten Personen, die große Verantwortung trugen, ihre Arbeit unterbrechen, weil ihnen irgendein Idiot aus einer fernen Stadt Papiere überreichen wollte.

Schließlich öffnete sich eine Tür in der Dunkelheit. Sie führte in eine ungefähr rechteckige Höhle mit Bücherregalen an den Wänden und überfüllten Schreibtischen. Es sah ganz nach einem Büro aus.

»Nimm Platz, Kommandeur.«

Ein Streichholz flammte auf. Eine Kerze wurde angezündet und verlor sich fast in der Dunkelheit.

»Wir möchten, dass unsere Gäste das Gefühl haben, willkommen zu sein«, sagte Dee und nahm hinter einem Schreibtisch Platz. Er legte den spitz zulaufenden Lederhut beiseite und setzte zu Mumms Verblüffung eine Brille aus dickem Rauchglas auf.

»Du hast Papiere?«, fragte er. Mumm reichte sie ihm.

Der Zwerg las eine Zeit lang. »Hier steht ›Euer Gnaden‹«, sagte er.

»Ja, das bin ich.«

»Und es wird auch ein ›Sir‹ erwähnt.«

»Das bin ich ebenfalls.«

»Und eine ›Exzellenz‹.«

»Wieder ich.« Mumm kniff die Augen zusammen. »Ich bin auch einmal Tafelwart gewesen.«

Hinter der Tür am Ende des Raums erklangen zornige Stimmen.

»Was ist die Aufgabe eines Tafelwarts?«, fragte Dee und hob dabei die Stimme.

»Was? Äh, ich habe die Tafel nach dem Unterricht abgewischt.«

Der Zwerg nickte. Die Stimmen wurden lauter und noch zorniger. Zwergisch war eine gute Sprache, wenn es darum ging, Ärger zum Ausdruck zu bringen.

»Das Gelehrte von der Tafel tilgen, nachdem es gelernt worden war!« Dee musste rufen, um sich verständlich zu machen.

»Äh, ja!«

»Eine Aufgabe, wie sie nur von Personen wahrgenommen werden kann, die besonderes Vertrauen genießen!«

»Könnte sein, ja!«

Dee faltete den Brief zusammen, gab ihn zurück und blickte kurz zu Grinsi.

»Nun, damit scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte er. »Möchtest du etwas trinken, bevor du zurückkehrst?«

»Wie bitte? Ich dachte, ich muss mich eurem König vorstellen.« Die Flüche auf der anderen Seite der Tür drohten, sich durch das ganze Holz zu brennen.

»Oh, das ist nicht nötig«, sagte Dee. »Derzeit sollte er sich nicht mit…«

»… trivialen Angelegenheiten abgeben müssen?«, vervollständigte Mumm den Satz. »Ich dachte, diese Angelegenheiten sollten so geregelt werden. Ich dachte, ihr Zwerge regelt die Dinge immer, wie sie geregelt werden sollten.«

»Zur Zeit wäre das nicht… besonders ratsam«, sagte Dee und hob erneut die Stimme, um den Lärm zu übertönen. »Das verstehst du sicher.«

»Gehen wir einmal davon aus, dass ich sehr dumm bin«, erwiderte Mumm.

»Ich versichere dir, Euer Exzellenz: Was ich sehe, sieht auch der König. Und was ich höre, hört er ebenfalls.«

»Im Moment ist das gewiss der Fall.«

Dee trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Euer Exzellenz, ich war nur lange genug in deiner… Stadt, um einen allgemeinen Eindruck von eurer Kultur zu gewinnen. Derzeit habe ich das Gefühl, dass du dich über mich lustig machst.«

»Darf ich ganz offen sein?«

»Nach dem, was ich über dich hörte, Euer Tafelwart, nimmst du nie ein Blatt vor den Mund.«

»Habt ihr die Steinsemmel inzwischen gefunden?«

Dees Gesichtsausdruck teilte Mumm mit, dass er ins Schwarze getroffen hatte und die nächsten Worte des Zwergs mit Sicherheit eine Lüge sein würden.

»Was für eine seltsame Frage, die überhaupt nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat! Niemand hat die Steinsemmel gestohlen! Das ist eindeutig! Wir möchten nicht, dass jemand eine solche Lüge wiederholt!«

»Du hast mir gesagt, ich…«, begann Mumm. Nach den Geräuschen zu urteilen, fand auf der anderen Seite der Tür inzwischen ein Kampf statt.

»Bei der Krönung werden alle die Steinsemmel sehen können! Dies ist keine Angelegenheit, die Ankh-Morpork oder sonst jemanden etwas angeht! Ich protestiere gegen eine Einmischung in unsere privaten Dinge!«

»Ich habe doch nur…«

»Wir müssen die Steinsemmel auch keinen neugierigen Unruhestiftern zeigen! Es ist ein heiliges Objekt, das streng bewacht wird!«

Mumm schwieg. Dee war noch besser als der Schuldige Schuft.

»Jeder, der die Semmelhöhle verlässt, wird kontrolliert! Die Steinsemmel kann nicht gestohlen werden! Sie ist absolut sicher!« Dee schrie fast.

»Ah, ich verstehe«, sagte Mumm ruhig.

»Gut!«

»Ihr habt sie also noch nicht wieder gefunden.«

Dee öffnete den Mund, klappte ihn zu und sackte in sich zusammen. »Euer Gnaden, ich glaube, du solltest besser…«

Die Tür am anderen Ende des Raums glitt beiseite. Ein anderer Zwerg mit kegelförmigem Erscheinungsbild stapfte ins Vorzimmer, blieb stehen, starrte wütend, ging zurück, rief noch einige Worte und beschloss dann, den Raum zu verlassen. Vor Mumm verharrte er, um eine Kollision zu vermeiden.

Der Zwerg neigte den Kopf nach hinten und blickte empor. Ein Gesicht in dem Sinne war nicht zu sehen, nur die Andeutung zornig blitzender Augen zwischen den Lederklappen.

»Arnak-Morporak?«

»Ja.«

Die folgenden Worte verstand Mumm nicht, aber der Tonfall verlieh ihnen eine unmissverständliche Bedeutung. Die Diplomatie verlangte, weiterhin zu lächeln.

»Oh, danke«, erwiderte er. »Und wenn du gestattest…«

Der Zwerg brummte – er hatte Grinsi bemerkt!

»Ha’ak!«, rief er.

Mumm hörte, wie jemand nach Luft schnappte. Weitere Zwerge drängten sich an der Tür zusammen. Er sah auf Grinsi hinab. Sie hatte die Augen geschlossen und bebte am ganzen Leib.

»Wer ist dieser Zwerg?«, wandte er sich an Dee.

»Er heißt Albrecht Albrechtson«, antwortete der Ideenschmecker.

»Der Zweitplazierte?«

»Ja«, bestätigte Dee heiser.

»Sag dem Burschen, wenn er dieses Wort noch einmal in meiner Gegenwart oder gegenüber meinen Mitarbeitern benutzt, wird das ein Nachspiel haben, wie wir Diplomaten sagen. Wickel das in Diplomatie und gib’s an ihn weiter.«

Bestimmte Geräusche deuteten an, dass einige der zuhörenden Zwerge Morporkianisch verstanden. Zwei von ihnen kamen zielstrebig näher.

Dee brabbelte hysterisch auf Zwergisch, als die anderen Zwerge den stierenden Albrecht erreichten und ihn wegführten. Zuvor flüsterte einer von ihnen dem Ideenschmecker etwas ins Ohr.

»Der, äh, König ist nun bereit, dich zu empfangen«, murmelte er.

Mumm sah zur Tür – noch mehr Zwerge eilten hindurch. Einige von ihnen trugen das, was Mumm für »normale« Zwergenkleidung hielt, andere waren in das schwarze Leder der Tiefen-Clans gehüllt. Alle starrten ihn an, als sie an ihm vorbeigingen.

Und dann erstreckte sich nur noch leerer Boden bis zur Tür.

»Kommst du mit?«, fragte Mumm.

»Nur wenn er mich dazu auffordert«, entgegnete Dee. »Ich wünsche dir viel Glück, Euer Tafelwart.«

Hinter der Tür erwartete Mumm ein Zimmer mit Bücherregalen, die in der Dunkelheit verschwanden. Einige brennende Kerzen veränderten nur die Dichte der Finsternis. Einige leuchteten ziemlich weit entfernt, und Mumm fragte sich, wie groß dieser Raum sein mochte…

»Hier drin gibt es Aufzeichnungen über alle Heiraten, Geburten, Todesfälle, die Umzüge eines Zwergs von einer Mine zur anderen, die Könige aller Bergwerke, die Fortschritte jedes einzelnen Zwergs durch K’zakra, Schürfrechte, die Geschichte berühmter Äxte – und andere interessante Dinge«, erklang eine Stimme hinter Mumm. »Was vielleicht noch wichtiger ist: In diesem Raum sind alle Entscheidungen niedergeschrieben, die im Verlauf der letzten tausendfünfhundert Jahre nach dem Zwergenrecht getroffen wurden.«

Mumm drehte sich um. Hinter ihm stand ein Zwerg, der selbst nach Zwergenmaßstäben klein war. Er schien eine Antwort zu erwarten.

»Äh, alle Entscheidungen?«

»O ja.«

»Äh, waren es gute Entscheidungen?«, fragte Mumm.

»Wichtig ist, dass sie getroffen wurden«, sagte der König. »Danke, junger… Zwerg. Du kannst dich aufrichten.«

Grinsi hatte sich verneigt.

»Entschuldigung, sollte ich mich ebenfalls verbeugen?«, erkundigte sich Mumm. »Du… bist doch noch nicht König, oder?«

»Nein, noch nicht.«

»Ich, äh, es tut mir Leid, aber ich habe mir jemanden vorgestellt, der…«

»Ja?«

»Nun, der… königlicher wirkt.«

Der Niedere König seufzte.

»Ich meine… ich meine, du siehst wie ein ganz gewöhnlicher Zwerg aus«, fügte Mumm verlegen hinzu.

Diesmal lächelte der König. Er war etwas kleiner als ein durchschnittlicher Zwerg und trug die übliche Uniform aus Leder und Kettenhemd. Er sah alt aus, aber Zwerge begannen schon mit etwa fünf Jahren, alt auszusehen, und dieses Erscheinungsbild behielten sie während der nächsten dreihundert Jahre bei. Die musikalische Kadenz seiner Stimme verband Mumm mit Llamedos. Hätte ihn dieser Zwerg in Gimlets Feinkostbude um den Ketchup gebeten, wäre Mumm kaum bereit gewesen, ihm einen zweiten Blick zu schenken.

»Diese Sache mit der Diplomatie«, sagte der König. »Glaubst du, dass es dir gelingt, dich daran zu gewöhnen?«

»Es fällt mir nicht leicht, muss ich zugeben… äh… Euer Majestät.«

»Soweit ich weiß, bist du bisher Wächter in Ankh-Morpork gewesen.«

»Äh, ja.«

»Und offenbar hattest du einen berühmten Vorfahren, der zum Königsmörder wurde.«

Das musste ja kommen, dachte Mumm. »Ja, Steingesicht Mumm«, sagte er so ruhig wie möglich. »Ich habe die Vorwürfe gegen ihn immer für ein wenig unfair gehalten. Immerhin war es nur ein König. Ich meine, er machte kein Hobby daraus.«

»Aber du hältst nicht viel von Königen«, sagte der Zwerg.

»Ich begegne nur selten welchen«, erwiderte Mumm und hoffte, dass dies eine diplomatische Antwort war. Der König schien sich damit zufrieden zu geben.

»Ich habe Ankh-Morpork einmal besucht, als ich ein junger Zwerg war«, sagte er und ging zu einem langen Tisch, auf dem sich Schriftrollen stapelten.

»Äh, tatsächlich?«

»Rasenschmuck – so hat man mich dort genannt. Und außerdem – wie hieß das Wort noch? – Pimpf. Einige Kinder warfen Steine nach mir.«

»Tut mir Leid.«

»Du willst mich vielleicht darauf hinweisen, dass so etwas heute nicht mehr geschieht.«

»Es geschieht nicht mehr so oft. Aber es gibt immer Idioten, die nicht mit der Zeit gehen.«

Der König bedachte Mumm mit einem durchdringenden Blick. »Ach? Die Zeit… Jetzt ist es immer die Ankh-Morpork-Zeit, nicht wahr?«

»Wie bitte?«

»Wenn die Leute sagen: ›Wir müssen mit der Zeit gehen‹, so meinen sie in Wirklichkeit: ›Ihr müsst euch uns anpassen.‹ Es gibt Stimmen, die behaupten, Ankh-Morpork sei eine Art Vampir. Die Stadt beißt, und durch ihren Biss wird man so wie sie. Und sie saugt. Unsere besten Kräfte gehen nach Ankh-Morpork, um dort in erbärmlichen Verhältnissen zu leben. Wir trocknen hier langsam aus.«

Mumm wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Eins stand fest: Die kleine, jetzt am Tisch sitzende Gestalt war wesentlich intelligenter als er, wenn auch vor allem deshalb, weil seine eigene Intelligenz momentan nicht heller strahlte als eine Ein-Cent-Kerze. Ihm fiel auch auf, dass der König schon seit einer ganzen Weile nicht mehr geschlafen hatte.

Mumm beschloss, ehrlich zu sein.

»Darauf kann ich keine Antwort geben, Herr«, sagte er und griff zu einer Variante seiner So-spreche-ich-mit-Vetinari-Methode. »Aber…«

»Ja?«

»Ich würde mich fragen… Ich meine, wenn ich König wäre… dann würde ich mich fragen, warum die Zwerge lieber in erbärmlichen Verhältnissen in Ankh-Morpork leben, als daheim zu bleiben… Herr.«

»Ah. Sagst du mir jetzt, wie ich denken soll?«

»Nein, Herr. Ich sage dir nur, wie ich denke. Überall in Ankh-Morpork gibt es Zwergenkneipen, und dort hängen Bergbauinstrumente an den Wänden, und jeden Abend trinken dort Zwerge Bier und singen traurige Lieder darüber, wie gern sie in den Bergen Gold schürfen würden. Aber wenn man ihnen dann sagt ›In Ordnung, das Stadttor steht weit offen, geht nur und schickt gelegentlich eine Postkarte‹, so heißt es: ›Oh, ja, am liebsten würde ich sofort aufbrechen, aber wir haben gerade die neue Werkstatt eingerichtet. Vielleicht ziehen wir im nächsten Jahr nach Überwald.‹«

»Sie kehren in die Berge zurück, um zu sterben«, sagte der König.

