»Ja, aber dann hast du hinzugefügt, es sei dir unmöglich, einer Spur über eine solche Distanz zu folgen.«

»Als ich ›unmöglich‹ sagte, meinte ich damit, dass du mich unmöglich zu so etwas überreden kannst.«

»Ja, aber bald beginnt der Winter, und du hast selbst darauf hingewiesen, wie schwer es ist, einen Werwolf zu verfolgen. Bei Angua kommt hinzu, dass sie zur Stadtwache gehört. Wenn sie vermutet, dass ich auf deine Hilfe zurückgreife, versucht sie bestimmt, ihre Spur zu verwischen.«

Gaspode jaulte. »Jetzt hör mal, Kumpel… In dieser Stadt ist es verdammt schwer, sich Respekt zu verschaffen. Wenn ich ein paar Wochen lang nicht an den Laternenpfählen zu riechen bin, habe ich hier überhaupt nichts mehr zu melden.«

»Ja, ja, ich verstehe. Dann lasse ich mir eben von jemand anderem helfen. Der Nervöse Nigel ist doch noch immer in der Stadt, oder?«

»Was, der Spaniel? Er könnte nicht einmal seinen eigenen Hintern riechen, wenn der sich direkt vor ihm befände!«

»Er soll sehr gut sein, mit der Nase.«

»Und er pinkelt immer dann, wenn jemand den Blick auf ihn richtet!«, schnappte Gaspode.

»Angeblich kann er eine tote Ratte auf eine Entfernung von zwei Meilen riechen.«

»Na und? Ich kann riechen, welche Farbe sie hat!«

Karotte seufzte. »Nun, mir bleibt nichts anderes übrig. Du kannst mir nicht die notwendige Hilfe leisten, und deshalb…«

»Ich habe nicht gesagt…« Gaspode unterbrach sich. »Ich werde dir helfen, nicht wahr? Irgendwie lasse ich mich dazu breitschlagen. Du bringst mich mit einem Trick dazu oder setzt mich mit irgendetwas unter Druck, wie auch immer…«

»Ja. Wie hast du es geschafft zu schreiben, Gaspode?«

»Ich halte die Kreide im Maul. Ist nicht weiter schwer.«

»Du bist ein sehr cleverer Hund. Das habe ich immer gesagt. Und kein anderer Hund kann sprechen.«

»Nicht so laut, nicht so laut!« Gaspode sah sich erschrocken um. »Äh, in Überwald gibt’s Wölfe, nicht wahr?«

»Ja.«

»Ich hätte ein Wolf sein können, weißt du. Mit anderen Eltern.« Gaspode schniefte und sah sich erneut nach eventuellen Zuhörern um.

»Steak?«

»Jeden Abend.«

»Einverstanden.«

 

Feldwebel Colon war ein Bild des Elends, mit miesen Malstiften an einem feuchten Tag auf unebenes Pflaster gemalt. Er saß auf einem Stuhl und blickte gelegentlich zu der Nachricht, die er gerade bekommen hatte. Dabei schien er sich zu wünschen, dass irgendetwas die Worte verschwinden ließ.

»Verdammt und zugenäht, Nobby«, stöhnte er.

»Kopf hoch, Fred«, sagte Nobby, derzeit eine Vision in Organdy.

»Ich kann nicht befördert werden! Ich bin kein Offizier! Ich meine, ich bin ganz gewöhnlich und normal!«

»Das habe ich immer über dich gesagt, Fred. Man kann gar nicht gewöhnlicher und normaler als du sein.«

»Aber da steht’s geschrieben, Nobby! Und Seine Exzellenz hat seine Unterschrift darunter gesetzt!«

»Tja, so wie ich die Sache sehe, hast du drei Möglichkeiten«, sagte Nobby.

»Ja?«

»Du kannst zum Patrizier gehen und ihm sagen, dass du ablehnst…«

Die Panik in Colons Gesicht wich aschfahlem Entsetzen.

»Herzlichen Dank, Nobby«, erwiderte er bitter. »Gib mir Bescheid, wenn du weitere Vorschläge dieser Art hast, weil ich nämlich anschließend die Unterwäsche wechseln muss.«

»Oder du akzeptierst die Beförderung und baust einen solchen Mist, dass dich Seine Exzellenz wieder degradiert…«

»Du machst das absichtlich, Nobby!«

»Es könnte einen Versuch wert sein, Fred.«

»Ja, aber wenn man absichtlich Mist baut, besteht das Problem darin, alles genau abzuschätzen. Man glaubt vielleicht, nur ein wenig Mist zu bauen, doch dann wird plötzlich ein Riesending daraus. Weißt du, Nobby, unter solchen Umständen fürchte ich, dass mir Seine Exzellenz nicht nur den neuen Rang nehmen könnte. Einzelheiten brauche ich wohl nicht zu nennen.«

»Guter Hinweis, Fred.«

»Ich meine, wenn man Mist baut, so weiß man vorher nicht, wie viel Mist sich letztendlich daraus ergibt, und wenn die Sache zu sehr stinkt, gibt’s mehr Ärger, als einem lieb ist.«

»Nun, Fred, die dritte Möglichkeit ist die, dass du dich mit der Beförderung abfindest.«

»Das ist keine große Hilfe, Nobby.«

»Es wäre doch nur für einige Wochen, bis Kommandeur Mumm zurückkehrt.«

»Ja, aber angenommen, er kommt nicht zurück? Überwald soll ein scheußlicher Ort sein. In ein Geheimnis gehüllt und außerdem rätselhaft. Klingt ziemlich gefährlich, wenn du mich fragst. Und wenn Mumm irgendeinem geheimnisvollen und rätselhaften Unglück zum Opfer fällt… dann sitze ich hier fest. Ich weiß überhaupt nicht, wie man ein richtiger Offizier ist.«

»Niemand weiß, wie man ein richtiger Offizier ist, Fred. Darum sind es ja Offiziere. Wenn sie es wüssten, wären sie Feldwebel.«

Colon verzog das Gesicht, als er angestrengt nachdachte. Fast sein ganzes Leben lang hatte er Uniform getragen, schon früh den richtigen Platz gefunden und sich sofort der Meinung angeschlossen, dass Offiziere von Natur aus nicht einmal dazu fähig waren, sich ihre Hose ohne Bedienungsanleitung anzuziehen. Mumm und Karotte bildeten natürlich eine Ausnahme – in Gedanken verlieh Colon ihnen den Rang eines Ehrenfeldwebels.

Nobby beobachtete ihn mit einer Mischung aus Sorge, Freundlichkeit und räuberischer Absicht.

»Was soll ich nur machen, Nobby?«

»Nun, ›Hauptmann‹«, sagte Nobby und hüstelte kurz, »den größten Teil ihrer Zeit verbringen Offiziere damit, irgendwelche Dinge zu unterschreiben…«

Ein nervöser Obergefreiter klopfte an und öffnete die Tür eine halbe Sekunde später.

»Obergefreiter Schuh betont, dass er wirklich einen Offizier in Keinesorges Fabrik braucht, Feldwebel.«

»Meinst du den Mann, der die Gummidinger herstellt?«, fragte Colon. »Gut. Ein Offizier. In Ordnung. Wir machen uns gleich auf den Weg.«

»Und es heißt Hauptmann Colon«, sagte Nobby rasch.

»Äh… äh… ja, und es heißt Hauptmann Colon, herzlichen Dank«, sagte Colon. Seine Entschlossenheit wuchs und ließ ihn hinzufügen: »Vergiss das bitte nicht!«

Der Obergefreite starrte ihn groß an und versuchte dann nicht mehr zu verstehen.

»Außerdem randaliert unten ein Troll und beharrt darauf, mit dem Verantwortlichen zu reden…«

»Kann sich Starkimarm nicht um ihn kümmern?«

»Äh… ist Feldwebel Starkimarm noch immer ein Feldwebel?«, fragte der Obergefreite.

»Ja!«

»Auch im bewusstlosen Zustand?«

»Wie bitte?«

»Er liegt reglos auf dem Boden, Herr – Hauptmann.«

»Was will der Troll?«

»Derzeit steht ihm der Sinn vor allem danach, jemanden umzubringen. Aber ich schätze, eigentlich möchte er, dass jemand die Klammer von seinem Fuß entfernt.«

 

Gaspode lief auf und ab, die Schnauze ganz dicht über dem Boden. Karotte wartete und hielt die Zügel seines Pferds. Es war ein prächtiges Tier. Bisher hatte er immer nur sehr wenig von seinem Sold ausgegeben.

Schließlich setzte sich der Hund und wirkte deprimiert.

»Erzähl mir von der wundervollen Nase des Patriziers«, sagte er.

»Keine Spur?«

»Du solltest Vetinari hierher holen, wenn er so gut ist«, fuhr Gaspode fort. »Was hat es für einen Sinn, ausgerechnet hier zu beginnen? Es ist der schlimmste Ort in der ganzen Stadt! Das Tor führt zum Viehmarkt, nicht wahr? Hier wird’s verdammt schwer, etwas nicht zu riechen, wenn du verstehst, was ich meine. Der Gestank überlagert alles andere. Wenn ich die Fährte von jemandem finden und ihr folgen wollte, dann wäre dies der letzte Ort, wo ich mit der Suche beginnen würde.«

»Guter Hinweis«, sagte Karotte. »Was ist der stärkste Geruch in Richtung Mitte?«

»Er geht natürlich von den Dungkarren aus. Sie sind gestern losgefahren. Am Freitagmorgen werden immer die Pferde und Ställe gereinigt.«

»Kannst du der Spur folgen?«

Gaspode rollte mit den Augen. »Mit dem Kopf im Eimer.«

»Na schön. Lass uns aufbrechen.«

»Wir verfolgen also dieses Mädchen«, sagte Gaspode, als sie die Hektik des Tors hinter sich zurückließen.

»Ja.«

»Nur du?«

»Ja.«

»Wir müssen nicht damit rechnen, zwanzig oder dreißig anderen Hunden zu begegnen?«

»Nein.«

»Nirgends wartet ein Eimer mit kaltem Wasser auf uns?«

»Nein.«

 

Obergefreiter Schuh salutierte, allerdings ein wenig gereizt. Er hatte ziemlich lange warten müssen. »Guten Tag, Feldwebel…«

»Es heißt Hauptmann«, erwiderte Hauptmann Colon. »Siehst du den zusätzlichen Rangknopf auf meiner Schulter, Reg?«

Schuh sah genauer hin. »Hab’s für Vogelkot gehalten, Feldwebel.«

»Es heißt Hauptmann«, sagte Colon automatisch. »Derzeit ist es nur Kreide, weil ich noch keine Zeit hatte, einen richtigen Knopf anzunähen. Sei also nicht frech.«

»Was ist denn mit Nobby?«, fragte Reg. Korporal Nobbs drückte sich ein feuchtes Tuch auf sein eines Auge.

»Es gab Probleme mit einem Troll im Parkverbot«, erklärte Hauptmann Colon.

»Hat eine Dame geschlagen und damit deutlich gezeigt, was für eine Art von Troll er ist«, brummte Nobby.

»Du bist keine Dame, Nobby. Du trägst nur die verkehrsberuhigende Verkleidung.«

»Er konnte das nicht wissen.«

»Du hattest deinen Helm auf. Und außerdem hättest du ihm keine Klammer verpassen sollen.«

»Er war geparkt, Fred.«

»Ein Karren hatte ihn überfahren«, erwiderte Hauptmann Colon. »Und es heißt Hauptmann.«

»Nun, es gibt immer irgendwelche Ausreden«, sagte Nobby verdrießlich.

»Du solltest uns jetzt besser den Korpus zeigen, Reg«, wandte sich Colon an den Zombie.

Der Tote im Keller wurde auf angemessene Weise untersucht.

»… und dann fiel mir ein, dass Grinsi den Geruch von Katzenpisse und Schwefel im Zwergenbrotmuseum erwähnt hat«, sagte Reg.

»Man kommt nicht umhin, ihn sofort zu bemerken«, sagte Colon. »Ein Tag Arbeit in dieser Fabrik, und jede verstopfte Nase wird frei.«

»Und ich dachte, ›Ob jemand versucht, eine Form von der Nachbildung der Steinsemmel herzustellen?‹, Herr«, fügte Reg hinzu.

»He, das wäre echt clever«, meinte Fred Colon. »Dann hätte man wieder das Original zurück, nicht wahr?«

»Äh, nein, Feldwebel – Hauptmann. Aber dann hätte man eine Kopie der Nachbildung.«

»Ist so etwas legal?«

»Keine Ahnung, Herr. Ich bezweifle es. Einen Zwerg könnte man mit so einem Ding nicht einmal fünf Minuten lang täuschen.«

»Wem sollte dann daran gelegen sein, Keinesorge umzubringen?«

»Vielleicht käme ein Vater von dreizehn Kindern als Täter in Frage«, erwiderte Nobby. »Haha.«

»Würdest du bitte damit aufhören, die Ware zu befingern?«, ließ sich Colon vernehmen. »Und ich habe gesehen, wie zwei Zwölf-Stück-Schachteln in deiner Handtasche verschwunden sind.«

»Das keine Rolle spielen«, grollte der Troll. »Herr Keinesorge immer meinte, sie gratis sind für die Wache.«

»Das war sehr freundlich von ihm«, sagte Hauptmann Colon.

»Ja, er immer meinte, wir auf keinen Fall wollen noch mehr verdammte Polizisten in der Stadt.«

Eine Taube wählte diesen diplomatischen Augenblick, um in die Fabrik zu fliegen, auf Colons Schulter zu landen und ihn dort zu befördern. Colon hob die Hand, griff nach der Nachrichtenkapsel und entfaltete ihren Inhalt.

»Eine Mitteilung von Besuch«, sagte er. »Es gibt eine Spur, schreibt er.«

»Und wohin führt sie?«

»Zu keinem bestimmten Ort, Nobby. Es ist einfach nur eine Spur.« Colon nahm den Helm ab und wischte sich Schweiß von der Stirn. Er hatte gehofft, dass er genau dies vermeiden konnte. Tief in seinem lädierten Herzen ahnte er, dass es Mumm und Karotte gut verstanden, Spuren miteinander in Verbindung zu bringen und über sie nachzudenken. Das war ihr Talent. Er hatte andere: Er konnte gut mit Leuten umgehen, und er verfügte über einen glänzenden Brustharnisch. Außerdem konnte er selbst im Schlaf feldwebeln.

»Na schön, schreib deinen Bericht«, sagte er. »Gute Arbeit. Wir kehren jetzt zur Wache zurück.«

»Mir wächst diese Sache über den Kopf«, meinte Colon, als sie fortgingen. »Und dann der Papierkram. Du weißt ja, was ich von Papierkram halte, Nobby.«

»Du bist nur ein gründlicher Leser, das ist alles, Fred«, erwiderte Nobby. »Ich habe beobachtet, wie du eine ganze Ewigkeit lang eine einzelne Seite gelesen hast. ›Er verarbeitet den Text meisterhaft‹, dachte ich.«

Colons Miene erhellte sich ein wenig. »Ja, darum geht’s mir. Um Gründlichkeit beim Lesen.«

»Selbst wenn es nur die Speisekarte im klatschianischen Imbiss ist… Ich habe gesehen, wie du dir für jede Zeile eine Minute Zeit genommen hast.«

»Ich möchte beim Essen eben keine Überraschungen erleben.« Colon schob die Brust vor. Besser gesagt: Er drückte sie ein wenig nach oben.

»Du brauchst einen Adjutanten«, sagte Nobby und hob sein Kleid, als er über eine Pfütze hinwegtrat.

»Tatsächlich?«

»Na klar«, bestätigte Nobby. »Weil du die Verantwortung trägst und deinen Männern ein Beispiel geben musst.«

»Oh. Ja«, sagte Colon und freundete sich voller Erleichterung mit dieser Vorstellung an. »Man kann schließlich nicht von mir erwarten, dass ich all diese Pflichten erfülle und lange Worte lese.«

»Natürlich nicht«, bekräftigte Nobby. »Außerdem fehlt in der Wache jetzt ein Feldwebel.«

»Guter Hinweis, Nobby. Es gibt bestimmt viel zu tun.«

Eine Zeit lang gingen sie schweigend weiter.

»Du könntest jemanden befördern«, sagte Nobby.

»Tatsächlich?«

»Was hat’s für einen Sinn, der Boss zu sein, wenn das nicht möglich sein sollte?«

»Stimmt. Außerdem haben wir es mit einer Art Notfall zu tun. Hmm… irgendwelche Vorschläge, Nobby?«

Nobby seufzte innerlich. Durch Zement fiel der sprichwörtliche Groschen schneller als bei Fred Colon.

»Mir fällt da ein ganz bestimmter Name ein«, sagte er.

»Ah, ja. Reg Schuh, nicht wahr? Schreibt gut. Denkt klar. Bewahrt immer einen kühlen Kopf.« Colon zögerte kurz. »Ist überhaupt recht kalt.«

»Und ein wenig tot«, fügte Nobby hinzu.

»Ja, ich schätze, das könnte man gegen ihn anführen.«

»Außerdem fallen ihm immer wieder Körperteile ab«, meinte Nobby.

»Stimmt«, erwiderte Hauptmann Colon. »Es ist nicht gerade angenehm, jemandem die Hand zu schütteln und dann mehr Finger zu haben als vorher.«

»Vielleicht solltest du nach jemandem Ausschau halten, den man bisher ungerechtfertigterweise übersehen hat«, sagte Nobby; er ging jetzt aufs Ganze. »Nach jemandem, dessen Gesicht gewissen Leuten nicht gefällt. Dessen Erfahrungen bei der Wache im Allgemeinen und bei der Verkehrskontrolle im Besonderen der Stadt von großem Nutzen wären, wenn gewisse Leute nicht immer wieder auf ein oder zwei Verfehlungen hinweisen würden, die ohnehin erfunden sind.«

Das Morgengrauen der Intelligenz brachte ein wenig Licht in die weiten Regionen von Colons Gesicht.

»Ah«, sagte er. »Ich verstehe. Warum hast du das nicht gleich gesagt, Nobby?«

»Nun, es ist deine Entscheidung, Fred… ich meine Hauptmann«, erwiderte Nobby ernst.

»Aber angenommen, Herr Mumm ist nicht einverstanden? Er kommt in einigen Wochen zurück.«

»Das dürfte Zeit genug sein«, erwiderte Nobby.

»Und es macht dir nichts aus?«

»Was? Mir? Natürlich nicht. Du kennst mich, Fred. Ich war immer bereit, meine Pflicht zu erfüllen.«

»Nobby?«

»Ja, Fred?«

»Das Kleid…«

»Ja, Fred?«

»Ich dachte, wir… ergreifen keine verkehrsberuhigenden Maßnahmen dieser Art mehr.«

»Das stimmt, Fred. Ich habe das Kleid anbehalten, um sofort einsatzbereit zu sein, falls du es dir anders überlegen solltest.«

 

Kühler Wind wehte über die Kohlfelder.

Für Gaspode brachte er nicht nur den überwältigenden Geruch von Kohl und den dunkelroten Gestank der Dungkarren, sondern auch Hinweise auf Kiefern, Berge, Schnee, Schweiß und muffigen Zigarrenrauch. Letzterer ging auf die Angewohnheit der Karrenmänner zurück, billige Zigarren zu rauchen – dadurch hielten sie die Fliegen von sich fern.

Gaspode konnte mit der Nase besser sehen als mit den Augen. Die Welt der Gerüche breitete sich vor ihm aus.

»Mir tun die Pfoten weh«, meinte Gaspode.

Sie kamen an eine Gabelung. Gaspode verharrte und schnüffelte. »He, das ist interessant«, sagte er. »Ein Teil des Dungs ist hier vom Karren gesprungen und hat den Weg über die Felder in diese Richtung fortgesetzt. Du hattest Recht.«

»Riechst du irgendwo Wasser?«, fragte Karotte und ließ den Blick über die Ebene schweifen.

Gaspodes fleckige Schnauze geriet in Bewegung. »Ein Teich«, sagte er. »Nicht sehr groß. Etwa eine Meile entfernt.«

»Bestimmt ist Angua dorthin unterwegs. Sie nimmt es mit der Reinlichkeit sehr genau. Im Gegensatz zu vielen anderen Werwölfen.«

»Halte selbst nicht viel von Wasser«, meinte Gaspode.

»Ach, tatsächlich nicht?«

»He, du brauchst nicht gleich sarkastisch zu werden. Ich habe einmal ein B-A-D genommen und weiß daher, was es damit auf sich hat.«

Einige windschiefe Bäume wuchsen am Teich. Trockenes Gras raschelte in der Brise. Ein einzelnes Wasserhuhn floh ins Schilf, als sich Karotte und Gaspode näherten.

