Es heißt, die Welt sei flach und werde von vier Elefanten getragen, die auf dem Panzer einer riesigen Schildkröte stehen.

Es heißt, die Elefanten hätten aufgrund ihrer Größe Knochen aus Stein und Eisen, und Nerven aus Gold, weil diese über große Entfernungen hinweg besser leiten.1

Es heißt, dass der fünfte Elefant vor langer Zeit heulend und trompetend durch die Luft der jungen Welt raste und hart genug landete, um Kontinente zu zerreißen und hohe Berge entstehen zu lassen.

Niemand beobachtete die Landung, woraus sich eine interessante philosophische Frage ergibt: Wenn ein Millionen Tonnen schwerer zorniger Elefant vom Himmel fällt, ohne dass jemand da ist, der ihn hört – verursacht er dann, philosophisch gesehen, irgendwelche Geräusche?

Und wenn ihn niemand sah – schlug er dann wirklich auf?

Mit anderen Worten: War es nicht nur eine Geschichte für Kinder, um einige interessante natürliche Ereignisse zu erklären?

Was die Zwerge betrifft, von denen diese Legende stammt, und die tiefer graben als viele andere Leute: Sie meinen, die Geschichte enthalte ein Körnchen Wahrheit.

 

An einem klaren Tag konnte man von einem geeigneten Ort in den Spitzhornbergen aus weit über die Ebene sehen. Im Hochsommer war es möglich, die Staubwolken der Ochsengespanne zu zählen. Jedes Ochsenpaar bewegte sich mit einer Höchstgeschwindigkeit von zwei Meilen in der Stunde und zog zwei Karren, jeweils mit vier Tonnen Fracht beladen. Die Fracht brauchte lange, um ihren Bestimmungsort zu erreichen, aber wenn sie dort ankam, gab es viel davon. Den Städten am Runden Meer brachten die Karren Rohstoffe und manchmal auch Leute, die ihr Glück versuchten und sich eine Hand voll Diamanten erhofften.

Den Bergen brachten sie Fertigwaren, seltene Dinge von jenseits des Meeres und Leute, die Weisheit gefunden und ein paar Narben davongetragen hatten.

Für gewöhnlich betrug der Abstand zwischen den Gespannen eine Tagesreise, wodurch sich die Landschaft in eine ausgebreitete Zeitmaschine verwandelte. An einem klaren Tag konnte man den letzten Dienstag sehen.

Heliographen blitzten in der Ferne, als die Staubwolken Mitteilungen austauschten. Diese betrafen die Anwesenheit von Räubern, Ladungen und Lokale, wo man doppeltes Spiegelei, eine dreifache Portion Bratkartoffeln und Steaks bekam, die auf allen Seiten über den Tellerrand ragten.

Viele Leute waren mit den Karren unterwegs. Die Reise kostete nicht viel und war bequemer als ein Fußmarsch. Außerdem erreichte man sein Ziel, früher oder später.

Manche Leute reisten sogar gratis.

Der Kutscher eines Karrens hatte Probleme mit seinen beiden Ochsen. Sie waren unruhig. In den Bergen hätte er das erwartet, denn dort streiften Geschöpfe umher, die Ochsen für eine wandelnde Mahlzeit hielten. Aber hier gab es nichts Gefährlicheres als Kohl.

Hinter ihm, in einer Lücke zwischen den Stapeln aus Bauholz schlief jemand.

 

Ein ganz normaler Tag in Ankh-Morpork…

Am einen Ende der Messingbrücke, einer der wichtigsten Durchfahrtsstraßen von Ankh-Morpork, balancierte Feldwebel Colon auf einer wackligen Leiter. Mit der einen Hand klammerte er sich an der langen Stange mit dem Kasten darauf fest, mit der anderen hielt er ein selbst gefertigtes Bilderbuch vor die Öffnung im Kasten.

»Und das ist eine andere Art von Karren«, sagte er. »Siehst du?«

»Ja«, antwortete eine ganz leise Stimme aus dem Kasten.

»Na schön«, brummte Colon zufrieden. Er ließ das Buch sinken und deutete über die Brücke hinweg.

»Und nun… Siehst du die beiden Markierungen, die dort drüben aufs Kopfsteinpflaster gemalt sind?«

»Ja.«

»Und sie bedeuten…?«

»Wenn ein Karren die Strecke dazwischen in weniger als einer Minute zurücklegt, ist er zu schnell«, erklärte die leise Stimme.

»Ausgezeichnet. Woraufhin du…?«

»Ich male ein Bild.«

»Und was sollte darauf deutlich zu sehen sein?«

»Das Gesicht des Kutschers oder die Nummer des Karrens.«

»Und wenn es Nacht ist…«

»Benutze ich einen Salamander, damit es hell wird.«

»Gut, Rodney. Und an jedem Tag kommt einer von uns, um deine Bilder zu holen. Hast du alles, was du brauchst?«

»Ja.«

»Was bedeutet das, Feldwebel?«

Colon senkte den Blick und sah in ein sehr großes, braunes, nach oben gewandtes Gesicht. Er lächelte.

»Guten Tag, Enorm«, sagte er und kletterte schwerfällig von der Leiter herunter. »Was du hier siehst, Herr Jolson, ist die moderne Wache für das neue Millenienienum… num.«

»Ich weiß nicht, Fred«, erwiderte Enorm Jolson. »In dem kleinen Kasten habt ihr bestimmt nicht alle Platz.«

»Ich meine, dies ist ein Werkzeug der neuen Stadtwache, Enorm.«

»Ach so.«

»Wenn hier ein Ochsenkarren zu schnell fährt, dann sieht sich Lord Vetinari am nächsten Morgen ein Bild davon an. Die Ikonographen lügen nicht, Enorm.«

»Da hast du ganz Recht, Fred. Weil sie zu dumm sind.«

»Weißt du, Seine Exzellenz hat genug von Karren, die über die Brücke rasen, und er hat uns aufgefordert, etwas dagegen zu unternehmen. Ha, ich bin jetzt Leiter der Verkehrskontrolle!«

»Ist das gut, Fred?«

»Und ob!«, entgegnete Feldwebel Colon stolz. »Meine Aufgabe besteht darin, die, äh, Arterien der Stadt vor… Verstopfungen zu bewahren, die zu einem Zusammenbruch des Handels führen könnten, was für uns alle den Ruin bedeuten würde. Es ist also eine sehr wichtige Tätigkeit, vielleicht sogar die Wichtigste überhaupt.«

»Und nur du kümmerst dich darum?«

»Nun, hauptsächlich. Korporal Nobbs und die anderen Jungs helfen mir natürlich.«

Enorm Jolson kratzte sich an der Nase. »Ich wollte über ein ähnliches Thema mit dir reden, Fred«, sagte er.

»Kein Problem, Enorm.«

»Vor meinem Restaurant ist etwas Seltsames geschehen, Fred.«

Feldwebel Colon folgte dem großen Mann um die Ecke. Er mochte Enorms Gesellschaft, weil er im Vergleich zu ihm geradezu dünn wirkte. Enorm Jolson war ein Mann, der in einem Atlas erschien und die Umlaufbahnen kleiner Planeten veränderte. In einem riesigen Körper vereinte er Ankh-Morporks besten Koch und hungrigsten Esser. Für ihn bestand das Paradies zum größten Teil aus Kartoffelbrei. An den eigentlichen Vornamen des Mannes erinnerte sich Feldwebel Colon nicht. Seinen Spitznamen verdankte Jolson dem Umstand, dass alle, die ihn zum ersten Mal sahen, staunten: »Der Mann ist ja enorm

Ein großer Karren stand auf dem Breiten Weg und behinderte den Verkehr. Andere Wagen versuchten, an dem Hindernis vorbeizugelangen.

»Gegen Mittag wurde das Fleisch geliefert, und als der Fuhrmann auf die Straße zurückkehrte…« Jolson deutete auf ein großes, dreieckiges Gebilde an einem Rad des Karrens. Es bestand aus Eichenholz und Stahl und war gelb angestrichen.

Fred klopfte vorsichtig darauf. »Ich erkenne dein Problem ganz deutlich«, sagte er. »Wie lange war der Fuhrmann bei dir?«

»Nun, er hat von mir ein Mittagessen bekommen…«

»Und deine Mittagessen sind sehr gut, Enorm, das habe ich immer gesagt. Was war deine heutige Spezialität?«

»Steak à la Dichhautsum mit Cremesoße und Leckerbeilage«, sagte Enorm Jolson. »Zum Nachtisch Meringe à la Schwarzer Tod.«

Einige Sekunden war es still, während sich beide die Mahlzeit vorstellten. Fred Colon seufzte leise.

»Mit Kräuterbutter auf der Leckerbeilage?«

»Du willst mich doch nicht beleidigen, indem du andeutest, ich hätte sie weggelassen.«

»Bei so einem Essen kann ein Mann recht lange verweilen«, sagte Fred. »Das Problem ist: Der Patrizier mag keine Karren, die länger als zehn Minuten auf der Straße parken, Enorm. Er hält das für eine Art Verbrechen.«

»Es ist kein Verbrechen, sich zehn Minuten für eine meiner Mahlzeiten zu nehmen, Fred – so etwas ist eine Tragödie. Hier steht: Stadtwache, fünfzehn Dollar für die Entfernung, Fred. Das ist der Verdienst von zwei Tagen, Fred.«

»Es liegt am Papierkram, verstehst du?«, erwiderte Fred Colon. »Ich kann das Ding nicht einfach so verschwinden lassen, so sehr ich das auch bedauere. Der Dorn in meinem Büro steckt voller Kontrollabschnitte. Wenn ich Kommandeur der Wache wäre, sähe die Sache natürlich anders aus. Aber leider sind mir die Hände gebunden…«

Die beiden Männer standen nicht zu dicht beieinander, die Hände in den Hosentaschen. Sie vermieden es, sich anzusehen. Nach einer Weile begann Colon leise zu pfeifen.

»Ich weiß das eine oder andere«, sagte Enorm vorsichtig. »Die Leute glauben, Kellner hätten keine Ohren.«

»Ich weiß jede Menge, Enorm«, meinte Colon und ließ das Wechselgeld in der Tasche klimpern.

Eine Zeit lang blickten beide Männer zum Himmel empor.

»Vielleicht ist noch etwas Honigeis von gestern da…«

Feldwebel Colon sah an dem Karren herab.

»Na so was, Herr Jolson«, entfuhr es ihm überrascht. »Irgendein Idiot hat eine Klammer an dem Rad befestigt. Nun, das haben wir gleich.«

Colon zog zwei weiße, paddelartige Objekte hinter dem Gürtel hervor und wandte sich dem Semaphorturm des Wachhauses zu, der hinter der alten Limonadenfabrik aufragte. Er wartete, bis ihm der Dienst habende Wasserspeier ein Zeichen gab. Dann begann er mit steifen Armen zu winken, wie jemand, der zwei Tischtennisspiele gleichzeitig spielte.

»Es dauert sicher nicht lange, bis die Leute hier eintreffen. Ah, sieh nur…«

Etwas weiter unten an der Straße waren zwei Trolle damit beschäftigt, das Rad eines Heuwagens mit einer Klammer zu blockieren. Nach einer Weile blickte einer von ihnen zum Wachturm, stieß seinen Kollegen an, holte selbst zwei Schläger hervor und winkte damit, wobei er weniger Elan zeigte als zuvor Colon. Die Antwort vom Wachturm veranlasste die beiden Trolle sich umzudrehen. Sie bemerkten Colon und wankten in seine Richtung.

»Ta-da!«, sagte Colon stolz.

»Erstaunlich, diese neue Technik«, meinte Enorm Jolson bewundernd. »Die Entfernung betrug bestimmt… vierzig oder fünfzig Meter, oder?«

»Ja. Früher musste ich eine Pfeife benutzen. Dann wären sie hierher gekommen und hätten gewusst, dass das Pfeifsignal von mir kam.«

»Jetzt brauchen sie nur aufzusehen und dich zu erkennen«, sagte Jolson.

»Na ja«, räumte Colon ein und begriff: Was gerade geschehen war, ließ die Kommunikationsrevolution nicht im besten Licht erscheinen. »Es hätte natürlich ebenso gut funktioniert, wenn die Burschen mehrere Straßen entfernt oder sogar auf der anderen Seite der Stadt gewesen wären. Und damit nicht genug. Wenn ich den Wasserspeier angewiesen hätte, das Signal über den großen Turm auf dem Haufen weiterzuleiten, wäre die Nachricht innerhalb weniger Minuten in Sto Lat eingetroffen.«

»Und das sind zwanzig Meilen.«

»Mindestens.«

»Bemerkenswert, Fred.«

»Die Zeit vergeht, Enorm«, sagte Fred, als die Trolle sie erreichten.

»Obergefreiter Hornstein, wer hat Sie aufgefordert, am Karren meines Freundes eine Klammer anzubringen?«, fragte er.

»Nun, Feldwebel, heute Morgen du sagen, wir sollen anbringen Klammer an jedem Karren, der…«

»Aber doch nicht an diesem«, betonte Colon. »Nimm sie sofort weg, dann betrachten wir diese Angelegenheit als erledigt, klar?«

Obergefreiter Hornstein schien zu dem Schluss zu gelangen, dass man ihn nicht fürs Nachdenken bezahlte, und das war auch gut so, denn Feldwebel Colon zweifelte ohnehin daran, dass Trolle in dieser Hinsicht etwas taugten. »Wie meinen du, Feldwebel…«

»Während du die Klammer abnimmst, plaudern Enorm und ich ein wenig, nicht wahr, Enorm?«, fragte Fred Colon.

»Gern, Fred.«

»Allerdings beschränke ich mich bei der Plauderei auf die Rolle des Zuhörers, weil ich den Mund voll habe.«

 

Schnee rieselte von den Tannenzweigen. Der Mann bahnte sich einen Weg durchs Unterholz und verharrte einige Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen. Dann setzte er den Weg fort und lief über die Lichtung.

Auf der anderen Seite des Tals erklang ein Horn.

Ihm blieb also eine Stunde, wenn er ihnen trauen konnte. Vielleicht schaffte er es nicht bis zum Turm, aber es gab noch andere Auswege.

Er hatte Pläne. Er konnte sie überlisten. Den Schnee meiden, so weit es möglich war, in der eigenen Spur zurückkehren, Bäche ausnutzen… Es ließ sich bewerkstelligen. Vor ihm hatten es andere geschafft; er glaubte fest daran.

Einige Meilen entfernt huschten schlanke Leiber durch den Wald. Die Jagd hatte begonnen.

 

An einem anderen Ort in Ankh-Morpork stand das Gebäude der Narrengilde in Flammen.

Das war ein Problem, denn die Feuerwehr der Gilde bestand größtenteils aus Clowns.

Und das war ein Problem, denn wenn man einem Clown einen Eimer Wasser und eine Leiter zeigt, kennt er nur eine Reaktion. Jahrelange Ausbildung steuert die Reflexe. Es ist ein Gebot der roten Nase, dem er sich nicht widersetzen kann.

Sam Mumm, Kommandeur der Stadtwache von Ankh-Morpork, lehnte an einer Mauer und beobachtete das Schauspiel.

»Wir sollten dem Patrizier erneut eine städtische Feuerwehr vorschlagen«, sagte er. Auf der anderen Seite der Straße griff ein Clown nach einer Leiter, drehte sich um und stieß so den Clown hinter sich in einen Eimer Wasser. Dann drehte er sich erneut, um festzustellen, was der Aufruhr hinter ihm bedeutete, wodurch er das aufstehende Opfer erneut in den Eimer stieß. Der Vorgang wurde von einem überraschenden Geräusch begleitet – es klang nach einer verborgenen Tröte. Die Zuschauer sahen stumm zu. Clowns befassten sich nicht mit lustigen Dingen.

»Die Gilden sind dagegen«, erwiderte Hauptmann Karotte Eisengießersohn, Mumms Stellvertreter, während jemand dem Clown mit der Leiter einen Eimer Wasser in die Hose goss. »Sie meinen, wir würden damit ihre Rechte verletzen.«

Das Feuer breitete sich in einem Zimmer des ersten Stocks aus.

»Wenn wir es brennen lassen, steht der Stadt ein interessantes Spektakel bevor«, sagte Karotte ruhig.

Mumm musterte ihn kurz. Es war eine für Karotte typische Bemerkung. Sie klang völlig unschuldig, aber man konnte die Sache auch anders verstehen.

»Ja, zweifellos«, erwiderte der Kommandeur. »Aber wir lassen es besser nicht so weit kommen.« Er trat vor und wölbte die Hände trichterförmig vor dem Mund. »Also gut, hier spricht die Wache!«, rief er. »Eine Eimerkette formen!«

»Oh, muss das sein«, fragte jemand in der Zuschauermenge.

»Ja, es muss sein«, bestätigte Karotte. »Na los, alle helfen mit. Wenn wir zwei Ketten bilden, haben wir das Feuer im Nu gelöscht! Und wer weiß – vielleicht macht’s sogar Spaß!«

Mumm stellte fest, dass die Leute der Aufforderung nachkamen. Karotte behandelte alle so, als seien es freundliche, hilfsbereite Personen, und irgendetwas hielt sie davon ab, ihm zu beweisen, dass er sich irrte.

Sobald die Clowns entwaffnet waren und von zuvorkommenden Leuten fortgeführt wurden, dauerte es zur großen Enttäuschung der Menge tatsächlich nicht lange, bis das Feuer keinen Schaden mehr anrichten konnte.

Karotte kehrte zurück und wischte sich die Stirn ab, als Mumm eine Zigarre anzündete.

»Dem Feuerschlucker muss übel gewesen sein«, sagte er.

»Vielleicht vergibt man uns nie«, erwiderte Mumm, als sie die Streife fortsetzten. »O nein… Was ist denn jetzt?«

Karotte blickte zum nächsten Nachrichtenturm.

»Krawall in der Ankertaugasse«, sagte er. »Die Mitteilung gilt ›allen Wächtern‹, Herr.«

Sie liefen los, denn die Nachricht betraf »alle Wächter«. Vielleicht waren die eigenen Leute in Schwierigkeiten.

Als sie sich der Ankertaugasse näherten, begegneten sie immer mehr Zwergen, und Mumm wusste die Zeichen zu deuten. Die Zwerge wirkten besorgt und gingen alle in die gleiche Richtung.

»Es ist vorüber«, sagte Mumm, als sie um eine Ecke traten. »Man sieht es an der plötzlichen Zunahme verdächtig unschuldiger Zuschauer.«

Woraus auch immer der Notfall bestanden hatte – es musste ein ziemlich großer gewesen sein. Trümmer lagen auf der Straße, und auch recht viele Zwerge. Mumm wurde langsamer.

»Das dritte Mal in dieser Woche«, sagte er. »Was ist bloß los?«

»Schwer zu sagen, Herr«, entgegnete Karotte. Mumm warf ihm einen Blick zu. Karotte war unter Zwergen aufgewachsen. Und er log nie, wenn er es vermeiden konnte.

»Das bedeutet etwas anderes als Ich weiß es nicht, oder?«

Der Hauptmann wirkte verlegen.

»Ich glaube, es… äh… handelt sich um eine politische Angelegenheit«, sagte er.

Mumm bemerkte eine Wurfaxt, die in einer Mauer steckte.

»Ja, das ist nicht zu übersehen«, meinte er.

Etwas kam über die Straße – wahrscheinlich der Grund für das Ende des Krawalls. Obergefreiter Flussspat war der größte Troll, den Mumm je gesehen hatte. Er ragte empor. In einer Menge fiel er deshalb nicht auf, weil er die Menge war. Die Leute sahen ihn nicht, weil er ihnen den Blick versperrte. Und wie viele zu groß geratene Personen war er von sanftem, schüchternem Wesen. Er neigte dazu, sich von anderen sagen zu lassen, was er tun sollte. Hätte ihn das Schicksal zu einem Bandenmitglied gemacht, wäre er zweifellos der »Gorilla« gewesen. In der Wache diente er als Schutzschild. Andere Wächter spähten hinter ihm hervor.

»Offenbar begann der Aufruhr in Gimlets Feinkostbude«, sagte Mumm, als sich der Rest der Wache näherte. »Lass Gimlet aussagen.«

»Das ist keine gute Idee, Herr«, sagte Karotte mit fester Stimme. »Er hat nichts gesehen.«

»Woher willst du wissen, dass er nichts gesehen hat? Du hast ihn doch noch gar nicht gefragt.«

»Ich bin ganz sicher, Herr. Er hat nichts gesehen und auch nichts gehört.«

»Obwohl wütende Zwerge sein Restaurant verwüstet haben und draußen übereinander hergefallen sind?«

»Ja, Herr.«

»Ah. Verstehe. Niemand ist so taub wie derjenige, der nicht hören will.«

»Etwas in der Art, Herr, ja. Jetzt ist alles vorbei, Herr. Bestimmt wurde niemand ernsthaft verletzt. Es wäre sicher besser, wenn wir die Sache einfach vergessen, Herr.«

»Ist es eine dieser privaten Zwergenangelegenheiten, Hauptmann?«

»Ja, Herr…«

»Nun, wir sind hier in Ankh-Morpork, Hauptmann, nicht in irgendeinem Bergwerk, und meine Aufgabe besteht darin, für Ordnung zu sorgen. Dies hier sieht mir nicht nach Ordnung aus, Hauptmann. Was sollen die Leute von Krawallen in den Straßen halten?«

»Sie würden sagen: Dies ist ein weiterer Tag im Leben einer großen Stadt«, erwiderte Karotte steif.