»Sie leben in Ankh-Morpork.«

»Welchen Grund gibt es dafür, deiner Meinung nach?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat ihnen niemand erklärt, wie man hier lebt.«

»Und jetzt wollt ihr unser Gold und Eisen«, sagte der König. »Können wir denn nichts behalten?«

»Auch darauf weiß ich leider keine Antwort, Herr. Ich bin nicht für diesen Job ausgebildet.«

Der König brummte etwas, und ein ganzes Stück lauter sagte er: »Ich kann dir keine Begünstigungen anbieten, Euer Exzellenz. Dies sind schwierige Zeiten.«

»Meine eigentliche Aufgabe besteht darin, Dinge herauszufinden«, sagte Mumm. »Wenn ich irgendwie helfen kann…«

Der König gab die Papiere zurück. »Deine Beglaubigungsschreiben, Euer Exzellenz. Ihr Inhalt ist zur Kenntnis genommen!«

Und damit ist mir der Mund gestopft, dachte Mumm.

»Ich möchte dir noch eine Frage stellen«, fuhr der König fort.

»Ja, Herr?«

»Waren es wirklich dreißig Männer und ein Hund?«

»Nein. Es waren nur sieben Männer. Einen von ihnen habe ich getötet, weil mir keine Wahl blieb.«

»Wie starben die anderen?«

»Äh, sie fielen den Umständen zum Opfer, Herr.«

»Na schön. Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Guten Morgen, Fräulein Kleinpo.«

Grinsi wirkte verblüfft.

Der König bedachte sie mit einem kurzen Lächeln. »Ah, die Rechte des Individuums, eine berühmte Erfindung aus Ankh-Morpork – so heißt es jedenfalls. Danke, Dee, Seine Exzellenz möchte jetzt gehen. Du kannst die Delegation von Kupferkopf hereinschicken.«

Mumm verließ den Raum und sah eine weitere Gruppe von Zwergen, die im Vorzimmer warteten. Einer oder zwei von ihnen nickten ihm zu, als sie durch die Tür traten.

Dee wandte sich noch einmal an Mumm. »Ich hoffe, du hast Seine Majestät nicht ermüdet.«

»Das scheint jemand anders vor mir erledigt zu haben.«

»Dies sind schlaflose Zeiten«, sagte der Ideenschmecker.

»Wurde die Steinsemmel inzwischen gefunden?«, fragte Mumm unschuldig.

»Euer Exzellenz, wenn du auf dieser Einstellung beharrst, müssen wir uns bei Lord Vetinari über dich beschweren.«

»Er nimmt Beschwerdebriefe immer gern entgegen. Geht es hier nach draußen?«

Mumm gab keinen weiteren Ton von sich, bis er und seine Eskorte wieder in der Kutsche saßen und vor ihnen Tageslicht durch das große Tor fiel.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Grinsi zitterte.

»Nach der Wärme da unten muss man sich erst wieder an die kalte Luft gewöhnen, nicht wahr?«, fragte er.

Grinsi lächelte erleichtert. »Ja, das stimmt«, erwiderte sie.

»Scheint ein ganz anständiger Bursche zu sein«, fuhr Mumm fort. »Was hat er gebrummt, als ich meinte, ich sei nicht für diesen Job ausgebildet?«

»Er murmelte: ›Wer ist das schon?‹, Herr.«

»So klang es. Der heftige Streit zuvor… Man sitzt nicht einfach auf dem Thron und sagt: ›Macht dies, macht das.‹«

»Zwerge sind sehr streitsüchtig, Herr. Was einige natürlich bestreiten würden. Keiner der großen Zwergenclans ist mit dieser Sache zufrieden. Du weißt ja, wie das ist… Die Kupferkopfler halten nichts von Albrecht, und die Schmalzbergler unterstützen niemanden, der Glodson heißt. Bei den Zwergen von Ankh-Morpork sind beide Fraktionen vertreten. Rhys kommt aus einem kleinen Clan, der unweit von Llamedos Kohle abbaut und nicht wichtig genug ist, um Partei zu ergreifen…«

»Du meinst, er wird nicht etwa deshalb zum König, weil ihn alle mögen, sondern weil ihn niemand stark genug ablehnt?«

»Das stimmt, Herr.«

Mumm blickte auf die zerknitterten Briefe, die ihm der König in die Hand gedrückt hatte. Im Tageslicht bemerkte er zwei Worte, die in eine Ecke gekritzelt waren.

UM MITTERNACHT?

Er summte leise vor sich hin, riss das Stück Papier ab und zerknüllte es.

»Und nun zu dem verdammten Vampir«, sagte er.

»Sei unbesorgt, Herr«, ließ sich Grinsi vernehmen. »Was könnte sie schlimmstenfalls mit dir anstellen? Dir den Kopf abbeißen?«

»Herzlichen Dank für diesen Hinweis, Korporal. Äh, die Kleidung einiger Zwerge… Über Tage soll sie Schutz vor dem scheußlichen Tageslicht bieten, aber warum wird sie auch dort unten getragen?«

»Es ist Tradition, Herr. Solche Kleidung trugen die… Man nennt sie Klopfmänner, Herr.«

»Was sind das für Leute?«

»Weißt du über Grubengas beziehungsweise schlagende Wetter Bescheid? Manchmal kommt ein solches Gas in den Bergwerken vor. Es explodiert.«

Mumm sah die Bilder vor seinem inneren Auge, als Grinsi alles erklärte…

Die Bergleute räumten den Bereich frei, wenn sie Glück hatten. Und dann ging der Klopfmann los. Seine Kleidung bestand aus vielen Schichten Kettenhemd und Leder, und er nahm einen Sack mit, der Weidenkugeln mit ölgetränkten Lappen enthielt, und außerdem noch eine lange Stange und eine Schleuder.

Tief unten im Bergwerk, ganz allein, hörte er das Klopfen. Agi Hammerklau und all die anderen, die in finsterer Tiefe Geräusche machten. Licht gab es nicht, denn Licht hätte plötzlichen, donnernden Tod bedeutet. Der Klopfmann tastete sich seinen Weg durch absolute Dunkelheit.

Eine ganz bestimmte Grillenart lebte in den Minen. Solche Insekten zirpten, wenn sie Grubengas wahrnahmen. Der Klopfmann führte eine solche Grille bei sich, in einem Kasten am Hut.

Wenn sie zirpte, trat ein entweder sehr optimistischer oder sehr lebensmüder Klopfmann zurück, entzündete die Fackel am Ende der Stange und stieß sie nach vorn. Ein vorsichtigerer Klopfmann trat noch weiter zurück und benutzte seine Schleuder, um einen Ball aus brennenden Lappen in die Finsternis zu schicken. In beiden Fällen vertraute er darauf, dass ihn die dicke Lederkleidung vor den schlimmsten Auswirkungen der Explosion schützte.

Zu Anfang gab es keine familiäre Tradition für diesen gefährlichen Beruf. Wer war bereit, einen Klopfmann zu heiraten? Sie konnten jederzeit sterben. Aber manchmal wollte ein junger Mann ein Klopfmann werden. Seine Eltern waren sehr stolz, winkten zum Abschied – und sprachen dann von ihm, als wäre er tot. Das machte es einfacher.

Doch gelegentlich kehrten Klopfmänner zurück. Und wer überlebt hatte, überlebte auch weiterhin, denn Überleben ist eine Sache der Angewohnheit. Ab und zu erzählten Klopfmänner von den Geräuschen, die sie tief unten im Dunkeln hörten: das Pochen toter Zwerge, die versuchten, in die Welt der Lebenden zurückzukehren; das ferne Lachen von Agi Hammerklau; der Herzschlag der Schildkröte, die die Welt trug.

Aus Klopfmännern wurden Könige.

Mumm hörte mit offenem Mund zu und fragte sich, warum die Zwerge behaupteten, keine Religion und keine Priester zu haben. Es war Religion, ein Zwerg zu sein. Für das Wohl des Clans zog jemand in die Finsternis, hörte Dinge, veränderte sich und kehrte zurück, um von seinen Erlebnissen zu erzählen…

Und dann, vor fünfzig Jahren, fand ein Zwerg in Ankh-Morpork heraus: Wenn man die Flamme der Laterne mit einem Geflecht aus dünnen Drähten umgab, so brannte sie blau im Grubengas, ohne dass es zu einer Explosion kam. Es war eine enorm wichtige Entdeckung für die Zwerge, und wie so häufig bei wichtigen Entdeckungen führte sie fast sofort zum Krieg.

»Seitdem gibt es zwei Arten von Zwergen«, sagte Grinsi kummervoll. »Die Kupferkopfler benutzen die Laternen mit dem Drahtgeflecht. Die Schmalzbergler hingegen halten an der alten Tradition fest. Natürlich sind wir alle Zwerge«, betonte Grinsi, »aber die Beziehungen sind recht… gespannt.«

»Kann ich mir denken.«

»Alle Zwerge erkennen die Notwendigkeit eines Niederen Königs, aber…«

»Aber nicht alle sehen ein, warum Klopfmänner weiterhin so großen Einfluss haben sollten?«

»Es ist sehr traurig«, sagte Grinsi. »Habe ich erzählt, dass mein Bruder Schnarchi aufbrach, um ein Klopfmann zu werden?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Er kam durch eine Explosion ums Leben, irgendwo unter Borograwien. Aber er fand großen Gefallen an seinem Beruf.« Nach einigen Sekunden fügte Grinsi gewissenhaft hinzu: »Bis zu der Explosion. Ich glaube, die gefiel ihm nicht sehr.«

Die Kutsche rollte jetzt auf der einen Seite der Stadt an einem Berghang empor. Mumm blickte auf den kleinen runden Helm neben ihm hinab. Manchmal glaubte man, bestimmte Leute gut zu kennen – und erlebte dann eine Überraschung.

Die Räder klapperten über eine hölzerne Zugbrücke.

Dieses Schloss schien von einem kleinen Trupp nicht besonders tüchtiger Soldaten erobert werden zu können. Befestigungen hatte sein Erbauer nicht für nötig gehalten. Stattdessen war er von Märchen und verzierten Kuchen beeinflusst worden. Das Schloss schien in erster Linie dazu bestimmt zu sein, angeschaut zu werden. Für Verteidigungszwecke war es wahrscheinlich besser, sich eine Decke über den Kopf zu ziehen.

Die Kutsche hielt auf dem Hof, und Mumm bemerkte erstaunt eine vertraute Gestalt, die ihnen entgegenschlurfte.

»Igor?«

»Ja, Herr?«

»Bei den Göttern, was machst du denn hier?«

»Äh, ich öffne diefe Tür, Herr«, antwortete Igor.

»Aber warum bist du nicht…«

Mumm unterbrach sich, als er begriff: Es war jemand anders. Bei diesem Igor hatten beide Augen die gleiche Farbe, und einige Narben waren an anderen Stellen.

»Entschuldige«, brummte er. »Ich habe dich für Igor gehalten.«

»Oh, du meinft meinen Kufin Igor«, sagte Igor. »Er arbeitet unten in der Botschaft. Wie geht ef ihm?«

»Oh, es scheint alles in Ordnung mit ihm zu sein«, erwiderte Mumm. »Äh, mehr oder weniger. Ja.«

»Hat er dir gefagt, wie ef Igor geht?«, fragte Igor und humpelte so schnell, dass Mumm fast laufen musste, um mit ihm Schritt zu halten. »Wir haben schon lange nichtf mehr von ihm gehört, nicht einmal Igor, der ihm fehr nahe fteht.«

»Wie bitte? Heißen in deiner Familie alle Igor?«

»O ja, Herr. Fo vermeiden wir Verwirrung.«

»Tatsächlich?«

»Ja, Herr. In Überwald käme ef niemandem in den Finn, einen anderen Diener alf einen Igor einfuftellen. Da find wir, Herr. Die Herrin erwartet dich.«

Sie hatten ein Tor durchschritten, und Igor öffnete eine Tür mit mehr Ziernägeln, als es respektvoll sein konnte. Dahinter erstreckte sich ein Flur.

»Möchtest du wirklich mitkommen?«, wandte sich Mumm an Grinsi. »Immerhin treten wir gleich einem Vampir gegenüber.«

»Vampire machen mir keine Sorgen, Herr.«

»Leider kann ich das von mir nicht behaupten«, sagte Mumm. Er musterte den schweigenden Tantony, der ziemlich nervös wirkte.

»Teil unserem Freund hier mit, dass er nicht gebraucht wird und in der Kutsche auf uns warten soll, der Glückspilz«, sagte er. »Die letzten Worte brauchst du nicht zu übersetzen.«

Igor öffnete eine weitere Tür, und Tantony lief fast hinaus. »Feine Gnaden und Feine Ekfellenf…«

»Ah, Sir Samuel«, sagte Lady Margolotta. »Komm herein. Ich weiß, dass es dir nicht gefällt, Euer Gnaden genannt zu werden. Ist ziemlich lästig, nicht wahr? Aber mit solchen Dingen muss man sich leider abfinden.«

Mit so etwas hatte Mumm nicht gerechnet. Vampire sollten eigentlich keine Perlenketten und rosarote Pullover tragen. In Mumms entsprechenden Vorstellungen fehlten auch praktische flache Schuhe und ein Wohnzimmer, in dem alle dafür in Frage kommenden Möbelteile mit Chintz bezogen waren.

Lady Margolotta sah wie eine Mutter aus, deren Sohn oder Tochter eine ebenso gute wie teure Erziehung genossen hatte und ein Pony namens Wirbelwind sein Eigen nennen durfte. Sie bewegte sich wie eine Person, die sich an ihren Körper gewöhnt hatte, und auf ihr Erscheinungsbild passte ein Ausdruck, den Mumm einmal irgendwo gehört hatte: »eine Frau in einem gewissen Alter«. Er wusste nicht recht, welches Alter damit gemeint war.

Doch es gab subtile beunruhigende Anzeichen. Auf den rosaroten Pullover waren Fledermäuse gestickt, und die Anordnung der Möbel weckte ebenfalls Ahnungen von einer Fledermaus. Der kleine Hund, der eine Schleife um den Hals trug und auf einem Kissen lag, sah eher wie eine Ratte aus. In dieser Beziehung war Mumm nicht ganz sicher, denn solche Hunde hatten tatsächlich etwas Rattenartiges. Der Effekt ließ sich mit Musik vergleichen, deren Noten jemand gelesen hatte, ohne sie jemals zu hören.

Mumm merkte, dass Lady Margolotta höflich wartete. Er verneigte sich steif.

»Ach, mit solchen Dingen brauchen wir uns nicht aufzuhalten«, sagte Lady Margolotta. »Bitte setz dich.« Sie ging zu einer Vitrine und öffnete sie. »Möchtest du einen Schluck Stierblut?«

»Meinst du das Getränk mit Wodka? Ich…«

»Nein«, sagte Lady Margolotta ruhig. »Dies ist die andere Art. Das haben wir gemeinsam, nicht wahr? Wir trinken keinen… Alkohol. Du bist einmal Alkoholiker gewesen, oder, Sir Samuel?«

»Nein«, widersprach Mumm verdutzt. »Ich war ein Trunkenbold. Um Alkoholiker zu sein, braucht man mehr Geld.«

»Oh, wohl gesprochen. Ich habe Limonade, wenn du möchtest. Und Fräulein Kleinpo? Bier gibt es hier nicht – das freut dich sicher.«

Grinsi blickte verblüfft zu Mumm auf. »Äh, vielleicht einen Sherry?«, fragte sie.