»Ja, dies ist der richtige Ort«, sagte Gaspode. »Dung taucht ins Wasser, und heraus kommt…« Er beschnüffelte den aufgewühlten Schlamm. »Ja, äh, sie kommt heraus. Ähm.«

»Irgendein Problem?«, fragte Karotte.

»Nun, angenommen, es gibt da eine echt üble Sache, die mir bekannt ist und über die du bestimmt nicht Bescheid wissen möchtest… Was würdest du von mir halten, wenn ich dir trotzdem alles erzähle? Ich meine, manchen Leuten ist es lieber, nichts von solchen Dingen zu wissen. Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit.«

»Gaspode!«

»Angua ist nicht allein. Ein anderer Wolf leistet ihr Gesellschaft.«

»Ah.« Karottes sanftes, neutrales Lächeln blieb unverändert.

»Äh, ich meine einen Wolf männlichen Geschlechts«, fügte Gaspode hinzu. »Einen Wolfmann, sozusagen. Äh.«

»Danke, Gaspode.«

»Sozusagen ein außergewöhnlich männlicher Wolfmann. Äh. Ja, daran besteht kein Zweifel.«

»Ich glaube, ich verstehe.«

»Und dies sind nur Worte. Der Geruch macht die Sache viel deutlicher.«

»Herzlichen Dank, Gaspode. Und wohin sind sie unterwegs?«

»In Richtung Berge, Boss«, antwortete Gaspode so freundlich wie möglich. Er kannte nicht alle Details der sexuellen Beziehungen von Menschen, und die Einzelheiten, von denen er wusste, erschienen ihm unglaublich. Alles deutete darauf hin, dass solche Beziehungen bei Menschen weitaus komplizierter waren als bei Hunden.

»Der Geruch…«

»Meinst du den extrem männlichen Geruch, den ich eben erwähnte?«

»Genau den, ja«, bestätigte Karotte ruhig. »Könntest du ihn auch vom Rücken eines Pferds aus riechen?«

»Ich könnte ihn sogar mit der Schnauze in einem Zwiebelsack wahrnehmen.«

»Gut. Ich glaube nämlich, wir sollten uns jetzt etwas beeilen.«

»Ich dachte mir schon, dass du so etwas denkst.«

 

Obergefreiter Besuch salutierte, als Nobby und Colon die Wache am Pseudopolisplatz betraten.

»Ich glaube, von dieser Sache solltet ihr sofort erfahren«, sagte er und hob ein Stück Papier hoch. »Das hier habe ich vorhin von Rodney bekommen.«

»Von wem?«

»Von dem Kobold auf der Brücke, Herr. Er malt Bilder von Karren, die zu schnell sind. Niemand hat ihn gefüttert«, fügte Obergefreiter Besuch ein wenig vorwurfsvoll hinzu.

»Oh«, sagte Colon. »Eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Und?« Er sah noch einmal hin. »Das ist eine der Sänften, wie sie die tiefen Zwerge verwenden, nicht wahr? Die Trolle müssen verdammt flink gewesen sein.«

»Kurz vorher wurde die Nachbildung der Steinsemmel gestohlen«, sagte Besuch. »Rodney schreibt die Zeit in eine Ecke, siehst du? Die Sache kam mir ein wenig seltsam vor. Vielleicht ein Fluchtfahrzeug?«

»Warum sollte ein Zwerg einen wertlosen Stein stehlen wollen?«, fragte Colon. »Noch dazu einer der dunklen Zwerge. Sie wirken unheimlich in diesen blöden Klamotten, die sie dauernd tragen.«

Zornige Stille klang so laut wie ein herabstürzender Tragbalken in einem Tempel. Es hielten sich drei Zwerge im Zimmer auf.

»Ihr beiden!«, rief Feldwebel Starkimarm. »Ihr solltet auf Streife sein! Ich habe in der Kröselstraße zu tun!«

Die drei Zwerge verließen den Raum und brachten es sogar fertig, zornig zu gehen.

»Was soll man davon halten?«, brummte Fred Colon. »Ein wenig empfindlich die Burschen, wie? Herr Mumm sagt dauernd solche Dinge, und niemand stört sich daran.«

»Ja, aber er ist Sam Mumm«, meinte Nobby.

»Ach?«, erwiderte Colon. »Willst du damit andeuten, dass ich nicht Sam Mumm bin?«

»Nun, ja«, sagte Nobby geduldig. »Du bist Fred Colon.«

»Oh, das bin ich, stimmt’s?«

»Ja, Hauptmann Colon.«

»Und das sollten sie besser nicht vergessen, verdammt!«, schnappte Colon. »Ich werde so etwas auf keinen Fall zulassen und lehne es ab, irgendeine Form von Insubordination hinzunehmen. Ich war immer der Ansicht, dass Mumm den Zwergen gegenüber zu nachsichtig ist! Sie kriegen den gleichen Sold wie wir und sind nur halb so groß!«

»Ja, ja«, sagte Nobby und versuchte mit beschwichtigenden Gesten, Colons erhitztes Gemüt abzukühlen. »Aber weißt du, Fred… Trolle sind doppelt so groß wie wir und kriegen ebenfalls den gleichen Sold…«

»Aber sie sind auch nur ein Viertel so intelligent und haben deshalb nicht mehr verdient…«

Ein in die Länge gezogenes, bedrohliches Geräusch erklang: Obergefreiter Flussspat schob seinen Stuhl langsam zurück.

Der Boden knarrte, als er an Colon vorbeistapfte, mit einer riesigen Hand den Helm vom Haken nahm und zur Tür marschierte.

»Ich auf Streife gehe«, grollte er.

»Dein Dienst beginnt doch erst in einer Stunde«, sagte Obergefreiter Besuch.

»Ich gehe jetzt«, erwiderte Flussspat. Für einige Sekunden wurde es dunkel im Zimmer, als der Troll die ganze Tür ausfüllte.

»Warum sind denn plötzlich alle so gereizt?«, fragte Colon. Die übrig gebliebenen Obergefreiten mieden seinen Blick.

»Habe ich da jemanden kichern gehört?«, erkundigte sich Colon argwöhnisch.

»Niemand hat gekichert, Feldwebel«, sagte Nobby.

»Ach? Du hältst mich also für einen Feldwebel, Korporal Nobbs?«

»Nein, Fred, ich… lieber Himmel…«

»Ganz offensichtlich sind die Dinge hier ziemlich lax geworden«, sagte Hauptmann Colon mit einem boshaften Glitzern in den Augen. »Bestimmt dachtet ihr alle: Ach, es ist ja bloß der dicke alte Fred Colon, von jetzt an können wir uns auf die faule Haut legen.«

»Nein, Fred, niemand hat dich für alt gehalten… meine Güte…«

»Nur für dick, wie?« Fred ließ einen finsteren Blick durchs Zimmer schweifen. Alle Anwesenden zeigten ebenso plötzliches wie untypisches Interesse an ihrer Schreibarbeit.

»Na schön! Von jetzt an wird sich hier eine Menge ändern«, sagte Hauptmann Colon. »O ja. Ich kenne alle eure kleinen Tricks… Wer hat das gesagt?«

»Wer soll was gesagt haben, Hauptmann?«, fragte Nobby, der das geflüsterte »Wir haben sie von dir gelernt, Feldwebel« ebenfalls gehört hatte. Aber er hätte lieber glühende Kohlen geschluckt, als es zugegeben.

»Jemand hat etwas gemurmelt, aber nicht leise genug«, sagte Hauptmann Colon.

»Da irrst du dich bestimmt«, erwiderte Nobby.

»Und es gefällt mir auch nicht, angestarrt zu werden!«

»Niemand sieht dich an«, jammerte Nobby.

»Ah, glaubst du vielleicht, ich wüsste nicht Bescheid?«, rief Colon. »Es gibt viele Möglichkeiten, jemanden anzustarren, ohne ihn dabei anzusehen. Der Mann da drüben verspottet mich, indem er mit den Ohren wackelt!«

»Ich glaube, Obergefreiter Ping interessiert sich nur für den Bericht, den er gerade schreibt, Fre… Fel… Hauptmann.«

Der aufgeplusterte Colon beruhigte sich ein wenig. »Na schön. Ich gehe jetzt nach oben in mein Büro, verstanden? Hier wird sich einiges ändern. Und jemand soll mir eine Tasse Tee bringen.«

Sie sahen ihm nach, als er die Treppe hinaufging, das Büro betrat und die Tür zuknallte.

»Nun, das…«, begann Obergefreiter Ping. Nobby kannte Colons Wesen weitaus besser und winkte mit einer Hand, während er die andere in einer unmissverständlichen Geste ans Ohr hielt.

Sie hörten ein leises Klicken, als sich die Tür wieder öffnete.

»Ich glaube, es wird wirklich Zeit, dass sich hier gewisse Dinge ändern«, sagte Obergefreiter Ping.

»Wie der Prophet Ossory meinte: Besser ein Ochse auf dem Töpferplatz von Herscheba als eine Sandale in den Weinpressen von Gasch«, sagte Obergefreiter Besuch.

»Ja, davon habe ich gehört«, meinte Nobby. »Nun, ich koche ihm jetzt Tee. Nach einer Tasse Tee fühlt sich jeder besser.«

Einige Minuten später hörten die Obergefreiten Colons laute Stimme selbst durch die geschlossene Tür.

»Was ist mit diesem Becher nicht in Ordnung, Korporal?«

»Nichts, Feldw… Hauptmann. Es ist dein Becher. Du hast immer aus ihm getrunken.«

»Ja, aber es ist der Becher eines Feldwebels, Korporal. Woraus trinken Offiziere?«

»Nun, Karotte und Mumm haben ihre eigenen Becher…«

»Nun, es mag ihre Entscheidung sein, aus Bechern zu trinken, Korporal, aber in den Vorschriften der Wache heißt es, dass Offizieren eine Tasse samt Untertasse zusteht. So steht es in der Verordnung 301, Abschnitt C. Hast du verstanden?«

»Ich weiß gar nicht, ob wir…«

»Aber du weißt, wo sich die Portokasse befindet, oder? Meistens bist du die einzige Person, die darüber informiert ist. Wegtreten, Korporal.«

Nobby kam blass die Treppe hinunter, in der einen Hand den Behälter des Anstoßes.

Die Tür öffnete sich erneut.

»Und niemand von euch spuckt hinein!«, rief Colon. »Den Trick kenne ich! Und der Tee wird mit einem Löffel umgerührt, klar? Den Trick kenne ich auch.« Die Tür knallte zu.

Obergefreiter Besuch nahm den Becher aus Nobbys zitternder Hand und klopfte ihm auf die Schulter.

»Der Troll Kreidig bietet recht preisgünstiges Geschirr zweiter Wahl an, soweit ich weiß…«, begann er.

Die Tür öffnete sich. »Und aus richtigem Porzellan soll die Tasse sein!«

Die Tür knallte zu.

»Hat jemand in letzter Zeit die Portokasse gesehen?«, fragte Obergefreiter Ping.

Nobby griff kummervoll in die Tasche, holte einige Ankh-Morpork-Dollar hervor und reichte sie Besuch.

»Geh besser zu dem feinen Laden in der Königsstraße«, sagte er. »Besorg eine der Tassen, die so dünn sind, dass man hindurchsehen kann. Und auch eine Untertasse. Mit Gold am Rand.« Er sah die anderen Obergefreiten an. »Worauf wartet ihr noch? Hier drin könnt ihr wohl kaum irgendwelche Verbrecher fassen!«

»Wir wär’s mit dem Dieb der Portokasse, Nobby?«, fragte Ping.

»Werd bloß nicht frech, Ping! Nach draußen mit dir! Und das gilt auch für die anderen!«

 

Tage zogen dahin. Besser gesagt: Sie klapperten vorbei. Es war eine recht komfortable Kutsche, soweit man bei Kutschen überhaupt von Komfort sprechen konnte, aber die Straße hatte viele Schlaglöcher, weshalb die Kutsche oft hin und her schaukelte wie eine Wiege. Zu Anfang wirkte diese Bewegung recht angenehm, doch nach einem Tag verlor sie an Reiz, so wie die Landschaft.

Mumm blickte bedrückt aus dem Fenster.

Am Horizont war ein weiterer Nachrichtenturm zu sehen. Sie wurden neben der Straße errichtet, obwohl das nicht die direkte Route war. Nur ein Narr würde sie irgendwo in der Wildnis bauen. Manchmal musste man sich daran erinnern, dass es nur wenige hundert Meilen von Ankh-Morpork entfernt nach wie vor Trolle gab, die erst noch lernen mussten, dass Menschen nicht gut schmeckten. Außerdem lagen die meisten Siedlungen unweit der Straße.

Bestimmt verdiente die neue Gilde Geld wie Heu. Trotz der noch immer recht großen Entfernung sah Mumm das Gerüst – Arbeiter waren fieberhaft damit beschäftigt, den Turm mit weiteren Klappen und Flügeln auszustatten. Der nächste Sturm machte sicher Kleinholz daraus, aber bis dahin hatten die Eigentümer vermutlich genug Geld gescheffelt, um fünf neue zu bauen. Oder fünfzig.

Es geschah alles so schnell. Wer hätte das gedacht? Die einzelnen Komponenten existierten seit Jahren. Die Informationsübermittlung mit Hilfe von optischen Signalen war alles anderes als neu. Schon vor hundert Jahren hatte die Wache einige Türme benutzt, um Mitteilungen an Polizisten im Einsatz weiterzuleiten. Und Wasserspeier hatten den ganzen Tag über nichts anderes zu tun, als dazusitzen und Dinge zu beobachten. Außerdem waren sie meistens zu einfallslos, um Fehler zu machen.

Der Unterschied war, dass die Leute über Nachrichten heute anders dachten als damals. Einst wäre so ein Kommunikationssystem benutzt worden, um über Truppenbewegungen und den Tod von Königen zu berichten. Sicher, über solche Dinge wollte man Bescheid wissen, aber nicht jeden Tag. Dafür gab es andere Dinge, die man jeden Tag in Erfahrung bringen wollte: Welchen Preis kann man heute in Ankh-Morpork für Vieh erzielen? Wenn er zu niedrig war, konnte es besser sein, die Tiere nach Quirm zu treiben. Tägliche Bedeutung hatten kleine Dinge wie Hat mein Schiff den Bestimmungsort sicher erreicht? Deshalb scheute die Gilde keine Mühen, eine Nachrichtenverbindung über die Berge voranzutreiben, bis zum viertausend Meilen entfernten Gennua. Ein Schiff brauchte viele Monate, um Kap Schrecken zu umfahren. Wie viel würde ein Händler zahlen, um innerhalb eines Tages von der Ankunft zu erfahren und Antwort auf die Fragen zu erhalten, wie viel die Fracht wert war, ob sie sich ohne weiteres verkaufen ließ und welche Waren besonders gefragt waren.

O ja, die Gilde scheffelte Geld.

Und wie jeder neue Fimmel in der großen Stadt hatte sich die Sache einem Fieber gleich ausgebreitet. Jeder, der einen Turm bauen, ein paar Wasserspeier zusammenbringen und gebrauchte Windmühlenteile auftreiben konnte, schien in das Geschäft einsteigen zu wollen. Wenn man heutzutage ein Restaurant besuchte, konnte man immer wieder beobachten, wie jemand aufstand, nach draußen ging und zum nächsten Nachrichtenturm sah, um festzustellen, ob eine Mitteilung für ihn eingetroffen war. Andere Leute wählten den Weg der direkten Kommunikation und schickten Freunden auf der anderen Seite eines überfüllten Saals Nachrichten, was bei in der Nähe stehenden Personen zu Quetschungen führte…

Mumm schüttelte den Kopf. Das waren Nachrichten ohne Inhalt: Telepathie ohne Gehirn.

Doch die vergangene Woche hatte ein gutes Beispiel für die Vorteile der neuen Technik geboten. Als Weiß-nicht Jack das Silber in Sto Lat klaute und dann fortritt, um in den Schatten von Ankh-Morpork unterzutauchen. Der in Ankh-Morpork ausgebildete Feldwebel Rand von der Wache in Sto Lat hatte sofort eine semaphorische Nachricht geschickt, die Mumm eine gute Stunde bevor Weiß-nicht Jack eintraf, erreichte. Dadurch wurde es möglich, dass ihn Feldwebel Detritus am Stadttor in Empfang nahm. Rechtlich gesehen war die Sache nicht ganz klar, da Jack das Verbrechen nicht in Ankh-Morpork verübt hatte und bei der Nachrichtenübermittlung wohl kaum von einer »Verfolgungsjagd« die Rede sein konnte. Doch freundlicherweise löste Weiß-nicht Jack dieses Problem, indem er versuchte, dem Troll einen Fausthieb zu verpassen. Das Resultat war die Verhaftung wegen versuchter Körperverletzung und eine gebrochene Hand…

Lady Sybil schnarchte leise. Eine Ehe besteht immer aus zwei Personen, die beide schwören würden, dass nur der andere schnarcht.

Inigo Schaumlöffel hockte in einer Ecke und las ein Buch. Mumm beobachtete ihn gelegentlich.

»Ich schnappe oben ein wenig frische Luft«, sagte er schließlich und öffnete die Tür. Das Klappern der Räder füllte die kleine, heiße Kabine, und Staub wehte herein.

»Euer Gnaden…«, begann Inigo und erhob sich.

Mumm, der draußen bereits emporkletterte, sah noch einmal ins Innere der Kutsche. »Mit einer solchen Einstellung gewinnst du keine Freunde«, sagte er und trat die Tür zu.

Grinsi und Detritus hatten es sich auf dem Dach gemütlich gemacht. Dort war es weitaus weniger stickig, und sie hatten einen Ausblick, falls man Gemüse für ein interessantes Panorama hielt.

Mumm nahm zwischen zwei Bündeln Platz und beugte sich zu Grinsi vor.

»Du kennst dich doch mit den Nachrichten aus, nicht wahr?«, fragte er.

»Nun, ein bisschen…«

»Gut.« Mumm reichte ihr einen Zettel. »Bestimmt gibt es einen Nachrichtenturm in der Nähe des Ortes, wo wir heute Abend anhalten. Verschlüssel dies und schick es der Wache. Es müsste innerhalb einer Stunde klar sein, wenn man die richtigen Leute fragt. Sie sollen es bei der Waschechten Topsy versuchen; sie kümmert sich dort um die Wäsche. Oder bei Gilbert Gilbert – er scheint immer genau zu wissen, was vor sich geht.«

Grinsi las die Mitteilung und richtete dann einen erstaunten Blick auf Mumm.

»Bist du sicher, Herr?«, fragte sie.

»Vielleicht. Vergiss nicht, die Beschreibung zu schicken. Namen bedeuten nicht viel.«

»Darf ich fragen, wieso du glaubst…«

»So wie er geht. Und er fing die Orange nicht auf«, sagte Mumm. »Mhm. Mhm.«

 

Obergefreiter Besuch reinigte den alten Taubenschlag, als die Nachricht eintraf.

Inzwischen verbrachte er immer mehr Zeit bei den Tauben. Es war kein sehr beliebter Job, und deshalb versuchte niemand, seinen Platz einzunehmen. Wenigstens hörte man das Geschrei und die knallenden Türen hier nur gedämpft.

Die Sitzstangen funkelten.

Obergefreiter Besuch fand Gefallen an seiner derzeitigen Tätigkeit. Er hatte nicht viele Freunde in der Stadt. Er hatte auch nicht viele Freunde in der Wache. Aber wenigstens gab es Leute, mit denen er reden konnte, und außerdem kam er mit dem religiösen Unterricht bei den Tauben gut voran.

Doch jetzt dies…

Die Nachricht war für Hauptmann Karotte bestimmt. Was vermutlich bedeutete, dass sie an Hauptmann Colon weitergeleitet werden sollte, und zwar persönlich, denn Hauptmann Colon glaubte, dass jemand die für ihn bestimmte Rohrpost kontrollierte.

Bisher hatte sich Obergefreiter Besuch recht sicher gefühlt. Omnianer neigten von Natur aus dazu, Befehle nicht in Frage zu stellen. Das galt auch für jene, die überhaupt keinen Sinn ergaben. Besuch respektierte Autorität instinktiv, ganz gleich, wie verrückt sie sein mochte – das verdankte er einer guten Erziehung. Darüber hinaus stand ihm genug Zeit zur Verfügung, seinen Brustharnisch zu putzen. Aus irgendeinem Grund waren glänzende Brustharnische in der Wache sehr wichtig geworden.

Doch um Colons Büro aufzusuchen, brauchte er so viel Mut wie der legendäre Bischof Horn, als er die Stadt der Ooliten betrat, und alle wussten, was die mit Fremden anstellten.

Besuch verließ den Taubenschlag, ging zum Hauptgebäude und achtete darauf, zackig zu gehen.