»Ja, ich nehme an, da hast du Recht. Allerdings…« Mumm hob einen stöhnenden Zwerg hoch. »Wer hat dich so zugerichtet?«, fragte er. »Und komm mir bloß nicht mit irgendwelchen Ausflüchten. Einen Namen will ich von dir hören!«

»Agi Hammerklau«, brummte der Zwerg und zappelte.

»Na schön.« Mumm ließ ihn los. »Schreib den Namen auf, Karotte.«

»Nein, Herr«, sagte Karotte.

»Wie bitte?«

»Es gibt keinen Agi Hammerklau in der Stadt, Herr.«

»Kennst du jeden Zwerg?«

»Ich kenne viele von ihnen, Herr. Einem gewissen Agi Hammerklau kann man nur in Bergwerken begegnen, Herr. Er ist eine Art boshafter Geist, Herr. Wenn zum Beispiel jemand sagt ›Steck es dorthin, wo Agi seine Kohle aufbewahrt‹, so meint er damit…«

»Ja, ich verstehe«, sagte Mumm. »Soll das heißen, ein Phantom hat den Krawall begonnen?« Der Zwerg war klugerweise hinter der nächsten Ecke verschwunden.

»Mehr oder weniger, Herr. Bitte entschuldige.« Karotte trat über die Straße und zog zwei weiße Paddel hinter dem Gürtel hervor. »Von hier aus kann man den Turm sehen. Ich schicke besser eine Nachricht.«

»Warum?«

»Weil wir einen Termin beim Patrizier haben und ihm mitteilen sollten, dass wir uns ein wenig verspäten.«

Mumm holte seine Uhr hervor und starrte darauf hinab. Allem Anschein nach war es wieder einer von diesen Tagen… so wie man sie in letzter Zeit jeden Tag erlebte.

 

Das ist die Natur des Universums: Eine Person, die einen stets zehn Minuten warten lässt, ist an jenem Tag, an dem man sich verspätet, zehn Minuten früher zugegen – und vermeidet dann jeden Hinweis darauf.

»Bitte entschuldige die Verspätung, Herr«, sagte Mumm, als sie das Rechteckige Büro betraten.

»Oh, ihr seid zu spät?«, fragte Lord Vetinari und blickte von diversen Dokumenten auf. »Ich habe es gar nicht bemerkt. Der Grund ist hoffentlich nichts Ernstes?«

»Ein Brand im Gebäude der Narrengilde, Herr«, sagte Karotte.

»Viele Opfer?«

»Nein, Herr.«

»Nun, das freut mich«, entgegnete der Patrizier vorsichtig und legte seinen Stift beiseite.

»Was gibt es zu besprechen…?« Er zog ein weiteres Dokument heran und las es rasch.

»Ah, wie ich sehe, haben die Verkehrskontrollen den gewünschten Effekt.« Er deutete auf einen großen Stapel Papier. »Die Gilde der Fuhrleute und Kutscher beschwert sich dauernd. Gute Arbeit. Bitte richtet Feldwebel Colon und seinen Mitarbeitern meinen Dank aus.«

»Ja, Herr.«

»An nur einem Tag wurden Klammern an siebzehn Karren, zehn Pferden, achtzehn Ochsen und einer Ente angebracht.«

»Sie parkte an einer verbotenen Stelle.«

»Zweifellos. Das lässt ein sonderbares Muster erkennen.«

»Herr?«

»Viele der Fuhrleute sagten aus, sie hätten nicht in dem Sinne geparkt, sondern nur angehalten, während eine sehr alte und sehr hässliche Alte die Straße sehr langsam überquerte.«

»Das behaupten sie, Herr.«

»Sie wussten, dass es eine Alte war, weil sie dauernd ›Ach, meine armen alten Füße‹ und Ähnliches murmelte.«

»Klingt tatsächlich nach einer alten Frau, Herr«, meinte Mumm mit hölzerner Miene.

»In der Tat. Seltsam ist allerdings die Aussage einiger Zeugen, nach der die alte Frau anschließend ziemlich schnell durch eine Gasse davonging. Unter anderen Umständen würde ich solche Behauptungen einfach ignorieren, aber erstaunlicherweise hat man die Alte nur kurze Zeit später dabei beobachtet, wie sie ein ganzes Stück entfernt wiederum sehr langsam über eine Straße ging. Ein echtes Rätsel, Mumm.«

Der Kommandeur hob kurz die Hand vor die Augen. »Ich bin fest entschlossen, es schnell zu lösen, Herr.«

Der Patrizier nickte und schrieb eine kurze Notiz auf die Liste vor ihm. Dann legte er sie beiseite, und zum Vorschein kam ein wesentlich schmutzigeres und mehrfach zusammengefaltetes Stück Papier. Mit zwei Brieföffnern entfaltete er den Zettel und schob ihn Mumm zu.

»Weißt du etwas davon?«, fragte Lord Vetinari.

Mumm las die großen, runden, mit Buntstift gemalten Buchstaben:

»LiBa Här, Es iSt aine SCHAnnde wiEh grAUsam Man dieh stREUnigenden HunDE in dIesER STatt beHANdelt, Wasse wiLl diE WacHE dageHIgen UnterNEhmen¿ GezaiCHnet dieh LIGa geGeN MiSseHANdlung vON HunDEn.«

»Hab nicht die geringste Ahnung, was das bedeuten soll«, sagte Mumm.

»Von meinen Sekretären weiß ich, dass fast jeden Abend ein solches… Schreiben unter der Tür durchgeschoben wird«, erklärte der Patrizier. »Den Autor hat bisher niemand gesehen.«

»Soll ich Ermittlungen einleiten?«, fragte Mumm. »Es dürfte nicht schwer sein, jemanden zu finden, der beim Schreiben sabbert und noch mehr Rechtschreibfehler macht als Karotte.«

»Danke, Herr«, sagte Karotte.

»Die Wächter haben niemanden bemerkt«, sagte der Patrizier. »Gibt es irgendeine Gruppe in Ankh-Morpork, denen das Wohlergehen der Hunde besonders am Herzen liegt?«

»Das bezweifle ich, Herr.«

»Dann schenke ich dieser Sache pro tempore keine Beachtung.« Vetinari ließ den feuchten, durchweichten Zettel in den Papierkorb fallen.

»Kommen wir zu dringenderen Angelegenheiten«, sagte er forsch. »Nun… Was weißt du von Bums?«

Mumm starrte nur.

Karotte hüstelte freundlich. »Meinst du den Fluss oder den Ort, Herr?«

Der Patrizier lächelte. »Ah, Hauptmann, du überraschst mich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Ich spreche von dem Ort.«

»Es ist eine der größten Ortschaften in Überwald, Herr«, sagte Karotte. »Exportiert wertvolle Metalle, Leder, Holz und natürlich Fett aus den tiefen Fettminen bei Schmalzberg…«

»Es gibt wirklich einen Ort, der Bums heißt?«, fragte Mumm und wunderte sich darüber, wie schnell sie von einem feuchten Brief über Hunde zu diesem Thema gelangt waren.

»Eigentlich lautet der Name Burums, Herr«, sagte Karotte.

»Trotzdem…«

»Und in Burums klingt das Wort Morpork wie die dort übliche Bezeichnung für ein ganz bestimmtes Teil der Damenunterwäsche«, fuhr Karotte fort. »Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Silben in der Welt, wenn man genauer darüber nachdenkt.«

»Woher weißt du das alles, Karotte?«

»Oh, ich schnappe das eine oder andere auf. Hier und dort.«

»Tatsächlich? Und welches Teil der…«

»In einigen Wochen wird dort etwas sehr Wichtiges stattfinden«, sagte Lord Vetinari. »Ich meine etwas, das auch für die zukünftige Prosperität von Ankh-Morpork große Bedeutung hat.«

»Die Krönung des Niederen Königs«, sagte Karotte.

Mumms Blick wanderte zwischen dem Patrizier und Karotte hin und her.

»Gibt es irgendein Rundschreiben, das mich bisher nicht erreicht hat?«, fragte er.

»Seit Monaten reden die Zwerge praktisch über nichts anderes, Herr.«

»Im Ernst?«, erwiderte Mumm. »Meinst du damit die Krawalle? Und die abendlichen Schlägereien in den Zwergenkneipen?«

»Hauptmann Karotte hat Recht, Mumm. Die Repräsentanten vieler Regierungen werden bei diesem Ereignis zugegen sein. Und natürlich auch Gesandte von den verschiedenen Fürstentümern in Überwald, denn der Niedere König herrscht nur über die unterirdischen Bereiche jener Region. Wir legen großen Wert auf sein Wohlwollen. Borograwien und Gennua werden ebenfalls vertreten sein, wahrscheinlich sogar Klatsch.«

»Aber Klatsch ist noch weiter von Überwald entfernt als Ankh-Morpork! Warum sollten sie von dort jemanden schicken?«

Mumm zögerte einige Sekunden und fügte dann hinzu: »Ha. Ein dumme Frage. Wo ist das Geld?«

»Wie bitte, Kommandeur?«

»Das sagte mein alter Feldwebel immer, wenn ihn etwas verwirrte, Herr. Finde heraus, wo das Geld steckt – dann hast du den Fall halb gelöst.«

Vetinari stand auf, ging zum großen Fenster und blickte nach draußen.

»Überwald ist ein großes Land«, sagte er zum Glas. »Dunkel. Geheimnisvoll. Alt…«

»Dort gibt es große, bisher noch unerschlossene Vorkommen an Kohle und Eisenerz«, sagte Karotte. »Und natürlich Fett. Die besten Kerzen, Lampenöle und Seifen stammen aus den Schmalzberg-Lagerstätten.«

»Warum? Wir haben doch unser eigenes Schlachthaus.«

»Ankh-Morpork verbraucht ziemlich viele Kerzen, Herr.«

»Dafür wird hier an Seife gespart«, sagte Mumm.

»Fett und Talg lassen sich auf vielfältige Weise verwenden, Herr. Wir könnten uns nicht selbst damit versorgen.«

»Ah«, sagte Mumm.

Der Patrizier seufzte. »Ich hoffe natürlich auf eine Verbesserung unserer Handelsbeziehungen mit den verschiedenen Nationen in Überwald«, sagte er. »Die Situation dort ist ausgesprochen unbeständig. Kennst du die Verhältnisse in Überwald, Kommandeur Mumm?«

Mumms geographisches Wissen war bis zu einem Umkreis von fünf Meilen um Ankh-Morpork mikroskopisch genau. Jenseits davon verdienten seine Kenntnisse die Bezeichnung »mikroskopisch klein«.

Er nickte zaghaft.

»Nun, eigentlich ist Überwald gar kein Land in dem Sinne«, sagte Vetinari. »Es…«

»Es ist ein Gebiet in einem Stadium, bevor es ein richtiges Land ist«, sagte Karotte. »Überwald besteht größtenteils aus befestigten Städten und Lehnsgütern ohne echte Grenzen und mit viel Wald dazwischen. Immer findet irgendwo eine Fehde statt. Gesetze gibt es nur dort, wo lokale Regenten sie durchsetzen, und an Banditen aller Art herrscht kein Mangel.«

»Also herrschen dort ganz andere Verhältnisse als in unserer Stadt«, kommentierte Mumm leise. Der Patrizier bedachte ihn mit einem gelassenen Blick.

»In Überwald haben Zwerge und Trolle ihren alten Zwist noch nicht überwunden«, fuhr Karotte fort. »Große Bereiche werden von feudalen Vampir- oder Werwolf-Clans kontrolliert. An vielen Stellen ist die gewöhnliche Hintergrundmagie stärker als andernorts. Eine wahrhaft chaotische Region, in der man kaum glauben könnte, dass wir im Jahrhundert des Flughunds sind. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Dinge bald bessern und Überwald sich frohgemut der Staatengemeinschaft anschließt.«

Mumm und Vetinari wechselten einen Blick. Manchmal klang Karotte wie ein Staatsbürgerkunde-Aufsatz, geschrieben von einem verträumten Chorknaben.

»Das hast du gut ausgedrückt«, sagte der Patrizier schließlich. »Aber bis zu jenem freudigen Tag bleibt Überwald ein Geheimnis innerhalb eines Rätsels, umhüllt von einem Mysterium.«

»Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, sagte Mumm. »Überwald ist wie ein großer Talgpudding, den plötzlich alle bemerkt haben, und die Krönung dient uns nun als Vorwand dafür, mit Messer, Gabel und Löffel loszueilen, um uns möglichst viel auf den Teller zu schaufeln.«

»Dein Verständnis der politischen Realität ist meisterhaft, Mumm. Nur dein Vokabular lässt zu wünschen übrig. Ankh-Morpork muss natürlich einen Repräsentanten schicken. Einen Botschafter, um ganz genau zu sein.«

»Du denkst dabei doch nicht etwa an mich, oder?«, fragte Mumm.

»Oh, ich könnte auf keinen Fall den Kommandeur der Stadtwache entsenden«, erwiderte Lord Vetinari. »In den meisten Ländern von Überwald gibt es die moderne, zivile Truppe zur Friedenssicherung nicht einmal als Konzept.«

Mumm entspannte sich.

»Stattdessen schicke ich den Herzog von Ankh.«

Mumm saß kerzengerade.

»Wir haben es dort zum größten Teil mit Feudalsystemen zu tun«, fuhr Vetinari fort. »Sie messen dem Rang große Bedeutung bei…«

»Ich lasse mir nicht befehlen, nach Überwald zu reisen!«

»Befehlen, Euer Gnaden?« Vetinari wirkte schockiert und besorgt. »Meine Güte, da muss ich Lady Sybil falsch verstanden haben… Gestern meinte sie, ein Urlaub weit von Ankh-Morpork entfernt wäre ein echter Segen für dich.«

»Du hast mit Sybil gesprochen

»Beim Empfang für den neuen Präsidenten der Schneidergilde. Du bist früh gegangen, wenn ich mich recht entsinne. Wegen irgendeines Notfalls. Lady Sybil erwähnte zufälligerweise, dass du dauernd bei der Arbeit bist, wie sie es ausdrückte. Eins führte zum anderen. Oh, ich hoffe, ich habe keinen Ehestreit verursacht…«

»Ich kann die Stadt gerade jetzt nicht verlassen!«, brachte Mumm verzweifelt hervor. »Es gibt so viel zu tun!«

»Sybil ist der Ansicht, dass du die Stadt gerade deshalb verlassen solltest«, sagte Vetinari.

»Aber das neue Ausbildungszentrum…«

»Inzwischen läuft dort alles reibungslos, Herr«, warf Karotte ein.

»Im Brieftaubensystem herrscht heilloses Durcheinander…«

»Wir haben das Problem mit neuem Futter aus der Welt geschafft, Herr. Außerdem funktionieren die Nachrichtentürme recht gut.«

»Die Flusswache muss eingerichtet werden…«

»Erst nach der Bergung des Bootes, was ein oder zwei Wochen dauern dürfte…«

»Die Abflussrohre der Wache in der Kröselstraße…«

»Die Klempner sind bereits bei der Arbeit, Herr.«

Mumm wusste, dass er verloren hatte. Er hatte in dem Augenblick verloren, als Sybil an der Sache beteiligt wurde, denn sie war eine Belagerungsmaschine, gegen die seine Wehrwälle nichts ausrichten konnten. Aber er wollte nicht kampflos untergehen.

»Du weißt, dass ich mit diplomatischem Gerede nicht gut zurechtkomme«, sagte er.

»Ganz im Gegenteil, Mumm«, widersprach Lord Vetinari. »Das diplomatische Korps hier in Ankh-Morpork hast du sehr überrascht. Dort ist man nicht an offene Worte gewöhnt. Was hast du letzten Monat dem istanzianischen Botschafter gesagt?« Der Patrizier schob die Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und her. »Die Beschwerde müsste hier irgendwo liegen… Ah, da ist sie. Es ging um militärische Vorstöße über den Fluss Slipnir. Du meintest, weitere Aktionen dieser Art hätten direkte Konsequenzen für den Botschafter. Du hast angedroht, ihn mit einem Krankenkarren nach Hause zu schicken.«

»Tut mir sehr Leid, Herr. Aber es war ein langer Tag, und er ging mir wirklich auf die…«

»Seitdem haben sich die istanzianischen Truppen so weit zurückgezogen, dass sie fast im nächsten Land stehen«, fuhr Lord Vetinari fort und schob das Dokument beiseite. »Ich muss sagen, dass deine Bemerkung nur ganz allgemein in die Richtung meiner eigenen Meinung zielt, aber wenigstens waren deine Worte unmissverständlich. Der Botschafter betonte auch die Tatsache, dass du einen drohenden Blick auf ihn gerichtet hättest.«

»Ich habe ihn ganz normal angesehen.«

»Zweifellos. Nun, in Überwald brauchst du die Leute nur freundlich anzusehen.«

»Ah, aber du möchtest bestimmt nicht, dass ich Dinge sage wie ›Wie wär’s, wenn ihr uns euer Fett ganz billig verkauft?‹, oder?« Mumms Verzweiflung wuchs.

»Es ist nicht erforderlich, dass du an irgendwelchen Verhandlungen teilnimmst, Mumm. Darum kümmert sich einer meiner Sekretäre, der eine provisorische Botschaft einrichtet und solche Angelegenheiten mit den zuständigen Personen an den unterschiedlichen Höfen von Überwald diskutiert. Alle Sekretäre sprechen die gleiche Sprache. Du versuchst einfach nur, so herzoglich wie möglich zu sein. Und natürlich wird dich ein Gefolge begleiten. Mitarbeiter«, fügte Vetinari hinzu, als er die Verwirrung im Gesicht des Kommandeurs bemerkte. Er seufzte. »Einige Personen werden dich begleiten. Ich schlage Feldwebel Angua, Feldwebel Detritus und Korporal Kleinpo vor.«

»Ah«, sagte Karotte und nickte ermutigend.

»Wie bitte?«, erwiderte Mumm. »Ich glaube, ich habe gerade einen Teil des Gesprächs verpasst.«

»Ein Werwolf, ein Troll und ein Zwerg«, erklärte Karotte. »Ethnische Minderheiten, Herr.«

»Aber in Überwald sind es ethnische Mehrheiten«, sagte Lord Vetinari. »Die drei genannten Wächter stammen ursprünglich von dort, soweit ich weiß. Ihre Anwesenheit wird Bände sprechen.«

»Bisher hat sie mir noch nicht einmal eine Postkarte geschickt«, entgegnete Mumm. »Ich würde lieber jemand anderen mitnehmen, zum Beispiel…«

»Es wird den Bewohnern von Überwald zeigen, dass Ankh-Morpork eine multikulturelle Gesellschaft ist, Herr«, meinte Karotte.

»Oh, ich verstehe«, brummte Mumm. »›Leute wie wir.‹ Leute, mit denen man Geschäfte machen kann.«

Vetinaris Züge verhärteten sich ein wenig. »Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Kultur des Zynismus bei der Wache…«

»Unzulänglich ist?«, beendete Mumm den Satz. Einige Sekunden herrschte Stille. »Na schön«, seufzte er. »Ich gehe jetzt besser, um die Knäufe meiner Krone zu putzen.«

»Wenn mich meine heraldischen Kenntnisse nicht trügen, hat die herzogliche Krone keine Knäufe. Sie ist vielmehr recht… spitz.« Der Patrizier schob einen kleinen Stapel Papiere über den Schreibtisch. Ganz oben lag eine Einladungskarte mit goldenem Rand. »Gut. Ich lasse sofort eine… Nachricht übermitteln. Einzelheiten erfährst du später. Bitte richte der Herzogin meine Grüße aus. Und nun möchte ich dich nicht länger aufhalten…«

»Das sagt er immer«, murmelte Mumm, als er zusammen mit Karotte die Treppe hinuntereilte. »Er weiß, dass es mir nicht gefällt, mit einer Herzogin verheiratet zu sein.«

»Ich dachte, du und Lady Sybil…«

»Oh, ich habe nichts dagegen einzuwenden, mit Sybil verheiratet zu sein«, sagte Mumm rasch. »Nur das mit der Herzogin stört mich. Wo sind die anderen heute Abend?«

»Korporal Kleinpo kümmert sich um die Tauben. Detritus ist mit Knuddel Winzig auf Streife. Und Angua hat mit einem Sondereinsatz in den Schatten begonnen, Herr. Erinnerst du dich? Mit Nobby?«

»Oh, meine Güte, ja. Nun, wenn sie morgen zurückkehren, sollten sie besser mir Bericht erstatten. Da fällt mir ein… Nimm Nobby die blöde Perücke weg und versteck sie irgendwo.« Mumm blätterte in den Unterlagen. »Ich habe noch nie etwas vom Niederen König der Zwerge gehört. Ich dachte immer, der ›König‹ der Zwerge sei eine Art Chefingenieur oder so.«

»Oh, der Niedere König stellt etwas Besonderes dar«, sagte Karotte.

»Warum?«

»Nun, es beginnt alles mit der Steinsemmel, Herr.«

»Der was?«

»Was hältst du davon, wenn wir auf dem Weg zur Wache einen kleinen Umweg machen, Herr? Dann wird alles klarer.«

 

Die junge Frau stand an einer Straßenecke in den Schatten. Ihre Haltung verriet, dass sie im Sprachgebrauch dieses Viertels eine »wartende Dame« war. Besser gesagt: eine Dame, die auf Herrn Richtig beziehungsweise Herrn Der-richtige-Betrag wartete.

Sie schwang ihre Handtasche.

Dies war ein unmissverständliches Signal für jeden, der auch nur die Intelligenz einer Taube hatte. Ein Mitglied der Diebesgilde wäre vorsichtig auf der anderen Straßenseite vorbeigegangen und hätte der Frau höchstens auf freundliche, betont nicht aggressive Weise zugenickt. Selbst die weniger höflichen freischaffenden Diebe, die sich hier herumtrieben, hätten es sich genau überlegt, einen Blick auf die Handtasche zu werfen. Bei der Näherinnengilde waltete die Justiz sehr schnell und irreversibel.