»Gewiss. Du kannst gehen, Igor. Ist er nicht ein Schatz?«, fügte Lady Margolotta hinzu, als Igor den Raum verließ.

»Man könnte zumindest meinen, er wäre gerade ausgebuddelt worden«, sagte Mumm. Diese Begegnung verlief ganz anders als erwartet.

»Oh, alle Igors sehen so aus. Seit fast zweihundert Jahren ist er in unserer Familie. Besser gesagt: der größte Teil von ihm.«

»Wirklich?«

»Er ist bei jungen Frauen sehr beliebt. Das gilt für alle Igors. Es ist vermutlich besser, nicht über die möglichen Gründe zu spekulieren.« Lady Margolotta bedachte Mumm mit einem strahlenden Lächeln. »Auf dein Wohl, Sir Samuel.«

»Du scheinst eine ganze Menge über mich zu wissen«, erwiderte Mumm unsicher.

»Größtenteils gute Dinge«, sagte die Vampirin. »Obgleich du dazu neigst, den Papierkram zu vernachlässigen, zu schnell in Verzweiflung zu geraten und zu sentimental zu sein. Du bedauerst deinen eigenen Mangel an Bildung und misstraust der Gelehrsamkeit anderer Leute. Du bist immens stolz auf deine Stadt und fragst dich manchmal, ob du ein Klassenverräter bist. Meine… Freunde in Ankh-Morpork konnten nichts Schlimmes an dir entdecken, und glaub mir: In dieser Hinsicht leisten sie sehr gründliche Arbeit. Und du verabscheust Vampire.«

»Ich…«

»Was durchaus verständlich ist. Wir sind schreckliche Leute, im Großen und Ganzen.«

»Aber du…«

»Ich versuche, alles von der positiven Seite zu sehen«, sagte Lady Margolotta. »Wie dem auch sei… Was hältst du vom künftigen König?«

»Er ist sehr… ruhig«, entgegnete Mumm der Diplomat.

»Du meinst gerissen. Bestimmt hat er mehr über dich herausgefunden als du über ihn. Möchtest du einen Keks? Ich esse sie natürlich nicht selbst, aber ich kenne jemanden in der Stadt, dessen Schokoladenplätzchen einfach wundervoll sind. Igor?«

»Ja, Herrin?«, erwiderte Igor. Mumm hätte fast seine Limonade durch den Raum gespritzt.

»Er hat den Raum verlassen!«, brachte er hervor. »Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen! Und ich habe gehört, wie sich die Tür hinter ihm schloss!«

»Igor hat so seine Eigenheiten. Bitte gib Sir Samuel eine Serviette, Igor.«

»Du hast den König als gerissen bezeichnet«, sagte Mumm und wischte sich Limonade von der Hose.

Igor stellte einen Teller mit Keksen ab und schlurfte hinaus.

»Habe ich das? Nein, ich glaube nicht. Solch ein Ausdruck wäre nicht sehr diplomatisch«, sagte Lady Margolotta glatt. »Wir alle unterstützen den neuen König, der die Zustimmung der meisten Zwerge genießt. Obgleich sie glaubten, einen Traditionalisten zu bekommen und sich nun mit einer unbekannten Größe konfrontiert sehen.«

»Hast du die letzten Worte gesagt oder nicht?«, fragte Mumm, der mit Diplomatie und einer feuchten Hose rang.

»Natürlich nicht. Weißt du, dass jemand die Steinsemmel der Zwerge gestohlen hat?«

»Sie behaupten, das sei nicht der Fall.«

»Glaubst du ihnen?«

»Nein.«

»Ohne die Steinsemmel kann keine Krönung stattfinden.«

»Müssen wir warten, bis eine andere gebacken wird?«, fragte Mumm.

»Nein, es wird keine Niederen Könige mehr geben«, sagte Lady Margolotta. »Sie sind nicht mehr legitimiert. Die Steinsemmel symbolisiert eine Kontinuität, die bis zu B’hrian Blutaxt zurückreicht. Es heißt, er saß darauf, als sie noch weich war. Er soll sogar seinen Abdruck darin hinterlassen haben.«

»Du meinst, das Königsamt wurde von… Hinterteil zu Hinterteil weitergegeben?«

»Die Menschen glauben an Kronen, nicht wahr?«

»Ja, aber wenigstens zieren sie das andere Ende!«

»Dann nimm Throne.« Lady Margolotta seufzte. »Die Leute messen den seltsamsten Dingen Bedeutung bei. Kronen. Relikte, Knoblauch. Die Machtfrage führt bestimmt zu einem Bürgerkrieg, den Albrecht gewinnen wird, und anschließend beendet er die Handelsbeziehungen mit Ankh-Morpork. Wusstest du das? Er hält die Stadt für etwas Böses.«

»Mir ist klar, dass es dort jede Menge Unheil gibt«, sagte Mumm. »Ich lebe da.«

»Ich habe gehört, dass er alle Zwerge in Ankh-Morpork zu D’hrarak erklären will«, fuhr die Vampirin fort. Mumm hörte, wie Grinsi nach Luft schnappte. »Übersetzt heißt das ›keine Zwerge‹.«

»Und wenn schon«, meinte Mumm. »Ich glaube kaum, dass sich unsere Jungs davon aus der Fassung bringen lassen.«

»Äh«, sagte Grinsi.

»Ja. Die junge Dame wirkt besorgt, und du solltest auf sie hören, Sir Samuel.«

»Entschuldige bitte«, sagte Mumm. »Aber welche Rolle spielst du in dieser ganzen Angelegenheit?«

»Trinkst du wirklich nicht, Sir Samuel?«

»Nein.«

»Nicht einmal ein Gläschen?«

»Nein«, wiederholte Mumm etwas schärfer. »Das müsstest du eigentlich wissen, wenn du so gut über mich informiert bist…«

»Und doch bewahrst du in der untersten Schublade deines Schreibtischs eine halbe Flasche als eine Art permanenten Test auf«, sagte Lady Margolotta. »Das, Sir Samuel, klingt nach einem Mann, der sein Hemd falsch herum trägt.«

»Ich möchte wissen, wer dir das alles erzählt hat!«

Lady Margolotta seufzte erneut. Mumm gewann den Eindruck, dass er bei einem weiteren Test versagt hatte. »Ich bin reich, Sir Samuel. Das trifft auf die meisten Vampire zu. Wusstest du das nicht? Ich bin sicher, dass Lord Vetinari Informationen für wertvoll hält. Oft können sie sogar noch wertvoller sein als Geld. Nun, was Geld betrifft… Es braucht nicht zu sprechen, nur zuzuhören.«

Die Vampirin schwieg, beobachtete Mumm und schien plötzlich beschlossen zu haben, nur noch zu lauschen. Ihr Blick bereitete Mumm Unbehagen.

»Wie geht es Lord Vetinari?«, fragte Lady Margolotta.

»Dem Patrizier? Oh… gut.«

»Inzwischen müsste er recht alt sein.«

»Ich war mir nie sicher, wie alt er eigentlich ist«, sagte Mumm. »Er dürfte in meinem Alter sein, schätze ich.«

Lady Margolotta stand abrupt auf. »Die Begegnung mit dir war sehr interessant, Sir Samuel. Ich hoffe, es geht Lady Sybil gut?«

»Äh, ja.«

»Gut. Freut mich sehr. Wir sehen uns bestimmt wieder. Igor wird dich nach draußen führen. Grüß den Baron von mir, wenn du ihn besuchst. Tätschel ihm von mir den Kopf.«

 

»Was sollte der ganze verdammte Unfug, Grinsi?«, fragte Mumm, als die Kutsche wieder losrollte.

»Welchen Unfug meinst du, Herr?«

»Praktisch das ganze Gespräch. Was sollte es die Zwerge in Ankh-Morpork kümmern, wenn jemand sagt, sie seien keine Zwerge? Sie wissen doch, dass sie Zwerge sind.«

»Sie unterlägen dann nicht mehr dem Zwergenrecht, Herr.«

»Ich wusste gar nicht, dass es für sie gilt.«

»Dabei geht es darum, wie… man sein Leben führt, Herr. Heiraten, Bestattungen, solche Dinge. Ehen wären nicht mehr rechtlich abgesichert. Alte Zwerge könnten nicht mehr daheim beerdigt werden. Und das wäre schrecklich. Alle Zwerge träumen davon, im Alter heimzukehren und sich ein kleines Bergwerk zuzulegen.«

»Alle Zwerge? Auch diejenigen, die in Ankh-Morpork geboren sind?«

»Heimat kann viel bedeuten, Herr«, sagte Grinsi. »Und es gäbe noch andere Probleme. Verträge wären nicht mehr rechtskräftig. Zwerge legen großen Wert auf gute, feste Regeln.«

»Wir haben Gesetze in Ankh-Morpork. Mehr oder weniger.«

»Unter sich ziehen Zwerge ihre eigenen vor, Herr.«

»Ich wette, den Zwergen von Kupferkopf würde so etwas ganz und gar nicht gefallen.«

»Das stimmt, Herr. Es käme zu einem Bruch. Und zu einem neuen Krieg.« Grinsi seufzte.

»Und warum beharrte Lady Margolotta auf der Sache mit dem Drink?«

»Ich weiß es nicht, Herr.«

»Ich mag keine Vampire. Hab sie nie gemocht und werde sie nie mögen.«

»Ja, Herr.«

»Hast du die Ratte gesehen?«

»Ja, Herr.«

»Ich glaube, Lady Margolotta hat sich über mich lustig gemacht.«

Die Kutsche rollte erneut durch die Straßen von Bums.

»Ein großer Krieg?«

»Wahrscheinlich schlimmer als der vor fünfzig Jahren«, sagte Grinsi.

»Ich wusste gar nicht, dass es vor fünfzig Jahren einen Zwergenkrieg gab«, erwiderte Mumm.

»Die meisten Menschen wissen nichts davon«, sagte Grinsi. »Er fand größtenteils unterirdisch statt. Stollen wurden unterhöhlt, Invasionstunnel gegraben und so weiter. Einige Häuser sind vielleicht in mysteriöse Löcher gestürzt, und manche Leute bekamen keine Kohle, aber damit hatte es sich auch schon.«

»Du meinst, Zwerge trachteten danach, die Bergwerke anderer Zwerge einstürzen zu lassen?«

»Ja.«

»Ich dachte, ihr seid sehr gesetzestreu.«

»Oh, ja, Herr. Wir sind sehr gesetzestreu, aber nicht sehr gnädig.«

Bei den Göttern, dachte Mumm, als die Kutsche über die Brücke in der Stadtmitte fuhr. Man hat mich nicht zu einer Krönung geschickt, sondern zu einem Krieg, der bald beginnt.

Er sah auf. Tantony beobachtete ihn aufmerksam, wandte jedoch rasch den Blick ab.

 

Lady Margolotta sah der Kutsche bis zum Stadttor nach. Sie wahrte einen gewissen Abstand zum Fenster. Der Himmel war bedeckt, aber manche Angewohnheiten hielten sich lange, vor allem dann, wenn sie dem Überleben dienten.

»Welch ein zorniger Mann, Igor.«

»Ja, Herrin.«

»Man sieht, wie sich der Ärger hinter dem Wall aus Geduld aufstaut. Ich frage mich, wie weit man ihn treiben kann.«

»Ich habe den Leichenwagen geholt, Herrin.«

»Oh, ist es schon so spät? Nun, dann sollten wir uns besser auf den Weg machen. Weißt du, alle sind so niedergeschlagen, wenn ich bei einem Treffen nicht zugegen bin.«

 

Das Schloss auf der anderen Seite des Tals wirkte mehr wie eine Festung, als Lady Margolottas Zuckerbäcker-Domizil, doch das Tor stand weit offen und schien nicht oft geschlossen zu werden.

Die Haupttür war groß und sehr massiv. Nur ein Detail verriet, dass sie nicht aus dem Standardkatalog für Schlösser stammte: In ihr gab es eine kleinere, schmalere, nicht einmal einen Meter hohe Tür.

»Was soll das denn?«, fragte Mumm. »Selbst ein Zwerg würde dort mit dem Kopf anstoßen.«

»Es kommt darauf an, welche Gestalt man hat, wenn man diesen Zugang passieren möchte«, erwiderte Grinsi finster.

Die große Tür öffnete sich in dem Augenblick, als Mumm den Klopfer berührte, der einem Wolfskopf nachempfunden war. Aber diesmal war er vorbereitet.

»Guten Morgen, Igor«, sagte er.

»Guten Tag, Euer Ekfellenf«, sagte Igor und verbeugte sich.

»Igor und Igor lassen dich grüßen, Igor.«

»Danke, Ekfellenf. Da wir gerade dabei find… Darf ich dir ein Paket für Igor mitgeben?«

»Meinst du den Igor in der Botschaft?«

»Ja, Herr, feinen Namen habe ich genannt«, erwiderte Igor geduldig. »Er hat mich gefragt, ob ich ihm mit einer Hand aufhelfen könnte.«

»In Ordnung, kein Problem.«

»Gut. Fie ift gut eingepackt, und daf Eif wird fie frisch halten. Bitte hier entlang. Der Herr fieht fich gerade um.«

Igor schlurfte in einen breiten Saal, in dem ein riesiger Kamin fast eine ganze Wand beanspruchte. Er verbeugte sich erneut und ging.

»Bedeuten seine Worte wirklich das, was ich befürchte?«, fragte Mumm. »Ich meine die Sache mit der Hand und dem Eis.«

»Es ist nicht so, wie du denkst, Herr«, antwortete Grinsi.

»Das hoffe ich. Meine Güte, sieh dir nur das verdammte Ding an!«

Eine große, rote Fahne hing von den Dachsparren herab. In der Mitte prangte ein schwarzer Wolfskopf mit einem Maul voller stilisierter Blitze.

»Ihre neue Flagge, glaube ich«, sagte Grinsi.

»Ich dachte, ihr Wappen zeigt eine doppelköpfige Fledermaus.«

»Vielleicht glaubten sie, die Zeit sei reif für eine Veränderung, Herr…«

»Ah, Euer Exzellenz! Hat Sybil dich nicht begleitet?«

Eine Frau hatte den Saal betreten. Sie sah wie eine ältere Version von Angua aus. Sie trug ein langes und weites grünes Gewand, sehr altmodisch nach den Maßstäben von Ankh-Morpork, obwohl manche Stile nie aus der Mode gerieten, die richtige Figur vorausgesetzt. Sie bürstete ihr Haar, als sie sich näherte.