Die Wache war mehr oder weniger leer. Seit einiger Zeit schien es nicht mehr so viele Wächter zu geben wie früher. Normalerweise blieben die Leute bei diesem kühlen Wetter lieber drinnen, doch niemand setzte sich gern Hauptmann Colons Zorn aus.

Besuch ging die Treppe zum Büro hinauf und klopfte an die Tür.

Nach einer Weile klopfte er erneut.

Als alles still blieb, öffnete er die Tür, trat leise zum glänzenden, leeren Schreibtisch und machte Anstalten, die Nachricht unter das kleine Tintenfass zu schieben, damit sie nicht weggeweht werden konnte…

»Aha!«

Obergefreiter Besuchs Hand zuckte, und Tinte spritzte. Ein schwarzer Schauer flog dicht an seinen Augen vorbei und traf mit lautem Platschen etwas hinter ihm.

Steif drehte er sich um und sah Hauptmann Colon, dessen Gesicht ohne die Tinte vermutlich kalkweiß gewesen wäre.

»Ich verstehe«, sagte Colon. »Angriff auf einen vorgesetzten Offizier, wie?«

»Es war ein Unfall, Hauptmann!«

»Ach, tatsächlich? Und warum hast du dich in mein Büro geschlichen, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe nicht gewusst, dass du hier bist, Hauptmann!«, brabbelte Besuch.

»Aha!«

»Wie bitte?«

»Wolltest wohl einen Blick in meine privaten Dokumente werfen.«

»Nein, Hauptmann!« Besuch erholte sich ein wenig. »Warum hast du hinter der Tür gestanden, Hauptmann?«

»Ach? Glaubst du vielleicht, ich dürfte nicht hinter der Tür meines eigenen Büros stehen?«

An dieser Stelle unterlief dem Obergefreiten Besuch der nächste Fehler: Er versuchte zu lächeln.

»Nun, es ist ein wenig seltsam, Herr…«

»Willst du damit sagen, irgendetwas an mir sei seltsam?«, fragte Hauptmann Colon. »Entdeckst du gar etwas an mir, das du komisch findest?«

Besuch blickte in das tintenverschmierte Gesicht. »Nein, nichts, Herr.«

»Du hast annehmbare Arbeit geleistet, Obergefreiter«, sagte Colon und stand ein wenig zu dicht vor Besuch. »Deshalb will ich nicht zu streng mit dir sein. Niemand soll behaupten können, ich sei unfair. Hiermit degradiere ich dich zum Unterobergefreiten, verstanden? Dein Sold wird rückwirkend vom Beginn des Monats an entsprechend gekürzt.«

Besuch salutierte – das war vermutlich die einzige Möglichkeit, dies lebend zu überstehen. Ein Lid des Hauptmanns zuckte.

»Nun, ich wäre eventuell bereit, diesen Zwischenfall einfach zu vergessen und dir deinen alten Rang zurückzugeben«, fuhr Colon fort. »Vorausgesetzt, du verrätst mir, wer die Zuckerstücke gestohlen – ich sagte gestohlen – hat.«

»Herr?«

»Ich weiß, dass es gestern Abend dreiundvierzig waren. Ich habe sie sehr sorgfältig gezählt. Heute Morgen sind es nur noch einundvierzig, Unterobergefreiter. Obwohl sie im Schreibtisch eingeschlossen waren. Hast du eine Erklärung dafür?«

Die ehrliche und selbstmörderische Antwort hätte gelautet: Nun, Hauptmann, du verfügst zweifellos über viele bewundernswerte Fähigkeiten, aber ich habe gesehen, wie du zweimal deine Finger gezählt hast, und zwar mit unterschiedlichem Ergebnis.

»Äh… Mäuse?«, erwiderte Besuch.

»Ha! Fort mit dir, Unterobergefreiter! Und denk über das nach, was ich dir gesagt habe!«

Als der deprimierte Besuch das Büro verlassen hatte, nahm Hauptmann Colon am großen, leeren Schreibtisch Platz.

Irgendwo hinter seiner Stirn glühte noch immer ein Funken Intelligenz durch den dichten Nebel aus lähmendem Entsetzen, und dieser Funken teilte ihm mit: Er hatte so sehr den Boden unter den Füßen verloren, dass er nicht mehr auf dem schmalen Grat der Vernunft balancierte, sondern in den bodenlosen Abgrund des Wahnsinns stürzte.

Ja, er hatte einen leeren Schreibtisch. Aber nur deshalb, weil er den Papierkram einfach wegwarf.

Fred Colon war keineswegs Analphabet, aber er brauchte Zeit und einen geistigen Anlauf, um mit Geschriebenem fertig zu werden, das umfangreicher war als eine kurze Liste. Wörter mit mehr als drei Silben stellten ein fast unüberwindliches Hindernis für ihn dar. Colon war auf einer rein funktionellen Ebene des Schreibens und Lesens kundig: Er verglich das Schreiben und Lesen mit Stiefeln. Man brauchte sie, aber niemand erwartete von ihnen, dass sie Spaß machten. Wer sich zu sehr dafür begeisterte, erregte Argwohn.

Bei Herrn Mumm hatten die Papiere immer hohe Stapel auf dem Schreibtisch gebildet, aber Colon vermutete, dass Mumm und Karotte einen ganz besonderen Weg gefunden hatten, mit der Dokumentenflut fertig zu werden: Sie verstanden es, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Für Colon blieb alles verwirrend und rätselhaft. Es gab Beschwerden, Memos, Einladungen, auszufüllende Formulare, Briefe, deren Verfasser um »einige Minuten deiner Zeit« baten, Berichte und Sätze mit Ausdrücken wie »ungeheuerlich« und »unverzügliche Maßnahmen«. In seinem Bewusstsein türmte sich all dies wie eine gewaltige Welle auf, die jederzeit auf ihn herabschmettern konnte.

Jener Teil von Colon, der verzweifelt an einem Rest von Vernunft festhielt, fragte sich, ob es nicht die wahre Aufgabe von Offizieren war, diesen ganzen Kram von Feldwebeln fern zu halten – damit die Feldwebel weiterhin Feldwebel sein konnten.

Hauptmann Colon holte tief und zittrig Luft.

Andererseits… Wenn die Leute sogar Zuckerstücke stibitzten, durfte man sich nicht wundern, dass alles drunter und drüber ging! Bring die Sache mit den Zuckerstücken in Ordnung – der Rest erledigt sich von ganz allein.

Das ergab einen Sinn!

Er drehte den Kopf und sah zu dem großen, anklagenden Dokumentenhaufen in der Ecke.

Er bemerkte auch den leeren Kamin.

Darum ging es bei der Tätigkeit eines Offiziers. Es kam darauf an, Entscheidungen zu treffen!

 

Unterobergefreiter Besuch ging nach unten in den Hauptraum der Wache zurück. Dort hielten sich jetzt mehrere Personen auf, denn der Schichtwechsel stand unmittelbar bevor.

Alle drängten sich um einen Schreibtisch, auf dem die schmutzige Steinsemmel lag.

»Obergefreiter Schenkelbeißer hat sie in der Zephirstraße gefunden«, sagte Feldwebel Starkimarm. »Sie lag einfach da. Offenbar hat es der Dieb mit der Angst zu tun bekommen.«

»Aber der Fundort ist ziemlich weit vom Museum entfernt«, sagte Reg Schuh. »Warum sollte der Dieb die Steinsemmel quer durch die Stadt schleppen, um sie dann in einem piekfeinen Viertel zurückzulassen, noch dazu an einer Stelle, wo man sie sofort findet?«

»Oh, weh mir, denn ich bin ruiniert«, sagte Unterobergefreiter Besuch. Er fühlte sich in den Hintergrund gedrängt, noch dazu von einem Objekt, das er als heidnisches Symbol bezeichnet hätte, wenn ihm seine Beine nicht mehr wichtig gewesen wären.

»Besser du als wir«, erwiderte Korporal Nobbs, der nicht viel von Mitleid hielt.

»Ich meine, ich bin zum Unterobergefreiten degradiert«, erklärte Besuch.

»Was? Warum?«, fragte Feldwebel Starkimarm.

»Ich… weiß nicht genau«, antwortete Besuch.

»Jetzt reicht’s!«, sagte der Zwerg. »Gestern hat er drei Wächter bei den Tollen Schwestern rausgeschmissen. Ich warte nicht, bis es mir ebenso ergeht. Nein, ich gehe nach Sto Lat. Dort sind ausgebildete Wächter jederzeit willkommen. Ich bin Feldwebel; bestimmt bietet man mir sofort eine Stelle an.«

»Nehmt’s doch nicht so tragisch«, warf Nobby ein. »Auch Mumm hat gelegentlich kein Blatt vor den Mund genommen.«

»Ja, aber das war etwas anderes.«

»Warum?«

»Weil die Worte von Herrn Mumm kamen«, sagte Starkimarm. »Erinnert ihr euch an den Krawall letztes Jahr in der Leichten Straße? Ich lag am Boden, und ein Bursche hatte es mit einer Keule auf mich abgesehen. Herr Mumm hielt den Kerl am Arm fest und schickte ihn mit einem entschlossenen Fausthieb ins Reich der Träume.«

»Ja«, sagte Obergefreiter Kniehack, ein weiterer Zwerg. »Wenn man mit dem Rücken an der Wand steht, ist Herr Mumm direkt hinter einem.«

»Aber der alte Fred… Ihr alle kennt den alten Fred, Jungs«, sagte Nobby in schmeichlerischem Tonfall. Er nahm den Kessel vom Herd und goss heißes Wasser in die Teekanne. »Er ist durch und durch Polizist.«

»Allerdings von einer ganz besonderen Art«, entgegnete Kniehack.

»Ich meine, er ist am längsten von uns allen in der Wache«, sagte Nobby.

Einer der Zwerge murmelte etwas auf Zwergisch. Die kleineren Wächter lächelten.

»Was hast du gesagt?«, fragte Nobby.

»Nun«, erwiderte Starkimarm, »grob übersetzt heißt es in etwa: Mein Hintern ist schon seit langer Zeit mein Hintern, aber ich muss nicht auf alles hören, was er sagt.«

»Mir hat er ein Bußgeld von einem halbem Dollar wegen Bettelns beschert«, sagte Kniehack. »Fred Colon! Er geht praktisch mit einer Einkaufstasche auf Streife! Und ich ließ mir nur ein Bier in der Weintraube spendieren und fand dabei heraus, dass der Feine Wally seit kurzer Zeit viel Geld hat. Es kann sicher nicht schaden, das zu wissen. Als ich bei der Wache anfing und mit Fred Colon unterwegs war, stopfte er sich immer dann die Serviette unters Kinn, wenn wir uns einem Café näherten. ›Oh, nein, Feldwebel Colon, du brauchst natürlich nicht zu bezahlen.‹ Die Leute deckten bereits den Tisch, wenn sie ihn um die Ecke kommen sahen.«

»Jeder von uns lässt sich den einen oder anderen Gefallen erweisen«, sagte Starkimarm.

»Hauptmann Karotte nicht«, ließ sich Nobby vernehmen.

»Hauptmann Karotte war… etwas Besonderes.«

»Was soll ich hiermit machen?« Unterobergefreiter Besuch winkte mit dem Nachrichtenzettel. Die spritzende Tinte hatte einige Flecken darauf hinterlassen. »Herr Mumm fordert dringend Informationen an.«

Starkimarm nahm den Zettel und las.

»Nun, das sollte nicht weiter schwer sein«, meinte er. »Der alte Wussie Ruhig in der Kickelburgstraße war dort jahrelang Hausmeister und schuldet mir einen Gefallen.«

»Wenn wir Herrn Mumm eine Nachricht schicken, sollten wir die Steinsemmel und Keinesorge erwähnen«, sagte Reg Schuh. »Ihr wisst ja, dass er auf dem Laufenden gehalten werden möchte. Ich habe inzwischen einen Bericht geschrieben.«

»Was könnte er schon mit solch einer Mitteilung anfangen? Er ist Hunderte von Meilen entfernt.«

»Wenn er die Nachricht erhält, macht er sich Sorgen, und dann brauche ich mir keine mehr zu machen«, erwiderte Reg.

»Korporal Nobbs!«

»Ich bin ganz sicher, dass er an der Tür lauscht«, sagte Starkimarm. »Na, ich gehe jetzt.«

»Bin unterwegs, Hauptmann!«, rief Nobby. Er zog die unterste Schublade seines alten, zerkratzten und fleckigen Schreibtischs auf, holte eine Schachtel mit Schokoladenplätzchen hervor und legte einige von ihnen auf einen Teller.

»Es tut mir sehr Leid, dich dabei zu beobachten«, sagte Starkimarm und zwinkerte den anderen Zwergen zu. »Du hast das Zeug zu einem ordentlichen Polizisten. Es bricht mir das Herz zu sehen, wie du das alles wegwirfst, um eine Kellnerin zu sein.«

»Ha ha ha«, sagte Nobby. »Wartet nur ab – vielleicht erlebt ihr dann eine Überraschung.« Er hob die Stimme. »Bin gleich bei dir, Hauptmann!«

Als Nobbs das Büro betrat, nahm er den scharfen Geruch von verbranntem Papier wahr.

»Nichts schafft mehr Gemütlichkeit als ein hübsches kleines Feuer«, sagte Nobby und stellte den Teller auf den Schreibtisch. »Das war schon immer meine Meinung.«

Aber Hauptmann Colon achtete gar nicht darauf. Er hatte die Zuckerschüssel aus der abschließbaren Schublade des Schreibtisch genommen und die Würfel zu Reihen geordnet.

»Fällt dir an den Zuckerwürfeln irgendetwas auf, Korporal?«, fragte er ruhig.

»Nun, sie sind schon mal sauberer gewesen. Offenbar hast du sie oft in der Hand gehalten…«

»Es sind siebenunddreißig, Korporal.«

»Das bedauere ich sehr, Hauptmann.«

»Besuch muss einige Würfel geklaut haben, als er hier war. Vermutlich mit irgendeinem ausländischen Trick. Leute wie er sind dazu fähig. Sie können an Seilen emporklettern und ganz oben verschwinden, etwas in der Art.«

»Hatte er ein Seil dabei?«, fragte Nobby.

»Willst du mich auf den Arm nehmen, Korporal?«

Nobby nahm Haltung an. »Nein, Herr! Vielleicht war es ein unsichtbares Seil. Wenn solche Burschen ganz oben an einem Seil verschwinden können, dann sind sie auch in der Lage, das Seil verschwinden zu lassen. Ist doch ganz klar.«

»Guter Hinweis, Korporal.«

»Da wir gerade bei guten Hinweisen sind, Herr«, sagte Nobby, entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen. »Hast du trotz der vielen anderen Dinge, um die du dich kümmern musst, Zeit gefunden, über die Beförderung des neuen Feldwebels nachzudenken?«

»Das habe ich tatsächlich, Korporal.«

»Gut, Herr.«

»Ich habe dabei alle Dinge berücksichtigt, die du erwähnt hast, und danach kam praktisch nur eine Person in Frage.«

»Ja, Herr!« Nobby schob die Brust vor und salutierte.

»Hoffentlich schadet es nicht der Moral. Das kann bei Beförderungen passieren. Wenn es irgendwelche Probleme dieser Art gibt, möchte ich, dass man mir den Zuckerdieb meldet, klar?«

»Ja, Herr!« Nobbys Füße hoben fast vom Boden ab.

»Und noch etwas, Korporal. Ich verlasse mich darauf, dass du mir sofort Bescheid gibst, wenn Feldwebel Feuerstein irgendwelche Schwierigkeiten hat.«

»Feldwebel Feuerstein«, wiederholte Nobby leise.

»Er ist ein Troll, ja, man soll mir nicht nachsagen, ich sei unfair.«

»Feldwebel Feuerstein.«

»Das ist alles. In einer Stunde erwartet mich Seine Exzellenz, und vorher möchte ich noch gründlich nachdenken. Das ist meine Aufgabe.«

»Feldwebel Feuerstein.«

»Ja. An deiner Stelle würde ich mich gleich bei ihm melden.«

 

Weiße Hühnerfedern lagen auf dem Boden. Der Bauer stand in der Tür des Hühnerhauses und schüttelte den Kopf. Er drehte sich um, als ein Reiter näher kam.

»Guten Morgen, Herr! Hast du irgendein Problem?«

Der Bauer öffnete den Mund, um eine geistreiche oder wenigstens scharfe Antwort zu geben, doch etwas hielt ihn davon ab. Vielleicht lag es an dem Schwert, das der Reiter auf dem Rücken trug, oder an seinem Lächeln. Aus irgendeinem Grund wirkte es noch beunruhigender als das Schwert.

»Äh, jemand ist über mein Federvieh hergefallen«, sagte er. »Ein Fuchs, nehme ich an.«

»Ich würde eher auf Wölfe tippen«, erwiderte der Reiter.

Der Bauer öffnete den Mund, um »Sei nicht dumm, um diese Jahreszeit gibt es hier unten keine Wölfe« zu sagen, aber das zuversichtliche Lächeln ließ ihn erneut zögern.

»Sie haben viele Hühner erwischt, nicht wahr?«

»Sechs«, meinte der Bauer.

»Und wie sind sie ins Hühnerhaus gelangt?«

»Das ist wirklich eine seltsame Sache… He, halt den Hund zurück!«

Eine kleine Promenadenmischung war vom Sattel gesprungen und schnüffelte am Hühnerhaus herum.

»Er wird dir keinen Ärger machen«, sagte der Reiter.

»Er ist in einer seltsamen Stimmung – an deiner Stelle würde ich ihm nicht widersprechen«, erklang eine Stimme hinter dem Bauern. Er drehte sich ruckartig um.

Der Hund sah unschuldig zu ihm auf. Alle wussten, dass Hunde nicht sprechen konnten.

»Wuff?«, machte die Promenadenmischung. »Wau? Jaul?«

»Er ist bestens abgerichtet«, erklärte der Reiter.

»Ja, stimmt«, brummte jemand hinter dem Bauern, der sich immer mehr wünschte, den Reiter in der Ferne verschwinden zu sehen. Das Lächeln ging ihm auf die Nerven, und jetzt litt er auch noch an akustischen Halluzinationen.

»Ich weiß gar nicht, wie die Wölfe ins Hühnerhaus eindringen konnten«, sagte er. »Der Riegel war vorgeschoben…«

»Außerdem bezahlen Wölfe normalerweise nicht, oder?«, entgegnete der Reiter.

»Meine Güte, woher weißt du das?«

»Dafür gibt es mehrere Anzeichen. So ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass du die Hand zur Faust geballt hast, als du mich hörtest. Woraus ich schließe, dass du – mal sehen – drei Dollar im Hühnerhaus gefunden hast. Mit drei Dollar kann man in Ankh-Morpork sechs gute Hühner kaufen.«

Der Mann öffnete wortlos die Hand. Münzen glänzten im Sonnenschein.

»Aber… ich verkaufe sie für zehn Cent das Stück am Stadttor!«, brachte er hervor. »Sie hätten doch nur fragen müssen!«

»Wahrscheinlich wollten sie dich nicht stören«, sagte der Reiter. »Da ich schon einmal hier bin, Herr… Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir ein Huhn verkaufen könntest…«

Hinter dem Bauern sagte der Hund: »Wuff, wuff!«

»… zwei Hühner. Anschließend werde ich nicht noch mehr von deiner Zeit in Anspruch nehmen.«

»Wuff, wuff, wuff.«

»Drei Hühner«, sagte der Reiter und seufzte leise. »Wenn du sie braten könntest, während ich mich um mein Pferd kümmere… dann bin ich gern bereit, für jedes Huhn einen Dollar zu bezahlen.«

»Wuff, wuff.«

»Zwei Exemplare bitte ohne Knoblauch und andere Gewürze«, sagte der Reiter.

Der Bauer nickte wortlos. Ein Dollar pro Huhn war viel Geld. So eine Gelegenheit ließ man nicht einfach so verstreichen. Und was noch viel wichtiger war: Einem Mann, der auf diese Weise lächelte, gehorchte man besser. Das Lächeln schien sich überhaupt nicht zu verändern und weckte in dem Bauern den Wunsch, möglichst weit entfernt davon zu sein.

Er eilte zum Gehege mit seinem besten Geflügel, streckte die Hand aus, um nach dem dicksten Huhn zu greifen… und zögerte. Wenn ein Mann verrückt genug war, einen Dollar für ein gutes Huhn zu bezahlen, so gab er sich vielleicht auch mit einem durchschnittlichen Huhn zufrieden. Er richtete sich auf.

»Nur die Besten, mein Lieber.«

Er wirbelte herum. Niemand stand hinter ihm, von dem struppigen Hund abgesehen. Das Tier war ihm gefolgt und wirbelte eine Staubwolke auf, als es sich kratzte.