Der dürre Schuldige Schuft hatte allerdings nicht die Intelligenz einer Taube. Seit fünf Minuten klebte sein Blick an der Handtasche fest, und der Gedanke daran, was sie wohl enthielt, hypnotisierte ihn geradezu. Er glaubte, das Geld bereits fühlen zu können. Mit eingezogenem Kopf setzte er sich auf den Zehenspitzen in Bewegung, stürmte aus der Gasse, griff nach der Handtasche und kam einige Zoll weit, bevor die Welt hinter ihm explodierte und er im Schlamm landete.

Etwas sabberte direkt neben seinem Ohr. Er hörte ein leises, lang gezogenes Knurren, das die Tonart nicht veränderte und deutlich klarstellte, was mit ihm geschehen würde, wenn er sich von der Stelle rührte.

Er hörte Schritte und sah aus dem Augenwinkel den Saum eines Kleids.

»Ach, der Schuldige Schuft«, erklang eine Stimme. »Bist du jetzt zum Handtaschendieb geworden? So tief bist du gesunken? Musst wirklich in Schwierigkeiten stecken. Es ist nur Schuft, Fräulein. Du kannst ihn aufstehen lassen.«

Das Gewicht erhob sich von Schufts Rücken, und er hörte, wie etwas davontapste.

»Ich hab’s getan, ich hab’s getan!«, rief der kleine Dieb verzweifelt, als ihm Korporal Nobbs auf die Beine half.

»Ja, ich weiß, ich habe dich dabei gesehen«, erwiderte Nobby. »Und hast du eine Ahnung, was mit dir passiert wäre, wenn dich die Diebesgilde beobachtet hätte? Dann lägst du tot im Fluss, ohne irgendwelche Privilegien wegen guter Führung.«

»Die Gilde hasst mich, weil ich so gut bin«, behauptete Schuft durch seinen verfilzten Bart. »He, erinnerst du dich an den Überfall bei Enorm Jolson im letzten Monat? Das war ich.«

»Natürlich, Schuft. Du bist es gewesen, völlig klar.«

»Und der ausgeräumte Goldtresor in der letzten Woche… Auch dafür bin ich verantwortlich. Da stecken keineswegs Kohlenfresse und seine Jungs hinter.«

»Du hast es getan, was, Schuft?«

»Und dann die Sache beim Goldschmied. Alle behaupten, es sei der Knirschende Ron gewesen…«

»Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit hast du das Ding gedreht, stimmt’s?«

»Genau«, bestätigte Schuft.

»Und außerdem warst du es, der den Göttern das Feuer gestohlen hat, nicht wahr?«, fragte Nobby und grinste unter seiner Perücke.

»Ja, da hast du völlig Recht.« Schuft nickte und schniefte. »Damals war ich natürlich jünger.« Er musterte Nobby Nobbs kurzsichtig.

»Warum hast du ein Kleid an, Nobby?«

»Das ist streng geheim, Schuft.«

»Oh, na gut.« Verlegen verlagerte der Schuldige Schuft das Gewicht von einem Bein aufs andere. »Du hast nicht zufällig etwas Geld für mich, oder? Seit zwei Tagen habe ich nichts mehr gegessen.«

Kleine Münzen glänzten in der Dunkelheit.

»Verschwinde«, sagte Korporal Nobbs.

»Danke, Nobby. Wenn du irgendwelche ungelösten Fälle hast… Du weißt ja, wo du mich finden kannst.«

Schuft schlurfte durch die Nacht davon.

Feldwebel Angua erschien hinter Nobby und legte ihren Brustharnisch an.

»Armer alter Kerl«, sagte sie.

»Früher war er ein guter Dieb«, meinte Nobby. Er holte ein Notizbuch aus der Handtasche und kritzelte einige Zeilen.

»Es war sehr freundlich von dir, ihm zu helfen«, lobte Angua.

»Ich nehme mir das Geld aus der Portokasse«, sagte Nobby. »Außerdem wissen wir jetzt, wer die Goldbarren verschwinden ließ. Herr Mumm wird sich freuen. Vielleicht bringt mir dies eine neue Feder am Hut ein, sozusagen.«

»Am Häubchen, Nobby.«

»Was?«

»An deinem Häubchen, Nobby. Es ist von einem recht hübschen Blumenband umgeben.«

»Oh… ja…«

»Ich will mich nicht beschweren«, sagte Angua. »Aber als wir mit diesem Einsatz beauftragt wurden, sollte ich der Lockvogel sein und mir von dir helfen lassen.«

»Ja, aber du bist…« Nobby schnitt eine Grimasse, als er sich auf unvertrautes linguistisches Terrain wagte. »… mor… pho… lo… gisch begabt…«

»Du meinst, ich bin ein Werwolf, Nobby. Ich kenne das Wort.«

»Ja. Und deshalb kannst du wesentlich besser auf der Lauer liegen als ich, und… Es ist nicht richtig, dass Frauen bei der Polizeiarbeit als Lockvogel fungieren müssen…«

Angua zögerte, was oft geschah, wenn sie versuchte, Nobby schwierige Dinge zu erklären. Sie hob die Hände und bewegte sie so, als wollte sie den Teig ihrer Gedanken kneten.

»Es ist nur…«, begann sie. »Ich meine, die Leute könnten… Weißt du, wie die Leute Männer nennen, die Perücken und Kleider tragen?«

»Ja, Fräulein.«

»Wirklich?«

»Ja, Fräulein. Die Leute nennen sie Anwälte.«

»Äh, gut, ja«, erwiderte Angua langsam. »Und sonst noch?«

»Äh… Schauspieler, Fräulein?«

Angua gab auf. »Taft steht dir gut, Nobby«, sagte sie.

»Glaubst du nicht, dass ich darin zu dick wirke?«

Angua schniefte. »O nein…«, kam es leise über ihre Lippen.

»Das Parfüm habe ich wegen der Auatenzität aufgelegt«, sagte Nobby hastig.

»Was? Oh…« Angua schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Ich… rieche… etwas… anderes…«

»Das überrascht mich, weil dieses Zeug ziemlich geruchsintensiv ist. Um ganz ehrlich zu sein: Ich glaube nicht, dass es echter Maiglöckchenduft ist…«

»Ich meine kein Parfüm.«

»… aber mit dem Lavendelwasser in dem Laden hätte man Messing reinigen können…«

»Kannst du allein zur Wache in der Kröselstraße zurückkehren, Nobby?«, fragte Angua. Trotz der sich verdichtenden Panik fügte sie in Gedanken hinzu: Ich meine, was könnte ihm schon passieren?

»Ja, Fräulein.«

»Es gibt da etwas, um das ich mich… kümmern muss.«

Angua eilte fort, und der neue Geruch beanspruchte ihre ganze olfaktorische Aufmerksamkeit. Es war tatsächlich eine ganze Menge nötig, um Eau de Nobbs in den Hintergrund zu drängen, und diesem speziellen Geruch gelang das mühelos. O ja…

Nicht hier, dachte sie. Nicht jetzt.

Nicht er.

 

Der fliehende Mann hangelte sich an einem schneefeuchten Ast entlang und schaffte es schließlich, einen tiefer gelegenen Ast zu erreichen, der zu einem anderen Baum gehörte. Inzwischen war er schon ein ganzes Stück vom Bach entfernt. Wie gut mochte ihr Geruchssinn sein? Ziemlich gut, das wusste er. Aber so gut?

Er hatte den Bach an einem überhängenden Ast verlassen. Wenn sie den Ufern folgten – und zweifellos waren sie klug genug, eine solche Entscheidung zu treffen –, konnten sie wohl kaum feststellen, an welcher Stelle er an Land zurückgekehrt war.

Links von ihm erklang dumpfes Heulen.

Er wandte sich nach rechts und hastete durch die Düsternis des Waldes.

 

Mumm hörte, wie Karotte in der Dunkelheit umhertastete, und dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss.

»Ich dachte, das Komitee Gleiche Höhe Für Zwerge verwaltet diesen Ort«, sagte der Kommandeur.

»Es ist sehr schwer, Freiwillige zu finden«, erwiderte Karotte. Er geleitete Mumm durch die niedrige Tür und zündete eine Kerze an. »Ich komme jeden Tag hierher, um die Dinge im Auge zu behalten, aber ansonsten scheint niemand sehr interessiert daran zu sein.«

»Der Grund dafür ist mir ein Rätsel«, sagte Mumm und sah sich im Zwergenbrotmuseum um.

Das einzig Positive, das sich über die hier ausgestellten Brotprodukte sagen ließ, war vermutlich: Sie waren ebenso genießbar wie an jenem Tag, an dem man sie gebacken hatte.

Eigentlich war es in diesem Zusammenhang besser von »geschmiedet« zu sprechen. Zwergenbrot war nicht nur als Notration gedacht, sondern auch als Waffe und Währung. Zwerge hielten nicht viel von Religion, soweit Mumm wusste, aber ihre Einstellung dem Brot gegenüber konnte man durchaus fromm nennen.

Irgendwo in der Dunkelheit klimperte es, und dann kratzte etwas.

»Ratten«, sagte Karotte. »Die armen Tiere versuchen immer wieder, Zwergenbrot zu fressen. Ah, da sind wir. Die Steinsemmel. Natürlich eine Nachbildung.«

Mumm betrachtete das unförmige Etwas in der staubigen Vitrine. Die Ähnlichkeit mit einer Semmel war nur zu erkennen, wenn man vorher darauf hingewiesen worden war. Andernfalls hätte man das Objekt vermutlich als Klumpen wahrgenommen. Größe und Form entsprachen einem gut eingesessenen Kissen. Hier und dort zeigten sich einige versteinerte Rosinen.

»Nach einem arbeitsreichen Tag stützt meine Frau die Füße auf so etwas«, sagte Mumm.

»Die Steinsemmel ist eintausendfünfhundert Jahre alt«, erwiderte Karotte mit Ehrfurcht in der Stimme.

»Ich dachte, dies sei eine Nachbildung.«

»Nun ja…«, räumte Karotte ein. »Aber es ist die Nachbildung eines sehr wichtigen Gegenstands.«

Mumm schnupperte. Ein beißender Geruch lag in der Luft. »Riecht ziemlich stark nach Katze hier drin.«

»Ich fürchte, sie folgen den Ratten hierher. Eine Ratte, die an Zwergenbrot geknabbert hat, kann nicht mehr sehr schnell laufen.«

Mumm zündete sich eine Zigarre an. Karotte bedachte ihn mit einem Blick, in dem unsichere Missbilligung zum Ausdruck kam. »Wir danken den Besuchern, dass sie hier nicht rauchen, Herr«, sagte er.

»Wieso?«, fragte Mumm. »Woher wollt ihr wissen, dass sie nicht doch rauchen?« Er lehnte sich an die Vitrine. »Na schön, Hauptmann. Warum schickt man mich wirklich nach… Bums? Ich weiß nicht sehr viel über Diplomatie, aber mir ist klar, dass es dabei nie um nur eine Sache geht. Was hat es mit dem Niederen König auf sich? Warum fallen die Zwerge übereinander her?«

»Nun, Herr, hast du jemals vom Kruk gehört?«

»Meinst du das Minengesetz der Zwerge?«, erwiderte Mumm.

»Ausgezeichnet, Herr. Allerdings steckt noch viel mehr dahinter. Das Kruk betrifft… die Lebensweise der Zwerge. Besitz und Eigentum, Eherecht, Erbschaft, Regeln bei Kontroversen und so weiter. Der Niedere König… Nun, man könnte ihn als letztes Berufungsgericht bezeichnen. Er wird beraten, hat aber das letzte Wort. Kannst du mir folgen?«

»Bisher ergibt alles einen Sinn.«

»Er wird auf der Steinsemmel gekrönt und sitzt darauf, wenn er seine Urteile fällt, weil das alle Niedere Könige getan haben, seit B’hrian Blutaxt vor tausendfünfhundert Jahren. Es… verleiht Autorität.«

Mumm nickte verdrießlich. Auch das ergab einen Sinn. Man setzte eine bestimmte Verhaltensweise fort, weil sich die Vorfahren ebenso verhalten hatten, und die Erklärung lautete: »So ist es immer schon gewesen.« Eine Million Tote können sich nicht irren, oder?

»Wird er gewählt oder als König geboren?«, fragte Mumm.

»Ich glaube, man könnte es eine Wahl nennen«, sagte Karotte. »Aber eigentlich läuft es darauf hinaus, dass die alten Zwerge es unter sich ausmachen. Nachdem sie anderen Zwergen zugehört haben. In diesem Zusammenhang spricht man von ›sondieren‹. Traditionell stammt der Niedere König aus einer der großen Familien. Aber… äh…«

»Ja?«

»In diesem Jahr sieht die Sache ein wenig anders aus. Die Gemüter sind… erhitzt.«

Ah, dachte Mumm.

»Der falsche Zwerg hat gewonnen?«, fragte er.

»Das würden einige Zwerge behaupten«, sagte Karotte. »Aber eigentlich wird der ganze Vorgang in Frage gestellt, und zwar von den Zwergen der größten Zwergenstadt außerhalb von Überwald.«

»Nenn den Namen nicht. Du meinst bestimmt den Ort mittwärts von…«

»Ich meine Ankh-Morpork, Herr.«

»Was? Dies ist keine Zwergenstadt!«

»Inzwischen leben hier fünfzigtausend Zwerge, Herr.«

»Im Ernst?«

»Ja, Herr.«

»Bist du sicher

»Ja, Herr.«

Natürlich ist er sicher, dachte Mumm. Und wahrscheinlich kennt er sie alle mit Namen.

»Derzeit findet eine große Debatte statt«, fügte Karotte hinzu. »Man diskutiert über die Definition des Begriffs ›Zwerg‹.«

»Nun, manche Leute sind der Meinung, dass man Zwerge deshalb Zwerge nennt, weil…«

»Nein, Herr. Die Größe spielt dabei keine Rolle. Nobby Nobbs ist kleiner als viele Zwerge, aber deshalb kämen wir nicht auf den Gedanken, ihn Zwerg zu nennen.«

»Es fällt uns sogar schwer, ihn als Menschen zu bezeichnen«, sagte Mumm.

»Und immerhin bin auch ich ein Zwerg.«

»Weißt du, Karotte, ich wollte schon längst mit dir darüber reden…«

»Zwerge haben mich adoptiert. Ich bin bei Zwergen auf gewachsen. Für Zwerge bin ich ein Zwerg, Herr. Ich kann das K’zakra-Ritual durchführen. Ich kenne die Geheimnisse des H’ragna. Ich kann meine G’rakha richtig ha’lk… Ich bin ein Zwerg.«

»Was bedeuten diese Worte?«

»Das darf ich Nichtzwergen nicht verraten.« Karotte versuchte taktvoll, den Zigarrenrauch zu meiden.

»Unglücklicherweise glauben einige Bergzwerge, Emigranten wären keine richtigen Zwerge mehr. Doch diesmal haben die Ansichten der Zwerge von Ankh-Morpork beim Königsamt den Ausschlag gegeben, was vielen Zwergen daheim nicht gefällt. Überall gibt es böses Blut. Familien fallen auseinander. Es wird häufig an Bärten gezogen.«

»Tatsächlich?« Mumm versuchte, nicht zu lächeln.

»Das ist keineswegs komisch, wenn man ein Zwerg ist.«

»Entschuldigung.«

»Und ich fürchte, der neue Niedere König macht es noch schlimmer, obwohl ich ihm natürlich alles Gute wünsche.«

»Ein harter Bursche?«

»Nun, Herr, ich schätze, man kann von folgender Annahme ausgehen: Ein Zwerg, der in der Zwergengesellschaft weit genug aufsteigt, um auch nur als Kandidat für das Amt des Königs in Frage zu kommen, erreicht solch einen Rang bestimmt nicht, indem er das Haihi-Haiho-Lied singt und verletzte Tiere im Wald pflegt. Wie dem auch sei: Nach Zwergenmaßstäben ist König Rhys Rhysson ein moderner Denker, obwohl ich gehört habe, dass er Ankh-Morpork nicht sehr mag.«

»Klingt in der Tat nach einem sehr klaren Denker.«

»Die traditioneller eingestellten Bergzwerge halten nichts von ihm und sind sehr enttäuscht, denn sie glaubten, Albrecht Albrechtson würde der nächste Niedere König werden.«

»Er ist vermutlich kein moderner Denker.«

»Er hält es schon für gefährlich unzwergisch, die Stollen zu verlassen und sich oberhalb des Bodens aufzuhalten.«

Mumm seufzte. »Ganz offensichtlich gibt es da ein Problem, Karotte. Aber der wichtigste Aspekt dieses Problems besteht darin, dass es nicht mich betrifft. Und auch nicht dich, obwohl du glaubst, ein Zwerg zu sein.« Er klopfte an die Vitrine mit der Steinsemmel.

»Eine Nachbildung, wie?«, fragte er. »Bist du ganz sicher, dass es nicht das echte Exemplar ist?«

»Herr! Es gibt nur eine echte Steinsemmel. Wir nennen sie das ›Ding und die Gesamtheit des Dings‹.«

»Nun, wenn es eine wirklich gute Nachbildung ist… Wer könnte den Unterschied erkennen?«

»Jeder Zwerg, Herr.«

»Na schön.«

 

Zwei Flüsse trafen sich an einem kleinen Dorf. Dort gab es bestimmt Boote.

Sein Trick hatte ganz offensichtlich funktioniert. Die Hänge hinter ihm glänzten weiß, und nirgends zeigten sich dunkle Schemen. Ganz gleich, wie gut sie waren – sollten sie versuchen, schneller zu schwimmen als ein Boot…

Fester Schnee knirschte unter ihm. Er wankte an einigen einfachen Hütten vorbei, sah den Landesteg und die Boote, löste das frosterstarrte Seil des nächsten Boots, griff nach einem Ruder und schob sich damit in die Strömung.

Auf den Hügeln regte sich noch immer nichts.

Jetzt hatte er Gelegenheit, seine Situation einzuschätzen. Eigentlich waren mehrere Männer nötig, um ein so großes Boot zu manövrieren, aber er brauchte sich nur von den Ufern fern zu halten. Das würde für die kommende Nacht genügen. Am nächsten Morgen wollte er es irgendwo zurücklassen und vielleicht jemanden bitten, eine Nachricht mit Hilfe des Turms zu übermitteln. Wenn er sich dann ein Pferd kaufte und losritt…

Hinter ihm, unter der Plane am Bug, knurrte etwas. Sie waren wirklich sehr schlau.

 

In einem nicht weit entfernten Schloss blätterte Lady Margolotta stumm in einer Ausgabe von Twurps Adelsverzeichnis.

Es war kein besonders gutes Nachschlagewerk für die Länder auf dieser Seite der Spitzhornberge, wo das Standardwerk Der gothische Almanach hieß – darin nahm Lady Margolotta vier Seiten ein2. Aber es leistete wertvolle Dienste, wenn man wissen wollte, wer in Ankh-Morpork eine Rolle spielte.

Inzwischen steckten Dutzende von Lesezeichen in dem dicken Buch.

Neben Lady Margolotta stand ein dünnes Glas mit roter Flüssigkeit. Sie trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Dann blickte sie ins Kerzenlicht und versuchte, wie Lord Vetinari zu denken.

Ahnte er irgendetwas? Wie viele Nachrichten erreichten ihn? Den Nachrichtenturm gab es erst seit einem Monat, und viele Leute in Bums hielten ihn für etwas Fremdes und Störendes. Aber offenbar herrschte bereits reger Kommunikationsverkehr.

Wen würde Vetinari schicken?

Lady Margolotta erhoffte sich wichtige Hinweise von seiner Wahl. Entsandte er vielleicht jemanden wie Lord Rust oder Lord Selachii? Dann würde sie weitaus weniger von ihm halten. Nach dem, was sie gehört hatte – und Lady Margolotta hörte viel –, konnte das diplomatische Korps von Ankh-Morpork den eigenen Hintern nicht einmal mit einer Karte finden. Natürlich war es recht nützlich für einen Diplomaten, dumm zu wirken, bis er einem schließlich die Socken klaute, aber Lady Margolotta hatte einige Botschafter von Ankh-Morpork kennen gelernt, und ihrer Meinung nach konnte niemand so gut schauspielern.

Das Heulen draußen ging ihr allmählich auf die Nerven. Sie läutete nach dem Diener.

»Fur Ftelle, gnä’ Frau«, sagte Igor und materialisierte aus den Schatten.

»Geh und sag den Kindern der Nacht, sie sollen ihre wundervolle Musik woanders erklingen lassen. Ich habe Kopfschmerzen.«

»Fehr wohl, gnä’ Frau.«

Lady Margolotta gähnte. Eine lange Nacht lag hinter ihr, und der Tag brachte hoffentlich ungestörten Schlaf. Anschließend konnte sie bestimmt klarer denken.

Als sie die Kerze auspusten wollte, fiel ihr Blick erneut auf das Buch. Ein Lesezeichen steckte beim M.

Aber… der Patrizier konnte doch nicht so viel wissen.

Sie zögerte und zog dann den Klingelzug über dem Sarg. Igor erschien erneut, auf typische Igor-Art.