»Äh, sie bleibt heute in der Botschaft. Wir hatten eine recht schwierige Reise. Du bist die Baronin Serafine von Überwald?«

»Und du bist Sam Mumm. Sybil hat mir viel über dich geschrieben. Der Baron kommt gleich. Wir waren auf der Jagd und haben dabei die Zeit vergessen.«

»Ich schätze, es ist viel Arbeit, sich um die Pferde kümmern zu müssen.«

Ein oder zwei Sekunden lächelte Serafine unsicher. »Ha. Ja«, sagte sie. »Igor kann dir einen Drink bringen, wenn du möchtest.«

»Nein, danke.«

Die Baronin nahm in einem der großen Polstersessel Platz. »Hast du den neuen König kennen gelernt, Euer Exzellenz?«

»Heute Morgen.«

»Ich glaube, er hat Probleme.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Mumm.

Serafine wirkte überrascht. »Ich dachte, das wüssten alle.«

»Nun, ich bin erst seit kurzer Zeit hier«, sagte Mumm. »Deshalb gehöre ich wahrscheinlich nicht zu ›alle‹.«

Zufrieden nahm er Serafines Verwirrung zur Kenntnis.

»Wir… haben gehört, es gäbe ein Problem«, sagte sie.

»Nun, ein neuer König, die Krönung muss organisiert werden… So etwas läuft nie ohne Schwierigkeiten ab«, sagte Mumm. Das ist also Diplomatie, dachte er. Man lügt, allerdings besseren Leuten gegenüber.

»Ja, natürlich.«

»Angua geht es gut«, sagte Mumm.

»Möchtest du bestimmt keinen Drink?«, fragte Serafine hastig und stand auf. »Ah, da kommt mein Mann…«

Der Baron kam wie eine Sturmbö herein, die mehrere Hunde erfasst hatte. Sie liefen voraus und sprangen dann um ihn herum.

»Hallo! Hallo!«, donnerte er.

Mumm sah sich einem enormen Mann gegenüber. Er war nicht dick, auch nicht groß wie ein Riese, aber alles an ihm schien um zehn Prozent über den üblichen Maßstab hinauszugehen. Er hatte kein Gesicht mit Bart, eher einen Bart mit den Überresten eines Gesichts, das sich in der schmalen Lücke zwischen Schnurrbart und Augenbrauen zeigte. Er näherte sich in einer Wolke aus springenden Körpern, Haaren und dem Geruch alter Teppiche.

Mumm hatte sich innerlich auf einen ziemlich festen Händedruck vorbereitet, doch als die Pranke zudrückte, musste er sich trotzdem noch sehr beherrschen, um keine schmerzerfüllte Grimasse zu schneiden.

»He, freut mich sehr, dass du gekommen bist! Hab viel von dir gehört!«

Aber nicht genug, dachte Mumm und fragte sich, ob er die Hand jemals wieder gebrauchen konnte. Sie blieb fest umklammert. Inzwischen waren die Hunde auf ihn aufmerksam geworden und beschnüffelten ihn.

»Hab den größten Respekt vor Ankh-Morpork«, sagte der Baron.

»Äh… gut«, erwiderte Mumm. Das Blut kam nicht weiter als bis zum Handgelenk.

»Nimm Platz!«, bellte der Baron. Das schien typisch für seine Ausdrucksweise zu sein: Er sprach in knappen, kurzen Sätzen, die alle mit einem Ausrufezeichen endeten.

Mumm wurde zu einem Stuhl geführt. Anschließend warf sich der Baron auf den großen Teppich und verschwand unter den aufgeregten Hunden.

Serafine gab ein Geräusch von sich, irgendwo angesiedelt zwischen einem Knurren und dem »Ts, ts« einer missbilligenden Ehefrau. Gehorsam schob der Baron die Hunde beiseite und sprang zu einem Sessel.

»Du musst uns so akzeptieren, wie wir sind«, sagte Serafine und lächelte allein mit dem Mund. »Dies war schon immer ein sehr ungezwungener Haushalt.«

»Ich finde es hier sehr gemütlich«, erwiderte Mumm unsicher und blickte sich in dem riesigen Raum um. Trophäen hingen an den Wänden, aber wenigstens waren keine Trollköpfe darunter. Waffen fehlten ebenfalls. Es gab keine Speere oder rostige Schwerter, nicht einmal einen zerbrochenen Bogen, was praktisch gegen das Gesetz für die angemessene Einrichtung eines Schlosses verstieß. Wieder sah er zur Wand, zur Schnitzerei über dem Kamin, senkte dann den Blick…

Einer der Hunde – und Mumm gebrauchte das Wort Hund nur deshalb, weil sie sich im Innern eines Gebäudes aufhielten, einem Ort, an dem man normalerweise keinem Wolf begegnete – beobachtete ihn. Nie zuvor hatte er einen so abschätzenden Blick bei einem Tier bemerkt. Das Geschöpf versuchte ganz offensichtlich, einen Eindruck von ihm zu gewinnen.

Helles blondes Haar bildete eine Art Mähne und wirkte irgendwie vertraut. Mumm glaubte, Ähnlichkeiten mit Angua zu erkennen, aber dieses Wesen war kräftiger gebaut. Und es gab noch einen anderen Unterschied, gleichzeitig klein und schrecklich bedeutungsvoll: Wie Angua vermittelte dieses Geschöpf den Eindruck von angehaltener Bewegung. Aber während Angua so aussah, als sei sie jederzeit zur Flucht bereit, erwartete man in diesem Fall einen Sprung nach vorn.

»Gefällt dir die Botschaft? Weißt du, sie gehörte uns, bevor wir sie verkauft haben, und zwar an Lord V…Ve…«

»Vetinari«, sagte Mumm und wandte widerstrebend den Blick von dem Wolf ab.

»Eure Gesandten haben natürlich viele Veränderungen vorgenommen«, fuhr die Baronin fort.

»Wir haben ihnen noch einige weitere hinzugefügt«, sagte Mumm und dachte dabei an die glänzenden Stellen auf der Vertäfelung, wo bis vor kurzer Zeit Jagdtrophäen gehangen hatten. »Sehr beeindruckend fand ich das Bad… Entschuldigung?«

Der Baron hatte fast gejault. Serafine musterte ihren Ehemann streng.

»Was für ein Glück, dass es dort Thermalquellen gibt«, sagte Mumm. Und auch dies war Diplomatie, dachte er, wenn man seinen Mund plappern ließ und dabei die Augen der Leute beobachtete. Es war die Art von Diplomatie, die auch Polizisten kannten. »Sybil interessiert sich für die Heilquellen von Bad Heißes Bad…«

Hinter ihm knurrte der Baron, und Ärger huschte über Serafines Gesicht.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Mumm unschuldig.

»Mein Mann fühlt sich derzeit nicht sehr wohl«, sagte Serafine in dem speziellen Tonfall von Ehefrauen, den Mumm gut kannte und der zum Ausdruck brachte: »Er glaubt, dass es ihm gerade ganz gut geht, aber warte ab, bis ich mit ihm allein bin.«

»Ich glaube, ich sollte euch nun mein Beglaubigungsschreiben übergeben«, sagte Mumm und holte den Brief hervor.

Serafine beugte sich rasch vor und griff danach. »Ich lese es«, meinte sie und lächelte zuckersüß. »Natürlich ist es nur eine Formalität. Alle haben von Kommandeur Mumm gehört. Nichts für ungut, aber als wir erfuhren, dass der Patrizier…«

»Lord Vetinari«, sagte Mumm und betonte dabei die erste Silbe. Prompt knurrte es hinter ihm.

»Ja, genau… Nun, wir waren ein wenig erstaunt, als er dich ankündigte. Wir hatten mit einem… erfahrenen Diplomaten gerechnet.«

»Oh, ich kann die kleinen Appetithäppchen ebenso gut herumreichen wie jeder andere«, sagte Mumm. »Und wenn ihr einen Haufen kleiner goldener Schokoladenkugeln möchtet, bin ich genau der richtige Mann.«

Erneut verrieten Serafines Züge Verwunderung. »Ich bitte um Verzeihung, Euer Exzellenz. Morporkianisch ist nicht meine Muttersprache, und vielleicht haben wir uns missverstanden. Stimmt es, dass du eigentlich Polizist bist?«

»Eigentlich ja«, bestätigte Mumm.

»Wir waren immer gegen eine Polizei in Bums«, sagte die Baronin. »Wir glauben, sie würde die Freiheit des Individuums zu sehr einschränken.«

»Nun, dieses Argument höre ich nicht zum ersten Mal«, sagte Mumm. »Es kommt natürlich ganz darauf an, ob es dabei um einen selbst geht oder um das Individuum, das mit dem Familiensilber im Sack aus dem Fenster des Badezimmers klettert.« Er bemerkte die Grimasse, die das vorletzte Wort bewirkte.

»Zum Glück war Sicherheit für uns nie ein Problem«, sagte Serafine.

»Das überrascht mich nicht«, entgegnete Mumm. »Ich meine, wenn man an all die Mauern und Tore und so denkt…«

»Ich hoffe, du bringst Sybil heute Abend zum Empfang mit. Aber ich sehe, dass wir dich aufhalten, und du hast bestimmt viel zu tun. Igor wird dich hinausführen.«

»Ja, Herrin«, erklang Igors Stimme in unmittelbarer Nähe.

Mumm spürte, wie sich der Strom des Zorns hinter den Deichen seines Geistes staute. »Ich werde Feldwebel Angua mitteilen, dass du nach ihr gefragt hast«, sagte er und stand auf.

»In der Tat«, erwiderte Serafine.

»Aber jetzt freue ich mich wirklich auf ein entspanntes Bad«, sagte Mumm und beobachtete voller Genugtuung, wie Baron und Baronin zusammenzuckten. »Ich wünsche euch einen guten Tag.«

Grinsi ging neben ihm durch den Flur.

»Sag kein Wort, bis wir draußen sind«, flüsterte Mumm.

»Herr?«

»Ich möchte nämlich nach draußen gelangen«, fügte Mumm hinzu.

Mehrere Hunde folgten ihnen. Sie knurrten nicht, fletschten auch nicht die Zähne, aber sie offenbarten mehr Zielstrebigkeit, als Mumm von normalen Leistenschnüfflern erwartete.

»Ich habe daf Paket in die Kutsche gelegt, Euer Ekfellenf«, sagte Igor, öffnete die Kutschentür und verneigte sich.

»Ich werde dafür sorgen, dass Igor es so schnell wie möglich bekommt«, versprach Mumm.

»O nein, nicht Igor, fondern Igor.«

»Oh, ja.«

Mumm sah aus dem Fenster, als die Pferde lostrabten. Der Wolf mit der goldenen Mähne war zur Treppe gekommen und sah ihnen nach.

Die Kutsche rollte aus dem Schloss, Mumm lehnte sich zurück und schloss die Augen. Grinsi war klug genug, weiterhin zu schweigen.

»Keine Waffen an den Wänden, hast du das bemerkt?«, fragte Mumm nach einer Weile. Seine Augen blieben geschlossen, und er schien ein inneres Bild zu betrachten. »In den meisten Schlössern hängen die Dinger praktisch überall.«

»Nun, in diesem Fall ist es ein Schloss von Werwölfen, Herr.«

»Spricht Angua jemals über ihre Eltern?«

»Nein, Herr.«

»Sie wollten nicht über ihre Tochter reden, das steht fest.« Mumm hob die Lider. »Zwerge«, fuhr er fort. »Mit Zwergen bin ich immer gut ausgekommen. Und Werwölfe… Nun, mit Werwölfen hatte ich nie Probleme. Warum also ist die einzige Person, die heute Morgen nicht versucht hat, mir eins auszuwischen, ein verdammter Blut saugender Vampir?«

»Ich weiß es nicht, Herr.«

»Der Kamin war ziemlich groß.«

»Werwölfe schlafen nachts gern vor einem Feuer«, sagte Grinsi.

»Auf einem Stuhl fühlte sich der Baron sicher nicht wohl, das konnte man deutlich sehen. Und wie lautete das Motto, das ins Holz über dem Kamin geschnitzt war? ›Homini…‹«

»›Homo Homini Lupus‹, Herr«, sagte Grinsi. »Das bedeutet: Jeder Mensch ist dem anderen Menschen ein Wolf.«

»Ha! Warum habe ich dich nicht befördert, Grinsi?«

»Weil es mich in Verlegenheit bringt, andere Leute anzuschreien, Herr. Ist dir die seltsame Sache mit den Trophäen an der Wand aufgefallen?«

Mumm schloss erneut die Augen. »Hirsch, Bären, eine Art Berglöwe… Was meinst du, Korporal?«

»Hast du darunter etwas bemerkt?«

»Mal sehen… Ich glaube, darunter war alles leer.«

»Ja, Herr. Abgesehen von drei Haken. Bei genauem Hinsehen konnte man sie erkennen.«

Mumm zögerte. »Meinst du drei Haken, die ebenfalls für Trophäen vorgesehen sein könnten?«, fragte er vorsichtig.

»Ja, Herr, solche Haken meine ich. Vielleicht wurden die Trophäen kurz vor unserer Ankunft abgenommen. Oder sie müssen erst noch aufgehängt werden.«

»Trollköpfe?«

»Wer weiß, Herr.«

Die Kutsche erreichte die Stadt.

»Grinsi, besitzt du noch das silberne Kettenhemd, das du früher hattest?«

»Äh, nein, Herr. Ich habe aufgehört, es zu tragen, weil es mir Angua gegenüber nicht richtig erschien, Herr. Warum fragst du?«

»Oh, es war nur so ein Gedanke. Bei den Göttern, ist das Igors Paket unter dem Sitz?«

»Ich glaube schon, Herr. Nun, Herr, ich weiß über die Igors Bescheid. Wenn das Paket wirklich eine Hand enthält, so kann ihr früherer Eigentümer nichts mehr damit anfangen, glaub mir.«

»Soll das heißen, er schneidet Toten irgendwelche Teile ab?«

»Das ist besser, als Lebenden etwas abzuschneiden, Herr.«

»Du weißt, was ich meine!«

»Herr, wenn einem ein Igor geholfen hat, so gilt es als lobenswert, im Testament zu erwähnen, dass er alle… Körperteile verwenden darf, die vielleicht jemand anders braucht. Igors bitten nie um Geld. Die Leute tragen einfach kleine Karten bei sich. Die Igors genießen in Überwald großen Respekt. Sie können gut mit Skalpell und Nadel umgehen. Es ist eine Art Berufung.«

»Aber überall an ihnen sieht man Narben und Nähte!«

»Sie tun anderen Leuten nichts an, was sie nicht zuvor an sich selbst ausprobiert haben.«

Mumm beschloss, den ganzen Schrecken dieser Angelegenheit zu erforschen. Es lenkte ihn von den fehlenden Trophäen ab. »Gibt es irgendwelche… Igorinas? Oder Igoretten?«

»Nun, jeder Igor gilt als gute Partie für eine junge Dame…«

»Tatsächlich?«

»Und ihre Töchter sind meistens sehr attraktiv.«

»Augen auf der gleichen Höhe und solche Dinge?«

»O ja.«

Als sich die Tür schließlich nach längerem ungeduldigen Klopfen öffnete, wurden nicht etwa die asymmetrischen Züge Igors sichtbar, sondern das Ende von Detritus’ Armbrust, das einen etwas schlimmeren Anblick bot.