»Wuff?«, sagte es.

Der Bauer verscheuchte den Hund mit einem Stein und wählte dann drei der besten Hühner aus.

Karotte lag unter einem Baum, den Kopf auf eine Satteltasche gestützt.

»Hast du gesehen, wo sie versucht hat, ihre Spur im Staub zu verwischen?«, fragte Gaspode.

»Ja«, sagte Karotte und schloss die Augen.

»Bezahlt sie immer für ihre Hühner?«

»Ja.«

»Warum?«

Karotte drehte sich auf die Seite. »Weil Tiere nicht bezahlen.«

Gaspode betrachtete Karottes Hinterkopf. Im Großen und Ganzen freute er sich über das ungewöhnliche Talent des Sprechens, doch die sich rötenden Ohren Karottes verrieten ihm, dass jetzt die noch seltenere Fähigkeit des Schweigens angesagt war.

Er ließ sich nieder und nahm die Haltung ein, die er fast unbewusst der Kategorie »Treuer Freund hält Wache« zuordnete. Schon nach kurzer Zeit empfand er Langeweile, kratzte sich geistesabwesend und nahm eine andere Haltung ein, die er »Treuer Freund rollt sich zusammen und presst die Schnauze gegen sein eigenes Hinterteil« nannte.12 Innerhalb weniger Sekunden schlief er ein.

Stimmen weckten ihn nicht viel später. Außerdem nahm er aus der Richtung des Bauernhauses den Geruch bratender Hühner wahr.

Gaspode rollte herum und sah, wie der Bauer mit einem anderen Mann sprach, der auf einem Karren saß. Er lauschte eine Zeit lang und richtete sich dann auf, in einem metaphysischen Rätsel gefangen.

Schließlich weckte er Karotte, indem er sein Ohr leckte.

»Fzwl…Was?«

»Zuerst musst du mir versprechen, die gebratenen Hühner zu holen«, sagte Gaspode rasch.

»Was?« Karotte setzte sich auf.

»Du holst die Hühner, und dann machen wir uns auf den Weg. Du musst es mir versprechen.«

»Na schön, na schön, ich verspreche es. Was ist denn los

»Hast du jemals von einem Ort namens Dummer Tropf gehört?«

»Ich glaube, er ist etwa zehn Meilen von hier entfernt.«

»Der Bauer hat von einem Nachbarn erfahren, dass man dort einen Wolf gefangen hat.«

»Lebt er noch?«

»Ja, ja, aber die Wolfsjäger… Weißt du, in dieser Gegend gibt es Wolfsjäger, wegen der Schafe in den Bergen und so… Nun, sie müssen zuerst ihre Hunde abrichten und du hast mir versprochen, zuerst die Hühner zu holen

 

Genau um elf Uhr klopfte es zackig an Lord Vetinaris Tür. Der Patrizier richtete einen verwunderten Blick auf das Holz, schließlich sagte er: »Herein.«

Fred Colon betrat das Zimmer, aber nicht ohne Schwierigkeiten. Vetinari beobachtete ihn einige Sekunden, bis sich Mitleid in ihm regte.

»Amtierender Hauptmann, es ist nicht nötig, die ganze Zeit über stramm zu stehen«, sagte er freundlich. »Du darfst dich lange genug entspannen, um den Türknauf richtig zu drehen.«

»Zu Befähl!«

Lord Vetinari hob die Hand zum Ohr. »Bitte setz dich.«

»Zu Befähl!«

»Und sprich bitte etwas leiser.«

»Zu Befähl!«

Lord Vetinari wich in den Schutz seines Schreibtischs zurück. »Ich möchte dir meine Anerkennung für deinen prächtig glänzenden Brustharnisch aussprechen, amtierender Hauptmann…«

»Ordentlich wienern, Herr! Darauf kommt es an, Herr!« Schweiß strömte über Colons Gesicht.

»Oh, gut. Ich bin sicher, du hast besonders hingebungsvoll gewienert. Mal sehen…« Lord Vetinari nahm ein Blatt Papier von einem der kleinen Stapel vor ihm.

»Nun, amtierender Hauptmann…«

»Herr!«

»Ja. Nun, mir liegt hier eine weitere Beschwerde vor, welche die übereifrige Verwendung von Klammern betrifft. Du weißt bestimmt, wovon ich rede.«

»In der Tat. Es verursachte einen sehr großen Verkehrsstau, Herr!«

»Zweifellos. Dafür ist es bekannt. Immerhin handelt es sich um das Opernhaus.«

»Herr!«

»Der Eigentümer meint, die großen gelben Klammern an jeder Ecke beeinträchtigten Charakter und Stil des Gebäudes. Und sie hindern ihn natürlich daran, es einfach wegzufahren.«

»Herr!«

»Ja. Ich glaube, in diesem Fall ist Diskretion angebracht, amtierender Hauptmann.«

»Man muss den anderen ein Beispiel geben, Herr!«

»Ah. Ja.« Der Patrizier hielt ein anderes Blatt Papier so behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger, als wäre es ein sehr seltenes und kostbares Geschöpf. »Die ›anderen‹ sind… Mal sehen, ob ich mich daran erinnern kann… Normalerweise vergisst man so etwas nicht leicht. Ah, ja… drei weitere Gebäude, sechs Brunnen, drei Statuen und der Galgen in der Unvergleichlichen Straße. Oh, und mein eigener Palast.«

»Mir ist natürlich klar, dass du ihn aus beruflichen Gründen geparkt hast, Herr!«

Lord Vetinari zögerte. Es fiel ihm schwer, mit Frederick Colon zu reden. Er bekam es täglich mit Leuten zu tun, die Konversation für ein sehr komplexes Spiel hielten. Bei Colon musste er auf ein viel niedrigeres Niveau hinabklettern, um nicht dauernd übers Ziel hinauszuschießen.

»Seit einiger Zeit beobachte ich deine Karriere mit beträchtlicher und weiter wachsender Faszination, und in diesem Zusammenhang stelle ich fest, dass die Wache inzwischen nur noch aus zwanzig Personen zu bestehen scheint.«

»Herr?«

»Vor nicht allzu langer Zeit hatte die Wache noch sechzig Angehörige.«

Colon wischte sich Schweiß vom Gesicht. »Es ging darum, das morsche Holz herauszuschneiden, Herr! Die Wache sollte schlanker und schlagkräftiger werden, Herr!«

»Ich verstehe. Die Anzahl der Disziplinarmaßnahmen, die du gegen deine Männer verhängt hast…« Der Patrizier nahm ein ziemlich dickes Dokument zur Hand. »… erscheint mir ein wenig übertrieben. Hier werden nicht weniger als hundertdreiundsiebzig Fälle von Anstarren-ohne-anzusehen, verspottendem Mit-den-Ohren-wackeln und abfälligem Die-Nase-rümpfen erwähnt.«

»Herr!«

»Abfälliges Die-Nase-rümpfen, amtierender Hauptmann?«

»Herr!«

»Oh. Und ein Vorwurf gegen Obergefreiter Schuh lautet: ›Er ließ den Arm in aufsässiger Weise abfallen.‹ Kommandeur Mumm hat den Mann immer sehr gelobt.«

»Er ist ein hinterlistiger Bursche, Herr! Den Toten kann man nicht trauen!«

»Den meisten Lebenden ebenfalls nicht, wie es scheint.«

»Herr!« Colon beugte sich vor, und sein glänzendes Gesicht verwandelte sich in eine verschwörerische Grimasse. »Unter uns gesagt, Herr… Kommandeur Mumm war zu nachsichtig. Er ließ den Männern zu viel durchgehen. Nicht einmal Zucker ist vor ihnen sicher, Herr!«

Vetinari kniff die Augen zusammen, doch die Teleskope auf dem Planeten Colon waren viel zu primitiv, um seine Stimmung zu erkennen.

»Ich erinnere mich daran, dass er zwei Wächter erwähnte, die mit ihrem Verhalten und allgemeiner Nutzlosigkeit den übrigen Männern ein schlechtes Beispiel geben«, sagte der Patrizier.

»Genau das meine ich!«, erwiderte Colon triumphierend. »Ein fauler Apfel ruiniert die ganze Tonne!«

»Ich glaube, inzwischen gibt es nur noch einen Korb«, sagte der Patrizier. »Beziehungsweise ein Körbchen.«

»Sei deshalb unbesorgt, Euer Exzellenz! Ich bringe die Dinge in Ordnung und werde sicherstellen, dass sich die Leute am Riemen reißen.«

»Du hast zweifellos das Potenzial, mir weitere Überraschungen zu bescheren«, sagte Vetinari und lehnte sich zurück. »Du bist es bestimmt wert, dass ich dich weiterhin im Auge behalte. Und nun, amtierender Hauptmann: Hast du irgendetwas zu melden?«

»Alles ist ruhig und friedlich, Herr!«

»Dachte ich mir«, sagte Vetinari. »Ich frage mich, ob irgendwelche Ermittlungen bezüglich eines Bürgers dieser Stadt laufen, der…« Er blickte kurz auf ein anderes Papier. »… Keinesorge heißt.«

Hauptmann Colon hätte fast seine Zunge verschluckt. »Eine unwichtige Angelegenheit, Herr!«, brachte er hervor.

»Keinesorge ist also am Leben?«

»Äh… er wurde tot aufgefunden, Herr!«

»Ermordet?«

»Herr!«

»Meine Güte. Manche Leute würden das nicht für unwichtig halten, amtierender Hauptmann. Zum Beispiel Keinesorge.«

»Nun, Herr, nicht alle sind mit dem einverstanden, was er tat.«

»Sprechen wir hier von Willi Keinesorge? Dem Produzenten von Gummiwaren?«

»Herr!«

»Was sollte es gegen Stiefel und Handschuhe einzuwenden geben, amtierender Hauptmann?«

»Ich meine die, äh, anderen Dinge, Herr!« Colon hüstelte nervös. »Die Keinesorge, Herr.«

»Ah. Die Verhütungsmittel.«

»Viele Leute sind gegen so etwas, Herr.«

»Davon habe ich gehört.«

Colon nahm wieder Haltung an. »Meiner Ansicht nach ist es nicht natürlich, Herr. Ich bin gegen unnatürliche Dinge.«

Vetinari wirkte verwirrt. »Soll das heißen, du isst rohes Fleisch und schläfst in einem Baum?«

»Herr?«

»Oh, schon gut, schon gut. Jemand in Überwald scheint sich für Willi Keinesorge interessiert zu haben. Und jetzt ist er tot. Aber es käme mir natürlich nicht in den Sinn, der Wache ihre Arbeit zu erklären.«

Er musterte Colon aufmerksam, um festzustellen, ob dieser verstand.

»Ich meine, es liegt ganz bei euch zu entscheiden, welchen Ermittlungen ihr in dieser Stadt nachgeht«, fügte er hinzu.

Colon wandelte ohne Karte in unvertrautem Gelände. »Danke, Herr!«, entgegnete er laut.

Vetinari seufzte. »Und nun, amtierender Hauptmann… Bestimmt gibt es viele Dinge, die deine Aufmerksamkeit erfordern.«

»Herr! Ich habe vor…«

»Ich möchte dich nicht länger aufhalten.«

»Oh, keine Sorge, Herr, ich habe viel Zeit…«

»Auf Wiedersehen, amtierender Hauptmann Colon.«

Im Vorzimmer blieb Fred Colon eine Zeit lang reglos stehen, bis sein Herz nicht mehr rasend schlug, sondern nur noch ziemlich schnell.

Im Großen und Ganzen war alles ganz gut gelaufen. Sogar erstaunlich gut. Seine Exzellenz hatte ihn praktisch ins Vertrauen gezogen und ihn als jemanden bezeichnet, den es im Auge zu behalten lohnte.

Fred fragte sich, warum er sich all die Jahre so sehr davor gefürchtet hatte, jemals Offizier zu sein. Eigentlich war nichts weiter dabei, wenn man den Stier erst einmal an den Hörnern gepackt hatte. Er bedauerte es nun, dass er nicht schon viel früher die Offizierslaufbahn eingeschlagen hatte. Natürlich wollte er nichts Schlechtes über Mumm sagen, der im gefährlichen Ausland sicher gut zurechtkam, aber… Fred Colon hatte bereits den Rang des Feldwebels bekleidet, als Mumm ein Grünschnabel gewesen war. Natürlicher Respekt hatte ihn die ganze Zeit zurückgehalten. Wenn Sam Mumm wieder in Ankh-Morpork weilte und wenn der Patrizier ein gutes Wort für ihn einlegte… dann durfte Fred Colon zweifellos mit Beförderung rechnen.

Allerdings nur zum vollen Hauptmann, dachte er, als er die Treppe hinunterstolzierte – er bewegte sich dabei mit großer Vorsicht, denn normalerweise ist es nicht möglich, auf einer Treppe zu stolzieren. Sein Rang konnte natürlich nicht höher sein als der von Hauptmann Karotte. So etwas wäre… nicht richtig gewesen.

Diese Einsicht zeigt: Die Macht mag jemanden um den Verstand bringen, aber ein winziger Rest von Selbsterhaltung bleibt immer übrig.

 

Er hat tatsächlich zuerst die Hühner geholt, dachte Gaspode, als er durch ein Gewirr aus Beinen lief. Es ist kaum zu fassen.

Allerdings hatten sie sich keine Zeit für eine Mahlzeit genommen. Gaspode war in die andere Satteltasche gestopft worden und wollte auf diese Weise nicht noch einmal zehn Meilen zurücklegen, noch dazu in unmittelbarer Nähe wundervoll duftender Brathähnchen.

Es schien gerade Markt zu sein, und die Sache mit dem Wolf sollte eine Art krönenden Abschluss bilden. Absperrungen waren in einem Kreis aufgestellt worden. Männer hielten die Halsbänder von Hunden. Es waren große, kräftig gebaute und sehr unfreundlich aussehende Hunde, die eine Mischung aus wilder Aufregung und irrer Dummheit zur Schau stellten.

Gaspode bemerkte einen Pferch bei den Absperrungen, fand durch den Wald aus Beinen einen Weg dorthin und blickte durchs hölzerne Gitter zu dem Haufen aus grauem Fell in einer dunklen Ecke.

»Scheinst in keiner sehr angenehmen Situation zu sein, Kumpel«, sagte er.

Im Gegensatz zu den Legenden – und es gibt viele Legenden über Wölfe, besser gesagt: Legenden darüber, wie Menschen über Wölfe denken – neigt ein gefangener Wolf nicht zur Raserei, sondern eher dazu, verängstigt zu heulen.

Doch dieses Exemplar hatte offenbar den Eindruck gewonnen, dass es nichts mehr zu verlieren gab. Ein schaumbedecktes Maul schnappte nach den Gitterstäben.

»Wo ist der Rest deines Rudels?«, fragte Gaspode.

»Kein Rudel, Winzling!«

»Ah. Ein einsamer Wolf, wie?« Die schlimmste Art, dachte Gaspode.

»Ein Brathähnchen ist so etwas nicht wert«, murmelte er. Etwas lauter knurrte er: »Hast du andere Wölfe in der Nähe gesehen?«

»Ja!«

»Gut. Möchtest du diese Sache lebend überstehen?«

»Ich töte sie alle!«

»Ja, ja, aber es sind Dutzende. Sie werden dich regelrecht zerfetzen. Hunde können viel gemeiner sein als Wölfe.«

Der Wolf kniff die Augen zusammen.

»Warum sagst du mir das, Hund?«

»Weil ich dir helfen will, klar? Wenn du tust, was ich dir sage, könntest du in einer halben Stunde frei sein. Andernfalls dienst du morgen irgendwo als Fußabtreter. Die Wahl liegt bei dir. Vielleicht bleibt für einen Fußabtreter nicht einmal genug von dir übrig.«

Der Wolf lauschte dem Bellen der Hunde. An ihrer Absicht konnte nicht der geringste Zweifel bestehen.

»Was hast du vor?«, fragte er.

Einige Minuten später wich die Menge beiseite, als Karotte sein Pferd zu dem Pferch lenkte. Das laute Stimmengewirr verklang. Ein Schwert auf einem Ross gebietet immer Respekt, der Reiter ist dabei oft nur ein unwichtiges Detail.

Doch hier lag der Fall anders. Die Zeit bei der Wache hatte Karottes Muskeln besonders zur Geltung gebracht.

»Guten Tag«, sagte er. »Wer ist das Oberhaupt eurer Gemeinschaft?«

Nach mehreren Statusvergleichen hob schließlich ein Mann vorsichtig die Hand. »Ich bin der stellvertretende Bürgermeister, Euer Gnaden.«

»Was findet hier statt?«

»Wir wollen einen Wolf hetzen, Euer Gnaden.«

»Tatsächlich? Ich habe einen außergewöhnlich starken und tapferen Wolfshund. Erlaubt ihr ihm, seine Fähigkeiten an eurem Wolf zu beweisen?«

Die Leute murmelten, und es lief auf Folgendes hinaus: Warum nicht? Außerdem war da dieses sonderbare Lächeln…

»Nur zu, Euer Gnaden«, sagte der stellvertretende Bürgermeister.

Karotte steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Die Dorfbewohner beobachteten erstaunt, wie Gaspode zwischen ihren Beinen zum Vorschein kam und sich setzte. Gelächter erklang.

Schon nach kurzer Zeit wurde es wieder still, denn das Lächeln verschwand nicht.

»Gibt es irgendein Problem?«, fragte Karotte.

»Er wird ihn in Stücke reißen!«

»Habt ihr etwa Mitleid mit dem Wolf?«

Erneut lachten die Leute. Der stellvertretende Bürgermeister hatte das Gefühl, dass er auf den Arm genommen wurde.

»Es ist dein Hund«, sagte er und zuckte mit den Schultern.

Der kleine Hund bellte.

»Und um alles noch interessanter zu machen, wetten wir um ein Pfund Steak«, sagte Karotte.

Der Hund bellte erneut.

»Um zwei Pfund Steak«, verbesserte sich Karotte.

»Oh, ich schätze, es wird auch so interessant genug«, meinte der stellvertretende Bürgermeister. Das Lächeln ging ihm allmählich auf die Nerven. »Na schön, Jungs. Holt den Wolf!«

Das knurrende Tier wurde in den Absperrungskreis gezerrt.

»Nein, bindet den Wolf nicht an«, sagte Karotte, als ein Mann die Leine um einen Pfahl schlingen wollte.

»Er flieht, wenn wir ihn nicht festbinden.«

»Dazu bekommt er keine Gelegenheit, glaub mir.«

Die Leute sahen das Lächeln, zogen den Maulkorb fort und sprangen in Sicherheit.

»Falls du jetzt mit dem Gedanken spielen solltest, dich nicht an unsere Vereinbarung zu halten…«, sagte Gaspode zu dem Wolf. »Ich schlage vor, du siehst dir das Gesicht des Burschen auf dem Pferd an.«

Der Wolf blickte auf und bemerkte das Lächeln des Reiters.

Gaspode bellte. Der Wolf jaulte und rollte sich auf den Rücken.

Die Menge wartete. Und dann…

»Das ist alles

»Ja, so läuft es normalerweise«, bestätigte Karotte. »Wisst ihr, es ist ein besonderes Bellen. Das Opfer bekommt einen solchen Schreck, dass es tot umfällt.«

»Der kleine Hund hat nicht einmal versucht zuzubeißen!«

»Warum auch?«, erwiderte Karotte.

Er stieg ab, betrat den Kreis, hob den Wolf hoch und legte ihn über den Sattel.

»Er hat geknurrt!«, meinte jemand. »Ich hab’s gehört…«

»Wahrscheinlich nur Luft, die aus den Lungen des Kadavers gepresst wurde«, sagte Karotte. Das Lächeln war noch immer nicht von seinen Lippen verschwunden, und in diesem Moment wies es darauf hin, dass Karotte den letzten Atemhauch Hunderter von Geschöpfen gehört hatte.

»Ja, das stimmt«, erklang eine Stimme in der Menge. »Das ist allgemein bekannt. Und wie ist es nun mit dem Steak für den tapferen kleinen Hund?«

Die Leute sahen sich um und versuchten festzustellen, von wem diese Worte stammten. Niemand von ihnen senkte den Blick, denn Hunde sprechen nicht.

»Auf die Steaks können wir verzichten«, sagte Karotte und stieg wieder auf.

»Nein, können w… kannst du nicht«, erwiderte die Stimme. »Abgemacht ist abgemacht. Wer hat hier sein Leben riskiert?«

»Komm, Gaspode«, sagte Karotte.

Erst als sie den Rand des Marktplatzes erreichten, sagte einer der Dorfbewohner: »Meine Güte, was ist eigentlich passiert?« Das brach den Bann. Was Pferd und Hund zum Anlass nahmen, ihren Gang zu beschleunigen.