»Die tüchtigen jungen Männer beim Nachrichtenturm sind wach, nicht wahr?«

»Ja, gnä’ Frau.«

»Lass unserem Agenten eine Mitteilung zukommen. Er soll alles über Kommandeur Mumm von der Wache herausfinden.«

»Ift er der Diplomat, gnä’ Frau?«

Lady Margolotta legte sich hin. »Nein, Igor. Er ist der Grund für Diplomaten. Bitte schließ den Deckel.«

 

Sam Mumm konnte sich in Gedanken mit zwei Dingen gleichzeitig befassen. Die meisten Ehemänner sind dazu imstande. Sie lernen, über eigene Dinge nachzudenken, während sie gleichzeitig auf das achten, was ihre Ehefrauen sagen. Das Zuhören ist wichtig, denn sie müssen jederzeit mit der Aufforderung rechnen, den letzten Satz zu wiederholen. Eine sehr praktische zusätzliche Fähigkeit besteht darin, nach verräterischen Ausdrücken im Dialog Ausschau zu halten, in der Art von »Es kann bereits morgen geliefert werden«, oder »Deshalb habe ich sie zum Essen eingeladen«, oder »Das gibt es auch in Blau und es kostet überhaupt nicht viel«.

Lady Sybil wusste davon. Sam konnte ein Gespräch mit ihr führen, ohne den sprichwörtlichen Faden zu verlieren, während er an etwas ganz anderes dachte.

»Ich sagte Willikins, dass er Wintersachen einpacken soll«, meinte sie und musterte ihren Mann. »In dieser Jahreszeit ist es dort oben ziemlich kalt.«

»Ja. Das ist eine gute Idee.« Mumms Blick galt weiterhin einer Stelle dicht über dem Kamin.

»Ich schätze, dass wir selbst einen Empfang veranstalten müssen, deshalb sollten wir genügend Spezialitäten aus Ankh-Morpork mitnehmen. Um ein Zeichen zu setzen. Was hältst du davon, wenn wir uns von einem Koch begleiten lassen?«

»Ja, Schatz. Das wäre eine gute Idee. Außerhalb von Ankh-Morpork weiß niemand, wie man ein ordentliches Hachsenbrötchen macht.«

Sybil war beeindruckt. Vollständig im automatischen Modus funktionierende Ohren hatten den Mund veranlasst, einen kleinen, aber durchaus relevanten Diskussionsbeitrag zu leisten.

»Glaubst du, wir sollten den Alligator mitnehmen?«, fragte sie.

»Ja, das könnte ratsam sein.«

Sybil beobachtete Sams Gesicht. Kleine Furchen bildeten sich auf seiner Stirn, als die Ohren das Gehirn anstießen. Er blinzelte.

»Welchen Alligator?«

»Du warst meilenweit entfernt, Sam. In Überwald, nehme ich an.«

»Entschuldige.«

»Gibt es ein Problem?«

»Warum schickt er mich, Sybil?«

»Bestimmt teilt Havelock meine Ansicht, dass es verborgene Tiefen in dir gibt, Sam.«

Mumm sank etwas tiefer in den Sessel, und ein Schatten fiel auf sein Gesicht. Sybil war sehr praktisch und einfühlsam, doch in ihrem Wesen gab es einen hartnäckigen Fehler: Sie bestand darauf, ihn für einen Mann mit vielen Talenten zu halten. Er wusste, dass es verborgene Tiefen in ihm gab, doch sie enthielten nichts, was er an die Oberfläche bringen wollte. Gewisse Dinge ließ man besser ruhen.

Darüber hinaus wuchs in seinem Innern ein Unbehagen, das ihm keine Ruhe gönnte. Wäre er in der Lage gewesen, die richtigen Worte zu finden, hätte er es vielleicht so beschrieben: Polizisten fuhren nicht in Urlaub. Der Patrizier hatte einmal selbst darauf hingewiesen, dass sich überall dort Verbrechen ereigneten, wo sich Polizisten aufhielten. Woraus folgte: Wenn er nach Bums reiste – oder wie auch immer der verdammte Ort hieß –, würde es dort zu einem Verbrechen kommen. Solche »Überraschungen« hielt die Welt ständig für Angehörige der Polizei bereit.

»Es wäre nett, Serafine wieder zu sehen«, sagte Sybil.

»Ja, in der Tat«, erwiderte Mumm.

In Bums war er natürlich kein Polizist, zumindest nicht offiziell. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger gefiel ihm die ganze Sache. Sie gefiel ihm noch weniger als all die anderen Dinge.

Mumm hatte sich nur selten außerhalb von Ankh-Morpork aufgehalten. Bei diesen wenigen Gelegenheiten hatte er entweder andere Städte besucht, wo man einer Dienstmarke aus Ankh-Morpork mit großen Respekt begegnete, oder irgendwelche Verbrecher verfolgt – die älteste und ehrenvollste Aktivität eines jeden Polizisten. Karottes Auskünfte deuteten darauf hin, dass Mumms Dienstmarke in Bums nicht mehr war als Ballaststoff auf irgendeiner Speisekarte.

Erneut bildeten sich dünne Falten auf seiner Stirn. »Serafine?«

»Lady Serafine von Überwald«, sagte Sybil. »Feldwebel Anguas Mutter. Im vergangenen Jahr habe ich dir von ihr erzählt, weißt du noch? Wir haben zusammen das Mädchenpensionat besucht. Natürlich wussten wir alle, dass sie ein Werwolf war, aber damals hätte es niemand auch nur im Traum gewagt, über solche Dinge zu reden. Es gehörte sich einfach nicht. Natürlich gab es da den Zwischenfall mit dem Skilehrer, aber ich bin sicher, dass er in eine Gletscherspalte gestürzt ist oder so. Serafine hat den Baron geheiratet, und sie wohnen außerhalb von Burums. Ich nehme jedes Silvesterfest zum Anlass, ihr zu schreiben und von Neuigkeiten zu berichten. Sie stammt aus einer sehr alten Werwolffamilie.«

»Reinrassig«, kommentierte Mumm geistesabwesend.

»Es würde Angua bestimmt nicht gefallen, das zu hören, Sam. Mach dir keine Sorgen. Du bekommst bestimmt Gelegenheit, dich zu entspannen. Die Abwechselung wird dir gut tun.«

»Ja, Schatz.«

»Es könnten zweite Flitterwochen für uns sein«, sagte Sybil.

»Ja, stimmt«, entgegnete Mumm und dachte daran, dass sie aus dem einen oder anderen Grund nie erste Flitterwochen gehabt hatten.

»Da wir gerade bei dem, äh, Thema sind…«, sagte Sybil und zögerte kurz. »Erinnerst du dich daran, dass ich die alte Frau Zufrieden besuchen wollte?«

»Oh, ja, wie geht es ihr?« Mumm starrte erneut zum Kamin. Es waren nicht nur alte Schulfreunde. Manchmal hatte er den Eindruck, dass Sybil zu allen Leuten Kontakt hielt, die sie jemals kennen gelernt hatte. Ihre Adressenliste für die Silvesterkarten beanspruchte so viel Platz, dass sie ein zweites Buch beginnen musste.

»Recht gut, soweit ich weiß. Wie dem auch sei: Sie ist der Meinung…«

Es klopfte an der Tür.

Sybil seufzte. »Heute Abend hat Willikins frei«, sagte sie. »Du solltest besser gehen und öffnen, Sam. Das entspricht gewiss deinem Wunsch.«

»Ich habe extra darauf hingewiesen, dass ich nicht gestört werden möchte«, sagte Mumm. »Es sei denn, es ist sehr wichtig.«

»Ja, aber du hältst alle Verbrechen für wichtig, Sam.«

Karotte stand vor der Tür. »Es handelt sich um eine… politische Angelegenheit, Herr.«

»Was kann um Viertel vor zehn abends politisch sein, Hauptmann?«

»Jemand ist ins Zwergenbrotmuseum eingebrochen, Herr«, antwortete Karotte.

Mumm blickte in Karottes ehrliche blaue Augen.

»Mir ging da gerade ein Gedanke durch den Kopf, Hauptmann«, sagte er langsam. »Vermutlich fehlt ein ganz bestimmter Gegenstand.«

»Da hast du Recht, Herr.«

»Die Nachbildung der Steinsemmel.«

»Ja, Herr. Entweder brachen die Unbekannten nach unserem Aufenthalt ins Museum ein, oder…« Karotte befeuchtete sich nervös die Lippen. »Oder sie versteckten sich, während ich dir die Semmel zeigte.«

»Es waren also doch keine Ratten.«

»Nein, Herr. Tut mir Leid.«

Mumm streifte seinen Mantel über und nahm den Helm vom Haken.

»Jemand hat die Nachbildung der Steinsemmel gestohlen, und zwar einige Wochen bevor das echte Exemplar bei einer wichtigen Zeremonie verwendet wird«, sagte er. »Das finde ich sehr interessant.«

»Das dachte ich ebenfalls, Herr.«

Mumm seufzte. »Ich hasse die politischen Fälle.«

Als sie gegangen waren, blieb Sybil noch eine Zeit lang sitzen und blickte auf ihre Hände hinab. Dann nahm sie eine Lampe, ging in die Bibliothek und griff nach einem dünnen, in weißes Leder gebundenen Buch. Goldene Buchstaben bildeten die beiden Worte »Unsere Hochzeit«.

Es war ein recht seltsames Ereignis gewesen. Ankh-Morporks Highsociety – sie stand so weit oben, meinte Sam, dass sie zum Himmel stank – hatte es sich aus reiner Neugier nicht nehmen lassen, daran teilzunehmen. Sybil galt zu jener Zeit als eine besonders interessante Ledige, die von sich selbst glaubte, dass sie nie heiratete. Und Mumm war nur ein Hauptmann der Wache gewesen, jemand, der ziemlich vielen Leuten auf die Nerven ging.

Sybil betrachtete die Ikonographien der Hochzeit. Sie sah sich selbst, recht eindrucksvoll, wenn auch nicht unbedingt eine strahlende Schönheit. Sam schnitt eine recht finstere Miene und schien sich das Haar hastig glatt gestrichen zu haben. Feldwebel Colon hatte die Brust so weit aufgebläht, dass seine Füße fast den Bodenkontakt verloren. Nobby grinste von einem Ohr bis zum anderen. Vielleicht schnitt er auch eine Grimasse; bei ihm ließ sich das kaum feststellen.

Sybil blätterte vorsichtig. Seidenpapier schützte die einzelnen Blätter.

In vielerlei Hinsicht, so sagte sie sich, konnte sie wirklich von Glück sagen. Sie war stolz auf Sam. Er arbeitete hart für das Wohl der Allgemeinheit. Er kümmerte sich um Leute, die als unwichtig galten. Er musste immer mit mehr fertig werden, als gut für ihn war. Sybil kannte keinen zivilisierteren Mann. Er gehörte nicht zur Kategorie »Gentleman«, dem Himmel sei Dank, aber er war liebenswürdig und zuvorkommend.

Eigentlich blieb es ihr ein Rätsel, was er machte. Oh, sie wusste natürlich, welchen Beruf er ausübte, aber ganz offensichtlich verbrachte er nicht viel Zeit hinter seinem Schreibtisch. Wenn er schließlich zu Bett ging, legte er seine Sachen direkt in den Wäschekorb. Erst später, bei Gesprächen mit der Wäscherin, erfuhr sie von den Blutflecken und dem Schlamm. Man munkelte von Verfolgungsjagden über Dächer und Kämpfe, bei denen nicht nur Fäuste zum Einsatz kamen, sondern auch Knie in besonders empfindliche Körperstellen gestoßen wurden. Sams Gegner dabei hatten Namen wie Herribert »Schraubenschneider« Wumms…

Es gab einen Sam Mumm, den Sybil kannte, der fortging und irgendwann zurückkehrte. Und es gab noch einen anderen Mumm, der kaum ihr gehörte und in der gleichen schrecklichen Welt lebte wie die Männer mit diesen abscheulichen Namen.

Sybil Käsedick war dazu erzogen worden, sparsam, rücksichtsvoll und nach außen hin vornehm zu sein. Sie neigte dazu, gut von anderen Leuten zu denken.

Erneut betrachtete sie die Bilder in der Stille des Hauses. Dann putzte sie sich laut die Nase, um anschließend mit dem Packen zu beginnen und sich anderen vernünftigen Dingen zu widmen.

 

Korporal Grinsi Kleinpo war eine Sie und somit eine seltene Blume in Ankh-Morpork.

Man konnte keineswegs behaupten, dass sich Zwerge nicht für Sex interessierten. Sie erkannten durchaus die Notwendigkeit neuer Zwerge, denen man sein Eigentum vererben konnte und die die Arbeit in den Bergwerken fortsetzten. Allerdings sahen sie nur privat einen Sinn darin, zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden. In der Zwergensprache gab es kein weibliches Pronomen, und auch keine allein für Frauen bestimmte Arbeit, sobald die Kinder feste Nahrung zu sich nahmen.

Dann kam Grinsi Kleinpo nach Ankh-Morpork und sah zum ersten Mal Männer, die keine Kettenhemden oder Unterwäsche aus Leder3 trugen, sich stattdessen mit interessanten Farben und aufregendem Make-up schmückten, und diese Männer hießen »Frauen«4. Daraufhin keimte eine Frage in ihrem kugeligen Kopf: »Warum nicht auch ich?«

Inzwischen schimpfte man sie in Kellern und Zwergenkneipen überall in der Stadt den ersten Zwerg von Ankh-Morpork, der einen Rock trug. Er bestand aus strapazierfähigem braunen Leder und war so objektiv erotisch wie ein Stück Holz, doch manche ältere Zwerge deuteten darauf hin, dass sich irgendwo darunter seine Knie befanden.5

Schlimmer noch: Sie mussten nun erkennen, dass unter ihren Söhnen auch – sie erstickten fast an dem Wort – »Töchter« waren. Grinsi bildete nur die Schaumkrone ganz oben auf der Welle. Einige jüngere Zwerge begannen vorsichtig damit, Lidschatten aufzutragen, und sie behaupteten sogar, kein Bier zu mögen. Der Strom der Veränderung spülte durch die Gesellschaft der Zwerge.

Die Zwergengesellschaft verbot es nicht, Steine nach denen zu werfen, die in einem solchen Strom schwammen, aber Hauptmann Karotte hatte keine Zweifel daran gelassen, dass er ein solches Verhalten als Angriff auf einen Angehörigen der Wache interpretieren musste, was Konsequenzen nach sich ziehen würde: Ganz gleich, wie klein die Übeltäter sein mochten – sie konnten nicht damit rechnen, dass ihre Füße den Boden berührten.

Natürlich hatte Grinsi Bart und Helm behalten. Es war eine Sache, sich als Frau zu erklären. Etwas ganz anderes war es, auf die Identität als Zwerg zu verzichten.

»Klarer Fall von Einbruch, Herr«, sagte sie, als Mumm hereinkam. »Die Unbekannten haben das Fenster des Hinterzimmers geöffnet und dabei sehr saubere Arbeit geleistet. Als sie das Museum verließen, verzichteten sie darauf, die Tür zu schließen. Die Vitrine mit der Steinsemmel wurde zertrümmert. Es liegt überall Glas um den Sockel. Andere Dinge sind offenbar nicht gestohlen worden. Es gibt viele Fußabdrücke im Staub. Ich habe einige Bilder angefertigt, aber die Spuren bilden ein ziemliches Durcheinander. Eigentlich lässt sich damit kaum etwas anfangen. Das wär’s im Großen und Ganzen.«

»Keine fallen gelassenen Zigarettenstummel?«, fragte Mumm. »Und keine Brieftaschen oder Zettel mit notierten Adressen?«

»Nein, leider. Es waren keine besonders hilfsbereiten Diebe.«

»Das kann man wohl sagen«, murmelte Karotte.

»Mir ist da etwas aufgefallen«, ließ sich Mumm vernehmen. »Warum riecht es jetzt noch stärker nach Katzenpisse?«

»Ein ziemlich strenger Geruch, nicht wahr?«, erwiderte Grinsi. »Schwefel scheint ebenfalls mit drin zu sein. Obergefreiter Ping meint, er hätte alles so vorgefunden, als er hier eintraf. Aber es fehlen Katzenspuren.«

Mumm ging in die Hocke und betrachtete die Glassplitter. »Wie wurden wir auf diesen Fall aufmerksam?«, fragte er und berührte einige Bruchstücke.

»Obergefreiter Ping hörte das Klirren, Herr. Er ging zur Rückseite des Museums und entdeckte das offene Fenster. Dann verschwanden die Täter durch die Vordertür.«

»Was ich sehr bedauere, Herr.« Ping trat vor und salutierte. Er war ein achtsam wirkender junger Mann, der ständig den Eindruck erweckte, eine Frage stellen zu wollen.

»Wir alle machen Fehler«, sagte Mumm. »Du hast gehört, wie Glas zerbrach?«

»Ja, Herr. Und jemand fluchte.«

»Tatsächlich? Wonach klang es?«

»Äh… nach ›verdammter Mist‹, Herr.«

»Und dann bist du zur Rückseite des Museums gegangen, hast das aufgebrochene Fenster gesehen und wie darauf reagiert…?«

»Ich habe ›Ist da jemand?‹ gerufen, Herr.«

»Ach? Und wenn du darauf ein Nein gehört hättest? Schon gut. Du brauchst, diese Frage nicht zu beantworten. Was geschah dann?«

»Äh… ich hörte, wie noch mehr Glas zerbrach, und als ich nach vorn zurückkam, stand die Tür offen, und die Einbrecher waren fort. Ich bin zur Wache gelaufen und habe Hauptmann Karotte Bescheid gegeben. Immerhin liegt ihm dieser Ort sehr am Herzen.«

»Danke… Ping, nicht wahr?«

»Ja, Herr.« Zwar war die entsprechende Frage nicht gestellt worden, aber Ping zögerte nicht, sie trotzdem zu beantworten. »Das Wort stammt aus einem Dialekt und bedeutet ›Rieselwiese‹, Herr.«

»Na schön. Du kannst gehen.«

Der Obergefreite verbarg seine Erleichterung nicht und eilte fort.

Mumm ließ seine Gedanken treiben. Er mochte diese Augenblicke, die kleine Schale aus Zeit, wenn das Verbrechen direkt vor ihm lag und er glaubte, dass die Welt verstanden werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt sah man richtig hin, um zu erkennen, was da war, und manchmal erwiesen sich die nicht vorhandenen Dinge als besonders interessant.

Ein etwa neunzig Zentimeter hoher Sockel hatte die Steinsemmel getragen und der Glaskasten mit dem Ausstellungsstück war fest damit verschraubt gewesen.

»Die Diebe haben das Glas nicht absichtlich zerbrochen«, sagte Mumm nach einer Weile.

»Wie kommst du darauf, Herr?«

»Hier, sieh nur.« Mumm deutete auf drei nebeneinander liegende gelöste Schrauben. »Sie haben versucht, den Kasten auseinander zu nehmen. Dabei muss etwas schief gegangen sein.«

»Aber was hat dies alles für einen Sinn?«, fragte Karotte. »Es ist doch nur eine Nachbildung, Herr! Selbst wenn sich dafür ein Käufer findet – ihr Wert beträgt höchstens einige Dollar.«

»Eine gute Nachbildung könnte man gegen das echte Exemplar austauschen«, sagte Mumm.

»Sicher, ein solcher Versuch wäre zumindest denkbar«, räumte Karotte ein. »Allerdings gibt es dabei ein Problem.«

»Welches?«

»Zwerge sind nicht dumm, Herr. Ein großes Kreuz ist in die Unterseite der Nachbildung geritzt. Außerdem besteht sie nur aus Gips.«

»Oh.«

»Aber es war eine gute Idee, Herr«, sagte Karotte aufmunternd. »Du konntest es nicht besser wissen.«

»Ich frage mich, ob die Diebe darüber informiert sind.«

»Selbst wenn sie nichts wussten – sie konnten wohl kaum hoffen, damit durchzukommen.«

»Die echte Steinsemmel wird streng bewacht«, erklärte Grinsi. »Die meisten Zwerge haben fast nie die Chance, sie zu sehen.«

»Und die Leute würden Verdacht schöpfen, wenn jemand einen großen Stein unter dem Pullover versteckt«, sagte Mumm mehr zu sich selbst. »Es handelt sich also um ein dummes Verbrechen. Andererseits fühlt es sich nicht dumm an. Ich meine, warum sollte sich jemand so viel Mühe machen? Das Schloss der Tür ist ein Witz. Man könnte es einfach aus dem Holz treten. Wenn es meine Absicht wäre, ein solches Ding zu drehen… ich hätte mir das Ding einfach geschnappt und mich dann aus dem Staub gemacht, noch während das Glas klirrte. Warum hat jemand um diese Zeit in der Nacht solchen Wert darauf gelegt, leise zu sein?«

Grinsi suchte unter einer anderen Vitrine und fand einen Schraubenzieher, an dem ein wenig Blut klebte.

»Seht ihr?«, fragte Mumm. »Etwas ist ins Rutschen geraten, und jemand hat sich in die Hand geschnitten. Was hat das alles für einen Sinn, Karotte? Katzenpisse und Schwefel und Schraubenzieher… Ich hasse es, wenn es zu viele Spuren gibt. Das macht die Lösung des Falls viel schwieriger.«

Er ließ den Schraubenzieher fallen. Der Zufall wollte es, dass er sich mit der Spitze in den Boden bohrte und zitternd stecken blieb.

»Ich gehe heim«, sagte Mumm. »Bestimmt finden wir mehr heraus, wenn die Sache zu stinken beginnt.«

 

Den folgenden Morgen verbrachte Mumm mit dem Versuch, mehr über zwei fremde Länder herauszufinden. Eins davon stellte sich als Ankh-Morpork heraus.