»Wir sind’s, Feldwebel«, sagte Mumm.

Die Armbrust wurde beiseite genommen, und die Tür schwang weiter auf.

»Ich bedauere, Herr, aber du gesagt hast, ich soll wachsam sein«, ließ sich Detritus vernehmen.

»Deshalb brauchst du nicht…«

»Igor verletzt wurde, Herr.«

 

Igor saß in der großen Küche und trug einen Verband um den Kopf. Lady Sybil bemutterte ihn.

»Vor zwei Stunden sah ich nach ihm, und da lag er«, sagte sie und beugte sich etwas näher zu Sam Mumm herum. »Er erinnert sich nicht an sehr viel.«

»Weißt du noch, womit du beschäftigt gewesen bist, alter Knabe?«, fragte Mumm und setzte sich.

Igor bedachte ihn mit einem benommenen Blick. »Nun, Herr, ich ging nach draufen, um den Proviant auf der anderen Kutsche zu holen, und ich bekam etwaf zu faffen, und dann ging daf Licht auf, Herr. Vermutlich bin ich aufgerutscht.«

»Könnte dich jemand niedergeschlagen haben?«

Igor zuckte mit den Achseln, wodurch beide Schultern eine oder zwei Sekunden auf eine Höhe kamen.

»In und auf der Kutsche gibt es nichts, das sich zu stehlen lohnt!«, wandte Lady Sybil ein.

»Es sei denn, jemand war ganz versessen auf ein Hachsenbrötchen«, sagte Mumm. »Fehlt etwas?«

»Ich alles überprüft habe, anhand der Liste, die mir gab Lady Sybil«, meinte Detritus. »Nichts fehlt, Herr.«

»Ich sehe mir die Sache einmal selbst an«, sagte Mumm.

Sie gingen nach draußen, und Mumm trat zur Kutsche, betrachtete den Schnee in der Nähe. Hier und dort war das Kopfsteinpflaster zu erkennen. Nach einigen Sekunden blickte er zum Gitter empor.

»Na schön, Detritus«, sagte er. »Was hältst du davon?«

»Es nur so ein Gefühl ist, Herr«, grollte der Troll. »Ich natürlich ein Berg aus Dummheit bin…«

»Derzeit höchstens ein kleiner Hügel, Feldwebel.«

»Nun, ich nicht glaube, dass dies ist ein Zufall, der durch Zufall passiert.«

»Igor könnte aus der Kutsche gefallen sein, als er den Proviant holen wollte«, sagte Mumm.

»Und ich die Fee Klinkerglocke bin, Herr.«

Mumm war beeindruckt. Detritus offenbarte die Ergebnisse von Niedrigtemperaturdenken.

»Die Tür zur Straße offen ist«, sagte der Troll. »Ich glaube, Igor jemanden störte, der Dinge klauen wollte.«

»Aber du hast doch gesagt, dass nichts fehlt.«

»Vielleicht der Dieb es mit der Angst zu tun bekam, Herr.«

»Als er Igor sah? Könnte sein…«

Mumm betrachtete die Tüten und Kartons. Dann sah er genauer hin. Dinge waren hin und her gestoßen worden. Auf diese Weise packte man nichts aus – es sei denn, man suchte nach einem bestimmten Gegenstand und hatte es dabei sehr eilig. Warum sollte sich jemand solche Mühe geben, um Lebensmittel zu stehlen?

»Nichts fehlt…« Mumm rieb sich das Kinn. »Wer hat die Kutsche beladen, Detritus?«

»Weiß nicht, Herr. Ich glaube, Lady Sybil einfach bestellte viele Dinge.«

»Und außerdem hatten wir es recht eilig aufzubrechen…« Mumm unterbrach sich. Sie ließen es besser dabei. Zwar hatte er eine bestimmte Idee, aber es fehlten Beweise. Man konnte sagen: Es fehlte keiner der Gegenstände, die sich in der Kutsche befinden sollten, was bedeutete, dass etwas gestohlen worden war, dass sich nicht in der Kutsche hätte befinden sollen. Nein. Momentan war es nur etwas, das man im Gedächtnis behalten musste.

Sie betraten den Flur, und Mumms Blick fiel auf einen Kartenstapel neben der Tür.

»Viele Besucher gewesen sind hier«, sagte Detritus.

Mumm griff nach einigen Karten. Mehrere von ihnen hatten einen vergoldeten Rand.

»All die Diplomaten wollen, dass du trinkst etwas mit ihnen und vielleicht auch isst einen Happen Appetit«, sagte der Troll.

»Du meinst vermutlich Appetithäppchen«, murmelte Mumm und ging die Karten durch. »Hmm, Klatsch… Muntab… Gennua… Lancre… Lancre? Das ist ein Königreich, über das man hinwegspucken kann! Und es hat hier eine Botschaft?«

»Nein, Herr, eigentlich es nur hat einen Briefkasten.«

»Passen wir alle hinein?«

»Für die Krönung Lancre hat gemietet ein Haus.«

Mumm legte die Einladungskarten auf den Tisch zurück.

»Ich glaube, mit solchen Dingen werde ich nicht fertig«, sagte er. »Man kann nur eine bestimmte Menge Orangensaft trinken und sich keine unbegrenzte Anzahl schlechter Witze anhören. Wo steht der nächste Nachrichtenturm, Detritus?«

»Etwa fünfzehn Meilen mittwärts, Herr.«

»Ich möchte feststellen, was daheim vor sich geht. Ich glaube, heute Nachmittag gestatten sich Lady Sybil und meine Wenigkeit einen kleinen Ausritt. Das wird sie auf andere Gedanken bringen.«

Und dann dachte er: Anschließend warte ich bis Mitternacht.

Es war erst Mittag.

 

Mumm nahm Igor als Kutscher und Fremdenführer mit, außerdem den Wächter Tantony und den anderen Mann, der für ihn immer Colonesk sein würde. Schaumlöffel war noch nicht von seiner geheimen Mission zurückgekehrt, und Mumm wollte die Botschaft auf keinen Fall unbewacht zurücklassen.

Ein anderes Wort für »Diplomat«, so dachte Mumm, lautete »Spion«. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Regierung des Gastlandes wusste, wer man war. Es kam vermutlich darauf an, sie irgendwie zu überlisten.

Die Sonne schien warm, es wehte ein kalter Wind, und die Bergluft war so klar, dass man den Eindruck gewann, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um die nächsten Gipfel zu berühren. Außerhalb der Stadt schmiegten sich schneebedeckte Weinberge und Bauernhäuser an Hänge, die man in Ankh-Morpork als Wände bezeichnet hätte. Doch nach einer Weile drängte sich der Kiefernwald immer näher an die Straße. Hier und dort, in einer Kurve, konnte man weit unten den Fluss sehen.

Auf dem Kutschbock stöhnte Igor vor sich hin.

»Er hat mir gesagt, dass sich Igors schnell erholen«, meinte Lady Sybil.

»Vermutlich bleibt ihnen gar keine Wahl.«

»Herr Schaumlöffel bezeichnete sie als sehr geschickte Chirurgen, Sam.«

»Allerdings lässt ihr Talent im Fachbereich der kosmetischen Chirurgie zu wünschen übrig.«

Die Kutsche wurde langsamer.

»Kommst du oft hierher, Igor?«, fragte Mumm.

»Herr Müde lief fich ein Mal pro Woche fum Turm fahren, um die neueften Nachrichten abfuholen, Herr.«

»Es wäre doch alles viel einfacher, wenn es in Bums einen Nachrichtenturm gäbe.«

»Der Ftadtrat ift ftrikt dagegen, Herr.«

»Und du?«

»Ich vertrete eine fehr moderne Einftellung, Herr.«

Der Turm ragte ganz in der Nähe empor. Die ersten sechs Meter bestanden aus Stein und hatten schmale, vergitterte Fenster. Eine große Plattform diente als Basis für den eigentlichen Turm. Eine solche Anordnung war durchaus vernünftig. Einem Feind würde es sehr schwer fallen, ins Innere des steinernen Sockels zu gelangen oder den Turm in Brand zu setzen. Es gab genug Platz für Vorräte, um einer Belagerung standzuhalten. Außerdem mussten Angreifer damit rechnen, dass die Männer im Turm schon dreißig Sekunden nach dem Angriff einen Hilferuf übermittelten. Der Turmgesellschaft mangelte es weder an finanziellen Mitteln noch an Entschlossenheit. Wenn ein Turm ausfiel, so traf schon bald jemand ein, der Fragen stellte und auf Antworten bestand. Hier gab es kein Gesetz. Die von der Gesellschaft gesandten Fragesteller übermittelten eine klare Botschaft an die Welt: Nachrichtentürme durften auf keinen Fall angerührt werden.

Das sollte inzwischen allgemein bekannt sein. Umso erstaunlicher war es, dass sich die Signalarme des Turms nicht bewegten.

Mumm spürte, wie sich ihm die Nackenhaare aufrichteten. »Bleib in der Kutsche, Sybil«, sagte er.

»Stimmt was nicht?«

»Ich weiß es nicht genau«, erwiderte Mumm, obwohl er es genau wusste. Er stieg aus und nickte Igor zu.

»Ich sehe mich im Turm um«, sagte er. »Wenn es irgendwelche… Probleme gibt, bringst du Lady Sybil zur Botschaft zurück, klar?«

Mumm beugte sich durch die Tür und mied Sybils Blick, als er einen der Sitze anhob und das darunter versteckte Schwert hervorzog.

»Sam!«, sagte Lady Sybil vorwurfsvoll.

»Entschuldige, Schatz. Ich hielt es für besser, in solchen Situationen nicht mit leeren Händen dazustehen.«

Neben der Tür des Turms hing ein Klingelzug. Mumm zog daran und hörte weiter oben ein Klappern.

Als sonst nichts geschah, versuchte er, die Tür zu öffnen. Sie schwang auf.

»Hallo?«

Alles blieb still.

»Hier spricht die Wa…« Mumm beendete den Satz nicht. Die Wache spielte hier keine Rolle. Niemand scherte sich um die Dienstmarke. Er war nichts weiter als ein neugieriger Eindringling.

»Ist jemand da?«

In dem Raum stapelten sich Säcke, Kisten und Fässer. Eine Holztreppe führte zur nächsten Etage. Mumm ging die Stufen empor und erreichte einen Raum, der eine Mischung aus Schlafzimmer und Speisesaal darstellte. Nur zwei schmale Betten standen dort, die Decken zurückgeschlagen.

Ein Stuhl war umgekippt. Der Tisch war gedeckt; Messer und Gabel lagen ordentlich neben einem Teller. Auf dem Herd hatte etwas so lange gekocht, bis im Topf nur noch eine trockene Masse übrig geblieben war. Mumm öffnete die Klappe des Feuerraums, und ein Zischen erklang, gefolgt von einem dumpfen Pochen – die hereinströmende Luft ließ das fast erloschene Feuer wieder aufleben.

Oben klirrte Metall.

Mumm blickte zur Leiter, die oben an einer Falltür endete. Wer dort hindurchzuklettern versuchte, präsentierte seinen Kopf genau in der richtigen Höhe für eine Klinge oder einen Stiefel…

»Eine seltsame Sache, nicht wahr, Euer Gnaden?«, ertönte eine Stimme. »Du solltest besser nach oben kommen. Mmm, mmhm.«

»Inigo?«

»Es droht keine Gefahr. Nur ich bin hier. Mmm.«

»Und das bedeutet Sicherheit?«

Mumm kletterte die Leiter hoch. Inigo saß an einem Tisch und blätterte in Papieren.

»Wo sind die Nachrichtenübermittler?«

»Das, Euer Gnaden, ist eins der Geheimnisse, mmm, mmm«, erwiderte Inigo.

»Und die anderen wären?«

Inigo deutete zur Treppe, die noch weiter nach oben führte. »Sieh’s dir selbst an.«

Jemand hatte die Kontrollen der Signalarme zertrümmert. Latten und Drähte baumelten traurig aus einem komplexen Gerüst.

»Die Reparatur dürfte einige Stunden dauern, wenn sich geschickte Leute an die Arbeit machen«, sagte Inigo, als Mumm zurückkehrte.

»Was ist hier passiert?«

»Ich schätze, die hier stationierten Männer wurden durch irgendetwas gezwungen, den Turm zu verlassen, mmph, mmhm. Und zwar in aller Eile.«

»Aber es ist ein befestigter Nachrichtenturm!«

»Und? Irgendwann müssen ihn die Männer verlassen, um Feuerzeug zu holen. Oh, die Turmgesellschaft hat Vorschriften, und sie bringt drei junge Männer für Wochen in einem fernen Turm unter und erwartet, dass alles wie am Schnürchen klappt. Siehst du die Falltür, durch die man zu den Kontrollen gelangt? Sie sollte ständig geschlossen sein. Nun, du, Euer Gnaden, und auch ich… wir sind…«

»Mistkerle?«, fragte Mumm.

»Nun, ja… mmm… Wir hätten ein System entwickelt, das die Bedienung der Signalarme bei geöffneter Falltür verhindert, nicht wahr?«

»Etwas in der Art, ja.«

»Und wir hätten in den Vorschriften darauf hingewiesen, dass dem nächsten Turm ganz automatisch eine Nachricht übermittelt wird, sobald ein Fremder hereinkommt.«

»Das wäre ein guter Anfang.«

»Ich schätze, die hier stationierten Jungs hießen jeden harmlos aussehenden Fremden willkommen, der mit frischem Apfelkuchen zu ihnen kam.« Inigo seufzte. »Sie arbeiten in einem Turnus von jeweils zwei Monaten. Und hier sieht man nichts weiter als Bäume, mmm.«

»Kein Blut und kaum Anzeichen eines Kampfes«, sagte Mumm. »Hast du draußen nachgesehen?«

»Es müsste ein Pferd im Stall sein, aber es ist weg. Der Boden besteht hier zum größten Teil aus Felsgestein. Es gibt Wolfsspuren, aber die kann man praktisch überall finden. Und der Wind hat den Schnee verweht. Die Männer sind… fort, Euer Gnaden.«

»Bist du sicher, dass sie jemanden durch die Tür hereingelassen haben?«, fragte Mumm. »Wer imstande ist, auf der Plattform zu landen, könnte innerhalb weniger Sekunden durch eins der Fenster in den Turm gelangen.«

»Ein Vampir, mmm?«

»Das ist eine Möglichkeit.«

»Nirgends ist Blut zu sehen…«

»Es wäre eine Schande, gutes Blut zu vergeuden«, sagte Mumm. »Denk nur an die armen, hungernden Kinder in Muntab. Was ist das

Er zog eine Kiste unter einem Bett hervor. Sie enthielt mehrere Rohre, jedes etwa dreißig Zentimeter lang und an einem Ende offen.