 

Mumm hasste und verabscheute die Privilegien des Ranges, aber eins musste er ihnen lassen: Wenigstens konnte man sie hassen und verabscheuen, während man es bequem hatte.

Für gewöhnlich erreichte Willikins den nächsten Gasthof eine Stunde vor Mumm. Mit einer Arroganz, die Mumm nicht zu zeigen wagte, belegte er mehrere Zimmer mit Beschlag und ließ die Küche von Mumms Koch übernehmen.

Mumm beschwerte sich bei Inigo darüber.

»Weißt du, Euer Gnaden, du bist nicht als Individuum hier, sondern als Repräsentant von Ankh-Morpork. Wenn die Leute dich ansehen, so sehen sie Ankh-Morpork, mhm, mhm.«

»Tatsächlich? Sollte ich dann damit aufhören, mich zu waschen?«

»Das ist sehr drollig, Herr. Aber weißt du, Herr, du und die Stadt – ihr seid hier miteinander identisch. Wer dich beleidigt, beleidigt auch Ankh-Morpork. Wenn du mit jemandem Freundschaft schließt, so ist er auch ein Freund der Stadt.«

»Im Ernst? Und was passiert, wenn ich auf die Toilette gehe?«

»Das hängt ganz von dir ab, Herr. Mmhm, mmph.«

Beim Frühstück am nächsten Morgen schnitt Mumm die obere Hälfte eines gekochten Eis ab und dachte: Ankh-Morpork schneidet gerade die obere Hälfte eines gekochten Eis ab. Wenn ich eine Schlachteplatte esse, sind wir vermutlich im Krieg.

Korporal Kleinpo kam vorsichtig herein und salutierte.

»Es ist eine Antwort auf deine Anfrage eingetroffen, Herr«, sagte sie und reichte ihm einen Zettel. »Von Feldwebel Starkimarm. Ich habe die Mitteilung für dich entschlüsselt. Äh… man hat die aus dem Museum gestohlene Steinsemmel gefunden, Herr.«

»Na, das ist interessant«, erwiderte Mumm. »Deswegen habe ich mir schon Sorgen gemacht.«

»Äh, Obergefreiter Schuh macht sich deshalb Sorgen«, fuhr Grinsi fort. »Es ist nicht gerade leicht, seinen Ausführungen zu folgen, aber er scheint zu glauben, dass jemand eine Kopie davon angefertigt hat.«

»Was, eine Kopie von einer Kopie? Welchen Zweck sollte das haben?«

»Ich weiß es nicht, Herr. Was deine Vermutung betrifft… Du hattest Recht damit.«

Mumm sah auf den Zettel. »Ha. Danke, Grinsi. Wir kommen gleich nach unten.«

»Du summst, Sam«, sagte Sybil nach einer Weile. »Was bedeutet, dass bald etwas Schreckliches geschehen wird.«

»Wundervoll, diese neue Technik.« Mumm schmierte Butter auf eine Scheibe Brot. »Sie bietet durchaus Vorteile.«

»Und wenn du auf diese besondere Weise lächelst… Es bedeutet, dass jemand Dumme Dussel spielt und nicht weiß, dass du gerade eine Sechs gewürfelt hast.«

»Ich weiß nicht, was du meinst, Schatz. Wahrscheinlich tut mir einfach nur die Landluft gut.«

Lady Sybil stellte ihre Teetasse auf den Tisch. »Sam?«

»Ja, Schatz?«

»Dies ist wahrscheinlich kein besonders geeigneter Zeitpunkt, aber du weißt doch, dass ich die alte Frau Zufrieden besucht habe. Nun, sie meinte…«

Es klopfte erneut an der Tür. Lady Sybil seufzte.

Diesmal kam Inigo herein.

»Wenn du erlaubst, Euer Gnaden… Wir sollten aufbrechen. Ich würde Löschdurst gern gegen Mittag erreichen und den Pass bei Wilinus vor Einbruch der Nacht hinter mich bringen.«

»Warum müssen wir uns so beeilen?«, fragte Sybil.

»Der Pass ist… ein wenig gefährlich«, antwortete Inigo. »Ein bisschen… gesetzlos. Mhm, mhm.«

»Nur ein bisschen?«, erwiderte Mumm.

»Nun, wir können sicher aufatmen, wenn der Pass hinter uns liegt«, sagte Inigo. »Es wäre gut, wenn uns die zweite Kutsche in möglichst geringem Abstand folgt und deine Leute wachsam sind, Euer Gnaden.«

»In Lord Vetinaris politischem Büro wird anscheinend auch Taktik unterrichtet«, bemerkte Mumm.

»Nur gesunder Menschenverstand, mhm, mhm, Herr.«

»Warum warten wir nicht bis morgen, bevor wir versuchen, den Pass zu überqueren?«

»Bei allem Respekt, Euer Gnaden, davon rate ich ab. Das Wetter wird schlechter. Und ich bin sicher, dass man uns beobachtet. Wir müssen zeigen, dass im Wappen von Ankh-Morpork die Farbe der Feigheit fehlt.«

»Oh, ich weiß nicht«, erwiderte Mumm. »Das Wappen von Ankh-Morpork ist ziemlich bunt.«

»Ich meine, wir müssen den Beweis dafür erbringen, dass die Farben von Ankh-Morpork nicht weglaufen«, erklärte Inigo.

»Sie laufen nicht weg, sondern zerlaufen«, sagte Mumm. »Wenigstens bis zum Einsatz der neuen Farbstoffe. Schon gut, schon gut. Ich verstehe, was du meinst. Nun, ich will nicht das Leben der Bediensteten riskieren, wenn wirklich Gefahr droht. Dieser Punkt steht nicht zur Debatte. Sie können hier bleiben und morgen mit der Postkutsche nachkommen. Postkutschen werden nicht mehr überfallen.«

»Ich schlage vor, Lady Sybil bleibt ebenfalls hier, Herr. Mhm.«

»Kommt nicht in Frage«, erwiderte Sybil. »Auf keinen Fall! Wenn es für Sam nicht zu gefährlich ist, so ist es auch nicht zu gefährlich für mich.«

»An deiner Stelle würde ich ihr nicht widersprechen«, wandte sich Mumm an Inigo. »Nein, ganz bestimmt nicht.«

 

Der Wolf war nicht besonders glücklich darüber, dass er an einen Baum gebunden wurde, aber Gaspode vertrat den Standpunkt: Trau, schau, wem.

Etwa fünf Meilen von dem Ort entfernt machten sie im Wald Rast. Es würde nur eine kurze Verschnaufpause sein, meinte Karotte. Mehrere Männer auf dem Marktplatz hatten den Eindruck erweckt, dass sie ausgesprochen humorlos waren.

Nach einigem Bellen und Knurren sagte Gaspode: »Du solltest wissen, dass dieser Wolf in der hiesigen Wolfgesellschaft eine Art persona non gratis ist, sozusagen ein einsamer Wolf, haha…«

»Ja?« Karotte nahm die Brathähnchen aus der Satteltasche. Gaspodes Blick klebte an ihnen fest.

»Aber nachts hört er das Heulen.«

»Ah, Wölfe kommunizieren miteinander?«

»Im Grunde ist das Heulen eines Wolfs wie Hundeurin an einem Baum, der die Botschaft verkündet: Dies ist mein verdammter Baum. Aber es werden auch Nachrichten weitergegeben. Irgendetwas Scheußliches geschieht in Überwald, aber er weiß nicht, was es ist.« Gaspode senkte die Stimme. »Unter uns gesagt: Der Bursche dort drüben stand ziemlich weit hinten, als die Gehirne verteilt wurden. Wenn Wölfe wie Menschen wären, hätten wir es hier mit einem zweiten Stinkenden Alten Ron zu tun.«

»Wie heißt er?«, fragte Karotte nachdenklich.

Gaspode warf ihm einen erstaunten Blick zu. Wer scherte sich darum, wie ein Wolf hieß?

»Wolfsnamen sind recht schwierig«, sagte er. »Sie stellen eine Beschreibung dar. Sie heißen nicht Fiffi oder Bonzo oder so…«

»Ja, ich weiß. Nun, wie lautet sein Name?«

»Du willst wirklich wissen, wie sein Name lautet?«

»Ja, Gaspode.«

»Um keinen Zweifel daran zu lassen: Es geht dir tatsächlich darum, den Namen des Wolfs in Erfahrung zu bringen?«

»So ist es.«

Gaspode zögerte voller Unbehagen. »Arschloch«, sagte er dann.

»Oh.« Zur großen Verblüffung des Hunds errötete Karotte.

»Nun, es ist eine Zusammenfassung der Beschreibung, und die Übersetzung trifft es ziemlich genau«, sagte Gaspode. »Ich hätte es nicht erwähnt, aber du wolltest es ja unbedingt wissen…«

Er unterbrach sich, jaulte einige Sekunden und versuchte anzudeuten, dass er aufgrund eines akuten Mangels an Brathähnchen die Stimme verlor.

»Äh, es wird viel über Angua geheult«, fuhr er fort, als Karotte nicht zu verstehen schien. »Man hält sie für eine schlechte Nachricht.«

»Warum? Immerhin ist sie als Wolf unterwegs.«

»Wölfe verabscheuen Werwölfe.«

»Was? Das kann unmöglich stimmen! Wenn sie die Gestalt eines Wolfs hat, unterscheidet sie sich nicht von anderen Wölfen!«

»Na und? Wenn sie die Gestalt eines Menschen hat, unterscheidet sie sich nicht von anderen Menschen. Was spielt das für eine Rolle? Menschen mögen keine Werwölfe. Und auch Wölfe mögen keine Werwölfe. Die Leute mögen keine Wölfe, die wie Leute denken können, und die Leute mögen keine Leute, die sich wie Wölfe verhalten. Was zeigt, dass die Leute überall gleich sind«, sagte Gaspode. Er prüfte den letzten Satz und fügte hinzu: »Selbst wenn es Wölfe sind.«

»Ich habe die Sache nie aus diesem Blickwinkel betrachtet.«

»Und Angua riecht falsch. Darauf reagieren Wölfe sehr empfindlich.«

»Erzähl mir mehr über das Heulen.«

»Oh, damit verhält es sich wie mit den Semaphoren: Mitteilungen können über Hunderte von Meilen weitergeleitet werden.«

»Wird in dem Heulen Anguas… Begleiter erwähnt?«

»Nein. Wenn du möchtest, frage ich Arsch…«

»Ein anderer Name wäre mir lieber, wenn du nichts dagegen hast«, sagte Karotte. »Solche Wörter haben keinen guten Klang.«

Gaspode rollte mit den Augen. »Bei uns Vierbeinern regt sich niemand über derartige Ausdrücke auf«, meinte er. »Wir sind sehr geruchsorientiert.« Er seufzte. »Wie wär’s mit Stromer? Immerhin treibt er sich eine Menge herum und so. Man könnte ihn auch als freiberuflichen Hühnererdrossler bezeichnen.«

Er drehte sich zu dem Wolf um und sprach auf Hundisch: »Also schön, Stromer, dieser Mann ist wahnsinnig, und glaub mir: Einen wahnsinnigen Menschen erkenne ich auf den ersten Blick. Er hat den Schaum nicht vor dem Mund, sondern dahinter, und er reißt dir das Fell über die Ohren und nagelt’s an einen Baum, wenn du nicht ehrlich bist, verstanden?«

»Weiß nichts!«, jaulte der Wolf. »Sie war mit einem großem Macho-Wolf aus Überwald zusammen! Stammt aus dem Clan-der-so-riecht!«

Gaspode schnüffelte. »Er ist ziemlich weit von zu Hause entfernt.«

»Ein übler Bursche!«

»Sag ihm, dass er ein Brathähnchen bekommt, wenn er uns hilft«, warf Karotte ein.

Gaspode seufzte. Das Leben eines Dolmetschers konnte sehr schwer sein.

»Na schön«, knurrte er. »Ich überrede den Menschen dazu, dich loszubinden. Leicht wird’s bestimmt nicht. Und noch etwas: Wenn er dir ein Brathähnchen anbietet… nimm’s nicht, denn es ist vergiftet. Tja, so sind Menschen eben.«

Karotte sah dem fliehenden Wolf nach. »Seltsam«, sagte er. »Man sollte meinen, dass er hungrig ist.«

Gaspode sah von dem Brathähnchen auf. »Tja, so sind Wölfe eben«, brachte er undeutlich hervor.

Als sie in dieser Nacht das Geheul der Wölfe in den fernen Bergen hörten, vernahm Gaspode ein einzelnes Heulen abseits der anderen Wolfsstimmen.

 

Die Nachrichtentürme folgten ihnen in die Berge, aber Mumm bemerkte Unterschiede in der Konstruktion. Auf der Ebene bestanden sie im Wesentlichen aus einem hölzernen Gerüst, das von einem Schuppen ausging. Zwar ließ sich hier das gleiche Grundmuster erkennen, doch offensichtlich war es vorübergehender Natur. Neben den Türmen arbeiteten Männer an massiven Steinfundamenten: Befestigungen. Mumm zog daraus den Schluss, dass sie sich hier tatsächlich jenseits des Gesetzes aufhielten. Streng genommen war das der Fall, seit sie Ankh-Morpork verlassen hatten, aber Gesetze mussten vor allem durchsetzbar sein, und im Bereich der Ebene bewirkte die Dienstmarke der Stadtwache zumindest Respekt. In den Bergen hielt man sie nur für eine hässliche Brosche.

Löschdurst war kaum mehr als ein für Kutschen bestimmtes Gasthaus mit steinernen Mauern. Die Fensterläden schienen besonders dick und widerstandsfähig zu sein. Über dem Kamin sah Mumm ein außergewöhnlich dickes Backblech – und dann begriff er, was es damit tatsächlich auf sich hatte. Es war eine Sperre, mit der man den Kamin ganz verschließen konnte. Offenbar hatte man hier alle notwendigen Vorbereitungen getroffen, einer gelegentlichen Belagerung standzuhalten, und dabei auch fliegende Feinde berücksichtigt.

Es fiel Schneeregen, als sie nach draußen zu den Kutschen gingen.

»Ein Unwetter zieht heran, mmph, mmhm«, sagte Inigo. »Wir müssen uns sputen.«

»Warum?«, fragte Sybil.

»Weil der Pass für mehrere Tage unpassierbar sein könnte, Euer Gnaden. Wenn wir warten, treffen wir vielleicht nicht rechtzeitig zur Krönung ein. Außerdem könnte es zu, äh, geringer Räuberaktivität kommen.«

»Zu geringer Räuberaktivität?«, wiederholte Mumm.

»Ja, Herr.«

»Du meinst, die Räuber wachen auf und beschließen, sich auf die andere Seite zu drehen und wieder einzuschlafen? Oder sie stehlen gerade genug für eine Tasse Kaffee?«

»Sehr spaßig, Herr. Leider stehen sie in dem Ruf, Geiseln zu nehmen…«

»Ich habe keine Angst vor Räubern«, sagte Sybil.

»Wenn du gestattest…«, begann Inigo.

»Herr Schaumlöffel«, sagte Lady Sybil und richtete sich zu ihrer ganzen Breite auf, »ich habe dir gerade mitgeteilt, wie wir vorgehen werden. Bitte kümmer dich um alles. Es gibt Bedienstete im Konsulat, nicht wahr?«

»Einen, glaube ich…«

»Dann kommen wir sicher bestens zurecht. Nicht wahr, Sam?«

»Natürlich, Schatz.«

Es schneite, als sie aufbrachen. Der Schnee fiel in Form von großen, fedrigen Klumpen und mit einem leisen Zischen, das alle anderen Geräusche dämpfte. Nur die Tatsache, dass die Kutschen anhielten, verriet Mumm, dass sie den Pass erreicht hatten.

»Die Kutsche mit deinen… Männern sollte den Anfang machen«, sagte Inigo, als sie neben den dampfenden Pferden im Schnee standen. »Wir folgen ganz dicht hinter ihr. Ich nehme neben deinem Kutscher Platz, nur für den Fall.«

»Hast du vor, eventuelle Angreifer mit einem kurzen Bericht über die allgemeine politische Situation abzuwehren?«, fragte Mumm. »Nein, du bleibst bei Lady Sybil, und ich nehme auf dem Kutschbock Platz. Immerhin ist es meine Aufgabe, Zivilisten zu schützen.«

»Euer Gnaden, ich…«

»Aber dein Vorschlag wird zur Kenntnis genommen«, sagte Mumm. »Hinein in die Kutsche, Herr Schaumlöffel.«

Der Mann öffnete den Mund. Mumm hob eine Braue.

»Also gut, Euer Gnaden. Aber dies ist außerordentlich…«

»Herzlichen Dank.«

»Aber ich hätte gern meinen Lederkoffer vom Kutschendach.«

»Natürlich. Lenk dich ruhig ab, indem du dich mit irgendwelchen Dokumenten beschäftigst.«

Mumm ging nach vorn zu der anderen Kutsche und sah in die Kabine. »Ein Hinterhalt erwartet uns«, sagte er.

»Das interessant sein«, erwiderte Detritus. Er brummte leise, als er die Winde seiner Armbrust betätigte.

»Oh«, meinte Grinsi.

»Ich glaube nicht, dass man uns töten will«, fügte Mumm hinzu.

»Das bedeuten, wir auch nicht versuchen, zu töten die Angreifer?«

»Benutz dein eigenes Urteilsvermögen.«

Detritus blickte über ein dichtes Bündel aus Pfeilen hinweg. Er selbst war auf diese Idee gekommen. Seine Armbrust konnte einen Eisenbolzen durch das Tor einer belagerten Stadt treiben, deshalb grenzte es an Verschwendung, sie gegen einzelne Personen einzusetzen. Der Troll hatte die Waffe so modifiziert, dass ein Bündel aus mehreren Dutzend Pfeilen damit abgefeuert werden konnte. Zusammengehalten wurden sie von einem Bindfaden, der von der plötzlichen Beschleunigung zerreißen sollte. Er riss tatsächlich. Und oft zerbrachen auch die Pfeile mitten in der Luft, weil sie dem enormen Druck nicht standhalten konnten.

Detritus nannte die modifizierte Armbrust »Friedensstifter«, wobei er vermutlich daran gedacht hatte, dass sie ewigen Frieden stiftete. Mumm erinnerte sich an die Erprobung der Waffe am Schießstand. Das anvisierte Ziel war verschwunden. Das galt auch für die anderen Ziele zu beiden Seiten und den Erdwall dahinter. Darüber hinaus erinnerten herabsinkende Federn an zwei Möwen, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten hatten. In diesem Fall bedeutete der falsche Ort: direkt über Detritus.

Andere Wächter gingen mit dem Troll jetzt nur noch auf Streife, wenn sie mindestens hundert Meter hinter ihm bleiben konnten. Wie dem auch sei: Das Probeschießen führte zum gewünschten Ergebnis, denn es sprach sich schnell herum, was mit den Zielen geschehen war. Der Hinweis darauf, dass sich Detritus näherte, vertrieb den Mob jetzt wesentlich schneller von der Straße als irgendeine Waffe.

»Ich jede Menge Urteilsvermögen habe«, sagte er.

»Sei vorsichtig mit dem Ding«, riet ihm Mumm. »Du könntest jemanden verletzen.«

Die Kutschen setzten sich wieder in Bewegung und rollten durch das Schneetreiben. Mumm machte es sich beim Gepäck bequem und zündete eine Zigarre an. Als er sicher sein konnte, dass das laute Rasseln und Klappern der Kutschen alle anderen Geräusche übertönte, griff er unter die Plane und holte Inigos billigen, zerkratzten Lederkoffer hervor.

Er zog eine kleine schwarze Stoffrolle aus der Tasche und entrollte sie auf den Knien. Kleine, teilweise recht komplex wirkende Werkzeuge zum Knacken von Schlössern blinkten kurz im Licht der Kutschenlampen.

Ein guter Polizist musste in der Lage sein, wie ein Verbrecher zu denken. Mumm war ein sehr guter Polizist.

Außerdem war er ein sehr guter lebender Polizist, und an diesem erfreulichen Zustand sollte sich nichts ändern. Deshalb ergriff er folgende Vorsichtsmaßnahme. Als es im Schloss klickte, legte er den Koffer vorsichtig so auf das schwankende Dach, dass sich der Deckel zur anderen Seite hin öffnete. Dann lehnte er sich weit zurück und hob den Deckel mit dem Fuß an.

Eine Klinge zuckte aus dem Koffer und hätte jedem Gelegenheitsdieb unheilbare Verdauungsstörungen beschert. Offenbar erwartete bei dieser Reise jemand Hotels mit sehr geringem Sicherheitsstandard.