Überwald war nicht weiter schwer. Die Region war etwa fünf- oder sechsmal größer als die ganze Sto-Ebene und erstreckte sich bis zur Mitte. Dort gab es so viele Wälder, kleine Bergketten und Flüsse, dass es bisher niemandem gelungen war, eine Karte mit allen Einzelheiten zu zeichnen. Überwald war auch nicht erforscht.6 Die dort Lebenden hatten Besseres zu tun, und wer von außerhalb kam, um alles zu erkunden, verschwand für immer in den Wäldern. Jahrhundertelang hatte sich niemand für Überwald interessiert. Völkern, die sich hinter zu vielen Bäumen versteckten, konnte man nichts verkaufen.

Die vor einigen Jahren angelegte und bis nach Gennua reichende Kutschenstraße hatte vermutlich alles verändert. Eine Straße brachte Verkehr. Die Bewohner der Berge hatten sich immer von der Ebene angezogen gefühlt, und seit einiger Zeit gesellten sich ihnen die Leute aus Überwald hinzu. Nachrichten erreichten die Heimat: In Ankh-Morpork kann man Geld verdienen; bringt die Kinder mit. Knoblauch brauchen wir nicht, denn die Vampire arbeiten alle bei den koscheren Fleischern. Und wenn einem in Ankh-Morpork jemand auf die Füße tritt, darf man zurücktreten. Akute Lebensgefahr besteht nicht, da einem niemand genug Interesse entgegenbringt.

Mumm konnte die Überwald-Zwerge von denen aus Kupferkopf unterscheiden. Letztere waren kleiner, lauter und fühlten sich unter Menschen wohler. Die Zwerge aus Überwald hingegen übten mehr Zurückhaltung und neigten dazu, hinter irgendwelchen Ecken zu verschwinden. Die meisten von ihnen sprachen kein Morporkianisch – in einigen Gassen, die von der Sirupminenstraße abzweigten, konnte man den Eindruck gewinnen, dass man sich in einem ganz anderen Land aufhielt. Doch diese Zwerge waren genau das, was sich ein Polizist von den Bürgern erhoffte: Sie erzeugten keine Unruhe. Sie gingen einer geregelten Arbeit nach, zahlten ihre Steuern bereitwilliger als Menschen und sorgten außerdem dafür, dass die Ratten in Ankh-Morpork nicht überhand nahmen. Probleme lösten sie unter sich. Wenn solche Leute die Aufmerksamkeit der Polizei erregten, dann meistens in Form eines mit Kreide gezeichneten Umrisses.

Doch hinter den schmutzigen Fassaden der Mietshäuser und Werkstätten der Ankertaugasse und des Fischbeinwegs gab es Vendetten und Fehden in der Zwergengemeinschaft. Oft gingen sie auf zwei angrenzende Bergwerkschächte zurück, fünfhundert Kilometer und tausend Jahre entfernt. In manchen Kneipen verkehrten nur Zwerge von einem ganz bestimmten Berg. Über manche Straßen ging man nur dann, wenn der eigene Clan eine ganz bestimmte Erzader abbaute. Die Art und Weise, in der man den Helm trug oder den Bart teilte, gab anderen Zwergen wichtige Zeichen, die anderen Leuten verborgen blieben.

»Außerdem gibt es noch Unterschiede dabei, wie man sein G’ardrhg richtig krazak«, sagte Korporal Kleinpo.

»Ich wage nicht einmal zu fragen«, erwiderte Mumm.

»Ich fürchte, ich könnte es ohnehin nicht erklären«, meinte Grinsi.

»Habe ich einen Gaadrerghuh?«, fragte Mumm.

Grinsi schnitt eine Grimasse, als sie die falsche Aussprache hörte. »Ja, Herr. Jeder hat einen. Aber nur ein Zwerg kann seinen richtig krazak. Beziehungsweise ihren«, fügte sie hinzu.

Mumm seufzte und blickte auf seine Notizen unter der Überschrift »Überwald«. Er war sich nur halb bewusst, dass er selbst die Geografie so behandelte, als ermittle er in einem Verbrechen. (»Hast du gesehen, wer das Tal aus dem Fels gemeißelt hat? Würdest du den Gletscher wieder erkennen?«)

»Bestimmt unterlaufen mir viele Fehler, Grinsi«, sagte er.

»Sei unbesorgt, Herr. Das ist bei Menschen immer der Fall. Die meisten Zwerge merken es, wenn du versuchst, Fehler zu vermeiden.«

»Und es macht dir bestimmt nichts aus, mich zu begleiten?«

»Früher oder später muss ich es hinter mich bringen, Herr.«

Mumm schüttelte traurig den Kopf. »Ich begreife es nicht, Grinsi. Warum all die Aufregung über eine Zwergin, die versucht, sich wie…«

»… eine Frau zu benehmen, Herr?«

»Ja. Und niemand nimmt Anstoß daran, dass Karotte von sich behauptet, ein Zwerg zu sein, obwohl er ganz klar ein Mensch ist…«

»Nein, Herr. Er hat Recht. Er ist ein Zwerg. Zwerge haben ihn adoptiert. Er hat das Y’grad vollzogen und beachtet das J’kargra, sofern es in einer Stadt möglich ist. All das definiert seine Identität als Zwerg.«

»Er ist mehr als eins achtzig groß!«

»Dann ist er eben ein sehr großer Zwerg, Herr. Wir finden nichts dabei, dass er auch ein Mensch sein will. Nicht einmal die Drudak’ak sähen hier ein Problem.«

»Mir gehen allmählich die Hustenbonbons aus, Grinsi. Wie war das?«

»Nun, Herr, die meisten Zwerge in Ankh-Morpork sind… Ich nehme an, man könnte sie als liberal bezeichnen. Sie stammen größtenteils aus den Bergen hinter Kupferkopf und kommen mit Menschen gut aus. Manche von ihnen räumen sogar ein, dass sie Töchter haben, Herr. Aber einige der… altmodischen Überwald-Zwerge sind nicht sehr weit herumgekommen und verhalten sich so, als wäre B’hrian Blutaxt noch am Leben. Deshalb nennen wir sie Drudak’ak

Mumm versuchte, das Wort auszusprechen, aber um die Zwergensprache zu beherrschen, musste man ein Leben lang üben und brauchte außerdem eine mittelschwere Halsentzündung.

»›Über dem Boden‹… ›Sie-Verneinung‹…« Er gab es auf.

»Sie kommen nicht oft genug an die frische Luft«, übersetzte Grinsi.

»Oh. Na schön. Und alle dachten, der neue König sei einer von ihnen?«

»Es heißt, Albrecht hätte nicht ein einziges Mal in seinem Leben Sonnenlicht gesehen. Am Tag geht sein Clan nie an die Oberfläche. Alle waren sicher, er würde der neue Niedere König sein.«

Doch dann kam es anders, dachte Mumm. Einige Überwald-Zwerge unterstützten ihn nicht, und daraufhin entwickelten sich die Dinge in eine andere Richtung. Inzwischen gab es viele Zwerge, die in Ankh-Morpork geboren waren. Die Kinder trugen ihre Helme mit der hinteren Seite nach vorn und sprachen Zwergisch nur noch zu Hause. Viele von ihnen würden eine Spitzhacke nicht einmal dann erkennen, wenn man sie damit schlug.7 Sie wollten ihr Leben nicht von einem alten Zwerg bestimmen lassen, der in einem fernen Berg auf einer uralten Semmel hockte.

Nachdenklich klopfte Mumm mit dem Stift auf sein Notizbuch. Und deshalb prügeln sich die Zwerge in meinen Straßen, dachte er.

»In letzter Zeit sieht man die Zwergensänften immer häufiger«, sagte er. »Trolle tragen sie, und sie sind mit Vorhängen aus dickem Leder ausgestattet…«

»Drudak’ak«, meinte Grinsi. »Sehr… traditionelle Zwerge. Wenn sie am Tag über dem Boden unterwegs sein müssen, dann meiden sie das Sonnenlicht.«

»Vor einem Jahr sind sie mir noch nicht aufgefallen.«

Grinsi zuckte mit den Schultern. »Es leben jetzt ziemlich viele Zwerge in der Stadt, Herr. Die Drudak’ak haben das Gefühl, unter Zwergen zu sein. Sie brauchen sich nicht mit Menschen abzugeben.«

»Mögen sie uns nicht?«

»Sie lehnen es sogar ab, mit Menschen zu reden. Doch in dieser Hinsicht sind sie auch Zwergen gegenüber recht wählerisch.«

»Das ist doch blödsinnig!«, entfuhr es Mumm. »Woher bekommen sie Lebensmittel? Von Pilzen allein kann man nicht leben. Was tun sie, um Erz zu verkaufen, Bäche aufzustauen und sich Holz für die Stützbalken in den Stollen zu beschaffen?«

»Entweder bezahlen sie andere Zwerge, um diese Arbeiten zu verrichten, oder sie nehmen Menschen in ihre Dienste«, sagte Grinsi. »Sie können es sich leisten. Es sind sehr gute Bergleute: Sie besitzen sehr gute Bergwerke.«

»Für mich klingt es nach einem Haufen…« Mumm unterbrach sich. Ein kluger Mann, so wusste er, respektierte die traditionelle Lebensweise anderer Leute, um Karottes freundliche Worte zu zitieren. Doch Mumm fiel es oft schwer, dieses Prinzip zu achten. Es gab Leute, deren »traditionelle Lebensweise« darin bestand, anderen Leuten die Kehle durchzuschneiden, und Mumm konnte sich nicht dazu durchringen, solchem Verhalten mit Respekt zu begegnen.

»Ich denke nicht besonders diplomatisch, oder?«, fragte er. Grinsi erwiderte seinen Blick und achtete darauf, dass ihre Miene ausdruckslos blieb.

»Oh, ich weiß nicht, Herr«, erwiderte sie. »Du hast den Satz nicht beendet. Und… nun, viele Zwerge respektieren die Drudak’ak. Sie… fühlen sich besser, wenn sie einen der traditionellen Zwerge sehen, Herr.«

Mumm runzelte verwirrt die Stirn. Dann dämmerte es ihm.

»Oh, ich verstehe. Vermutlich sagen sie dann Dinge wie ›Dem Himmel sei Dank, dass jemand die Traditionen wahrt‹.«

»Ja, Herr. Ich nehme an, in jedem Zwerg von Ankh-Morpork steckt ein winziger Drudak’ak, der weiß, dass Zwerge normalerweise in Höhlen und Stollen leben.«

Mumm kritzelte in seinem Notizbuch. Daheim, dachte er. Karotte hatte in aller Unschuld von den Zwergen »daheim« gesprochen. Alle Zwerge – ganz gleich, wo sie sich aufhielten – dachten von den Bergen als »daheim«. Eigentlich komisch, dass die Leute überall Leute waren, wohin man auch ging, auch wenn die betreffenden Leute nicht zu den Leuten gehörten, die den Ausdruck »Leute sind überall Leute« geprägt und sich dabei ganz bestimmte Leute vorgestellt hatten. Und selbst wenn sie nicht die eigenen Vorstellungen von Tugend teilten: Man fand Gefallen daran, andere Leute tugendhaft zu sehen, vorausgesetzt natürlich, es kostete einen nichts.

»Warum sind die Dru… die traditionellen Zwerge hierher gekommen? In Ankh-Morpork wimmelt es von Menschen. Es dürfte ihnen nicht leicht fallen, den Menschen dauernd aus dem Weg zu gehen.«

»Sie werden… gebraucht, Herr. Die Gesetze der Zwerge sind sehr kompliziert, und es gibt häufig Kontroversen. Außerdem nehmen sie Trauungen vor und so weiter.«

»Das klingt eher nach Priestern.«

»Zwerge sind nicht religiös, Herr.«

»Natürlich nicht. Nun gut. Danke, Korporal. Irgendwelche Neuigkeiten über den Einbruch im Zwergenbrotmuseum? Sind schwefelverseuchte inkontinente Katzen vorstellig geworden, um die Tat zu gestehen?«

»Nein, Herr. Das Komitee Gleiche Höhe Für Zwerge hat ein Flugblatt herausgegeben, in dem von einem weiteren Beispiel für die zweitklassige Behandlung der Zwerge in dieser Stadt die Rede ist. Aber es handelt sich um das übliche Flugblatt, du weißt schon, das mit den leeren Stellen, um die Einzelheiten einzufügen.«

»Alles bleibt beim Alten, Grinsi. Wir sehen uns morgen. Schick Detritus zu mir.«

Warum ausgerechnet er? In Ankh-Morpork wimmelt es geradezu von Diplomaten. Die Oberschicht war praktisch für die Diplomatie geschaffen, und ihre Angehörigen kamen mit solchen Dingen bestens zurecht, weil viele der ausländischen hohen Tiere ehemalige Schulkameraden waren. Sie sprachen sich gegenseitig mit Vornamen an, selbst wenn die Leute Ahmed oder Fong hießen. Sie wussten, welche Gabel man wofür verwendete. Sie gingen auf die Jagd, schossen und angelten. Sie bewegten sich in Kreisen, die sich mit denen ihrer fremden Gastgeber überlappten und ziemlich weit von den eher schmutzigen Kreisen entfernt waren, mit denen es Leute wie Mumm jeden Tag zu tun bekamen. Sie wussten, wann man nickte und zwinkerte. Welche Chance hatte er gegen Krawatte und Wappen?

Vetinari warf ihn Wölfen vor. Und Zwergen. Und Vampiren. Mumm schauderte. Und Vetinari hatte für alle seine Entscheidungen einen triftigen Grund.

»Herein, Detritus.«

Der verblüffte Detritus fragte sich immer wieder, woher Mumm wusste, dass er vor der Tür stand. Mumm hatte ihm nie verraten, dass die eine Wand seines Büros knarrte und sich wölbte, wenn der große Troll durch den Flur schritt.

»Du mich sprechen wollen, Herr?«

»Ja. Setz dich. Es geht um die Überwald-Angelegenheit.«

»Ja, Herr.«

»Was hältst du davon, die Heimat wieder zu sehen?«

Detritus’ Gesicht blieb leer, wie immer, wenn er geduldig darauf wartete, dass etwas einen Sinn ergab.

»Ich meine Überwald«, fügte Mumm hinzu.

»Keine Ahnung, Herr. Ich nur ein kleiner Stein war, als fortzogen wir. Mein Vater ein besseres Leben in der großen Stadt wollte.«

»Du wirst vielen Zwergen begegnen, Detritus.« Mumm verzichtete darauf, die Vampire und Werwölfe zu erwähnen. Wenn sie einen Troll angriffen, begingen sie damit den letzten großen Fehler in ihrem untoten Leben. Immerhin benutzte Detritus als Handwaffe eine Armbrust, deren Sehne eine Zugkraft von zweitausend Pfund hatte.

»Nicht weiter schlimm sein, Herr. Ich bin sehr modern, was betrifft Zwerge.«

»Aber sie könnten dir mit einer recht altmodischen Einstellung begegnen.«

»Du meinen Zwerge aus der Tiefe?«

»Ja.«

»Ich von ihnen gehört.«

»Soweit ich weiß, finden nahe der Mitte noch immer Kämpfe zwischen Zwergen und Trollen statt. Unter solchen Umständen sind Takt und Diplomatie erforderlich.«

»Dafür ich bin genau der richtige Troll, Herr«, sagte Detritus.

»In der vergangenen Woche hast du einen Mann durch eine Mauer gedrückt, Detritus.«

»Ich dabei sehr taktvoll vorgegangen bin. Und die Mauer nicht sehr dick war.«

Mumm ließ es dabei bewenden. Der fragliche Mann hatte drei Wächter ins Reich der Träume geschickt, mit einer Keule, die Detritus mit einer Hand zermalmte, bevor er eine Mauer suchte, die ihm taktvoll genug erschien.

»Bis morgen. Paraderüstung, denk dran. Und jetzt schick Angua zu mir.«

»Sie nicht da ist, Herr.«

»Mist. Dann sende einige Mitteilungen für sie aus.«

 

Igor schlurfte durch die Flure des Schlosses und zog dabei auf angemessene Weise einen Fuß hinter sich her.

Er war Igor, Sohn von Igor, Neffe mehrerer Igors, Bruder von Igors und Vetter von so vielen Igors, dass er sich ohne ein dickes Adressbuch nicht an alle erinnern konnte. Igors änderten kein funktionierendes Rezept.8

Und allen Igors gefiel es, für Vampire zu arbeiten. Vampire hielten sich an einen ganz bestimmten Zeitplan, waren höflich zu ihren Bediensteten und – ein wichtiger Punkt – erforderten nicht viel Arbeit beim Bettenmachen und Kochen. Außerdem verfügten sie in den meisten Fällen über kühle, große Keller, wo sich ein Igor seiner wahren Berufung widmen konnte. Dies alles ergab einen guten Ausgleich für jene unliebsamen Zwischenfälle, die damit endeten, dass man die Asche der Vampire zusammenkehren musste.

Er betrat Lady Margolottas Gruft und klopfte höflich an den Sargdeckel, der daraufhin ein wenig zur Seite rutschte.

»Ja?«

»Ef tut mir Leid, dich mitten am Nachmittag zu ftören, Euer Gnaden, aber du haft gefagt…«

»Schon gut. Und…?«

»Der Patrifier entfendet Mumm, Euer Gnaden.«

Eine zierliche Hand schob sich durch den Spalt zwischen Deckel und Sarg und wurde zu einer Faust.

»Ja!«

»In der Tat, Euer Gnaden.«

»Na so was. Samuel Mumm. Armer Teufel. Wissen die Hündchen Bescheid?«

Igor nickte. »Der Igor def Baronf hat eine Nachricht entgegengenommen.«

»Und die Zwerge?«

»Ef ift eine offizielle Ernennung. Alle wiffen Bescheid. Feine Gnaden, der Herfog von Ankh-Morpork, Fir Famuel Mumm, Kommandeur der Ftadtwache von Ankh-Morpork.«

»Dann ist die Kacke echt am Dampfen, Igor.«

»Gut aufgedrückt, Euer Gnaden. Der Geruch dürfte niemandem gefallen.«

»Ich schätze, er lässt sie hinter sich zurück, Igor.«

 

Betrachten wir ein Schloss einmal aus dem Blickwinkel der Möbel.

Dieses spezielle Schloss hat Sessel, aber sie scheinen nicht oft verwendet worden zu sein. Neben dem Kamin steht ein großes Sofa, das ziemlich abgenutzt wirkt. Die anderen Einrichtungsgegenstände sind offenbar nur deshalb vorhanden, damit der Raum nicht zu leer wirkt.

Der lange Eichentisch glänzt und sieht trotz seines Alters erstaunlich unbenutzt aus. Eine Erklärung dafür bieten vielleicht die vielen weißen Tonnäpfe auf dem Boden.

Auf einem von ihnen steht »Vater« geschrieben.

Die Baronin Serafine von Überwald klappte verärgert Twurps Adelsverzeichnis zu.

»Der Mann ist… ein Niemand«, sagte sie. »Eine Marionette ohne Bedeutung. Dass man ihn schickt, ist eine Beleidigung

»Der Name Mumm reicht weit in die Vergangenheit zurück«, sagte Wolfgang von Überwald. Er machte Liegestütze vor dem Kamin, mit nur einer Hand.

»Und wenn schon. Das gilt auch für den Namen Schmidt.«

Mitten in der Luft wechselte Wolfgang von der einen Hand zur anderen. Er war nackt – er gönnte seinen Muskeln gern frische Luft. Sie glänzten. Mit einer anatomischen Karte hätte man jeden Einzelnen identifizieren können. Interessant wirkte auch sein Haar: Es wuchs nicht nur auf dem Kopf, sondern auch an den Schultern.

»Er ist Herzog, Mutter.«

»Ha! In Ankh-Morpork gibt es nicht einmal einen König!«

»… neunzehn, zwanzig… Ich habe Geschichten darüber gehört, Mutter…«

»Ach, Geschichten. Sybil schreibt mir jedes Jahr dumme kleine Briefe! Sam dies, Sam das. Sie muss natürlich dankbar dafür sein, dass sie überhaupt einen Mann bekommen hat, aber… er ist doch nichts weiter als jemand, der Diebe fängt. Ich werde es ablehnen, ihn zu empfangen.«

»Das wirst du nicht, Mutter«, brummte Wolfgang. »Das wäre… neunundzwanzig, dreißig… gefährlich. Was erzählst du Lady Sybil von uns?«

»Nichts! Ich beantworte ihre Briefe natürlich nicht. Sie ist eine jämmerliche und törichte Frau.«

»Und sie schreibt dir noch immer jedes Jahr? Sechsunddreißig, siebenunddreißig…«

»Ja. Normalerweise vier Seiten. Das sagt einem alles über sie, was man wissen muss.«

Eine Klappe in der unteren Hälfte einer nahen Tür schwang auf, und ein großer, kräftig gebauter Wolf kam herein. Er blickte nach rechts und links, bevor er sich hingebungsvoll schüttelte.

»Guye!«, sagte die Baronin entrüstet. »Du weißt doch, was ich gesagt habe! Es ist nach sechs! Wechsle die Gestalt, wenn du aus dem Garten hereinkommst.«

Der Wolf knurrte leise und verschwand dann hinter einem Wandschirm aus massivem Eichenholz am anderen Ende des Raums. Ein seltsames, weiches Geräusch erklang. Eigentlich war es gar kein Geräusch, eher eine Veränderung in der Textur der Luft.

Der Baron trat hinter dem Wandschirm hervor und zog den Gürtel eines recht mitgenommenen Bademantels zurecht. Die Baronin schniefte.

»Dein Vater trägt zumindest Kleidung«, sagte sie.