»›Dachs & Normal, Ankh-Morpork‹«, las er. »›Mörserfeuer (Rot). Zündschnur verwenden. Nicht in den Mund nehmen.‹ Das ist ein Feuerwerkskörper, Herr Schaumlöffel. Ich habe sie auf Schiffen gesehen.«

»Davon habe ich irgendwo gelesen…« Inigo blätterte in einem Buch. »Die Nachrichtenübermittler können ein Notsignal geben, wenn es ein großes Problem gibt. Ja, hier steht’s. Der Turm, der Ankh-Morpork am nächsten ist, wird einige Männer losschicken, und eine größere Gruppe kommt von einem Depot in der Ebene. Die Gesellschaft nimmt einen ausgefallenen Nachrichtenturm sehr ernst.«

»Natürlich, weil sie dadurch Geld verliert«, sagte Mumm und blickte in den Mörser. »Wir müssen diesen Turm wieder funktionsfähig machen, Inigo. Es gefällt mir ganz und gar nicht, hier festzusitzen, ohne Nachrichten empfangen oder senden zu können.«

»Die Straßen sind noch nicht zu schlecht. Die Leute könnten morgen Abend hier sein. Ich glaube, das solltest du besser lassen, Herr!«

Mumm hatte den Mörser aus dem Rohr gezogen und bedachte Inigo mit einem fragenden Blick.

»Die Dinger gehen erst los, wenn man die Ladung am hinteren Teil zündet«, sagte er. »Sie sind ungefährlich. Und man kann nicht ordentlich mit ihnen zielen. Außerdem bestehen sie ohnehin nur aus Pappe. Komm, wir bringen das Ding aufs Dach.«

»Damit sollten wir warten, bis es dunkel wird, Euer Gnaden, mmm. Dann sehen zwei oder drei Türme auf jeder Seite das Signal, nicht nur der nächste.«

»Aber wenn die nächsten Türme Ausschau halten…«

»Wir wissen nicht, ob es dort jemanden gibt, der Ausschau halten kann, Herr. Vielleicht hat sich das, was hier geschehen ist, auch woanders zugetragen. Mm?«

»Lieber Himmel! Du denkst doch nicht etwa…«

»Nein, Herr, ich denke nicht, ich bin nur ein Sekretär. Ich berate andere Personen, mmm, mmph. Dann denken sie. Mein Rat ist: Ein oder zwei Stunden schaden sicher nicht, Herr. Ich rate dir, sofort mit Lady Sybil nach Bums zu fahren, Herr. Wenn es dunkel ist, gebe ich ein Leuchtsignal und kehre dann zurück.«

»Augenblick mal, ich bin Kommandeur der…«

»Nicht hier, Euer Gnaden. Erinnerst du dich? Hier bist du nur ein Zivilist im Weg, mmhm, mmm. Mir droht keine Gefahr…«

»Das dachten sicher auch die hier stationierten Nachrichtenübermittler.«

»Sie waren nicht ich, mmhm, mmhm. Um Lady Sybils willen, Euer Gnaden: Ich rate dir, diesen Ort jetzt zu verlassen.«

Mumm zögerte und verabscheute die Tatsache, dass Inigo nicht nur Recht hatte, sondern trotz seiner angeblichen Gedankenlosigkeit das Denken für ihn erledigte. Meine Güte, fuhr es ihm durch den Sinn. Ich wollte eigentlich nur eine kleine Ausflugsfahrt mit meiner Frau unternehmen.

»Na schön. Nur noch eine Sache. Warum bist du hier?«

»Als man Müde zum letzten Mal lebend gesehen hat, war er mit einer Nachricht hierher unterwegs.«

»Ah. Gehe ich recht in der Annahme, dass Herr Müde nicht unbedingt zu den Diplomaten gehörte, die sich darauf beschränkten, Gurkenbrote herumzureichen?«

Inigo lächelte dünn. »Das stimmt, Herr. Er gehörte zur… anderen Sorte. Mmm.«

»Zu deiner.«

»Mmm. Geh jetzt, Euer Gnaden. Bald wird es dunkel. Mmm, mmm.«

 

Korporal Nobbs, Präsident und Gründer der Wächtergilde, beobachtete seine Truppe.

»Na schön, noch einmal«, sagte er. »Was wollen wir?«

Die Streikversammlung dauerte schon eine Weile. Sie fand in einer Taverne statt. Die Wächter waren bereits ein wenig vergesslich geworden.

Obergefreiter Ping hob die Hand. »Äh… einen ordentlichen Beschwerdeweg, ein Beschwerdekomitee, ein ganz neues Beförderungsverfahren… äh…«

»… besseres Geschirr in der Kantine«, fügte jemand hinzu.

»… Schutz vor unberechtigten Vorwürfen in Sachen Zuckerdiebstahl…«, sagte jemand anders.

»… nicht mehr als sieben Tage hintereinander Nachtschicht…«

»… mehr Stiefelgeld…«

»… mindestens drei Nachmittage im Jahr frei, um bei der Beerdigung von Großmüttern zugegen zu sein…«

»… nicht mehr für das eigene Taubenfutter bezahlen müssen…«

»… noch ein Bier.« Diese letzte Forderung stieß auf allgemeine Zustimmung.

Obergefreiter Schuh stand auf. In seiner Freizeit organisierte er noch immer die Kampagne für die Rechte der Toten, daher kannte er sich mit solchen Dingen aus.

»Nein, nein, nein, nein, nein«, sagte er. »Es muss viel einfacher sein und mehr Schwung haben. Und einen Rhythmus. Zum Beispiel: ›Was wollen wir? Dummdi, dummdi. Wann wollen wir es? Sofort!‹ Versteht ihr? Wir müssen eine einfache Forderung stellen. Versuchen wir’s noch einmal. Was wollen wir?«

Die Wächter wechselten verlegene Blicke. Keiner von ihnen wollte der Erste sein.

»Noch ein Bier?«, fragte jemand.

»Ja!«, erklang weiter hinten eine Stimme. »Und wann wollen wir es? SOFORT!«

»Nun, das scheint geklappt zu haben«, sagte Nobby, als sich die Wächter an der Theke zusammendrängten. »Was brauchen wir sonst noch, Reg?«

»Schilder für die Streikposten«, antwortete Obergefreiter Schuh.

»Wir müssen Streikposten aufstellen?«

»Ja.«

»In dem Fall benötigen wir auch eine große Metalltonne, in der wir irgendwelchen Kram verbrennen.«

»Warum?«, fragte Reg.

»Es gehört einfach dazu, an einer Tonne zu stehen und sich die Hände zu wärmen«, erklärte Nobby. »Dadurch wissen die Leute, dass wir Streikposten sind und keine Penner.«

»Aber wir sind Penner, Nobby. Ich meine, die Leute halten uns dafür.«

»Na schön, aber dann können wir es wenigstens warm haben.«

 

Die Sonne stand einen Finger breit über dem Rand, als Mumms Kutsche vom Nachrichtenturm fortrollte. Igor trieb die Pferde an. Mumm blickte aus dem Fenster, sah nur etwa einen Meter entfernt den Straßenrand und in einer Tiefe von fast hundert Metern den Fluss.

»Warum so schnell?«, rief er.

»Wir müffen bei Fonnenuntergang zu Haufe fein!«, erwiderte Igor. »Fo verlangt ef die Tradition

Die große rote Sonne glitt durch ein Wolkengitter.

»Ach, lass ihn, Schatz, wenn es dem armen Kerl Freude bereitet«, sagte Lady Sybil und schloss das Fenster. »Und nun, Sam… Was ist im Turm geschehen?«

»Ich möchte dich nicht beunruhigen, Sybil.«

»Mit diesem Hinweis hast du gerade noch mehr Sorge in mir geweckt, und deshalb solltest du mir alles sagen.«

Mumm gab nach und schilderte ihr, was er wusste. Viel war es nicht.

»Jemand hat die Nachrichtenübermittler getötet?«

»Es lässt sich nicht ausschließen.«

»Die gleichen Leute, die uns in der Schlucht angegriffen haben?«

»Das glaube ich nicht.«

»Dies ist nicht gerade ein Urlaub, Sam.«

»Mich nervt vor allem, dass ich nichts unternehmen kann«, sagte Mumm. »In Ankh-Morpork könnte ich Spuren nachgehen, bestimmte Leute befragen. Dort hätte ich eine Art Karte. Doch hier… Ich habe das Gefühl, dass jeder etwas vor mir verbirgt. Der neue König hält mich für einen Narren, und die Werwölfe behandeln mich wie etwas, das die Katze hereingetragen hat. Die einzige Person, die sich mir gegenüber einigermaßen korrekt verhalten hat, war ein Vampir!«

»Keine Katze«, meinte Sybil.

»Wie bitte?«, fragte Mumm verwirrt.

»Werwölfe hassen Katzen«, sagte Sybil. »Daran erinnere ich mich ganz deutlich. Nein, sie sind keine Katzenliebhaber.«

»Ha. Dafür mögen sie Hunde umso lieber. Außerdem verabscheuen sie Worte wie Bad oder Veterinär. Wenn ich dem Baron einen Stock zugeworfen hätte, wäre er vermutlich aufgesprungen, um danach zu schnappen…«

»Ich glaube, ich sollte dir von den Teppichen erzählen«, sagte Sybil, als die Kutsche um eine Ecke schwankte.

»Was, ist er nicht stubenrein?«

»Ich meine die Teppiche in der Botschaft. Du weißt doch, dass ich Maß nehmen wollte. Nun, im ersten Stock stimmt mit den Maßen was nicht…«

»Ich möchte nicht ungeduldig erscheinen, Schatz, aber hältst du dies für den geeigneten Zeitpunkt, um über Teppiche zu sprechen?«

»Sam?«

»Ja, Schatz?«

»Hör auf, wie ein Ehemann zu denken. Und fang an, wie ein… Polizist zuzuhören.«

 

Mumm betrat die Botschaft und rief Detritus und Grinsi zu sich. »Ihr zwei begleitet uns heute Abend zum Ball«, sagte er. »Da geht’s piekfein zu. Hast du etwas anzuziehen, Feldwebel, abgesehen von deiner Uniform?«

»Nein, Herr.«

»Na schön. Wende dich an Igor. Kann bestens mit einer Nadel umgehen, der Bursche. Was ist mit dir, Grinsi?«

»Ich, äh, habe ein Kleid«, sagte Grinsi und blickte schüchtern zu Boden.

»Tatsächlich?«

»Ja, Herr.«

»Oh. Nun. Gut. Außerdem seid ihr beide ab sofort offizielle Mitarbeiter der Botschaft. Grinsi, du bist… du bist Militärattaché.«

»Oh«, sagte Detritus enttäuscht.

»Und du bist ab sofort Kulturattaché, Detritus.«

Die Miene des Trolls erhellte sich beträchtlich. »Das du nicht bedauern wirst, Herr!«

»Da bin ich sicher«, sagte Mumm. »Bitte komm jetzt mit mir.«

»Es geht um eine kulturelle Angelegenheit, Herr?«

»Im weitesten Sinne. Vielleicht.«

Mumm führte den Troll und Sybil die Treppe hinauf und ins Büro, wo er vor einer Wand stehen blieb.

»Diese?«, fragte er.

»Ja«, bestätigte seine Frau. »Man bemerkt nichts, solange man die Räume nicht ausmisst. Hier ist die Wand außergewöhnlich dick…«

Mumm tastete über die Vertäfelung und suchte nach einer Stelle, die »Klick« machte. Schließlich trat er zurück.

»Gib mir deine Armbrust, Feldwebel.«

»Hier du sie hast, Herr.«

Mumm taumelte unter dem Gewicht, schaffte es jedoch, auf die Wand zu zielen.

»Hältst du das für klug, Sam?«, fragte Sybil.

Mumm trat noch etwas weiter zurück, um besser anlegen zu können, und eine Diele bewegte sich unter seinem Absatz. Vor ihm schwang eine Holztafel aus der Wand.

»Du sie erschreckt hast, Herr«, sagte Detritus loyal.

Mumm gab ihm die Armbrust vorsichtig zurück und versuchte den Eindruck zu erwecken, als wäre das alles geplant gewesen.

Er hatte einen Geheimgang erwartet, doch stattdessen sah er ein kleines Arbeitszimmer. In Regalen standen Gläser mit Aufschriften wie »Neue Talgader, Bereich 21« und »Fett vom Typ A, im Großen Loch«. Daneben lagen Gesteinsproben mit Pappschildchen, deren Aufschrift zum Beispiel »Ebene 3, Schacht 9, Doppelhack-Mine« lautete.

Mehrere Schubladen enthielten Schminke und eine Auswahl an Schnurrbärten.

Mumm griff sprachlos nach einem Notizbuch und öffnete es. Auf den ersten Seiten erkannte er eine mit Bleistift gezeichnete Karte von Bums; rote Linien führten hindurch.

»Meine Güte, seht euch das an«, hauchte er und blätterte. »Karten. Zeichnungen. Über mehrere Seiten werden Fettvorkommen bewertet. Hier steht: ›Die neuen Talgvorkommen erschienen zunächst sehr viel versprechend, weisen jedoch hohe Anteile an PKB auf und werden bald erschöpft sein.‹ Und hier steht: ›Im Chaos nach dem Verschwinden der Steinsemmel ist ganz offensichtlich ein Werwolfputsch geplant… K. meldet, dass viele jüngere Werwölfe W unterstützen, der die Spielregeln verändert hat…‹ Dies alles ist… Spionage. Ich habe mich immer gefragt, warum Vetinari so gut Bescheid weiß.«

»Glaubst du vielleicht, er hat sein Wissen aus Träumen, Schatz?«

»Aber hier wimmelt’s von Details! Hinweise auf Personen, jede Menge Zahlen über Schürfmengen, politische Gerüchte… Ich wusste gar nicht, dass wir solche Mittel einsetzen!«

»Du greifst ständig auf die Hilfe von Spionen zurück, mein Lieber«, sagte Sybil.