Mumm schob die Klinge behutsam in ihre federbetriebene Scheide zurück, sah sich den übrigen Inhalt des Koffers an, lächelte nicht besonders erfreut und nahm einen Gegenstand heraus, von dem der silbrige Glanz sorgfältig geplanten, wundervoll konstruierten und sehr kompakten Unheils ausging.

Er dachte: Manchmal wäre es nett, jemanden falsch einzuschätzen.

 

Gaspode wusste, dass sie im hohen Vorgebirge unterwegs waren. Orte, wo man Lebensmittel kaufen konnte, wurden immer seltener. Wie behutsam Karotte auch an die Türen einsamer Bauernhäuser klopfte – es lief immer darauf hinaus, dass er mit Leuten redete, die sich unterm Bett verbargen. Die hier lebenden Menschen waren nicht daran gewöhnt, dass sehr muskulöse und mit Schwertern bewaffnete Männer irgendetwas kaufen wollten.

Letztendlich sparte man Zeit, indem man einfach eintrat, sich in der Speisekammer bediente und auf dem Küchentisch etwas Geld für die Leute im Keller zurückließ.

Seit der letzten Hütte waren zwei Tage vergangen, und dort hatten sie so wenig gefunden, dass Karotte zu Gaspodes Empörung nichts mitnahm und einfach nur einige Münzen zurückließ.

Der Wald wurde dichter. Erlen wichen Kiefern. Jede Nacht schneite es. Die Sterne waren frostige Punkte. Und immer dann, wenn die Sonne unterging, begann das Heulen.

»Es ist nie bestätigt worden, dass Wölfe Menschen angreifen, ohne dass sie in irgendeiner Form provoziert werden«, sagte Karotte. Sie drängten sich beide unter seinem Mantel zusammen.

»Und das ist gut, nicht wahr?«, erwiderte Gaspode nach einer Weile.

»Wie meinst du das?«

»Nun, wir Hunde haben natürlich nur ein kleines Gehirn, aber mir scheint, deine Worte laufen auf Folgendes hinaus: Kein Mensch, der ohne irgendeine Provokation von einem Wolf angegriffen wurde, ist jemals heimgekehrt, um davon zu berichten. Ich meine, die Wölfe brauchen ihre Opfer nur an einem abgelegenen Ort zu töten, wo niemand etwas davon erfährt.«

Noch mehr Schnee fiel auf den Mantel, der immer schwerer wurde und Karotte an viele einsame Nächte im Regen von Ankh-Morpork erinnerte. In der Nähe flackerte und zischte ein Feuer.

»Ich wünschte, das hättest du nicht gesagt, Gaspode.«

Es waren große, ernste Schneeflocken. Der Winter kam sehr schnell die Berge herunter.

»Du wünschst, ich hätte das nicht gesagt?«

»Aber… Nein, ich bin sicher, dass wir nichts zu befürchten haben.«

Eine Schneewehe bedeckte den größten Teil des Mantels.

»Du hättest das Pferd bei der letzten Hütte nicht gegen die Schneeschuhe eintauschen sollen«, sagte Gaspode.

»Das arme Tier war vollkommen erschöpft. Außerdem kann von einem Tausch in dem Sinn keine Rede sein. Die Leute wollten nicht aus dem Schornstein kommen. Sie meinten allerdings, wir sollten uns nehmen, was wir brauchen.«

»Sie sagten, wir könnten alles nehmen, wenn wir sie nur am Leben ließen.«

»Ja. Ich weiß gar nicht, warum sie diesen Hinweis für nötig hielten. Ich habe gelächelt.«

Der Hund seufzte.

»Tja, jetzt ergeben sich gewisse Schwierigkeiten. Auf dem Pferd hast du mich tragen können, aber hier sind wir im tiefen Schnee, und ich bin ein kleiner Hund. Meine Probleme sind dem Boden ziemlich nahe. Verstehst du, was ich meine?«

»Ich habe zusätzliche Kleidung im Rucksack. Vielleicht könnte ich einen… Mantel für dich anfertigen.«

»Ein Mantel nützt mir nicht viel.«

Neuerliches Heulen erklang, diesmal schien es recht nahe zu sein.

Die Schneeflocken fielen schneller. Das Zischen des Feuers wurde lauter, und schließlich gaben die Flammen auf.

Mit Schnee kam Gaspode nicht besonders gut zurecht. Normalerweise blieben ihm Probleme mit derartigen Niederschlägen erspart. In der Stadt gab es immer einen warmen Platz, wenn man wusste, wonach es Ausschau zu halten galt. Außerdem blieb der Schnee nur ein oder zwei Stunden lang Schnee, bevor er sich in braunen Matsch verwandelte und Teil des allgemeinen Schlamms in den Straßen wurde.

Straßen. Gaspode vermisste sie sehr. In Straßen konnte er klug sein. Im Schnee hingegen kam er sich dumm vor.

»Das Feuer ist aus«, sagte er.

Karotte gab keine Antwort.

»Ich habe gesagt: Das Feuer ist aus…«

Gaspode vernahm leises Schnarchen.

»He, du kannst jetzt nicht schlafen!«, jaulte er. »Nicht ausgerechnet jetzt. Wir erfrieren…«

Die nächste Stimme im Heulen schien nur einige Bäume entfernt zu sein. Gaspode glaubte, dunkle Schemen im endlosen Vorhang aus Schnee zu erkennen.

»Wenn wir Glück haben«, murmelte er und leckte Karottes Gesicht. Für gewöhnlich führte dies dazu, dass die beleckte Person Gaspode mit einem Besen in der Hand über die Straße scheuchte. Hier war die Reaktion nur weiteres Schnarchen.

Gaspodes Gedanken rasten.

Er war ein Hund, und Hunde und Wölfe… Eigentlich handelte es sich um die gleiche Spezies. Eine verräterische Stimme flüsterte in Gaspode: Vielleicht waren nicht Gaspode und Karotte in Schwierigkeiten, sondern nur Karotte. Hallo, Brüder! Lass uns gemeinsam im Mondschein toben! Doch zuerst verspeisen wir diesen Affen!

Andererseits…

Er litt an so vielen Hundekrankheiten, dass man neue Namen für sie erfinden musste, und er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Wölfe sagten: He, er ist einer von uns!

Außerdem hatte er gebettelt, gekämpft, betrogen und gestohlen, aber war nie ein böser Hund gewesen.

Man musste ein einigermaßen begabter theologischer Disputant sein, um eine solche Aussage zu akzeptieren, vor allem dann, wenn man an die große Anzahl von Würsten und Steaks dachte, die ein nach Toilettenvorlegern riechender grauer Schemen von Metzgerplatten verschwinden ließ. Aber für Gaspode bestand kein Zweifel daran, dass er immer nur unartig gewesen war. Nie hatte er in die Hand gebissen, die ihn fütterte.13 Nie hatte er es auf dem Teppich gemacht. Nie hatte er sich vor einer Pflicht gedrückt. Er mochte ein Mistkerl sein, aber das entsprach gelegentlich der Natur eines Hundes.

Gaspode jaulte, als sich die dunklen Schemen näherten.

Augen glühten.

Er jaulte erneut und knurrte, als ihn der mit Reißzähnen ausgestattete Tod umgab.

Er beeindruckte niemanden, nicht einmal sich selbst.

Nervös wedelte er mit dem Schwanz. »Bin nur auf der Durchreise!«, behauptete er mit erstickt-fröhlicher Stimme. »Will niemanden stören!«

Er hatte den unangenehmen Eindruck, dass sich den Schemen jenseits der Schneeflocken weitere Schatten hinzugesellten.

»Äh, habt ihr schon Urlaub gemacht?«, quiekte Gaspode.

Auch diese Worte schienen nicht sehr freundlich aufgenommen zu werden.

Nun, das war’s also. Jetzt stand der Berühmte Letzte Kampf bevor. Tapferer Hund Verteidigt Sein Herrchen. Was für ein braver Hund. Schade, dass niemand überleben würde, um die Geschichte zu erzählen…

Er bellte: »Er gehört mir, mir!« Dann fletschte er die Zähne und sprang dem nächsten Schemen entgegen.

Eine riesige Pfote schlug ihn aus der Luft und presste ihn in den Schnee. Gaspode streckte alle viere von sich.

Er sah auf, blickte an weißen Reißzähnen und einer langen Schnauze vorbei in Augen, die vertraut erschienen.

»Er gehört mir«, knurrte der Wolf. Es war Angua.

 

Die Kutschen rollten im Schritttempo über einen Weg; unter dem Schnee lauerten viele Schlaglöcher – jedes Einzelne war im Dunkeln eine Falle, die ein Rad brechen lassen konnte.

Mumm nickte sich selbst zu, als er einige Meilen weiter vorn am Pass Lichter neben der Straße sah. Zu beiden Seiten bildeten Erdrutsche Geröllhänge, über die sich der Wald ausgedehnt hatte.

Er kletterte hinten an der Kutsche herab und verschwand in den Schatten.

Die erste Kutsche hielt vor einem Baumstamm, der quer über dem Weg lag. Es gab Bewegung – der Kutscher sprang in den Matsch und sprintete über den Pass zurück.

Gestalten kamen hinter den Bäumen hervor. Eine von ihnen blieb an der Tür der ersten Kutsche stehen und streckte die Hand nach dem Griff aus.

Für einen Augenblick hielt die Welt den Atem an. Die Gestalten schienen das zu spüren, denn der Mann sprang bereits zur Seite, als es klickte. Etwas verwandelte die Tür und ihren Rahmen in einen durch die Nacht rasenden Splitterregen.

Nur ein Narr trat zwischen ein Feuer und einen Troll, der eine Armbrust mit einer Zugkraft von zweitausend Pfund trug, fand Mumm. Es war nicht etwa die Hölle losgebrochen – Detritus hatte nur den Abzug durchgezogen. Wenn man in der Nähe stand, machte das kaum einen Unterschied.

Eine andere Gestalt griff nach der Tür der zweiten Kutsche, als Mumm aus der Dunkelheit schoss und die Schulter des Mannes traf. Dabei erklang ein Geräusch, wie man es häufig in einer Metzgerei hören konnte. Einen Sekundenbruchteil später sprang Inigo durchs Fenster, rollte geschickt, wie man es ganz und gar nicht von einem Sekretär erwartete, auf dem Boden ab, kam vor einem Räuber auf die Beine und schlug mit der Handkante nach dem Hals des Mannes.

Mumm sah diesen Trick nicht zum ersten Mal. Normalerweise ließ er die Betroffenen sehr zornig werden. Gelegentlich sank jemand ins Reich der Träume.

Diesmal löste sich der Kopf.

»Keiner rührt sich!«

Sybil wurde aus der Kutsche gestoßen, und hinter ihr trat ein weiterer Mann nach draußen. Er war mit einer Armbrust bewaffnet.

»Euer Gnaden Mumm!«, rief er. Ein Echo sprang zwischen den Hängen zu beiden Seiten der Straße hin und her.

»Ich weiß, dass du hier bist, Euer Gnaden Mumm! Und hier haben wir deine Frau! Und wir sind in der Überzahl! Zeig dich, Euer Gnaden Mumm!«

Schneeflocken zischten über den Feuern.

Etwas flüsterte in der Luft, und ein zweites Pochen erklang, als sich erneut Stahl in einen Muskel bohrte. Eine der maskierten Gestalten fiel in den Matsch und hielt sich das Bein.

Inigo stand langsam auf. Der Mann mit der Armbrust schien ihn nicht zu bemerken.

»Es ist wie Schach Euer Gnaden Mumm! Wir haben den Troll und den Zwerg entwaffnet! Und ich habe die Dame! Wenn du auf mich schießt… kannst du dann sicher sein, dass mir nicht genug Zeit bleibt, von meiner Armbrust Gebrauch zu machen?«

Feuerschein glühte an den krummen Bäumen rechts und links des Weges.

Einige Sekunden verstrichen.

Dann landete Mumms Armbrust deutlich sichtbar auf dem Boden.

»Ausgezeichnet, Euer Gnaden Mumm! Und jetzt tritt ins Licht!«

Inigo sah jemanden mit erhobenen Händen aus der Dunkelheit treten.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Sybil?«, fragte Mumm.

»Ich friere ein bisschen, Sam.«

»Du bist nicht verletzt?«

»Nein, Sam.«

»Halt die Hände so, dass ich sie sehen kann, Euer Gnaden Mumm!«

»Versprichst du mir, dass du Sybil gehen lässt?«, fragte Mumm.

Das Licht einer kleinen Flamme flackerte über Mumms Gesicht, als er sich eine Zigarre anzündete – ein heller Fleck in der Finsternis.

»Nun, Euer Gnaden Mumm, warum sollte ich dir das versprechen? Ich bin sicher, dass Ankh-Morpork ein hohes Lösegeld für euch beide zahlen wird!«

»Ah, dachte ich mir«, erwiderte Mumm. Er schüttelte das Streichholz, und die Flamme erlosch. Das Zigarrenende glühte in der Dunkelheit. »Sybil?«

»Ja, Sam?«

»Duck dich.«

Das leise Zischen eines Atemholens füllte eine Sekunde, und dann warf sich Lady Sybil nach vorn. Gleichzeitig schwang Mumms Hand in einem Bogen herum, und ein seidenes Geräusch erklang. Der Kopf des Räubers neigte sich mit einem Ruck nach hinten.

Inigo sprang, fing die fallende Armbrust des Mannes auf, erhob sich und schoss. Eine weitere Gestalt fiel.

Mumm bemerkte Aufregung an einem anderen Ort, als er Sybil dabei half, in die Kutsche zu klettern. Inigo war verschwunden; ein Schrei im Wald klang nicht nach ihm.

Und dann… zischte nur noch der Schnee im Feuer.

»Ich… glaube, sie sind weg, Herr«, ließ sich Grinsi vernehmen.

»Und wir verschwinden ebenfalls! Detritus?«

»Herr?«

»Alles in Ordnung?«

»Fühle mich sehr taktvoll, Herr.«

»Ihr beide nehmt die Kutsche dort, und ich nehme diese. Wir sollten diesen unfreundlichen Ort so schnell wie möglich verlassen.«

»Wo ist Herr Schaumlöffel?«, fragte Sybil.

Erneut schrie jemand im Wald.

»Vergiss ihn!«

»Aber er…«

»Vergiss ihn!«

Es schneite noch stärker, als sie den Weg über den Pass fortsetzten. Im tiefen Schnee kamen die Kutschen nur langsam voran, und Mumm sah nichts weiter als die dunklen Konturen der Pferde im Weiß. Dann entstand eine Lücke in der Wolkendecke, was Mumm sofort bedauerte, denn er konnte erkennen, dass die Dunkelheit links von ihm nicht etwa aus Felsen bestand, sondern aus der Leere eines Abgrunds.

Ganz oben auf dem Pass glühten die Lichter eines Gasthauses durchs Schneetreiben. Mumm lenkte die Kutsche auf den Hof.

»Detritus?«

»Herr?«

»Ich gebe uns Rückendeckung. Vergewissert euch, dass wir hier sicher sind.«

»Ja, Herr.«

Der Troll sprang zu Boden und lud seinen Friedensstifter mit einem neuen Pfeilbündel. Mumm bemerkte seine Absicht gerade noch rechtzeitig.

»Klopf einfach nur an, Feldwebel.«

»Ja, Herr.«

Der Troll klopfte an und trat ein. Die Geräusche im Innern des Gasthauses verstummten abrupt. Gedämpft durch die Tür hörte Mumm den Hinweis: »Der Herzog von Ankh-Morpork eintrifft. Jemand ein Problem damit hat? Ein Wort genügt.« Untermalt wurden diese Worte von dem leisen Summen der gespannten Sehne des Friedensstifters.

Mumm half Sybil aus der Kutsche. »Wie fühlst du dich?«, fragte er.

Sie lächelte schief. »Ich schätze, dieses Kleid ist ruiniert«, sagte sie. Ihr Lächeln wuchs ein wenig in die Breite, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.

»Ich wusste, dass du etwas vorhattest, Sam. Du wirst ganz ruhig und kühl, wenn sich etwas Schreckliches anbahnt. Ich habe mich nicht gefürchtet.«

»Wirklich nicht?«, erwiderte Mumm erstaunt. »Ich hätte mir fast in die Hose gemacht.«

»Was ist mit Herrn Schaumlöffel passiert? Er suchte etwas in seinem Koffer und fluchte…«

»Ich bin sicher, Inigo Schaumlöffel ist bei bester Gesundheit«, sagte Mumm grimmig. »Was man von den anderen Leuten in seiner Nähe nicht behaupten kann.«

Im Aufenthaltsraum des Gasthofes war es still. Ein Mann und eine Frau – vermutlich Wirt und Wirtin – standen mit dem Rücken am Tresen. Mehr als zehn andere Personen hatten an den Wänden Aufstellung bezogen und hielten die Hände hoch. Bier tropfte aus einigen umgekippten Krügen.

»Alles normal und friedlich ist«, meldete Detritus und drehte sich um.

Mumm merkte, dass ihn alle anstarrten. Er sah an sich herab. Sein Hemd war zerrissen. Matsch und Blut klebten an der Kleidung. Das Wasser von tauendem Schnee tropfte zu Boden. Und in der rechten Hand hielt er noch immer die Armbrust.

»Ein bisschen Ärger auf der Straße«, sagte er. »Äh, ihr wisst ja, wie das ist.«

Niemand bewegte sich.

»Bei den Göttern, Detritus, nimm das Ding runter.«

»Ja, Herr.«

Der Troll ließ seine riesige Armbrust sinken. Fast zwanzig Personen wagten wieder zu atmen.

Die dürre Wirtin trat vor, nickte Mumm zu, löste behutsam Sybils Hand aus seiner und deutete zur breiten Holztreppe. Sie bedachte Mumm mit einem Blick, der ihn verwirrte.

Erst dann wurde ihm klar, dass Lady Sybil zitterte. Tränen strömten ihr über die Wangen.

»Und, äh, meine Frau ist ein wenig mitgenommen«, sagte er hilflos. »Korporal Kleinpo!«, rief er, um seine Verlegenheit zu verbergen.

Grinsi trat durch die Tür.

»Begleite Lady Sy…«

Er unterbrach sich, als es plötzlich laut wurde. Mehrere Zeigefinger deuteten in eine bestimmte Richtung. Jemand lachte. Grinsi blieb stehen und senkte den Blick.

»Was ist los?«, fragte Mumm leise.

»Äh, es geht um mich, Herr«, sagte Grinsi. »Die Zwergenmode von Ankh-Morpork hat sich hier nicht durchgesetzt.«

»Dein Rock?«, fragte Mumm.

»Ja.«

Mumm musterte die Leute. Sie wirkten eher verblüfft als verärgert. Zwei Zwerge in einer Ecke schienen alles andere als glücklich zu sein.

»Begleite Lady Sybil«, wiederholte er.

»Das ist vielleicht keine besonders gute Idee…«, begann Grinsi.

»Verdammt und zugenäht!«, entfuhr es Mumm, als ihm der Geduldsfaden riss. Von einem Augenblick zum anderen herrschte wieder Stille. Ein wütender, blutbefleckter Irrer mit einer Armbrust hat meistens ein sehr aufmerksames Publikum. Mumm schauderte. Was er jetzt brauchte, war ein Bett. Und was er sich vor dem Bett wünschte, war ein ordentlicher Drink. Aber er durfte sich keinen genehmigen. Das hatte er schon vor langer Zeit gelernt. Für ihn war ein Drink bereits einer zu viel.

»Na schön, erklär’s mir«, sagte er.

»Alle Zwerge sind Männer, Herr«, entgegnete Grinsi. »Ich meine… traditionell. Und hier denken die Leute noch immer so.«

»Nun, dann bleib vor der Tür stehen oder… oder schließ die Augen oder was weiß ich?«

Mumm hob Lady Sybils Kinn. »Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte er.

»Tut mir Leid, dass ich dich enttäuscht habe, Sam«, hauchte sie. »Aber es war so schrecklich

Mumm gehörte von Natur aus zu jenen Männern, die nicht imstande sind, ihre Ehefrauen in der Öffentlichkeit zu küssen. Er klopfte Sybil hilflos auf die Schulter. Sie glaubte, ihn enttäuscht zu haben! Es war unerträglich.

»Du… ich meine, Grinsi wird… und ich… kümmere mich hier um alles und komme bald nach«, sagte er. »Bestimmt gibt es an unserem Schlafzimmer nichts auszusetzen.«

Sybil nickte und blickte noch immer zu Boden.

»Ich… gehe nach draußen, um ein wenig frische Luft zu schnappen.«

Mumm verließ das Gasthaus. Inzwischen schneite es nicht mehr. Der Mond war halb hinter den Wolken verborgen, und die Luft roch nach Frost.