»Kleidung ist ungesund, Mutter«, wandte Wolfgang ruhig ein. »Nacktheit bedeutet Reinheit.«

Der Baron setzte sich. Er war ein großer Mann mit gerötetem Gesicht, soweit sein Gesicht unter dem langen Haar, den buschigen Augenbrauen und dem dichten Bart zu erkennen war: Das wilde Wuchern schien miteinander zu wetteifern.

»Nun?«, brummte er.

»Der Diebesfänger Mumm aus Ankh-Morpork wird als angeblicher Botschafter zu uns geschickt!«, sagte die Baronin scharf.

»Zwerge?«

»Man wird ihnen natürlich Bescheid geben.«

Einige Sekunden blickte der Baron ins Leere und zeigte dabei den gleichen Gesichtsausdruck wie Detritus, wenn sich in ihm ein neuer Gedanke formte.

»Schlimm?«, brachte er schließlich hervor.

»Ich habe dir tausend Mal davon erzählt, Guye«, sagte die Baronin. »Du verbringst zu viel Zeit in der anderen Gestalt! Du weißt doch, wie es nachher um dich steht. Stell dir vor, es kämen offizielle Besucher?«

»Sie beißen!«

»Siehst du! Leg dich irgendwo schlafen und komm erst dann wieder, wenn du fähig bist, ein richtiger Mensch zu sein!«

»Mumm könnte alles ruinieren, Vater«, sagte Wolfgang. Er hatte inzwischen mit Handständen begonnen, wobei er ebenfalls nur eine Hand einsetzte.

»Guye! Hör auf damit!«

Der Baron stellte den Versuch ein, sich mit dem Bein am Ohr zu kratzen. »Vorsicht?«, fragte er.

Wolfgangs glänzender Leib sank kurz nach unten, als er die Hand wechselte.

»Das Leben in der Stadt lässt Männer schwach werden. Bestimmt gibt uns Mumm Gelegenheit für ein wenig Spaß. Es heißt, er läuft gern.« Er lachte leise. »Wir werden sehen, wie schnell er ist.«

»Seine Frau meint, er hätte ein weiches Herz… Guye! Wag es bloß nicht! Geh nach oben, wenn du so etwas tun musst

Der Baron wirkte nur wenig verlegen, rückte seinen Bademantel aber trotzdem zurecht.

»Räuber!«, sagte er.

»Ja, sie könnten in dieser Jahreszeit ein Problem sein«, bestätigte Wolfgang.

»Mindestens ein Dutzend«, meinte die Baronin. »Das sollte eigentlich…«

Wolf schnaufte und stand noch immer auf einer Hand. »Nein, Mutter. Du bist dumm. Seine Kutsche muss uns sicher erreichen. Verstehst du? Wenn sie bei uns eingetroffen ist… Nun, dann kann eine Menge passieren.«

Die Brauen des Barons neigten sich einander entgegen, als er nachdachte. »Plan! König!«

»Genau.«

Die Baronin seufzte. »Ich traue dem kleinen Zwerg nicht.«

Wolf stieß sich ab und landete auf den Füßen. »Nein. Ob er Vertrauen verdient oder nicht – wir haben nur ihn. Mumm muss uns erreichen, mit seinem weichem Herzen. Er könnte uns sogar nützlich sein. Vielleicht… sollten wir der Sache ein wenig nachhelfen.«

»Warum?«, schnappte die Baronin. »Soll sich Ankh-Morpork um seine eigenen Kinder kümmern!«

 

Es klopfte an der Tür, als Mumm frühstückte. Willikins führte einen kleinen, dünnen Mann in zwar ordentlicher, aber abgewetzter schwarzer Kleidung herein. Durch den übermäßig großen Kopf wirkte er wie ein Lutscher. Er trug eine schwarze Melone, auf die gleiche Weise wie ein Soldat seinen Helm, und er ging wie jemand, mit dessen Knien etwas nicht stimmte.

»Es tut mir sehr Leid, Seine Gnaden zu stören…«

Mumm legte das Messer beiseite. Er hatte gerade eine Orange geschält. Sybil bestand darauf, dass er Obst aß.

»Nicht Seine Gnaden«, erwiderte er. »Einfach nur Mumm. Oder Sir Samuel, wenn du darauf bestehst. Du bist Vetinaris Sekretär, nicht wahr?«

»Inigo Schaumlöffel, Herr. Mhm-mhm. Ich soll mit dir nach Überwald reisen.«

»Ah, du wirst das Flüstern und Zwinkern übernehmen, während ich die Gurkenbrote verteile, stimmt’s?«

»Ich werde versuchen, zu Diensten zu sein, Herr, obwohl ich nicht gut zwinkere. Mhm-mhm.«

»Möchtest du was zum Frühstück?«

»Ich habe bereits gegessen, Herr. Mhm-m, hm.«

Mumm musterte den Sekretär von Kopf bis Fuß. Es war nicht nur, dass der Kopf zu groß wirkte. Jemand schien alles darunter zusammengequetscht und nach oben gedrückt zu haben. Außerdem ging ihm allmählich das Haar aus, und er hatte den Rest sorgfältig auf dem rosaroten Schädel verteilt. Sein Alter ließ sich nur schwer schätzen. Er konnte fünfundzwanzig und ein Schwarzseher sein – oder ein jung aussehender Vierziger. Mumm tippte auf die Erste der beiden Möglichkeiten. Irgendetwas an dem Mann wies darauf hin, dass er sein Leben damit verbracht hatte, die Welt über den Rand eines Buches hinweg zu beobachten. Und dann das – war es ein nervöses Lachen? Ein missglücktes Kichern? Eine seltsame Art des Räusperns?

Und wie er ging… sonderbar.

»Nicht einmal eine Frucht? Diese Orangen kommen frisch aus Klatsch. Ich kann sie sehr empfehlen.«

Mumm warf dem Mann eine zu – sie prallte an seinem Arm ab. Schaumlöffel wich einen Schritt zurück und schien entsetzt zu sein von der Angewohnheit des Adels, mit Obst zu werfen.

»Ist alles in Ordnung, Herr? Mhm-mhm.«

»Entschuldige bitte«, erwiderte Mumm. »Ich bin von den Orangen einfach zu sehr begeistert.«

Er warf die Serviette auf den Tisch, erhob sich und legte Schaumlöffel den Arm um die Schultern.

»Ich führe dich in den Ein Wenig Gelben Salon«, sagte er, geleitete den Sekretär zur Tür und klopfte ihm dabei freundschaftlich auf den Arm. »Dort kannst du warten. Die Kutschen sind bereits beladen. Sybil verfugt die Fliesen im Bad, lernt Altklatschianisch und befasst sich mit den übrigen Dingen, die Frauen im letzten Augenblick erledigen müssen. Du fährst zusammen mit uns in der großen Kutsche.«

Schaumlöffel schreckte zurück. »Oh, kommt nicht in Frage, Herr! Ich schließe mich deinem Gefolge an. Mhm-mhm. Mhm-mhm.«

»Wenn du damit Grinsi und Detritus meinst… Die leisten uns ebenfalls Gesellschaft«, sagte Mumm und bemerkte, wie sich noch mehr Entsetzen im Gesicht des Sekretärs zeigte. »Für ein anständiges Kartenspiel brauchen wir vier Personen, und die meiste Zeit über soll die Straße unerhört langweilig sein.«

»Und, äh, deine Diener?«

»Willikins, die Köchin und Sybils Zofe reisen in der anderen Kutsche.«

»Oh.«

Mumm lächelte innerlich. Er erinnerte sich an die Redensart aus seiner Kindheit: zu arm, um zu malen, und zu stolz, um zu tünchen…

»Eine schwere Wahl, nicht wahr?«, fragte er. »Ich schlage dir Folgendes vor: Du nimmst in unserer Kutsche Platz, und gelegentlich behandeln wir dich von oben herab, damit der Aufenthalt bei uns nicht zu angenehm für dich wird. Was hältst du davon?«

»Ich fürchte, du machst dich über mich lustig, Sir Samuel. Mhm-mhm.«

»Nein, aber vielleicht helfe ich dabei. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest… Ich muss noch schnell zur Wache, um einige Dinge zu klären…«

 

Eine Viertelstunde später betrat Mumm den Umkleideraum der Wache. Feldwebel Starkimarm sah auf, salutierte und duckte sich dann, um der fliegenden Orange auszuweichen.

»Herr?«, fragte er verwirrt.

»Nur ein kleiner Test, Starkimarm.«

»Habe ich ihn bestanden?«

»O ja. Behalt die Orange. Sie ist voller Vitamine.«

»Meine Mutter meinte immer, solche Dinge könnten einen umbringen, Herr.«

 

Karotte wartete geduldig in Mumms Büro. Der Kommandeur schüttelte den Kopf. Er kannte alle knarrenden Stellen im Flur und wusste, dass er kein Geräusch verursachte, aber trotzdem ertappte er Karotte nie dabei, wie er einen Blick auf seine Dokumente warf. Es wäre ihm eine große Freude gewesen, den jungen Mann einmal bei einer Verfehlung zu erwischen, doch der wich nie von dem geraden Weg seiner Prinzipien ab.

Karotte stand auf und salutierte.

»Ja, ja, dafür haben wir jetzt nicht viel Zeit«, sagte Mumm und nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Hat sich während der Nacht was Neues ergeben?«

»Ein Mord ohne Täter, Herr. Ein Händler namens Willi Keinesorge wurde in einem seiner eigenen Bottiche gefunden, mit durchgeschnittener Kehle. Am Tatort haben wir keine Gildenmitteilung oder etwas in der Art gefunden. Wir gehen von etwas Verdächtigem aus.«

»Ja, die Sache erscheint mir sehr verdächtig«, sagte Mumm. »Es sei denn, der Mann hatte den Ruf, beim Rasieren immer sehr unvorsichtig zu sein. Was enthielt der Bottich?«

»Äh, Gummi, Herr.«

»Man bewahrt Gummi in Bottichen auf? Hätte er davon nicht abprallen müssen?«

»Nein, Herr. Der Bottich enthielt flüssiges Gummi. Willi Keinesorge stellte gewisse, äh, Dinge her.«

»Hm, ich glaube, so etwas habe ich einmal gesehen. Man taucht Objekte mit der richtigen Form ins Gummi. Auf diese Weise erhält man Handschuhe, Stiefel und so weiter, habe ich Recht?«

»Äh, ja, und auch andere Dinge, Herr.«

Karottes Unbehagen gab Mumm einen Hinweis. Irgendwo in seinem Hinterkopf öffnete das Unterbewusstsein den geistigen Aktenschrank und holte eine Karteikarte hervor.

»Keinesorge, Keinesorge… Wenn ich mich recht entsinne, steht dieser Name auch auf gewissen Schachteln. Ist er der Mann, dem wir die gleichnamigen Produkte verdanken?«

»Ja, Herr«, bestätigte Karotte und lief rot an.

»Meine Güte, was tauchte er denn in den Bottich?«

»Er wurde hineingeworfen, Herr. Darauf deutet alles hin.«

»Aber er ist praktisch ein Nationalheld!«

»Herr?«

»Hauptmann, ohne Keinesorges Verhütungsmittel für nur einen Cent pro Schachtel wäre die Wohnungsnot in Ankh-Morpork noch viel schlimmer. Wem sollte daran gelegen sein, ausgerechnet ihn aus dem Weg zu räumen?«

»Manche Leute haben bestimmte Ansichten, Herr«, erwiderte Karotte kühl.

Ja, und ob, dachte Mumm. Zwerge halten nicht viel von solchen Dingen.

»Leite die Ermittlungen ein. Sonst noch etwas?«

»Ein Fuhrmann griff den Obergefreiten Winzig an, weil der eine Klammer an seinem Karren anbrachte.«

»Er griff ihn an?«

»Ja, Herr. Er versuchte, auf ihn zu treten.«

Mumm stellte sich Knuddel Winzig vor, einen fünfzehn Zentimeter großen Gnom. Legte man die Maßstäbe von aufgestauter Aggression an, ragte er mindestens eine Meile weit empor.

»Wie geht es ihm?«

»Nun, der Mann kann sprechen, aber es dürfte eine Weile dauern, bis er wieder imstande ist, auf einen Karren zu klettern. Abgesehen von diesen beiden Fällen ist alles reine Routine.«

»Keine neuen Hinweise bezüglich des Einbruchs ins Zwergenbrotmuseum?«

»Nein, eigentlich nicht. In der Zwergengemeinschaft sind viele Vorwürfe und Anklagen laut geworden, aber niemand weiß etwas Konkretes. Wie du selbst gesagt hast, Herr: Vermutlich erfahren wir dann mehr, wenn die Angelegenheit brenzlig wird.«

»Irgendein Wort auf der Straße?«

»Ja, Herr. Es lautet ›Halt‹. Feldwebel Colon hat es an den Anfang des Unteren Breiten Wegs gemalt. Die Fuhrleute sind jetzt viel vorsichtiger. Natürlich muss alle ein oder zwei Stunden der Dung fortgeschaufelt werden.«

»Die Sache mit dem Verkehr macht uns nicht sehr beliebt, Hauptmann.«

»Das stimmt, Herr. Aber unsere Popularität lässt ohnehin zu wünschen übrig. Wenigstens bringt es Geld in die Stadtkasse. Äh… da wäre noch etwas anderes, Herr.«

»Ja?«

»Hast du Feldwebel Angua gesehen, Herr?«

»Ich? Nein. Ich habe erwartet, sie hier anzutreffen.« Erst jetzt hörte Mumm die Sorge in Karottes Stimme. »Stimmt was nicht?«

»In der vergangenen Nacht ist sie nicht zum Dienst erschienen. Es war kein Vollmond, deshalb finde ich ihr Fehlen ein wenig… seltsam. Nobby meinte, irgendetwas hätte sie beunruhigt, als sie neulich zusammen im Dienst waren.«

Mumm nickte. Wer zusammen mit Nobby auf Streife ging, neigte schon nach kurzer Zeit dazu, unruhig zu werden und immer wieder auf die Uhr zu sehen.

»Bist du bei ihr zu Hause gewesen?«

»Sie hat nicht in ihrem Bett geschlafen«, sagte Karotte. »Auch nicht im Korb.«

»Nun, da kann ich dir kaum helfen, Karotte. Sie ist deine Freundin.«

»Ich glaube, sie hat sich Sorgen um die Zukunft gemacht, Herr«, sagte Karotte.

»Äh, du… sie… die, äh, Werwolf-Sache?«, fragte Mumm verlegen.

»Der Gedanke lässt sie nicht los«, entgegnete Karotte.

»Vielleicht hat Angua irgendeinen ruhigen Ort aufgesucht, um über alles nachzudenken.« Zum Beispiel darüber, wie sie mit einem jungen Mann ausgehen sollte, der großartig sein mochte, aber errötete, wenn jemand eine Schachtel Keinesorge erwähnte.

»Das hoffe ich, Herr«, sagte Karotte. »Manchmal zieht sie sich tatsächlich zurück, um ein wenig Ruhe zu haben. Es ist recht anstrengend, ein Werwolf in einer großen Stadt zu sein. Ich weiß, dass wir etwas gehört hätten, wenn sie in Schwierigkeiten geraten wäre…«

Unmissverständliche Geräusche deuteten an, dass draußen eine Kutsche vorfuhr. Erleichterung durchströmte Mumm. Ein besorgter Karotte war so ungewöhnlich, dass er den Schrecken des Unvertrauten hervorrief.

»Nun, wir müssen ohne sie aufbrechen«, sagte er. »Ich möchte über alles auf dem Laufenden gehalten werden, Hauptmann. Eine Nachbildung der Steinsemmel wird ein oder zwei Wochen vor einer großen Zwergenkrönung gestohlen… Da braut sich was zusammen, wenn mich nicht alles täuscht. Und da wir schon dabei sind… Ich möchte auch über den aktuellen Stand der Ermittlungen im Fall Keinesorge informiert werden. Ich halte nichts von Rätseln. Mit Hilfe der Türme lassen sich Nachrichten auch bis nach Überwald schicken, oder?«

Karottes Miene erhellte sich. »Das ist wundervoll, nicht wahr? In einigen Monaten können wir vielleicht in weniger als einem Tag Mitteilungen von Ankh-Morpork bis nach Gennua schicken!«

»Ja. Ich frage mich, ob wir uns dann irgendetwas Vernünftiges zu sagen haben.«

 

Lord Vetinari stand am Fenster und beobachtete den Nachrichtenturm auf der anderen Seite des Flusses. Alle acht ihm zugewandten Klappen blinkten hektisch: schwarz, weiß, weiß, schwarz, weiß…

Informationen flogen durch die Luft. Zwanzig Meilen hinter dem Patrizier blickte jemand auf einem Turm in Sto Lat durch ein Teleskop und rief Zahlen.

Wie schnell die Zukunft kommt, dachte er.

Poetische Beschreibungen verglichen die Zeit mit einem gleichmäßig dahinfließenden Strom, doch mit so einer Vorstellung hatte sich Lord Vetinari nie anfreunden können. Nach seiner Erfahrung bewegte sich die Zeit eher in der Art von Gestein, das langsam hin und her glitt, wodurch sich tief im Boden immer mehr Druck aufstaute – bis es schließlich einen Ruck gab, der das Geschirr im Schrank klappern ließ und ein ganzes Rübenfeld zwei Meter weit verschob.

Schon seit Jahrhunderten wusste man, dass sich mit Lichtzeichen Nachrichten übermitteln ließen, was zweifellos Vorteile mit sich brachte. Außerdem war bekannt, dass sich mit dem Export von Waren Geld verdienen ließ. Und dann begriff jemand, dass man sehr viel Geld verdienen konnte, indem man Gennua morgen mit Dingen vertraut machte, die heute in Ankh-Morpork bekannt wurden. Und in der Straße Schlauer Kunsthandwerker war irgendein intelligenter junger Mann besonders schlau gewesen.

Wissen, Information, Macht, Worte… Unsichtbar flogen sie durch die Luft…

Und plötzlich vollführte die Welt einen Steptanz auf Treibsand.

In diesem Fall ging der Preis an den besten Tänzer.

Lord Vetinari wandte sich vom Fenster ab, nahm einige Dokumente vom Schreibtisch, ging zur Wand, berührte eine bestimmte Stelle und trat durch die lautlos aufschwingende Tür.

Dahinter erstreckte sich ein Korridor. Licht fiel durch hohe Fenster bis zu den kleinen Steinplatten herab, aus denen der Boden bestand. Der Patrizier ging mit zielstrebigen Schritten, zögerte dann, sagte: »Nein, heute ist Dienstag«, und setzte den Fuß auf einen Stein, der sich überhaupt nicht von den anderen unterschied.9

Während der Patrizier den Weg durch Gänge und über Treppen fortsetzte, hätte ein hypothetischer Zuhörer gemurmelte Sätze in der Art von »Es ist zunehmender Mond…«, und »Ja, es ist vor Mittag« vernommen. Einem wirklich aufmerksamen Lauscher wäre auch nicht das leise Surren und Ticken in den Wänden entgangen.

Ein sehr aufmerksamer und außerdem noch paranoider Horcher hätte vermutlich daran gedacht, dass man keinem der Worte trauen durfte, die der Patrizier sprach, während er allein war. Zumindest sollte man ihnen besser nicht vertrauen, wenn das eigene Leben auf dem Spiel stand.

Schließlich erreichte Lord Vetinari eine Tür und schloss sie auf.

Dahinter lag ein großes Dachzimmer, erhellt vom Sonnenlicht, das durch die Fenster in der Decke drang. Es schien eine Mischung aus Werkstatt und Speicher zu sein. Mehrere Vogelskelette hingen neben den Fenstern, und einige Knochen lagen auf den Arbeitstischen, zusammen mit Drahtrollen, metallenen Federn, Farbtuben und mehr Werkzeugen – die meisten von ihnen einzigartig –, als man für gewöhnlich an einem Ort sah. Nur ein schmales Bett ließ vermuten, dass hier jemand wohnte; es stand zwischen einer Bronzestatue und einem Ding, das aussah wie ein Webstuhl mit Flügeln. Die Umgebung deutete darauf hin, dass sich hier jemand für alles interessierte.

Lord Vetinaris Interesse galt derzeit einem Apparat, der mitten im Zimmer ganz allein auf einem Tisch stand. Er wirkte wie eine Ansammlung aus Kupferkugeln, die aufeinander balancierten. Dampf zischte leise aus einigen Nieten, und gelegentlich machte die Vorrichtung Blup…

»Euer Exzellenz!«

Vetinari sah sich um. Eine Hand winkte hinter einer umgedrehten Werkbank.

Etwas veranlasste ihn, nach oben zu blicken. An der Decke sah er eine braune Substanz, die stalaktitenartige Krusten bildete.

Blup

Vetinari wurde erstaunlich schnell, stand praktisch von einem Augenblick zum anderen hinter der Werkbank. Leonard von Quirm lächelte unter seinem selbst gefertigten Schutzhelm.

»Oh, Entschuldigung«, sagte er. »Ich habe nicht mit Besuch gerechnet. Wie dem auch sei: Diesmal funktioniert es bestimmt.«

Blup

»Was ist das?«, fragte Vetinari.

Blup

»Ich bin nicht ganz sicher, aber ich hoffe, dass es…«

Und dann war es plötzlich zu laut für ein Gespräch.