»Nein, nie!«

»Und was ist mit Leuten wie dem Stinkenden Alten Ron, Nirgends José und dem Gebeugten Michael?«

»Von Spionage kann da überhaupt keine Rede sein! Das ist nur Informationsgewinnung. Wir könnten unserer Aufgabe nicht gerecht werden, wenn wir nicht wüssten, was auf der Straße passiert!«

»Nun, vielleicht denkt Havelock in Begriffen einer… größeren Straße.«

»Hier gibt es noch viel mehr von diesem Mist. Sieh nur. Skizzen, weitere Erzproben… Meine Güte, was ist das denn?«

Mumm meinte ein längliches Objekt, etwa so groß wie ein Päckchen Zigaretten. Ein Ende war mit einem runden Glas versehen, und zwei Hebel ragten aus der Seite.

Mumm zog einen der Hebel. Eine winzige Luke öffnete sich, und der kleinste Kopf, den er jemals sprechen gehört hatte, fragte: »Ja?«

»Ich das kenne!«, sagte Detritus. »Das ist ein Nanokobold! Kosten über hundert Dollar pro Stück! Sind wirklich klein

»Seit vierzehn Tagen hat mich niemand gefüttert, verdammt!«, quiekte der Kobold.

»Ein Ikonograph, der klein genug ist, um in eine Tasche zu passen«, sagte Mumm. »Ein Instrument für die Spionage, ebenso schlimm wie Inigos Ein-Schuss-Armbrust. Und seht nur…«

Eine Treppe führte in die Tiefe. Mumm trat vorsichtig über die Stufen und öffnete unten eine kleine Tür.

Feuchte Hitze schlug ihm entgegen.

»Bitte reich mir eine Kerze, Schatz«, sagte er. In ihrem Licht sah er einen langen, nassen Tunnel. Verkrustete Rohre reichten über die gegenüberliegende Wand, und Dampf entwich an allen Verbindungsstellen.

»Eine Möglichkeit, zu kommen und zu gehen, ohne von jemandem bemerkt zu werden«, sagte Mumm. »Wie schmutzig die Welt ist, in der wir leben…«

 

Eine dichte Wolkendecke hatte sich gebildet, und der Wind trieb dichte Schneeflocken um den Turm, als Inigo den roten Mörser auf der Plattform unter den großen Signalarmen positionierte.

Er zündete einige Streichhölzer an, aber der Wind blies sie aus, bevor er schützend die Hand um die kleine Flamme wölben konnte.

»Verdammt. Mhm, mmm.«

Er glitt die Leiter hinunter und kehrte ins warme Innere des Turms zurück. Ich sollte die Nacht besser hier verbringen, dachte er, während er in Schubladen kramte. Die Nacht hielt kaum Schrecken für ihn bereit, aber das derzeitige Unwetter brachte viel Schnee, und dadurch konnten die Straßen schon bald gefährlich werden.

Schließlich hatte er eine Idee, öffnete die Klappe des Ofens und holte mit der Zange einen schwelenden Scheit hervor.

Flammen züngelten, als das Holz oben auf dem Turm vom Wind erfasst wurde. Inigo hielt den brennenden Scheit an die Lunte des Mörsers.

Das Ding ging mit einem »Phut« los, das sich im Heulen des Winds verlor. Die eigentliche Leuchtrakete raste empor, blieb jedoch im Schneetreiben verborgen. Nach einigen Sekunden explodierte sie in einer Höhe von dreißig oder vierzig Metern, und ein kurzlebiger roter Schein fiel auf den Wald.

Inigo war gerade in den Raum zurückgekehrt, als unten jemand an die Tür klopfte.

Er zögerte. Auf dieser Etage gab es ein Fenster und eine Luke. Die Konstrukteure des Turms hatten es für eine gute Idee gehalten, nach unten sehen und feststellen zu können, wer anklopfte.

Inigo sah niemanden.

Als er wieder ins Zimmer kletterte, klopfte es erneut.

Er hatte die Tür hinter Mumm nicht verriegelt, doch jetzt war es zu spät, das zu bedauern. Wie dem auch sei: Inigo Schaumlöffel hatte eine Ausbildung hinter sich, neben der die Schule des Überlebens wie ein Sandkasten anmutete.

Er zündete eine Kerze an und schlich die Leiter hinunter. Schatten tanzten zwischen den Proviantstapeln.

Inigo setzte die Kerze auf einer Kiste ab, holte die Ein-Schuss-Armbrust hervor und spannte sie nicht ohne Mühe an der Wand. Dann bewegte er den Arm und spürte, wie der kleine Dolch in die richtige Position rutschte.

Er schlug die Hacken auf bestimmte Weise gegeneinander und fühlte, wie vorne Klingen aus den Stiefeln klappten.

Dann setzte er sich und wartete.

Hinter ihm blies jemand die Kerze aus.

Als er sich umdrehte, der Armbrustbolzen in der Dunkelheit verschwand und der Dolch nur durch leere Luft schnitt, dachte Inigo daran, dass man von beiden Seiten an eine Tür klopfen konnte.

Sie waren wirklich sehr schlau…

»Mhm, m…«

 

Grinsi drehte eine Pirouette. Sie versuchte es jedenfalls. Solche Bewegungen fielen Zwergen nicht leicht.

»Du siehst sehr… hübsch aus«, sagte Lady Sybil. »Das Kleid reicht sogar bis zum Boden. Bestimmt hat niemand Anlass, sich zu beschweren.«

Es sei denn, jemand hat auch nur ein wenig Ahnung von Mode, dachte sie. Das Problem bestand darin, dass die… Lady Sybil bezeichnete sie in Gedanken als neue Zwergenfrauen… sich noch nicht auf einen bestimmten Look geeinigt hatten.

Lady Sybil trug für gewöhnlich hellblaue Ballgewänder, eine Farbe, die von vielen Frauen gewählt wurde, die ein bestimmtes Alter und einen gewissen Umfang erreicht hatten – sie vereinte das Maximum an ruhigem Stil mit einem Minimum an Auffälligkeit. Doch Zwergenmädchen hatten offenbar von Pailletten erfahren und schienen sich bei der Überwindung einer jahrtausendelangen unterirdischen Tradition nicht mit Twinsets und Perlenketten aufhalten zu wollen.

»Und Rot ist gut«, sagte Lady Sybil ganz offen. »Ja, Rot ist eine sehr hübsche Farbe. Es ist ein hübsches rotes Kleid. Und dann die Federn. Äh. Und die Handtasche für deine Axt… äh.«

»Glitzert sie nicht genug?«, fragte Grinsi.

»Nein! Nein… Wenn ich meine Axt zu einem diplomatischen Empfang mitnehmen wollte, so würde ich ebenfalls dafür sorgen, dass sie glitzert. Äh. Es ist natürlich eine ziemlich große Axt«, fügte sie unsicher hinzu.

»Meinst du, eine kleinere wäre besser? Für den Abend?«

»Ja, ich denke schon.«

»Vielleicht mit einigen Rubinen im Griff?«

»Ja«, sagte Lady Sybil verzagt. »Warum nicht?«

»Was ist mit mir, Euer Ladyschaft?«, fragte Detritus.

Igor hatte sich der Lage gewachsen gezeigt und bei einigen alten Anzügen jene wegbereitenden chirurgischen Techniken eingesetzt, die er auch bei unglücklichen Holzfällern und anderen Leuten anwandte, die einer Bandsäge zu nahe gekommen waren. Er hatte nur neunzig Minuten gebraucht, um etwas zu konstruieren, das Detritus umhüllte. Es war eindeutig ein Abendanzug – bei Tageslicht kam man damit nicht durch. Der Troll sah aus wie eine Mauer mit Fliege.

»Wie fühlt es sich an?«, fragte Lady Sybil und ging auf Nummer sicher.

»Es ein wenig eng ist an… Wie dieses Teil heißt?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Lady Sybil.

»Dadurch ich humpeln muss ein wenig«, sagte Detritus. »Aber ich mich fühle sehr diplomatisch.«

»Die Armbrust solltest du hier lassen«, sagte Lady Sybil.

»Sie ihre Axt mitnehmen darf«, erwiderte Detritus vorwurfsvoll.

»Zwergenäxte sind als kulturelle Waffen akzeptiert«, erklärte Lady Sybil. »Die hiesige Etikette kenne ich zwar nicht, aber ich denke, dass man dir eine Keule zugesteht.« Es wird bestimmt niemand versuchen, sie ihm wegzunehmen, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Die Armbrust nicht kulturell genug ist?«

»Ich fürchte nein.«

»Ich Glitzerstaub auf sie streuen könnte.«

»Aber vermutlich nicht genug… Oh, Sam…«

»Ja, Schatz?«, fragte Mumm und kam die Treppe herunter.

»Du trägst die Paradeuniform der Wache! Was ist mit deiner herzoglichen Gala?«

»Kann sie nirgends finden«, entgegnete Mumm unschuldig. »Wahrscheinlich ist die betreffende Tasche auf dem Pass von der Kutsche gefallen. Nun, ich habe einen Helm mit Federn, und Igor hat den Brustharnisch so lange geputzt, bis er sein Spiegelbild sehen konnte, aus welchem Grund auch immer.« Er zitterte innerlich, als er Sybils Gesichtsausdruck sah. »Herzog ist ein militärischer Begriff, Schatz. Es käme einem Soldaten nie in den Sinn, mit einer Strumpfhose in den Krieg zu ziehen.«

»Ich finde das sehr verdächtig, Sam.«

»Detritus kann meine Aussagen bestätigen«, sagte Mumm.

»Das stimmt, Herr«, grollte der Troll. »Du extra darauf hingewiesen hast, das zu sagen…«

»Wir sollten jetzt besser aufbr… Lieber Himmel, ist das Grinsi?«

»Ja, Herr«, ließ sich Grinsi nervös vernehmen.

Nun, dachte Mumm, sie stammt aus einer Familie, deren Angehörige in seltsamer Kleidung losziehen, um sich weit von der Sonne entfernt Explosionen auszusetzen.

»Sehr hübsch«, sagte er.

 

Lampen brannten überall in dem Tunnel, der zu einem Ort führte, den Mumm insgeheim als »Keller von Bums« bezeichnete – er wagte es nicht, die Worte in der anderen Reihenfolge aneinander zu fügen. Die Zwergenwächter ließen sie sofort passieren, als sie das Wappen von Ankh-Morpork sahen. Ihre Kollegen am großen Aufzug waren sich nicht so sicher, aber Mumm hatte durch die Beobachtung Lady Sybils viel gelernt. Bei ihr steckte keine Absicht dahinter. Sie war vielmehr in einer Klasse geboren, die sich immer auf diese Weise verhielt: Sie schritt so durch die Welt, als bestünde nicht einmal die Möglichkeit, dass jemand sie anhalten und Fragen stellen würde. Und die meiste Zeit über blieben Zwischenfälle dieser Art tatsächlich aus.

Es befanden sich noch andere Personen im Aufzug, als dieser in die Tiefe rasselte. Die meisten waren Diplomaten, die Mumm nicht kannte, aber es waren auch einige Zwerge darunter. In einem von Seilen abgetrennten Bereich spielten sie unangenehm klingende Musik, die sich während der endlosen Fahrt nach unten durch Mumms Kopf zu fressen schien.

Als sich die Tür schließlich öffnete, hörte er, wie Sybil nach Luft schnappte.

»Du hast doch gesagt, hier unten sähe es aus wie in einer Nacht mit vielen Sternen, Sam!«

»Äh, offenbar hat man hier den Docht hoch gedreht…«

Tausende von Kerzen brannten in Halterungen an den Wänden der riesigen Höhle, doch es waren die Kronleuchter, die sofort in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten. Es gab viele davon, und jeder einzelne hatte eine Höhe von mindestens vier Stockwerken. Mumm war immer darauf aus, die Drähte hinter dem Rauch und den Spiegeln zu erkennen, deshalb bemerkte er die Zwerge in den Gerüsten und Körben mit neuen Kerzen, die durch Öffnungen in der Decke herabgelassen wurden. Wenn der Fünfte Elefant mehr war als nur ein Mythos, so wurde an diesem Abend eine ganze Zehe verbrannt.

»Euer Gnaden!« Dee näherte sich durch die Menge.

»Ideenschmecker«, begrüßte Mumm den Zwerg. »Ich möchte dir die Herzogin von Ankh vorstellen… Lady Sybil.«

»Oh… äh… ja… natürlich… freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen«, murmelte Dee, überrascht von der Charmeoffensive. »Aber, äh…«

Sybil hatte den Hinweis verstanden. Mumm verabscheute das Wort »Herzogin« und benutzte es nur, wenn er jemandem eine Lektion erteilen wollte. Sie wandte sich an Dee und überschwemmte ihn geradezu mit Herzoglichkeit.

»Herr Dee, Sam hat mir so viel von dir erzählt!«, trillerte sie. »Du bist die rechte Hand des Königs, nicht wahr? Ein wichtiger Posten für einen wichtigen Mann…«

»… Zwerg…«, flüsterte Mumm.

»… für einen wichtigen Zwerg! Bitte, du musst mir erzählen, wie ihr hier so entzückend viel Licht schaffen konntet!«

»Äh, mit vielen Kerzen«, brummte Dee und starrte zu Mumm empor.

»Ich glaube, Dee möchte einige politische Angelegenheiten mit mir besprechen, Schatz«, sagte Mumm glatt und legte dem Zwerg die Hand auf die Schulter. »Lass dich mit den anderen nach unten führen, ich komme gleich nach.« Er wusste, dass keine Macht in der Welt Sybil daran hindern konnte, zum Empfang zu rauschen. Sie wusste, worauf es beim richtigen Rauschen ankam. Hinter ihr blieben die Dinge für einige Zeit berauscht.

»Du hast einen Troll mitgebracht!«, zischte Dee. »Einen Troll

»Und er ist ein Bürger von Ankh-Morpork, das solltest du nicht vergessen«, sagte Mumm. »Und er genießt diplomatische Immunität, trotz seiner gegenwärtigen Aufmachung.«

»Aber…«

»In diesem Punkt gibt es kein ›Aber‹«, sagte Mumm.

»Zwischen den Trollen und uns herrscht Krieg

»Darum geht es doch bei der Diplomatie, oder?«, erkundigte sich Mumm. »Man versucht, einen Krieg zu beenden. Außerdem dauert der Krieg schon seit fünfhundert Jahren, was bedeutet, dass sich keine Seite große Mühe gibt.«

»Wir werden uns an höchster Stelle beschweren!«

Mumm seufzte. »Schon wieder?«

»Manche Leute sagen, Ankh-Morpork reibt dem König mit voller Absicht lasterhafte Bösartigkeit unter die Nase!«

»Dem König?«, wiederholte Mumm freundlich. »Er ist noch nicht König. Erst muss er gekrönt werden, und diese Zeremonie erfordert ein… gewisses Objekt…«

»Ja, aber es ist alles nur eine Formalität.«

Mumm schob sich ein wenig näher. »Es dürfte mehr sein als nur eine Formalität«, erwiderte er leise. »Es ist das Ding und die Gesamtheit des Dings. Ohne die Magie gibt es keinen König, nur jemanden wie dich, der unerklärlicherweise Befehle erteilt.«

»Jemand namens Mumm lehrt mich die Bedeutung der Königswürde?«, fragte Dee.