Eine Gestalt sprang vom Dachvorsprung herunter und war ziemlich überrascht, als Mumm herumwirbelte und sie an die Mauer drängte.

»Na, da soll mich doch…«, begann er.

»Sieh nach unten, Euer Gnaden«, sagte Schaumlöffel. »Mhm, mhm.«

Mumm spürte ein ganz leichtes Stechen in der Magengrube, verursacht von einem Messer.

»Sieh noch weiter nach unten«, sagte er.

Inigo kam der Aufforderung nach. Er schluckte. Auch Mumm hatte ein Messer. »Du bist wirklich kein Gentleman«, meinte er.

»Eine plötzliche Bewegung genügt, und du bist ebenfalls keiner mehr«, drohte Mumm. »Eine interessante Situation, nicht wahr?«

»Ich versichere dir, dass ich dich nicht töten werde«, sagte Inigo.

»Oh, das weiß ich«, erwiderte Mumm. »Die Frage lautet: Wirst du es versuchen

»Nein. Ich bin zu deinem Schutz hier, mhm, mhm.«

»Vetinari hat dich geschickt, stimmt’s?«

»Es ist uns verboten, den Namen unseres Auftraggebers zu nennen…«

»Ja, natürlich. Was das angeht, seid ihr ja so ehrenwert.« Mumm spuckte dieses Wort aus.

Beide Männer entspannten sich ein wenig.

»Du hast mich allein zurückgelassen, von Feinden umgeben«, sagte Inigo, doch seine Stimme klang nicht sehr vorwurfsvoll.

»Warum sollte ich mich darum scheren, was mit einer Räuberbande geschieht?«, erwiderte Mumm. »Du bist ein Assassine.«

»Wie hast du es herausgefunden, Mmph?«

»Ein Polizist achtet darauf, wie die Leute gehen. Bei den Klatschianern heißt es, das Bein eines Mannes sei sein zweites Gesicht. Wusstest du das? Und deine Ich-bin-nur-ein-harmloser-Sekretär-Gangart ist zu perfekt, um echt zu sein.«

»Du meinst, allein die Art meiner Bewegungen…«

»Nein. Du hast die Orange nicht aufgefangen«, fügte Mumm hinzu.

»Ich bitte dich…«

»Andere Leute fangen sie entweder oder zucken zusammen. Du hast sie als ungefährlich erkannt. Und als ich dich am Arm berührte, habe ich Metall unter deiner Kleidung gespürt. Um Gewissheit zu erlangen, schickte ich eine Anfrage mit deiner Beschreibung nach Ankh-Morpork.«

Mumm ließ Inigo los und ging zur Kutsche, kehrte dem Assassinen dabei den ungeschützten Rücken zu. Er holte etwas aus dem Gepäckkasten, kehrte dann zurück und winkte mit einem ganz bestimmten Objekt.

»Ich weiß, dass dies dir gehört«, sagte er. »Ich hab’s aus deinem Koffer genommen. Wenn ich jemanden mit so einem Ding in Ankh-Morpork erwische, mache ich ihm das Leben so zur Qual, wie es nur ein Polizist kann. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Wenn du jemanden mit einem solchen Ding in Ankh-Morpork erwischst, Euer Gnaden, mhm, so kann der Betreffende von Glück sagen, dass du ihn vor der Assassinengilde entdeckt hast, mmph. Solche Dinge stehen auf unserer Verbotsliste für das Stadtgebiet. Aber hier sind wir ziemlich weit von Ankh-Morpork entfernt. Mmph, mmph.«

Mumm drehte den Apparat hin und her. Er hatte gewisse Ähnlichkeit mit einem Hammer, der über einen besonders langen Stiel verfügte. Man konnte ihn auch für ein sonderbar konstruiertes Teleskop halten. Im Grunde genommen war es eine Feder. Was auch für eine Armbrust galt.

»Es ist verdammt schwer zu laden«, sagte Mumm. »Ich hätte mir fast was ausgerenkt, als ich das Ding an einem Felsen spannte. Man hat nur einen Schuss.«

»Aber es ist ein Schuss, mit dem niemand rechnet, mhm, mhm.«

Mumm nickte. Man konnte dieses Ding sogar in der Hose verbergen, obgleich der Gedanke an so viel geballte Kraft Nerven wie Stahl und vermutlich auch andere Teile aus Stahl erforderte, wenn man genauer darüber nachdachte.

»Dies ist keine Waffe«, sagte er. »Solche Apparate sind dafür bestimmt, Personen zu töten.«

»Äh, das ist bei den meisten Waffen der Fall«, meinte Inigo.

»Nein. Die meisten Waffen werden konstruiert, um nicht damit töten zu müssen. Ihr Zweck besteht vor allem darin, gesehen zu werden. Sie dienen der Abschreckung. Bei dieser Vorrichtung liegt der Fall ganz anders. Man versteckt sie und holt sie nur hervor, um jemanden im Dunkeln umzubringen. Und wo ist das andere Ding?«

»Euer Gnaden?«

»Versuch nicht, mir was vorzumachen. Ich meine den versteckten Dolch.«

Inigo zuckte mit den Schultern, und bei dieser Bewegung sauste ein silbern glänzender Gegenstand aus seinem Ärmel: eine sorgfältig gestaltete Klinge, auf der einen Seite gepolstert. Sie glitt dem Assassinen in die Hand, und irgendwo in der Jacke klickte es.

»Bei den Göttern«, hauchte Mumm. »Weißt du, wie oft Leute versucht haben, mich umzubringen?«

»Ja, Euer Gnaden. Neun Mal. Die Gilde hat das Honorar für dich auf 600 000 Ankh-Morpork-Dollar festgesetzt. Als sich das letzte Mal ein Interessent an uns wandte, war kein Gildemitglied bereit, den Auftrag zu übernehmen. Mhm, mhm.«

»Ha!«

»Übrigens, und natürlich ganz inoffiziell… Wir wären dir sehr dankbar für Informationen über den gegenwärtigen Aufenthaltsort des Ehrenwerten Eustachius Bassinglan-Gohr, mhm, mhm.«

Mumm kratzte sich an der Nase. »Meinst du den Assassinen, der versucht hat, meine Rasiercreme zu vergiften?«

»Ja, Euer Gnaden.«

»Nun, wenn er nicht zufälligerweise ein außergewöhnlich guter Schwimmer ist, befindet er sich noch immer an Bord eines Schiffes, das nach Ghat unterwegs ist, und zwar auf einer Route, die ums Kap Schrecken führt«, sagte Mumm. »Ich habe dem Kapitän tausend Dollar dafür bezahlt, die Ketten nicht vor Zambingo zu lösen. Eurem Eustachius steht ein netter Spaziergang durch die Dschungel von Klatsch bevor, wo ihm seine Kenntnisse über Gift sicher sehr nützlich sind, wenn auch nicht ganz so nützlich wie das Wissen um entsprechende Gegenmittel.«

»Tausend Dollar!«

»Nun, er hatte zwölfhundert Dollar bei sich. Den Rest habe ich dem Sonnenscheinheim für kranke Drachen gestiftet. Da fällt mir ein: Ich habe eine Quittung dafür bekommen. Ihr Burschen seid doch immer ganz scharf auf Quittungen.«

»Du hast sein Geld gestohlen? Mhm, mhm.«

Mumm atmete tief durch. Als er sprach, klang seine Stimme ganz ruhig. »Ich wollte nicht mein eigenes Geld vergeuden. Und er hat versucht, mich umzubringen. Sieh es als Investition, die seiner Gesundheit dient. Wenn er irgendwann nach Ankh-Morpork zurückkehrt und beschließt, mich zu besuchen, wird er von mir natürlich bekommen, was er verdient.«

»Ich bin… erstaunt, Euer Gnaden. Mhm, mhm. Eustachius Bassinglan-Gohr konnte ausgezeichnet mit dem Schwert umgehen.«

»Tatsächlich? Normalerweise warte ich nicht lange genug, um so etwas herauszufinden.«

Inigo lächelte dünn. »Und vor zwei Monaten fand man Sir Richard Klainlich auf dem Hiergibt’salles-Platz, an einen Springbrunnen gefesselt. Jemand hatte ihn mit rosaroter Farbe übergossen und ihm eine kleine Fahne…«

»Ein Anfall von Großzügigkeit«, sagte Mumm. »Tut mir Leid, aber ich halte nichts von euren Spielchen.«

»Die Tätigkeit eines Assassinen ist kein Spiel, Euer Gnaden.«

»Ihr macht eins daraus.«

»Es muss Regeln geben, sonst würde Anarchie herrschen. Mhm, mhm. Du hast deine Regeln, wir haben unsere.«

»Und du bist damit beauftragt, mich zu schützen?«

»Ja. Obwohl ich auch über andere Fähigkeiten verfüge.«

»Wie kommst du darauf, dass ich dich brauche?«

»Nun, Euer Gnaden, hier gibt es keine Regeln. Mhm, mhm.«

»Ich habe den größten Teil meines Lebens mit Leuten verbracht, die keine Regeln kennen!«

»Ja, natürlich. Aber wenn du sie tötest, stehen sie nicht wieder auf.«

»Ich habe nie jemanden getötet!«, erwiderte Mumm.

»Du hast dem Räuber in den Hals geschossen.«

»Eigentlich wollte ich die Schulter treffen.«

»Ja, das Ding zieht nach links«, sagte Inigo. »Du meinst, du hast nie versucht, jemanden zu töten. Im Gegensatz zu mir. Und hier sollte man besser nicht zögern. Mmph.«

»Ich habe nicht gezögert!«

Inigo seufzte. »In der Gilde verzichten wir auf große Auftritte, Euer Gnaden.«

»Große Auftritte?«

»Die Sache mit der Zigarre…«

»Du meinst, als ich die Augen schloss und alle anderen die Flamme in der Dunkelheit sahen?«

»Ah…« Inigo zögerte. »Aber man hätte dich einfach erschießen können.«

»Nein. Sie hielten mich nicht für eine Gefahr. Und du hast die Stimme des Mannes gehört. Solche Stimmen höre ich oft. Er wollte nicht zu früh schießen und sich dadurch den Spaß verderben. Darf ich annehmen, dass du keinen Kontrakt für mich hast?«

»Das stimmt.«

»Bist du bereit, es zu beschwören?«

»Bei meiner Ehre als Assassine.«

»Ja«, sagte Mumm. »Genau mit dieser Stelle habe ich gewisse Schwierigkeiten. Und da wäre noch etwas. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, Inigo, aber du verhältst dich nicht wie ein typischer Assassine. Lord oder Sir Soundso… Die Gilde ist eine Schule für Gentlemen, aber du – und die Götter wissen, dass ich dich nicht beleidigen möchte – bist nicht unbedingt…«

Inigo berührte seine Stirnlocke. »Ich bin ein Stipendiat, Herr«, sagte er.

Meine Güte, ja, dachte Mumm. Gewöhnliche Amateurkiller kann man auf jeder Straße finden. Sie sind geistesgestört oder betrunken oder eine arme Frau, die einen schweren Tag hinter sich hat und deren Mann einmal zu oft zugeschlagen hat, und plötzlich schaffen sich zwanzig Jahre Frustration ein Ventil. Einen Fremden ohne Bosheit oder Genugtuung zu töten, dabei nur auf die gute Arbeit stolz zu sein… Das ist ein so einzigartiges Talent, dass Streitkräfte Monate aufwenden, um es in ihren jungen Soldaten zu wecken. Die meisten Leute scheuen davor zurück, jemanden zu töten, dem sie nicht vorgestellt wurden.

In der Gilde musste es einen oder zwei Assassinen wie Inigo geben. Hatte irgendein philosophischer Mistkerl nicht einmal darauf hingewiesen, dass eine Regierung Fleischer ebenso brauchte wie Hirten? Mumm deutete auf die kleine Armbrust. »Na schön, nimm sie«, sagte er. »Aber du solltest deine Kollegen auf Folgendes hinweisen: Wenn ich ein solches Ding jemals auf der Straße entdecke, findet es der Eigentümer dort wieder, wo die Sonne nicht scheint.«

»Ah«, sagte Inigo. »Du meinst den Ort mit dem lustigen Namen in Lancre, nicht wahr? Ich glaube, er ist nur etwa fünfzig Meilen von hier entfernt. Mhm, mhm.«

»Du kannst sicher sein, dass ich eine Abkürzung kenne.«

 

Gaspode versuchte noch einmal, in Karottes Ohr zu pusten.

»Wach endlich auf«, knurrte er.

Karotte hob die Lider und versuchte sich zu bewegen.

»Bleib einfach still liegen«, sagte Gaspode. »Wenn’s dir was nützt: Stell sie dir als eine sehr schwere Daunendecke vor.«

Karotte bewegte sich mühsam. Die auf ihm liegenden Wölfe rutschten ein wenig zur Seite.

»Wärmen erstaunlich gut«, meinte Gaspode und lächelte nervös. »Eine Wolfsdecke. Natürlich müssen wir damit rechnen, dass wir eine Zeit lang streng riechen, aber selbst wenn’s juckt – wenigstens sind wir nicht tot.« Mit einem Hinterbein kratzte er sich hingebungsvoll am Ohr. Ein Wolf starrte ihn an und knurrte leise. »Entschuldige. Bald gibt’s was zu beißen.«

»Meinst du etwas zu essen?«, murmelte Karotte.

Angua erschien in seinem Blickfeld, gekleidet in ein Lederhemd und hohe Gamaschen. Sie sah zu ihm herab, stützte die Hände dabei in die Hüften. Gaspode beobachtete überrascht, dass es Karotte tatsächlich gelang, sich ein wenig in die Höhe zu stemmen, wodurch einige Wölfe ihren Platz verloren.

»Du hast uns verfolgt?«, fragte er.

»Nein, diese Wölfe hier«, erwiderte Angua. »Sie hielten dich für einen verdammten Narren. Ich hab’s an ihrem Heulen gehört. Und sie hatten Recht! Seit drei Tagen hast du nichts gegessen! Und hier oben kündigt sich der Winter nicht einen Monat im Voraus mit vorsichtigen Hinweisen an. Er kommt über Nacht! Warum bist du nur so dumm gewesen?«

Gaspode blickte sich auf der Lichtung um. Angua hatte das Feuer wieder angezündet. Gaspode hätte es nicht einmal dann geglaubt, wenn er es mit eigenen Augen gesehen hätte: Die Wölfe schienen Holz herangeschleppt zu haben. Einer von ihnen war sogar mit einem Reh gekommen, das nach dem Herbst noch nicht abgemagert war. Speichel tropfte Gaspode von der Schnauze, als er herrlichen Bratenduft wahrnahm.

Etwas Menschliches und Kompliziertes geschah zwischen Karotte und Angua. Es klang nach einem Streit, aber es roch nicht danach. Wie dem auch sei: Die jüngsten Ereignisse ergaben für Gaspode durchaus einen Sinn. Das Weibchen lief fort, und das Männchen folgte ihr. So war’s oft. Für gewöhnlich machten sich etwa zwanzig Männchen verschiedener Größe auf den Weg, aber Gaspode musste zugeben, dass es bei Menschen gewisse Unterschiede gab.

Sicher dauerte es nicht mehr lange, bis Karotte den großen Wolf bemerkte, der allein am Feuer saß. Und dann würden die Fetzen fliegen. Tja, Menschen…

Über seine eigene Abstammung wusste Gaspode nichts Genaues. Er hatte etwas von einem Terrier und vielleicht auch von einem Spaniel. Dazu kamen ziemlich viele Promenadenmischungen und möglicherweise auch irgendein Bein. Doch er hielt mit unerschütterlicher Entschlossenheit an dem Glauben fest, dass in jedem Hund etwas von einem Wolf steckte, und der Wolf in Gaspode verkündete folgende warnende Botschaft: Man sollte es vermeiden, den Wolf am Feuer auch nur direkt anzusehen.

Er wirkte nicht in dem Sinne gemein oder boshaft. Das war auch gar nicht nötig. Er blieb selbst dann in eine Aura kompetenter Macht gehüllt, wenn er ganz still saß. Gasode hatte viele Straßenkämpfe zwar nicht gewonnen, aber überlebt, und deshalb wusste er: Gegen ein solches Geschöpf würde er nicht einmal dann antreten, wenn er auf die Hilfe von zwei Löwen und eines Mannes mit einer Axt zurückgreifen könnte.

Er näherte sich einer Wölfin, die hochnäsig ins Feuer blickte.

»Hallo, Süße«, grüßte er.

»Was hast du gesagt?«

Gaspode dachte noch einmal über seine Strategie nach. »Hallo, Teuerste… äh… Wolfsdame«, brachte er hervor.

Die emotionale Temperatur sank noch weiter und stellte klar, dass er auch auf diese Weise keinen Erfolg erzielen würde.

»Äh, Fräulein?«, fragte er hoffnungsvoll.

Die Wölfin drehte den Kopf und richtete ihre Schnauze auf ihn. »Was bist du?« Eis glitt von jeder einzelnen Silbe.

»Ich heiße Gaspode«, bellte Gaspode mit irrer Fröhlichkeit. »Ich bin ein Hund. Das ist eine Art Wolf, in gewisser Weise. Und wie heißt du?«

»Verschwinde.«

»Nichts für ungut. Äh, wie ich hörte, wählen Wölfe einen Partner fürs ganze Leben.«

»Und?«

»Ich würde mich gern zur Verfügung stellen…«

Gaspode erstarrte, als die Schnauze der Wölfin nur wenige Zentimeter vor seiner eigenen zuschnappte.

»In meiner Heimat fressen wir Dinge wie dich«, sagte sie.

»Schon gut, schon gut«, brummte Gaspode und wich zurück. »Da versucht man, freundlich zu sein, und das ist das Ergebnis…«

Näher am Feuer wurden die Menschen kompliziert. Gaspode schlich zurück und legte sich hin.

»Warum hast du mir nichts gesagt?«, fragte Karotte.

»Es hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. Du möchtest immer alles verstehen. Und außerdem geht dich dies hier nichts an. Es ist eine Familienangelegenheit

Karotte deutete zu dem großen Wolf. »Ist er ein Verwandter?«

»Nein. Er ist… ein Freund.«

Gaspode wackelte mit den Ohren und dachte: Jetzt geht’s gleich rund.

»Ein ziemlich großer Wolf«, sagte Karotte so langsam, als legte er neue Informationen zu den Akten.

»Ja, er ist ziemlich groß«, bestätigte Angua.

»Ein weiterer Werwolf?«

»Nein.«

»Nur ein Wolf?«

»Ja«, erwiderte Angua sarkastisch. »Nur ein Wolf.«

»Und sein Name lautet…«

»Er hätte nichts dagegen, Gavin genannt zu werden.«

»Gavin?«

»Er hat einmal jemanden gefressen, der so hieß.«

»Was, den ganzen Mann?«

»Natürlich nicht. Nur genug von ihm, dass er keine Wolfsfallen mehr aufstellen konnte.« Angua lächelte. »Gavin ist recht… ungewöhnlich.«

Karotte sah zu dem Wolf, lächelte, nahm ein Stück Holz und warf es. Der Wolf schnappte wie ein Hund danach und hielt es in der Schnauze.

»Wir werden bestimmt Freunde«, sagte Karotte.

Angua seufzte. »Wart’s ab.«

Niemand schenkte Gaspode Beachtung, als er beobachtete, wie Gavin das Stück Holz langsam durchbiss, ohne dabei den Blick von Karotte abzuwenden.

»Karotte?«, fragte Angua betont freundlich. »Mach so etwas nie wieder. Gavin gehört nicht einmal zum selben Clan wie diese Wölfe, und er hat das Rudel übernommen, ohne dass jemand jaulte. Er ist kein Hund, sondern jemand, der tötet. Sieh mich nicht so an. Er stürzt sich nicht auf Kinder, die durch den Wald wandern, und er frisst auch keine Großmütter. Ich meine, wenn er glaubt, dass ein Mensch sterben sollte, so ist der Betreffende bereits tot. Er wird in jedem Fall kämpfen. In dieser Beziehung könnte er kaum unkomplizierter sein.«

»Ist er ein alter Freund?«, fragte Karotte.

»Ja.«

»Ein… Freund.«

»Ja.« Angua rollte mit den Augen und fuhr in sarkastischem Singsang fort: »Eines Tages war ich im Wald unterwegs und fiel in eine Grube, die unterm Schnee verborgen war, und einige Wölfe fanden mich und hätten mich vermutlich getötet, wenn Gavin nicht erschienen wäre und sie mit einem strengen Blick vertrieben hätte. Frag mich nicht nach dem Grund. Manchmal verhalten sich Menschen einfach auf eine bestimmte Weise, und das Gleiche gilt auch für Wölfe. Ende der Geschichte.«

»Gaspode meinte, Wölfe und Werwölfe kommen nicht miteinander zurecht«, sagte Karotte geduldig.