Leonard von Quirm dachte nicht einmal im Traum daran, dass er ein Gefangener war. Ganz im Gegenteil. Er war Vetinari dankbar dafür, dass er ihm einen so hellen, luftigen Raum für seine Arbeit zur Verfügung stellte. Und damit nicht genug. Der Patrizier ließ ihm regelmäßige Mahlzeiten bringen, seine schmutzige Wäsche waschen und beschützte ihn vor den Leuten, die seine völlig harmlosen, zum Nutzen der Menschheit bestimmten Erfindungen aus irgendeinem Grund für verabscheuungswürdige Zwecke verwenden wollten. Es war bemerkenswert, wie viele von ihnen es gab – sowohl von den Leuten als auch von den Erfindungen. Das Genie einer ganzen Zivilisation schien sich in nur einem Kopf zu konzentrieren, der dadurch einen kontinuierlichen schöpferischen Höhenflug erlebte. Vetinari fragte sich manchmal, welches Schicksal die Menschheit erwartet hätte, wenn Leonard fähig gewesen wäre, sich länger als eine Stunde auf eine Sache zu konzentrieren.

Das Zischen und Fauchen verklang. Blup.

Leonard spähte vorsichtig über die Werkbank hinweg und lächelte. »Ah! Allem Anschein nach ist es uns gelungen, Kaffee zu machen«, sagte er.

»Kaffee?«

Leonard ging zum Tisch und zog einen kleinen Hebel an dem Apparat. Hellbrauner Schaum strömte in eine wartende Tasse. Dabei erklang ein Geräusch, wie man es normalerweise von einem verstopften Rohr erwartete.

»Anderer Kaffee«, erklärte Leonard. »Sehr schnellen Kaffee. Er wird dir bestimmt gefallen. Ich glaube, ich nenne diese Vorrichtung ›Maschine-für-sehr-schnellen-Kaffee‹.«

»Das ist die heutige Erfindung, nicht wahr?«, fragte Vetinari.

»Ja. Eigentlich arbeitete ich an dem maßstabsgerechten Modell eines Apparats, mit dem man den Mond erreichen kann, aber dann habe ich Durst bekommen.«

»Zum Glück.« Vetinari nahm vorsichtig eine experimentelle, mit Pedalen betriebene Schuhputzmaschine von einem nahen Stuhl und setzte sich. »Ich habe dir noch mehr kleine… Nachrichten mitgebracht.«

Leonard hätte fast in die Hände geklatscht. »Oh, gut! Mit den anderen bin ich gestern Abend fertig geworden.«

Lord Vetinari wischte sich behutsam Kaffeeschaum von der Oberlippe. »Wie bitte? Du bist mit allen fertig? Du hast den Code aller Nachrichten aus Überwald entziffert?«

»Oh, nach der Fertigstellung des neuen Geräts war das nicht weiter schwierig«, erwiderte Leonard. Er kramte zwischen den Unterlagen auf einer Werkbank und reichte dem Patrizier mehrere eng beschriebene Blätter. »Sobald man erkennt, dass jede Person nur eine begrenzte Anzahl von Geburtsdaten haben kann und dass die Leute dazu neigen, in den gleichen Bahnen zu denken, ist die Entschlüsselung eines Codes kein Problem mehr.«

»Du hast gerade ein neues Gerät erwähnt«, sagte der Patrizier.

»Oh, ja. Das… Dingsbums. Derzeit befindet es sich noch in einem recht primitiven Entwicklungsstadium, aber es genügt, um einen so einfachen Code zu knacken.«

Leonard zog ein Tuch von einem im Großen und Ganzen rechteckigen Gegenstand. Er schien zum größten Teil aus Holzrädern und langen, dünnen Rundhölzern mit vielen eingeritzten Zahlen und Buchstaben zu bestehen. Manche Räder waren nicht rund, sondern oval oder herzförmig – der Patrizier bemerkte vielfältige Strukturen. Als Leonard eine Kurbel drehte, setzte sich das ganze Ding mit komplexer Geschmeidigkeit in Bewegung. Es wirkte irgendwie beunruhigend, auf einem rein mechanischen Niveau.

»Und wie nennst du das Gerät?«

»Oh, du weißt ja, dass ich mit Namen so meine Probleme habe, Euer Exzellenz. In Gedanken bezeichne ich den Apparat als ›Erfindung zur Neutralisation von Informationen durch die Generierung miasmatischer Alphabete‹, aber ich muss zugeben, dass einem das nicht sehr glatt über die Zunge kommt. Äh…«

»Ja, Leonard.«

»Ist es nicht… äh… falsch, die Nachrichten anderer Leute zu lesen?«

Vetinari seufzte. Vor ihm saß ein Mann, der das Leben so hoch ansah, dass er beim Staubwischen darauf achtete, die Spinnen nicht zu stören. Und der gleiche Mann hatte einmal einen Apparat erfunden, der kleine Bleikugeln mit enorm hoher Geschwindigkeit abfeuerte – er hielt so etwas für nützlich, um gefährliche Tiere abzuwehren. Er entwickelte etwas, das ganze Berge zerstören konnte – und sah es für den Einsatz in der Bergbauindustrie vor. Während der Teepause entwarf dieser Mann direkt neben der exquisiten Darstellung eines menschlichen Lächelns eine unvorstellbare Massenvernichtungswaffe, komplett mit nummerierter Liste der einzelnen Bestandteile. Und wenn man ihn darauf ansprach, so erwiderte er: Die Existenz einer solchen Waffe verhindert weitere Kriege, denn niemand wird es wagen, davon Gebrauch zu machen.

Leonards Miene erhellte sich, als ihm etwas einfiel. »Andererseits: Je mehr wir voneinander wissen, umso besser können wir uns verstehen. Nun, du hast mich gebeten, einen neuen Code für dich zu entwickeln. Es tut mir Leid, Euer Exzellenz, aber offenbar habe ich deine Erfordernisse falsch verstanden. Was war mit dem ersten Code nicht in Ordnung?«

Vetinari seufzte. »Ich fürchte, er ließ sich nicht entschlüsseln, Leonard.«

»Aber…«

»Es ist schwer zu erklären«, sagte der Patrizier. Die für ihn klaren Wasser der Politik waren für Leonard nur Schlamm. »Der neue Code – ist er nur teuflisch schwer zu knacken?«

»Du hast ausdrücklich einen dämonischen verlangt, Herr«, sagte Leonard. Es klang ein wenig besorgt.

»Oh, ja.«

»Offenbar gibt es keinen allgemeinen Standard für Dämonen, Herr, aber ich habe in den mir zugänglichen okkulten Texten recherchiert und glaube, einen Code entwickelt zu haben, der von mehr als sechsundneunzig Prozent aller Dämonen als schwierig eingestuft würde.«

»Gut.«

»Vielleicht grenzt er hier und dort ans Diabolische…«

»Kein Problem. Ich werde ihn ab sofort verwenden.«

Leonard schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. »Es wäre ganz einfach, den Code erzdämonisch schwer zu gestalten…«

»Mir genügt er in der gegenwärtigen Form, Leonard«, sagte Vetinari.

»Euer Exzellenz…« Leonard von Quirm jammerte fast. »Ich kann nicht ausschließen, dass ausreichend schlaue Personen es schaffen, deine Nachrichten zu lesen!«

»Gut.«

»Aber Euer Exzellenz… Dann wissen fremde Leute, was du denkst!«

Vetinari klopfte ihm auf die Schulter. »Nein, Leonard. Die fremden Leute kennen nur den Inhalt der Nachrichten.«

»Das verstehe ich nicht…«

»Mach dir nichts draus. Ich könnte keine Maschine für explodierenden Kaffee konstruieren. Wie sähe die Welt aus, wenn wir alle gleich wären?«

Leonards Stirn umwölkte sich. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte er. »Aber wenn du möchtest, dass ich mich mit diesem Problem befasse, könnte ich einen Apparat bauen, der…«

»Es war nur eine Redewendung, Leonard.«

Vetinari schüttelte reumütig den Kopf. Nicht zum ersten Mal gewann er folgenden Eindruck: Leonards Intellekt war in ein bisher unbekanntes mentales Hochland vorgestoßen, doch dort entdeckte er große und sehr spezielle Höhlen der Dummheit. Welchen Sinn hatte es, Nachrichten so zu codieren, dass sie von sehr gewieften Gegnern nicht entschlüsselt werden konnten? Dann erfuhr man gar nicht, was sie dachten, dass man selbst über sie dachte…

»Gestern Morgen traf eine recht ungewöhnliche Nachricht aus Überwald ein, Euer Exzellenz«, sagte Leonard.

»Eine ungewöhnliche Nachricht?«

»Sie war nicht verschlüsselt.«

»Überhaupt nicht? Ich dachte, alle verwenden Codes.«

»Oh, die Namen von Absender und Empfänger sind codiert, aber die eigentliche Nachricht nicht. Es wurden Informationen über Kommandeur Mumm angefordert, von dem du oft gesprochen hast.«

Lord Vetinari schwieg.

»Auch die Antwort war nicht codiert. Sie enthielt eine gewisse Menge an… Klatsch.«

»Informationen über Mumm? Gestern Morgen? Bevor ich…«

»Euer Exzellenz?«

»Die Nachricht aus Überwald…«, sagte der Patrizier. »Gibt es überhaupt keinen Hinweis auf den Absender?«

Manchmal, wie ein seltener Sonnenstrahl durch dichte Wolken, konnte Leonard sehr aufmerksam sein. »Du glaubst, den Absender zu kennen, Euer Exzellenz?«

»Oh, als junger Mann verbrachte ich etwas Zeit in Überwald«, sagte der Patrizier. »Damals brachen viele junge Leute aus Ankh-Morpork auf, um den so genannten ›Pfad des Großen Spotts‹ zu beschreiten: Sie wollten weit entfernte Länder und Städte besuchen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie unterentwickelt alle waren. Darauf schien es hinauszulaufen. O ja. Ich bin in Überwald gewesen.«

Es geschah nicht oft, dass Leonard von Quirm wahrnahm, wie sich andere Personen verhielten, doch diesmal sah er genau hin und bemerkte den in die Ferne reichenden Blick des Patriziers.

»Hast du liebevolle Erinnerungen, Euer Exzellenz?«

»Hmm? Oh, sie war eine sehr… ungewöhnliche Frau, und leider älter als ich«, sagte Vetinari. »Viel älter, offen gestanden. Nun, es liegt lange zurück. Das Leben lehrt uns seine kleinen Lektionen, und wir setzen unseren Weg fort.« Sein Blick glitt erneut in die Ferne. »Tja…«

»Und zweifellos ist die Dame inzwischen tot«, sagte Leonard. Mit dieser Art von Konversation kam er nicht besonders gut zurecht.

»Oh, das bezweifle ich sehr«, entgegnete Vetinari. »Ich bin ganz sicher, dass es ihr blendend geht.« Er lächelte. Die Welt wurde… interessanter. »Sag mir, Leonard… Hast du jemals daran gedacht, dass Kriege irgendwann unter Einsatz von Gehirnen geführt werden?«

Leonard griff nach der Kaffeetasse. »Meine Güte. Das gibt bestimmt ein klebriges und glitschiges Durcheinander.«

Vetinari seufzte erneut. »Vielleicht ist das Durcheinander nicht annähernd so groß wie bei der anderen Sorte von Krieg«, sagte er und probierte den Kaffee. Er schmeckte ziemlich gut.

 

Die herzogliche Kutsche passierte die letzten Gebäude und rollte dann durch die weite Sto-Ebene. Grinsi und Detritus hatten voller Takt beschlossen, den Morgen auf dem Dach der Kutsche zu verbringen, und so waren Herzog und Herzogin im Innern allein. Inigo Schaumlöffel übte eine von Unbehagen geprägte Art der Klassensolidarität und leistete den Bediensteten in der anderen Kutsche Gesellschaft.

»Angua scheint untergetaucht zu sein«, sagte Mumm und blickte über endlose Kohlfelder hinweg.

»Armes Mädchen«, erwiderte Sybil. »Eigentlich ist die Stadt nicht der richtige Ort für sie.«

»Nun, Karotte ließe sich durch nichts bewegen, sie zu verlassen«, sagte Mumm. »Und ich schätze, genau da liegt das Problem.«

»Es ist ein Teil des Problems«, betonte Sybil.

Mumm nickte. Der andere Teil, über den niemand sprach, betraf Kinder.

Manchmal glaubte Mumm fast, dass alle Karotte als wahren Erben des seit langer Zeit leeren Throns der Stadt erkannten. Allerdings wollte er kein König sein, sondern Polizist, und niemand erhob Einwände dagegen. Doch das Königsamt war wie ein Klavier: Selbst wenn man es unter einem Tuch verbarg, zeichnete sich die Form trotzdem ganz deutlich ab.

Mumm wusste nicht, wie das Ergebnis aussehen würde, wenn ein Mensch und eine Werwölfin Kinder bekamen. Vielleicht mussten sich die betreffenden Personen bei Vollmond zweimal am Tag rasieren und fühlten sich gelegentlich versucht, Karren hinterherzulaufen. Und wenn man bedachte, wie einige Herrscher der Stadt sich aufgeführt hatten, brauchte man einen bekannten Werwolf als Regenten sicher nicht zu fürchten. Das eigentliche Problem waren die Mistkerle, die immerzu wie Menschen aussahen. Doch das war Mumms persönliche Ansicht. Andere Leute vertraten andere Meinungen. Kein Wunder, dass Angua fortgegangen war, um über manches nachzudenken.

Er merkte plötzlich, dass er aus dem Fenster starrte, ohne etwas zu sehen.

Um sich abzulenken, öffnete er das Bündel Papiere, das Inigo Schaumlöffel ihm gegeben hatte, als er in die Kutsche geklettert war. Auf dem Deckblatt stand »Informationsmaterial«. Der Mann schien ein Experte für Überwald zu sein, und Mumm fragte sich, wie viele andere Sekretäre im Palast schufteten, um ebenfalls zu Experten zu werden. Er setzte sich bedrückt und begann zu lesen.

Die erste Seite zierte das Wappen des Furchtbaren Reiches, das einst über den größten Teil des Landes geherrscht hatte. Mumm wusste nur eins darüber: Einer der Machthaber hatte einmal einem Mann den Hut an den Kopf genagelt – nur so zum Spaß. Überwald schien ein großer, kalter und deprimierender Ort zu sein; vielleicht verspürten die Leute dort das dringende Bedürfnis, über irgendetwas zu lachen.

Nach Mumms Geschmack war das Wappen zu üppig verschnörkelt. Dominiert wurde es von einer Fledermaus mit zwei Köpfen.

Das erste Dokument hieß »Die fettreiche Schicht der Schmalzberg-Region (Das Land des Fünften Elefanten)«.

Er kannte die Legende natürlich. Einst hatten nicht vier, sondern fünf Elefanten auf dem Rücken von Groß A’Tuin gestanden. Einer von ihnen verlor das Gleichgewicht oder bekam einen Stoß, woraufhin er in einem weiten Bogen durchs All flog, bevor der zornige, eine Milliarde Tonnen schwere Dickhäuter auf die Scheibenwelt stürzte. Der Aufprall war so heftig, dass die ganze Welt bebte und in die heute bekannten Kontinente zerbrach. Das emporgewirbelte und zurückfallende Felsgestein bedeckte den Kadaver und drückte ihn zusammen. Der Rest war nach Jahrtausenden unterirdischen Schmorens Fettgeschichte. Die Legende erwähnte auch, dass Gold, Eisen und die anderen Metalle gleichen Ursprungs waren. Immerhin konnte man von einem so großen Elefanten, der die Welt auf seinem Rücken trug, nicht erwarten, dass gewöhnliche Knochen in seinem Leib steckten.

Mumm las Notizen, die ihm ein wenig glaubwürdiger erschienen und von einer unbekannten Katastrophe erzählten, die Millionen von Mammuts, Bisons und Riesenspitzmäusen umgebracht und ebenso unter Felsgestein begraben hatte wie den legendären Fünften Elefanten. Es gab Hinweise auf alte Trollsagen und Zwergenmythen. Vermutlich hatte auch Eis eine Rolle gespielt. Oder eine Flut. Was die Trolle betraf, die als erstes Leben auf der Welt galten: Vielleicht hatten sie tatsächlich gesehen, wie ein trompetender Elefant über den Himmel raste.

Die verschiedenen Erklärungen änderten nichts am Resultat. Alle – alle bis auf Mumm – wussten, dass das beste Fett aus den Brunnen und Minen von Schmalzberg stammte. Es diente als Rohstoff für die weißesten und hellsten Kerzen, für die cremigste Seife, das heißeste und sauberste Lampenöl. Der gelbe Talg aus den Kesseln von Ankh-Morpork war nicht annähernd so gut.

Mumm begriff nicht, warum das so wichtig sein sollte. Gold… An der Bedeutung von Gold bestand natürlich kein Zweifel. Menschen starben dafür. Und Eisen… Ankh-Morpork brauchte Eisen. Ebenso wie Bauholz und Ziegel. Auch Silber war recht nützlich…

Er blätterte zu einer Seite mit der Überschrift »Natürliche Ressourcen«. Unter »Silber« las er: »Seit der Reichsnacht der Würmer, 1880 AM, wird in Überwald kein Silber mehr abgebaut und ist der Besitz dieses Metalls praktisch illegal.«

Die Erklärung dafür fehlte, und Mumm nahm sich vor, Inigo danach zu fragen. Wo es Werwölfe gab, sollte man Silber eigentlich gut gebrauchen können. Und was sollten Würmer damit zu tun haben?

Wie dem auch sei: Silber war nützlich, aber Fett… Damit verhielt es sich wie mit Keksen, Tee und Zucker. Es war einfach im Küchenschrank. Solchen Dingen fehlte es an Stil und Romantik. Irgendein Zeug in Tuben, weiter nichts.

Auf der nächsten Seite klebte ein kleiner Zettel. Mumm las:

»Der Fünfte Elefant erscheint in den Sprachen von Überwald als Metapher. Abhängig vom Kontext kann er bedeuten: ›ein Ding, das nicht existiert‹ (wie der Ausdruck ›klatschianischer Nebel‹ in unserer Umgangssprache), ›ein Ding, das etwas anderes ist, als es zu sein scheint‹ und ›ein Ding, das zwar unsichtbar ist, aber die Ereignisse kontrolliert‹ (wir würden in diesem Zusammenhang von ›grauer Eminenz‹ sprechen).«

Ich nicht, dachte Mumm. Solche Ausdrücke verwende ich nie.

 

»Obergefreiter Schuh«, sagte Obergefreiter Schuh, als sich die Tür der Fabrik öffnete. »Mord.«

»Du wegen Herrn Keinesorge kommen?«, fragte der Troll, der die Tür geöffnet hatte. Warme Luft wehte auf die Straße; sie roch nach inkontinenten Katzen und Schwefel.

»Ich bin ein Zombie«, sagte Reg Schuh. »Darauf weise ich immer sofort hin, um peinlichen Missverständnissen vorzubeugen. Und du hast Recht: Wir sind tatsächlich wegen des angeblichen Toten hier.«

»Wir?«, wiederholte der Troll, ohne auf Regs graue Haut und die Nähte einzugehen.

»Hier unten, Großer!«

Der Troll senkte den Kopf und sah nach unten. Normalerweise vermieden es die Bewohner von Ankh-Morpork, in diese Richtung zu sehen – sie wollten nicht herausfinden, worin sie standen.

»Oh«, sagte er und wich zurück.

Manche Leute behaupteten, Gnome seien nicht aggressiver als die Angehörigen anderer Völker, was durchaus den Tatsachen entsprach. Allerdings war ihre Aggressivität in einem nur fünfzehn Zentimeter großen Körper komprimiert und recht explosiver Natur. Obergefreiter Winzig gehörte erst seit einigen Monaten zur Wache, aber die Neuigkeit hatte sich schnell herumgesprochen, und er flößte anderen Leuten bereits Respekt ein. Besser gesagt: Er rief jene Art von harntreibender Furcht hervor, die bei entsprechenden Gelegenheiten den Platz von Respekt einnimmt.

»Warum stehst du da und starrst Löcher in die Luft, hä?« Winzig betrat die Fabrik. »Na, wo issa? Der Tote, meine ich.«

»Wir ihn in den Keller gebracht«, antwortete der Troll. »Und jetzt wir haben eine halbe Tonne flüssiges Gummi, mit der nichts sich anfangen lässt. Er sich bestimmt wird sehr ärgern. Äh. Wenn er noch wäre am Leben…«

»Warum lässt sich mit dem Gummi nichts mehr anfangen?«, fragte Reg.

»Weil es geworden ist ganz dick und klebrig. Ich das Zeug später wegkippen muss, und das nicht leicht sein wird. Heute wir sollten produzieren eine Ladung Geripptes Magisches Entzücken, aber die Frauen alle fielen in Ohnmacht, als ich herauszog Keinesorge. Später sie gingen nach Hause.«

Reg war schockiert. Er gehörte nicht zu Keinesorges Kunden, denn Romanzen spielten im Leben eines Toten kaum eine Rolle. Aber in der Welt der Lebenden musste es doch wenigstens gewisse sittliche Maßstäbe geben.

»Hier arbeiten Frauen?«, fragte er.

Der Troll wirkte überrascht. »Ja, natürlich. Es gute, regelmäßige Arbeit ist. Und die Frauen gut arbeiten. Immer sie lachen und scherzen beim Eintauchen und Verpacken, vor allem dann, wenn produzieren wir die Für Große Jungs.« Der Troll schniefte. »Um zu sein ganz ehrlich… Ich nicht verstehe die Scherze.«

»Die Dinger Für Große Jungs sind ihr Geld wert«, ließ sich Knuddel Winzig vernehmen.

Reg Schuh blickte auf seinen kleinen Partner hinab. Es war völlig ausgeschlossen, die Frage zu stellen, aber der Gnom schien sie in seinem Gesicht zu lesen.

»Ein bisschen Arbeit mit der Schere, und man hat einen Regenmantel, wie man ihn sich besser nicht wünschen kann«, sagte Winzig und lachte dreckig.