»Und ohne das Ding ist praktisch alles möglich«, fuhr Mumm fort. »Es wird zu einem Krieg kommen, zu unterirdischen Explosionen.«

Ein leises Geräusch erklang, als er die Taschenuhr hervorholte und aufklappte. »Na so was, es ist Mitternacht«, verkündete er.

»Folge mir«, sagte Dee.

»Hast du vor, mich zu einem bestimmten Ort zu bringen, um mir etwas zu zeigen?«, fragte Mumm.

»Nein, Euer Exzellenz. Ich habe vor, dir etwas zu zeigen, das nicht da ist.«

»Ah. Dann möchte ich Korporal Kleinpo mitnehmen.«

»Was? Ausgeschlossen! Es wäre eine Entweihung…«

»Nein, das wäre es nicht«, sagte Mumm. »Und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Sie kommt nicht mit uns, weil wir uns gar nicht auf den Weg machen. Du hast bestimmt nicht vor, den Repräsentanten einer möglicherweise feindlichen Macht ins Vertrauen zu ziehen und ihm zu verraten, dass in deinem Kartenhaus ganz unten eine Karte fehlt, habe ich Recht? Und dieses Gespräch findet überhaupt nicht statt. Während der nächsten Stunde oder so knabbern wir hier an irgendwelchen Leckerbissen. Ich habe dies nicht einmal gesagt, und du hast nichts von mir gehört. Aber Korporal Kleinpo ist mein bester Tatort-Spezialist, und deshalb möchte ich, dass sie uns begleitet.«

»Du hast die Situation gut beschrieben und deinen Standpunkt wie üblich mit großer Klarheit zum Ausdruck gebracht. Na schön, hol sie.«

Mumm fand Grinsi bei Detritus. Sie standen Rücken an Rücken, beziehungsweise Rücken an Knien. Ein Kreis aus Neugierigen umgab sie. Wenn Detritus die Hand hob, um an seinem Drink zu nippen, sprangen die Zwerge in der Nähe erschrocken zurück.

»Wohin gehen wir, Herr?«, fragte Grinsi.

»Nach nirgends.«

»Ah. Dorthin.«

»Aber die Dinge bessern sich«, fügte Mumm hinzu. »Dee hat ein neues Pronomen entdeckt, obwohl es ihm nur sehr schwer über die Lippen kommt.«

»Sam!« Lady Sybil bahnte sich einen Weg durch die Menge. »Blutaxt und Eisenhammer wird aufgeführt! Ist das nicht wundervoll?«

»Äh…«

»Es ist eine Oper, Herr«, flüsterte Grinsi. »Sie gehört zum Koboldeanischen Zyklus. Es ist Geschichte. Jeder Zwerg kennt sie. Es geht darum, wie wir Gesetze und Könige erhalten haben und natürlich die Steinsemmel, Herr.«

»Im Mädchenpensionat habe ich die Rolle von Eisenhammer gespielt«, sagte Lady Sybil. »Natürlich nicht in der vollen Fünf-Wochen-Version. Ich finde es großartig, dass dieses Stück hier aufgeführt wird. Es ist eine der größten Liebesgeschichten aller Zeiten.«

»Eine Liebesgeschichte?«, fragte er. »Es geht dabei um… Liebe?«

»Ja. Natürlich.«

»Blutaxt und Eisenhammer waren… äh… sie waren beide…«, stotterte Mumm.

»Sie waren beide Zwerge, Herr«, sagte Grinsi.

»Ah. Natürlich.« Mumm gab auf. Alle Zwerge waren Zwerge. Wenn man versuchte, ihre Welt von der menschlichen Perspektive aus zu verstehen, erschien einem alles verkehrt. »Ich wünsche dir, äh, viel Spaß, Schatz. Ich muss… Der König möchte, dass ich… Ich werde eine Zeit lang woanders sein. Politik.«

Er eilte fort, und Grinsi folgte ihm.

Dee führte sie durch dunkle Tunnel. Die Oper begann als ein Flüstern in der Ferne, wie das Rauschen des Meeres in einer Muschelschale.

Schließlich blieben sie am Rand eines Kanals stehen, dessen Wasser in der Finsternis gluckerte. Ein kleines Boot war dort festgebunden und wurde von einem Zwerg bewacht. Dee bedeutete ihnen, an Bord zu gehen.

»Es ist wichtig, dass du verstehst, was du siehst, Euer Gnaden«, sagte Dee.

»Praktisch nichts«, erwiderte Mumm. »Und ich dachte, dass ich nachts gut sehen könnte.«

Es klirrte in der Dunkelheit, und dann wurde eine Lampe angezündet. Mit einem langen Stab steuerte der Zwerg das Boot unter einem Bogen hindurch auf einen kleinen See. Abgesehen vom Tunnelzugang, ragten die Felswände steil empor.

»Sind wir hier am Grund eines Schachtes?«, fragte Mumm.

»Das ist eine ziemlich gute Beschreibung.« Dee griff unter seinen Sitz, holte ein gewölbtes Horn hervor und blies hinein. Ein einzelner Ton hallte von den Wänden wider.

Nach einigen Sekunden ertönte weit oben ein anderer Ton. Dann vernahm Mumm ein Rasseln, das von alten Ketten zu stammen schien.

»Dies ist kein besonders großer Lift, verglichen mit einigen anderen in den Bergen«, sagte Dee, als eine Eisenplatte den Zugang verschloss. »Einer dort ist eine halbe Meile hoch und kann mehrere Kähne heben.«

Wasser brodelte neben dem Boot. Mumm sah, wie die Wände sanken.

»Dies ist der einzige Weg zur Steinsemmel«, sagte Dee hinter ihm.

Das Boot tanzte nun auf dem schäumenden Wasser, und die Wände verwandelten sich in Schemen.

»Wasser wird in Reservoirs im Bereich des Gipfels geleitet. Anschließend muss man nur Schleusen öffnen oder schließen, verstehst du?«

»Ja«, murmelte Mumm. Er erlebte Schwindel und Seekrankheit in einem grünen Paket.

Die Wände wurden langsamer, und das Boot zitterte nicht mehr. Das Wasser hob sie sanft über den Rand des Schachtes in einen kleinen Kanal mit einer Anlegestelle.

»Gibt es dort unten Wächter?«, brachte Mumm hervor und trat auf herrlich festen Stein.

»Normalerweise vier«, antwortete Dee. »Heute Nacht gibt es auf meine Initiative hin gewisse… Abweichungen. Ich muss darauf hinweisen, dass ich diese Sache strikt ablehne

Mumm blickte sich in der neuen Höhle um. Zwei Zwerge standen auf einem kleinen Felsvorsprung über etwas, das nach einem ruhigen kleinen Teich aussah. Sie schienen die Maschinerie zu bedienen.

»Können wir den Weg fortsetzen?«, fragte Dee.

Ein Gang zweigte von der Höhle ab und wurde rasch schmaler. Mumm musste nicht nur den Kopf einziehen, sondern sich tief bücken. An einer Stelle klapperten Metallplatten unter seinen Stiefeln, und er spürte, wie sie sich unter ihm bewegten. Anschließend konnte er fast wieder aufrecht stehen. Sie passierten einen weiteren Bogen, und dann…

Entweder hatten die Zwerge beim Graben eine Geode gefunden oder diese kleine Höhle sehr sorgfältig mit Quarzkristallen ausgestattet, bis sich überall das Licht der beiden Kerzen widerspiegelte, die auf Säulen in der Mitte des sandigen Bodens standen. Nach der Dunkelheit in den Tunneln fühlte sich selbst Mumm geblendet.

»Sieh nur, wo sich die Steinsemmel befinden sollte«, sagte Dee.

Auf einem runden, flachen und etwa zehn Zentimeter hohen Stein zwischen den Kerzen lag ganz offensichtlich nichts.

Dahinter plätscherte Wasser in einem natürlichen Becken. Es bildete zwei Bäche, die um den flachen Stein herumflossen und in einem anderen Kanal verschwanden.

»Na schön«, sagte Mumm. »Erzähl mir alles.«

»Das Verschwinden der Semmel wurde vor drei Tagen gemeldet«, erwiderte Dee. »Sie lag nicht mehr auf dem Stein, als Dösig Langfinger neue Kerzen brachte.«

»Seine Aufgabe besteht worin?«

»Er ist Hauptmann der Kerzen.«

»Ah.«

»Ein sehr verantwortungsvoller Posten.«

»Ich habe die Kronleuchter gesehen. Und wie oft brachte er neue Kerzen?«

»Er kam jeden Tag hierher.«

»Kam?«

»Er wurde seines Postens enthoben.«

»Weil er der Hauptverdächtige ist?«, fragte Mumm.

»Weil er nicht mehr lebt.«

»Und wie kam er ums Leben?«, fragte Mumm langsam.

»Er… beging Selbstmord. Da sind wir sicher, weil wir die Tür seiner Höhle aufbrechen mussten. Sechzig Jahre lang war er Hauptmann der Kerzen. Vermutlich konnte er den Gedanken nicht ertragen, dass man ihn verdächtigen würde.«

»Für mich kommt er tatsächlich als Verdächtiger in Frage.«

»Er hat die Steinsemmel nicht gestohlen. Das wissen wir.«

»Aber die weite Kleidung, die ihr tragt… Darunter könnte man praktisch alles verstecken. Wurde Dösig durchsucht?«

»Natürlich nicht!«, entgegnete Dee. »Aber… ich zeige es dir.« Er ging über den metallenen Boden des schmalen Korridors. »Siehst du mich, Euer Exzellenz?«

»Ja, natürlich.«

Der Boden klapperte, als Dee zurückkehrte. »So, und diesmal trage ich etwas… Darf ich dich um deinen Helm bitten? Für eine kleine Demonstration?«

Mumm kam der Aufforderung nach. Der Ideenschmecker wanderte erneut durch den Korridor. Als er die halbe Strecke zurückgelegt hatte, donnerte ein Gong, und zwei Metallgitter fielen von der Decke herab. Wenige Sekunden später erschienen auf der gegenüberliegenden Seite zwei Wächter und spähten misstrauisch durch das dortige Gitter.

Dee richtete einige Worte an sie. Die Gesichter verschwanden. Kurz darauf glitten die Gitter langsam nach oben.

»Es ist ein ziemlich alter und sehr komplexer Mechanismus, aber wir sorgen dafür, dass er immer funktioniert«, sagte Dee und gab Mumm den Helm zurück. »Wenn man beim Hinausgehen mehr wiegt als auf dem Weg hinein, so erkundigen sich die Wächter nach dem Grund dafür. Ein narrensicheres System mit einer Toleranz von wenigen Unzen. Und die Privatsphäre bleibt davon unberührt. Es ließe sich nur überlisten, wenn man fliegt. Können Diebe fliegen, Euer Exzellenz?«

»Kommt darauf an, um welche Art Dieb es sich handelt«, erwiderte Mumm geistesabwesend. »Wer sucht sonst noch diesen Ort auf?«

»Einmal in sechs Tagen wird der Raum von mir selbst und zwei Wächtern inspiziert. Die letzte Kontrolle liegt fünf Tage zurück.«

»Und andere Personen kommen nicht hierher?«, fragte Mumm. Er bemerkte, dass Grinsi eine Hand voll von dem weißen Sand genommen hatte, der den Boden der Semmelhöhle bildete. Sie ließ ihn durch die Finger rinnen.

»Nicht sehr oft. Wenn der neue König gekrönt wird, holt man die Steinsemmel natürlich und zeigt sie bei der Zeremonie.«

»Gibt es den weißen Sand nur hier?«

»Ja. Ist das wichtig?«

Mumm sah, wie Grinsi nickte. »Ich bin nicht… sicher«, antwortete er. »Sag mir… Welchen immanenten Wert hat die Steinsemmel?«

»Ihr Wert ist nicht immanent, sondern unschätzbar!«

»Ich weiß, dass ihr als Symbol große Bedeutung zukommt, aber welchen Wert hat sie an sich

»Sie ist unbezahlbar!«

»Ich versuche herauszufinden, was einem Dieb daran gelegen sein könnte, sie zu stehlen«, sagte Mumm so geduldig wie möglich.

Grinsi hob den flachen runden Stein und warf einen Blick darunter. Mumm schürzte die Lippen.

»Was macht… sie da?«, fragte Dee. Das Pronomen triefte vor Abscheu.

»Korporal Kleinpo hält nach Spuren Ausschau«, erklärte Mumm. »Solche Spuren sind Hinweise, die uns helfen können. Sie zu erkennen, erfordert besonderes Geschick.«

»Kann dieser Brief die Suche vielleicht beschleunigen?«, fragte Dee. »Dinge stehen darin geschrieben. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Hinweisen, die uns helfen können. Sie zu lesen, erfordert besonderes Geschick.«

Mumm nahm ein Blatt Papier entgegen. Es war braun, fühlte sich recht steif an und war mit Runen bedeckt.

»Ich, äh, kann das nicht entziffern«, sagte er.

»Man braucht besonderes Geschick dafür«, wiederholte Dee.

»Ich kann den Brief lesen, Herr«, sagte Grinsi. »Wenn du gestattest…«

Mumm überließ ihr das Papier.

»Es scheint ein Erpresserbrief zu sein, Herr. Von… Agi Hammerklaus Söhnen. Angeblich haben sie die Steinsemmel und wollen sie… zerstören, Herr.«

»Von Lösegeld ist nicht die Rede?«, fragte Mumm.

»Rhys soll auf jeden Anspruch verzichten, Niederer König zu werden«, sagte Dee. »Andere Bedingungen gibt es nicht. Der Brief lag plötzlich auf meinem Schreibtisch. Aber in letzter Zeit legt mir praktisch jeder irgendetwas auf den Schreibtisch.«

»Wer sind Agi Hammerlaus Söhne?«, wandte sich Mumm an Dee. »Und warum erfahre ich erst jetzt davon?«

»Wir wissen nicht, wer sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt. Vermutlich ist der Name erfunden. Wir glauben, es stecken irgendwelche Agitatoren dahinter. Und ich habe eigentlich erwartet, dass du mir Fragen stellst.«

»Aber dies ist kein Verbrechen in dem Sinne«, entgegnete Mumm. »Es ist Politik. Warum geht der König nicht auf die Forderung ein, um später, wenn die Steinsemmel wieder da ist, einfach Ätschbätsch zu sagen? Wenn er unter Zwang handelte…«

»Wir nehmen unsere Zeremonien sehr ernst, Euer Exzellenz. Wenn Rhys auf den Thron verzichtet, kann er es sich am nächsten Tag nicht anders überlegen. Wenn er andererseits die Zerstörung der Steinsemmel zulässt, so bleibt die Königswürde ohne Legitimität, und dann…«