Obergefreiter Schuh seufzte. Er wusste, dass Herr Mumm Wert darauf legte, ethnische Minderheiten10 in der Wache zu sehen, aber er bezweifelte, ob das in Hinsicht auf Gnome klug war – obgleich es gewiss keine kleinere ethnische Gruppe gab. Sie hatten einen eingebauten Widerstand gegen Regeln. Dies betraf nicht nur Gesetze, sondern auch alle ungeschriebenen Regeln, die die meisten Leute beachteten, ohne darüber nachzudenken, wie zum Beispiel »Versuche nicht, diese Giraffe zu essen«, oder »Ramm den Kopf nicht gegen irgendeinen Fußknöchel, nur weil dir die Leute keine Pommes frites geben«. Am besten stellte man sich den Obergefreiten Knuddel als eine kleine, unabhängige Waffe vor.

»Zeig uns den To… äh, ich meine, zeig uns die Person, die angeblich Probleme mit dem Leben hat«, sagte Schuh. Der Troll führte sie in den Keller. Dort hing etwas an einem Balken, bei dessen Anblick jeder, der nicht bereits als Zombie sein Dasein fristete, zu Tode erschrocken wäre.

»Entschuldigt bitte«, sagte der Troll, zog das Etwas herunter und warf es in eine Ecke, wo es sich zu einem Gummihaufen zusammenrollte.

»Potzblitz«, kommentierte Knuddel Winzig.

»Wir das Gummi von ihm abziehen mussten«, erklärte der Troll. »Es schnell trocknen an der Luft.«

»He, das ist der größte Keinesorge, den ich je gesehen habe.« Winzig kicherte. »Einer für den ganzen Körper! Ich schätze, er hätte sich einen solchen Tod gewünscht.«

Reg sah sich die Leiche an. Es machte ihm nichts aus, mit Ermittlungen in Mordfällen beauftragt zu werden, nicht einmal dann, wenn sie besonders hässlich waren. Er hielt das Sterben nur für eine Art Karrierewechsel. Man trug das Leichenhemd, brachte die Trauerfeier hinter sich… und anschließend ging das Leben eben weiter. Natürlich wusste er, dass viele Leute in ihrem Grab blieben, aber er hatte eine Erklärung dafür: Sie waren einfach nicht gut genug vorbereitet.

Keinesorges Hals wies eine klaffende Wunde auf.

»Irgendwelche Verwandte?«, fragte Schuh.

»Er einen Bruder in Überwald hat«, sagte der Troll. »Wir bereits geschickt eine Nachricht. Mit Signalturm. So was kostet zwanzig Dollar! Das ich nenne Wucher!«

»Hast du eine Ahnung, warum jemand Keinesorge umgebracht hat?«

Der Troll kratzte sich am Kopf. »Ich schätze, der Täter ihn töten wollte. Das sein guter Grund.«

»Und weshalb wollte ihn jemand töten?« Reg Schuh konnte sehr geduldig sein. »Hat es irgendwelchen Ärger gegeben?«

»Ich wissen, die Geschäfte laufen nicht mehr so gut.«

»Ach? Ich dachte, ihr würdet hier regelrecht Geld scheffeln.«

»Oh, ja, das man glauben könnte, aber nicht alle Dinge, die man nennt Keinesorge, stammen von uns. Es gibt inzwischen viel…« Der Troll verzog das Gesicht, als er sich zu konzentrieren versuchte. »… Konn-kurr-renz. Viele andere Leute gesprungen sind auf den Gummikarren und sie bessere Fabriken haben und neue Ideen wie zum Beispiel besondere Keinesorge mit Käse-und-Zwiebel-Geschmack und mit Glöckchen dran und so. Von solchen Dingen Herr Keinesorge nie nichts wissen wollte, und dadurch sinken Verkaufszahlen unsere.«

»Das hat ihm bestimmt Sorgen bereitet«, sagte Reg im Sprich-nur-weiter-Tonfall.

»Er sich oft eingeschlossen hat in seinem Büro.«

»Ach? Und warum?«, fragte Reg.

»Er der Boss. Man nicht fragt den Boss. Aber einmal er meinen, bald käme besonderer Auftrag, der uns brächte wieder auf die Beine.«

»Wirklich?« Reg machte sich eine geistige Notiz. »Was für ein Auftrag?«

»Keine Ahnung. Man nicht…«

»… fragt den Boss«, zitierte Reg Schuh. »Na schön. Vermutlich hat niemand den Mörder gesehen, oder?«

Falten der Anstrengung bildeten sich auf der Stirn des Trolls, als er nachdachte.

»Den Mörder, ja, und vielleicht auch Herrn Keinesorge.«

»Gab es eine dritte Partei?«

»Weiß nicht. Ich kein Interesse haben an Politik.«

»Abgesehen von Herrn Keinesorge und dem Mörder«, fragte Schuh und blieb so geduldig wie ein Grab. »War gestern Abend noch jemand hier?«

»Weiß nicht«, antwortete der Troll.

»Danke, du warst uns eine große Hilfe«, sagte Schuh. »Wir sehen uns noch ein wenig um, wenn du nichts dagegen hast.«

»Meinetwegen.«

Der Troll kehrte zu seinem Bottich zurück.

Reg Schuh hatte nicht damit gerechnet, etwas zu entdecken, deshalb blieb ihm eine Enttäuschung erspart. Aber er war gründlich, was zu den typischen Eigenschaften eines Zombies gehörte. Herr Mumm hatte ihn mehrmals davor gewarnt, sich von Spuren in zu große Aufregung versetzen zu lassen. Spuren, so meinte er, konnten einen auf die falsche Fährte locken, wenn sie zu einer Angewohnheit wurden. Man fand am Tatort eines Verbrechens ein Holzbein, einen seidenen Pantoffel und eine Feder – um daraus eine interessante Geschichte zu spinnen über einen einbeinigen Tänzer und ein Theaterstück, bei dem auch Hühner auf der Bühne erschienen.

Die Tür des Büros stand offen. Es ließ sich kaum feststellen, ob irgendetwas angerührt worden war. Alles war ziemlich durcheinander, doch das schien hier immer der Fall zu sein. Unterlagen stapelten sich auf einem Schreibtisch – Herr Keinesorges Ablagesystem funktionierte offenbar auf der Grundlage von »Leg’s einfach irgendwohin«. Auf einer Bank lagen Gummimuster, Sackleinen, große Flaschen mit Chemikalien und Holzformen, denen Reg keine zu große Aufmerksamkeit zu schenken versuchte.

»Hast du gehört, dass Korporal Kleinpo über den Einbruch ins Zwergenbrotmuseum sprach, als wir heute Morgen den Dienst angetreten haben, Knuddel?«, fragte Schuh. Er öffnete ein Glas mit gelbem Pulver und schnupperte daran.

»Nein.«

»Ich schon«, sagte Reg.

Er schraubte den Deckel auf das Glas mit Schwefel und schnupperte erneut. In der Fabrik roch es nach flüssigem Gummi – ein Geruch, der mit dem inkontinenter Katzen große Ähnlichkeit hat.

»Und manche Dinge bleiben einem im Gedächtnis haften«, fügte er hinzu. »So ist das eben in unserem Job…«

 

In dieser Woche nahm Obergefreiter Besuch-die-Ungläubigen-mit-erläuternden-Broschüren die Pflichten des Kommunikationsoffiziers wahr, was im Großen und Ganzen bedeutete, dass er sich um die Tauben kümmerte und den Nachrichtenturm im Auge behielt, natürlich mit Hilfe des Obergefreiten Abfluss. Obergefreiter Abfluss war ein Wasserspeier. Wenn es darum ging, den Blick auf eine Stelle gerichtet zu halten, leistete Wasserspeier hervorragende Arbeit. In der neuen Industrie der Nachrichtenübermittlung waren ihre Dienste sehr gefragt.

Obergefreiter Besuch fand Gefallen an den Tauben. Er sang ihnen Kirchenlieder vor. Sie hörten sich kurze Predigten an und neigten dabei die Köpfe von einer Seite zur anderen. Hatte nicht Bischof Horn zu den Mollusken des Meeres gesprochen? Es gab nicht den geringsten Beweis dafür, dass sie ihm zugehört hatten, während die Tauben zweifellos Interesse zeigten, auch an den Broschüren über die Vorzüge des Omnianismus. Derzeit benutzen sie das Informationsmaterial vor allem zum Nestbau, aber es war zumindest ein Anfang.

Eine Taube kam herein, als er die Sitzstangen säuberte.

»Ah, Zebedinah«, sagte er, griff nach dem Vogel und löste die Nachrichtenkapsel von seinem Bein. »Ausgezeichnet. Diese Mitteilung stammt vom Obergefreiten Schuh. Zur Belohnung sollst du einige leckere Körner bekommen, freundlicherweise geliefert von Josia Getreide und Söhne, Saatguthändler, letztendlich aber ein Zeichen von Oms Güte.«

Flügel schlugen, und eine zweite Taube landete auf einer Stange. Obergefreiter Besuch erkannte Wilhelmina, einen von Feldwebel Anguas Vögeln.

Er nahm die Nachrichtenkapsel. Das dünne Papier darin war sorgfältig zusammengefaltet und trug die Aufschrift: »Für Karotte, persönlich.«

Besuch zögerte kurz, bevor er die Mitteilung von Reg Schuh der pneumatischen Röhre anvertraute. Luft zischte und trug die Nachricht zum Hauptbüro. Die andere erforderte nach Besuchs Meinung eine sorgfältigere Lieferung.

Karotte arbeitete in Mumms Büro, aber er saß nicht am Schreibtisch des Kommandeurs. Stattdessen hatte er an einem Klapptisch in der Ecke Platz genommen. Die schwankenden Stapel aus Dokumenten wirkten nicht mehr ganz so alpin wie am vergangenen Tag. Hier und dort konnte man sogar die Oberfläche des Schreibtischs erkennen.

»Eine persönliche Nachricht für dich, Hauptmann.«

»Danke.«

»Und Obergefreiter Schuh möchte, dass ein Feldwebel zu Keinesorges Fabrik kommt.«

»Hast du die Nachricht zum Büro weitergeleitet?«

»Ja, Herr. Die pneumatische Röhre ist sehr praktisch«, fügte Besuch pflichtbewusst hinzu.

»Kommandeur Mumm hält nicht viel davon, aber bestimmt sparen wir dadurch Zeit«, sagte Karotte und entfaltete den Zettel.

Besuch beobachtete ihn. Karottes Lippen bewegten sich ein wenig, als er las.

»Woher kam die Taube?«, fragte er schließlich und zerknüllte den Zettel.

»Sie ist ziemlich erschöpft, Herr. Scheint einen ziemlich weiten Flug hinter sich zu haben.«

»Ah. Gut. Danke.«

»Schlechte Nachrichten, Herr?«, fragte Besuch vorsichtig.

»Einfach nur Nachrichten, Obergefreiter. Ich möchte dich nicht länger aufhalten.«

»In Ordnung, Herr.«

Als der enttäuschte Besuch gegangen war, trat Karotte ans Fenster und blickte hinaus. Eine typische Straßenszene von Ankh-Morpork lag vor ihm, gestört vom Verkehr.

Nach einigen Minuten kehrte er zum Klapptisch zurück, schrieb eine kurze Mitteilung und stopfte sie in eine Kapsel, die er der Rohrpost übergab.

Kurze Zeit später keuchte Feldwebel Colon durch den Flur. Karotte war immer bestrebt, die Wache zu modernisieren, und in diesem Zusammenhang erschien es ihm viel moderner eine Nachricht durch die pneumatische Röhre zu schicken, als wie Mumm die Tür zu öffnen und einen Namen zu rufen.

Karotte empfing Colon mit einem freundlichen Lächeln. »Ah, Fred. Ist alles in Ordnung?«

»Ja, Herr?«, erwiderte Fred Colon unsicher.

»Gut. Ich gehe zum Patrizier, Fred. Als dienstältester Feldwebel leitest du die Wache, bis Kommandeur Mumm zurückkehrt.«

»Ja, Herr. Äh, du meinst sicher, bis du zurückkehrst…«

»Ich kehre nicht zurück, Fred. Ich quittiere den Dienst.«

 

Der Patrizier betrachtete die Dienstmarke auf seinem Schreibtisch.

»… und gut ausgebildete Truppe«, sagte Karotte irgendwo vor ihm. »Vor einigen Jahren bestand die Wache nur aus vier Personen. Heute funktioniert alles wie eine große Maschine.«

»Ja, obwohl es hier und dort manchmal ›Boing‹ macht«, erwiderte Lord Vetinari und sah noch immer auf die Dienstmarke. »Bitte überleg es dir noch einmal, Hauptmann.«

»Ich habe es mir mehrmals überlegt, Herr. Und ich bin jetzt kein Hauptmann mehr.«

»Die Wache braucht dich, Herr Eisengießersohn.«

»Die Wache ist größer als nur ein Mann, Herr«, sagte Karotte und blickte starr geradeaus.

»Ich bin nicht ganz sicher, ob sie größer ist als Feldwebel Colon.«

»Feldwebel Colon wird oft falsch eingeschätzt, Herr. Sein Charakter hat eine solide Grundlage.«

»Sein Hintern ist ebenfalls ziemlich solide, Hauptm… Herr Eisengießersohn.«

»Ich meine, er gerät bei einem Notfall nicht gleich in helle Aufregung, Herr.«

»Seine einzige Reaktion auf einen Notfall dürfte darin bestehen, sich zu verstecken«, sagte der Patrizier. »Man könnte sogar behaupten, dass Colon selbst ein Notfall ist.«

»Mein Entschluss steht fest, Herr.«

Lord Vetinari seufzte, lehnte sich zurück und blickte einige Sekunden zur Decke empor.

»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als dir für deine Dienste zu danken, Hauptmann. Außerdem wünsche ich dir für die Zukunft viel Glück. Hast du genug Geld?«

»Ich habe recht viel gespart, Herr.«

»Trotzdem: Es ist ein weiter Weg bis nach Überwald.«

Stille folgte.

»Herr?«

»Ja?«

»Woher weißt du das?«

»Oh, bestimmte Leute haben ihn schon vor langer Zeit gemessen. Forscher und so.«

»Herr!«

Vetinari seufzte. »Ich glaube, der richtige Ausdruck heißt… Deduktion. Wie dem auch sei, Hauptmann… Ich gehe davon aus, dass du nur Sonderurlaub nimmst. Soweit ich weiß, bist du immer im Dienst gewesen. Zweifellos hast du dir einige Wochen Ferien verdient.«

Karotte schwieg.

»An deiner Stelle würde ich mit der Suche nach Feldwebel Angua am Latschenden Tor beginnen«, fügte Vetinari hinzu.

Nach einer Weile fragte Karotte: »Geht dieser Rat auf Informationen zurück, die du bekommen hast, Herr?«

Vetinari lächelte dünn. »Nein. Aber in Überwald herrscht derzeit eine schwierige Situation, und Angua stammt aus einer der aristokratischen Familien. Vermutlich wurde sie fortgerufen. Abgesehen davon kann ich dir kaum helfen. Du musst, wie man so schön sagt, deiner Nase folgen.«

»Vielleicht kann ich auf die Hilfe einer leistungsfähigeren Nase zurückgreifen«, sagte Karotte.

»Gut.« Der Patrizier beugte sich vor. »Ich wünsche dir alles Gute bei der Suche. Und ich bin sicher, dass wir uns wieder sehen werden. Es gibt hier viele Leute, die sich auf dich verlassen.«

»Ja, Herr.«

»Guten Tag.«

Als Karotte gegangen war, stand Lord Vetinari auf und ging zur anderen Seite des Zimmers – dort lag eine Karte von Überwald auf einem Tisch. Sie war recht alt, und selbst in jüngster Zeit hatte man ihr kaum Einzelheiten hinzufügen können: Alle Kartographen, die bekannte Wege verließen, verbrachten ihre ganze Zeit mit dem Versuch, zu diesen zurückzukehren. Es gab einige Flüsse, deren Verlauf Mutmaßungen überlassen blieb, hier und dort auch einen Ort oder zumindest den Namen eines Ortes. Vermutlich war es deshalb hinzugefügt worden, um dem Kartenzeichner die Peinlichkeit zu ersparen, überall den Hinweis VVMÜ11 anzubringen, wie es in der Branche hieß.

Die Tür öffnete sich, und Drumknott, erster Sekretär des Patriziers, kam so leise wie eine Feder, die in einer Kathedrale fiel, herein.

»Eine unerwartete Entwicklung, Euer Exzellenz«, sagte er ruhig.

»Zumindest eine uncharakteristische«, erwiderte Vetinari.

»Soll ich Mumm eine Nachricht schicken, Herr? Er könnte in gut einem Tag zurück sein.«

Vetinari blickte auf die leere Karte hinab. So ähnlich sah die Zukunft aus: einige Umrisse und vage Vermutungen, doch alles andere wartete darauf, Gestalt anzunehmen…

»Hmm?«, murmelte er.

»Soll ich Mumm zurückrufen, Herr?«

»Um Himmels willen, nein. Mumm in Überwald – das dürfte amüsanter werden als ein verliebtes Gürteltier auf einer Bowlingbahn. Und wen sonst könnte ich schicken? Nur Mumm kommt für Überwald in Frage.«

»Aber handelt es sich nicht um einen Notfall, Herr?«

»Hmm?«

»Wie sollte man es anders nennen, Herr, wenn ein so viel versprechender junger Mann seine Karriere für die Suche nach einer jungen Frau opfert?«

Der Patrizier strich sich über den Bart und lächelte.

Eine Linie auf der Karte verdeutlichte die Reichweite der Nachrichtentürme. Sie war ganz gerade und repräsentierte den Intellekt in der dichten Dunkelheit vieler verdammter Meilen Überwald.

»Vielleicht ist es sogar besser so«, sagte Lord Vetinari. »Überwald kann uns eine Menge lehren. Bitte hol mir die Unterlagen über die Werwolf-Clane. Und noch etwas; zwar habe ich geschworen, so was nie auch nur in Erwägung zu ziehen, aber jetzt bleibt mir keine Wahl: Bereite eine Nachricht für Feldwebel Colon vor. Leider erwartet ihn eine Beförderung.«

 

Eine schmutzige Mütze lag auf dem Pflaster. Daneben stand mit feuchter Kreide geschrieben: BiTe häLFt disem kleINen HuND.

Ein kleiner Hund saß in der Nähe.

Die Natur hatte ihn nicht dazu bestimmt, ein freundlicher, schwanzwedelnder Hund zu sein, aber er gab sich Mühe. Wenn jemand vorbeikam, richtete er sich auf und jaulte jammervoll.

Etwas landete in der Mütze: eine Dichtungsscheibe.

Der großzügige Mensch setzte seinen Weg fort und war nur einige Meter weit gekommen, als er hörte: »Hoffentlich fallen dir die Beine ab, du Mistkerl.«

Der Mann drehte sich um und stellte fest, dass ihn der Hund ansah.

»Wuff?«, machte das Tier.

Der Mann zuckte verwirrt mit den Schultern und ging weiter.

»Ja, wuff wuff und so«, fügte die sonderbare Stimme hinzu, als er gerade eine Ecke hinter sich bringen wollte.

Eine Hand griff nach unten und packte den Hund am Genick. »Hallo, Gaspode. Ich glaube, ich habe ein kleines Rätsel gelöst.«

»O nein«, stöhnte der Hund.

»So verhält sich kein braver Hund, Gaspode«, sagte Karotte und hob den Hund hoch, damit sich ihre Augen auf einer Höhe befanden.

»Na schön, na schön, setz mich wieder auf den Boden, in Ordnung? Es tut weh, wenn du mich so hältst.«

»Ich brauche deine Hilfe, Gaspode.«

»Ausgeschlossen. Ich helfe der Wache nicht. Das ist keineswegs persönlich gemeint, aber ich muss auf meinen Ruf achten.«

»Ich habe nicht gesagt, dass du der Wache helfen sollst, Gaspode. Dies ist eine persönliche Angelegenheit. Ich brauche deine Nase.« Karotte setzte den Hund aufs Pflaster und wischte sich die Hand am Hemd ab. »Was leider bedeutet, dass ich auch den Rest von dir brauche. Obwohl ich natürlich weiß, dass unter der juckenden Schale ein Herz aus Gold schlägt.«

»Mit den Worten ›Ich brauche deine Hilfe‹ fängt nie etwas Gutes an«, sagte Gaspode.

»Es geht um Angua.«

»Meine Güte.«

»Ich möchte, dass du ihrer Spur folgst.«

»Oh, nur wenige Hunde können einen Werwolf verfolgen. Weil Werwölfe sehr schlau sind.«

»Ich dachte mir: Wende dich an den Besten«, sagte Karotte.

»Es gibt keine erlesenere Nase bei Mensch und Tier«, behauptete Gaspode und rümpfte sie. »Wohin ist Angua verschwunden?«

»Nach Überwald, glaube ich.«

Karotte reagierte sehr schnell. Gaspodes Flucht wurde von einer Hand verhindert, die ihn am Schwanz festhielt.

»Das sind Hunderte von Meilen! Und Hundemeilen sind sieben Mal länger! Unmöglich!«

»Ach? Na schön. Wie dumm von mir, so was vorzuschlagen.« Karotte ließ den Schwanz los. »Du hast Recht. Es ist lächerlich.«

Gaspode drehte sich und sah argwöhnisch zu Karotte auf. »Nein, ich habe nicht gesagt, dass es lächerlich ist. Ich habe nur betont, dass die Entfernung Hunderte von Meilen beträgt.«