»Das stimmt. Wenn Gavin nicht hier wäre, hätten sie mich bereits in Stücke gerissen. Ich kann wie ein Wolf aussehen, aber ich bin keiner. Ich bin ein Werwolf! Und ich bin auch kein Mensch. Ich bin ein Werwolf! Verstanden? Kennst du einige der Bemerkungen, die Menschen deshalb von sich geben? Nun, Wölfe halten sich nicht mit Bemerkungen auf, sondern schnappen nach deiner Kehle. Sie verfügen über einen sehr guten Geruchssinn. Ihre Schnauzen lassen sich nicht täuschen. Ich kann als Mensch durchgehen, aber nicht als Wolf.«

»So habe ich es noch nie gesehen. Man sollte eigentlich glauben, dass Wölfe und Werwölfe…«

»So ist es eben«, seufzte Angua.

»Du hast vorhin von einer Familienangelegenheit gesprochen«, sagte Karotte und schien sich durch eine geistige Checkliste zu arbeiten.

»Ich meine, es ist eine persönliche Sache. Gavin kam den ganzen weiten Weg bis nach Ankh-Morpork, um mich zu warnen. Tagsüber schlief er auf den Bauholzkarren, um auch während der Ruhepausen in Bewegung zu bleiben. Hast du eine Ahnung, wie viel Mut dafür nötig ist? Mit der Wache hat dies nichts zu tun. Auch nicht mit dir.«

Karotte sah sich um. Es schneite wieder; über dem Feuer wurde Regen daraus.

»Jetzt bin ich hier.«

»Bitte kehr zurück. Ich bringe diese Sache allein in Ordnung.«

»Und anschließend kommst du wieder nach Ankh-Morpork?«

»Ich…« Angua zögerte.

»Ich glaube, ich sollte besser bleiben«, sagte Karotte.

»Die Stadt braucht dich«, erwiderte Angua. »Du weißt, wie sehr sich Mumm auf dich verlässt…«

»Ich habe den Dienst quittiert.«

Einige Sekunden glaubte Gaspode, das Geräusch jeder einzelnen Schneeflocke zu hören, die zu Boden fiel.

»Im Ernst?«

»Ja.«

»Und was hat das Alte Steingesicht dazu gesagt?«

»Äh, nichts. Er war bereits nach Überwald unterwegs.«

»Mumm kommt nach Überwald?«

»Ja. Für die Krönung.«

»Er ist in diese Angelegenheit verwickelt?«, fragte Angua.

»In was soll er verwickelt sein?«

»Oh, meine Familie ist… dumm gewesen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich alles weiß, aber die Wölfe sind besorgt. Wenn Werwölfe Krach schlagen, sind es immer die wahren Wölfe, die darunter zu leiden haben. Die Menschen bringen alles um, das einen Pelz hat.« Einen Moment lang blickte Angua stumm ins Feuer und fragte dann mit erzwungener Fröhlichkeit: »Wer leitet die Wache jetzt?«

»Keine Ahnung. Ich schätze, Fred Colon trägt die Verantwortung.«

»Ha, ja. In seinen Albträumen.« Angua zögerte. »Du hast wirklich den Dienst quittiert?«

»Ja.«

»Oh.«

Gaspode lauschte einigen weiteren Schneeflocken.

»Nun, auf dich allein gestellt kommst du nicht weit«, sagte Angua und stand auf. »Ruh dich eine weitere Stunde lang aus. Anschließend setzen wir den Weg durch den tiefen Wald fort. Dort liegt noch nicht viel Schnee. Wir müssen eine ziemlich große Strecke zurücklegen. Ich hoffe, du kannst mit uns Schritt halten.«

 

Beim Frühstück am nächsten Morgen stellte Mumm fest: Die anderen Gäste hielten sich so sehr von ihm fern, dass sie praktisch an den Wänden klebten.

»Die Männer, die gestern Abend aufbrachen, sind gegen Mitternacht zurückgekehrt, Herr«, sagte Grinsi leise.

»Haben sie jemanden erwischt?«

»Äh… gewissermaßen, Herr. Sie haben sieben Leichen gefunden.«

»Sieben?«

»Sie glauben, einige andere Räuber könnten über einen schmalen Pfad zwischen den Felsen geflohen sein.«

»Aber… sieben? Detritus hat einen erwischt, und ich… ebenfalls, und zwei wurden verwundet, und Inigo hat ebenfalls einen erledigt…« Mumms Stimme verklang.

Er blickte zu Inigo Schaumlöffel, der auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers an einem Tisch saß, zusammen mit den anderen Leuten. Die Plätze in der Nähe von Mumm und Lady Sybil blieben leer – Sybil führte das auf Achtung und Respekt zurück. Der kleine Mann aß Suppe in einer kleinen, selbstgenügsamen Welt zwischen winkenden Armen und zustoßenden Ellenbogen. Er hatte sich sogar eine Serviette umgebunden.

»Sie waren… sehr tot, Herr«, flüsterte Grinsi.

»Nun, das hat… interessant geschmeckt«, sagte Lady Sybil und wischte sich würdevoll den Mund ab. »Nie zuvor hatte ich eine Suppe mit Würstchen zum Frühstück. Wie nennt man so etwas, Grinsi?«

»Fetsup, Euer Gnaden«, antwortete Grinsi. »Das bedeutet ›fette Suppe‹. Wir sind jetzt nicht mehr weit von den Fettschichten des Schmalzbergs entfernt, und… Nun, so eine Suppe ist nahrhaft und hält die Kälte fern.«

»Faszinierend.« Lady Sybil sah ihren Mann an, dessen Blick noch immer Inigo galt.

Die Tür schwang auf. Detritus duckte sich herein und klopfte Schnee von seinen Fingerknöcheln.

»Es nicht schlecht«, sagte er. »Die Leute meinen, es gute Idee sei früh aufzubrechen.«

»Das glaube ich gern«, entgegnete Mumm und dachte: Sie möchten nicht, dass jemand wie ich noch länger hier bleibt. Wahrscheinlich fragen sie sich, wer als Nächster stirbt.

Mehrere Gesichter, an die er sich vom vergangenen Abend vage erinnerte, fehlten jetzt. Einige Reisende waren offenbar noch eher aufgebrochen, was bedeutete, dass ihnen die Nachricht vorauseilte. Blut- und schlammverschmiert, mit einer Armbrust in der Hand, war er ins Gasthaus gestapft, und als die Männer später nachsahen, fanden sie sieben Leichen. Wenn diese Geschichte zehn Meilen zurückgelegt hatte, trug er sicher auch noch eine Axt, und die Anzahl der Toten wuchs vermutlich auf dreißig Männer und einen Hund.

Mumms diplomatische Karriere kam zweifellos gut voran.

Als sie in die Kutsche stiegen, bemerkte er einen kleinen Pfeil im Türpfosten. Er bestand aus Metall, sah ganz nach Geschwindigkeit aus und erweckte den Eindruck, dass man sich die Finger verbrennen konnte, wenn man ihn berührte.

Mumm ging zum rückwärtigen Teil der Kutsche. Dort steckte ein weitaus größerer Pfeil im Holz.

»Sie versuchten, dich an der Steigung einzuholen«, sagte Inigo hinter ihm.

»Du hast sie getötet.«

»Einige sind entkommen.«

»Das überrascht mich.«

»Ich habe nur zwei Hände, Euer Gnaden.«

Mumm sah zum Schild des Gasthauses. Das schlicht gemalte Bild zeigte einen großen roten Kopf mit Stoßzähnen und einem Rüssel.

»Dies ist der Gasthof ›Zum Fünften Elefanten‹«, sagte Inigo. »Du hast das Gesetz hinter dir gelassen, als wir Lancre passierten, Euer Gnaden. Hier gibt es nur noch das Recht des Stärkeren. Man behält, was man vor anderen schützen kann. Man bekommt, was man im Kampf erringt. Schwache überleben nicht.«

»Auch Ankh-Morpork ist ziemlich gesetzlos, Herr Schaumlöffel.«

»Ankh-Morpork hat jede Menge Gesetze. Aber viele Leute schenken ihnen keine Beachtung. Und das, Euer Gnaden, ist eine ganz andere Schüssel mit Fett, mmhm, mmph.«

Sie setzten den Weg als Konvoi fort. Detritus nahm auf dem Dach der ersten Kutsche Platz, der eine Tür und ein großer Teil der einen Seite fehlte. Um sie herum erstreckte sich das monotone Weiß einer schneebedeckten Landschaft.

Nach einer Weile kamen sie an einem Nachrichtenturm vorbei. Brandspuren an einer Seite des steinernen Sockels verrieten, dass jemand keine Neuigkeit für gute Neuigkeiten hielt, aber die Klappen des Turmes klackten und glitzerten immerzu.

»Die ganze Welt sieht zu«, sagte Mumm.

»Sie war immer gleichgültig«, erwiderte Schaumlöffel. »Bis heute. Jetzt will sie den Deckel vom Land reißen und nehmen, was darunter liegt.«

Ah, dachte Mumm. Unser Killer hat doch mehr als nur ein Gefühl.

»Ankh-Morpork hat immer versucht gut mit anderen Nationen auszukommen«, meinte Sybil. »Zumindest in letzter Zeit.«

»Ich glaube, wir haben es nicht in dem Sinne versucht, Schatz«, sagte Mumm. »Wir fanden nur heraus, dass… Warum halten wir an?«

Er öffnete das Fenster. »Was ist los, Feldwebel?«

»Wir auf die Zwerge warten, Herr«, antwortete der Troll von oben.

Einige hundert Zwerge marschierten im Viererglied über die weiße Landschaft. Sie wirkten sehr entschlossen.

»Detritus?«

»Ja, Herr?«

»Du solltest versuchen, weniger wie ein Troll auszusehen.«

»Ich mir alle Mühe geben, Herr.«

Als die Zwergenkolonne auf einer Höhe mit dem Kutschenkonvoi war, rief jemand einen Befehl, und die kleinen, grimmigen Gestalten blieben stehen. Ein Zwerg näherte sich der ersten Kutsche.

»Ta’grdzk?«, donnerte er.

»Möchtest du, dass ich mich darum kümmere, Euer Gnaden?«, fragte Inigo.

»Ich bin der verdammte Botschafter«, sagte Mumm und stieg aus.

»Guten Morgen, Zwerg, (Hinweis auf schurkisch/abscheulich), ich bin Steiger Mumm vom Aussehen

Lady Sybil hörte Inigo leise stöhnen.

»Krz? Gr’dazak yad?«

»Augenblick, Augenblick, das kriegen wir schon hin… Ich bin sicher, du bist ein Zwerg ohne feste Prinzipien. Lass uns unsere Geschäfte schütteln, Zwerg (Hinweis auf schurkisch/abscheulich).«

»Ja, ich schätze, damit wäre die Sache erledigt«, sagte Inigo. »Mmph, mmhm.«

Der Zwerg lief an den wenigen Stellen in seinem Gesicht, die nicht von dichtem Haar bedeckt waren, rot an. Der Rest des Trupps blickte mit neu erwachtem Interesse zur Kutsche.

Der Anführer holte tief Luft. »D’kraha?«

Grinsi verließ die andere Kutsche. Ihr Rock flatterte im Wind.

Die Zwerge des Trupps drehten synchron ihre Köpfe und starrten sie an. Der Anführer riss die Augen auf.

»B’danf K’raa! D’kraga ha’ak!«

Mumm sah den Ausdruck in Grinsis kleinem, rundem Gesicht.

Über ihm klackte es, als Detritus den geladenen Friedensstifter auf den Rand des Kutschendachs stützte.

»Ich das Wort kennen, das er ihr gesagt hat«, verkündete er der Welt. »Es ist kein gutes Wort. Ich nicht noch einmal hören möchte so ein Wort.«

»Nun, das ist ja alles ganz schön, mmph, mmhm«, sagte Inigo und stieg aus. »Wenn ihr euch nun entspannen würdet… dann haben wir vielleicht die Chance, diese Sache lebend zu überstehen, mmph.«

Mumm hob die Hand und schob das Ende von Detritus’ Armbrust behutsam in eine weniger bedrohliche Richtung.

Inigo sprach ziemlich schnell, und für Mumms Ohren klang sein Wortschwall nach perfektem Zwergisch – obwohl er glaubte, ein gelegentliches »Mmph« zu hören. Der Sekretär und Assassine öffnete seinen Lederkoffer und holte zwei Dokumente mit großen Wachssiegeln hervor, die mit beträchtlichem Argwohn überprüft wurden. Der Zwerg deutete auf Grinsi und Detritus. Inigo winkte ab – eine allgemein verständliche Geste, die verdeutlichte, dass etwas oder jemand keine Rolle spielte. Weitere Papiere wurden kontrolliert.

Der Zwerg winkte Inigo fort, und dabei teilte seine Körpersprache mit: Ich könnte etwas Schlimmes mit dir anstellen, aber derzeit ist es mir einfach zu lästig. Mumm verabschiedete er mit einem Blick, der keinen Zweifel daran ließ, dass er sich ungeachtet aller physischen Tatsachen für den Größeren hielt. Anschließend stapfte er zu seiner Truppe zurück.

Ein Befehl erklang. Die Zwerge setzten sich wieder in Bewegung, verließen die Straße und marschierten in Richtung Wald.

»Nun, das scheint geklärt zu sein«, sagte Inigo, als er zur Kutsche zurückkehrte. »Fräulein Kleinpo erwies sich als nicht unerhebliches Problem, doch ein Zwerg respektiert sehr komplizierte Dokumente. Etwas geht vor, aber er lehnte es ab, mir Auskunft darüber zu geben. Er wollte die Kutsche durchsuchen.«

»Von wegen! Aus welchem Grund?«

»Wer weiß? Ich habe ihn davon überzeugt, dass wir diplomatische Immunität genießen.«

»Was hast du ihm über mich gesagt?«

»Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass du ein Idiot bist, Euer Gnaden.«

»Ach, tatsächlich?« Mumm hörte, wie Lady Sybil nicht zu lachen versuchte.

»Die Umstände erforderten es, glaub mir. Es war keine gute Idee, umgangssprachliches Zwergisch zu verwenden, Euer Gnaden. Doch als ich betonte, dass du Aristokrat bist…«

»Ich bin kein… Ich meine, in Wirklichkeit…«

»Ja, Euer Gnaden. Wenn du mir einen Hinweis gestattest: Bei der Diplomatie geht es oft darum, dümmer zu erscheinen, als man eigentlich ist. Was das angeht, hast du einen guten Anfang gemacht, Euer Gnaden. Und jetzt sollten wir besser die Fahrt fortsetzen, mmhm.«

»Es freut mich festzustellen, dass du jetzt weniger ehrerbietig bist, Inigo«, sagte Mumm, als die Kutschen wieder durch den Schnee rollten.

»Inzwischen kenne ich dich besser, Euer Gnaden.«

 

Gaspode verband konfuse Erinnerungen mit dem Rest der Nacht. Das Rudel war ziemlich schnell, und die meisten Wölfe liefen vor Karotte – um den Schnee für ihn flach zu treten.

Für Gaspode war er nicht flach genug. Schließlich packte ihn ein Wolf am Genick und trug ihn, während er sich mit gedämpfter Stimme über den üblen Geruch beklagte.

Nach einer Weile hörte es auf zu schneien, und der Mond zeigte sich zwischen den Wolken.

Überall um sie herum, nah und fern, erklang das Geheul. Gelegentlich verharrte das Rudel auf einer Lichtung oder auf der weißen Kuppe eines Hügels, um ebenfalls zu heulen.

Gaspode hinkte zu Angua, während das Geheul andauerte. »Was bedeutet das?«, fragte er.

»Es geht um Politik«, erklärte Angua. »Verhandlungen werden geführt. Wir durchqueren fremde Territorien.«

Gaspode sah zu Gavin. Der blieb stumm, saß ein Stück abseits und teilte seine würdevolle Aufmerksamkeit zwischen Karotte und dem Rudel.

»Er muss um Erlaubnis bitten?«, fragte Gaspode.

»Er will sichergehen, dass man mich passieren lässt.«

»Oh. Und das bereitet ihm Probleme?«

»Keine, durch die er sich nicht durchbeißen könnte.«

»Oh. Äh, ist in dem Geheul auch von mir die Rede?«

»Du wirst als ›kleiner, schrecklich riechender Hund‹ bezeichnet.«

»Ah, na schön.«

Einige Minuten später brachen sie wieder auf. Im matten Mondschein liefen sie über einen weiten, schneeverkrusteten Hang in Richtung Wald. Gaspode bemerkte Schatten, die ihnen über das Weiß entgegeneilten. Für kurze Zeit flankierten ihn zwei Rudel, das alte und das neue, und dann wich ihre ursprüngliche Eskorte zurück.

Jetzt haben wir eine neue Ehrenwache, dachte er und lief im Zentrum einer Mauer aus schemenhaften grauen Beinen. Wölfe, denen wir bisher noch nicht begegnet sind. Hoffentlich hat man dem Geheul »schmeckt grässlich« hinzugefügt.

Dann fiel Karotte in den Schnee. Einige Sekunden verstrichen, bevor er sich wieder rührte. Die Wölfe liefen unsicher hin und her, blickten gelegentlich zu Gavin. Gaspode schloss zu Karotte auf, der noch immer im Schnee lag.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Das Laufen… ist sehr… anstrengend.«

»Ich möchte dich nicht, du weißt schon, beunruhigen oder so«, jaulte Gaspode. »Aber wir sind hier nicht unbedingt unter Freunden, wenn du verstehst, was ich meine. Gavin kann wohl kaum damit rechnen, irgendwo den Preis für das beste Schwanzwedeln zu gewinnen.«

»Wann hat er zum letzten Mal geschlafen?«, fragte Angua und bahnte sich einen Weg durch das Rudel.

»Keine Ahnung«, erwiderte Gaspode. »Während der letzten Tage waren wir praktisch immer unterwegs.«

»Kein Schlaf, kein Essen, keine angemessene Kleidung«, fauchte Angua. »Dummkopf!«

Einige Wölfe in der Nähe von Gavin knurrten und jaulten. Gaspode hockte sich neben Karottes Kopf und beobachtete, wie Angua… stritt.

Die reine Wolfssprache beherrschte er nicht, außerdem spielten Gebärden und Körpersprache dabei eine größere Rolle als bei Hunden. Aber man musste keine Intelligenzbestie sein, um zu erkennen, dass die Dinge nicht besonders gut liefen. Ganz deutlich spürte Gaspode, wie die Anspannung immer weiter stieg. Wenn jetzt irgendetwas schief ging, hatte ein kleiner Hund vermutlich keine größere Überlebenschance als ein Kessel aus Schokolade auf einem sehr heißen Herd.

Das Jaulen und Knurren wurde lauter. Ein Wolf – Gaspode gab ihm in Gedanken den Namen »Schwierig« – war nicht zufrieden. Einige andere Wölfe teilten seinen Standpunkt, und einer von ihnen fletschte Angua gegenüber die Zähne.

Dann stand Gavin auf. Er schüttelte Schnee aus dem Fell, sah sich lässig um und trat Schwierig entgegen.

Gaspode fühlte, wie sich alle Haare an seinem Leib aufrichteten.

Die anderen Wölfe wichen zurück. Gavin schenkte ihnen keine Beachtung. Als ihn nur noch ein Meter von Schwierig trennte, neigte er den Kopf zur Seite und fragte: »Hrurrrm?«

Es klang fast freundlich. Doch tief in Gaspodes Innern erklang ein dumpfes Echo, das übersetzt lautete: Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten. Die eine ist leicht, sogar sehr leicht.

Die andere möchtest du sicher nicht kennen lernen.

Einige Sekunden hielt Schwierig Gavins Blick stand, dann senkte er den Kopf.

Gavin knurrte etwas. Sechs Wölfe, angeführt von Angua, liefen zum Wald.

Zwanzig Minuten später kehrten sie zurück. Angua war wieder Mensch – oder hatte zumindest menschliche Gestalt, korrigierte sich Gaspode –, und die Wölfe zogen einen großen Hundeschlitten.

»Wir haben ihn von einem Mann im Dorf hinter dem nächsten Hügel geliehen«, sagte Angua, als der Schlitten neben Karotte anhielt.

»Nett von ihm«, erwiderte Gaspode und beschloss, nicht nach Einzelheiten zu fragen. »Es erstaunt mich, angespannte Wölfe zu sehen.«

»Nun, dies war der leichte Weg«, sagte Angua.

Seltsam, dachte Gaspode, als er neben dem schlummernden Karotte im Schlitten lag. Er hatte so großes Interesse gezeigt, als Stromer über das Heulen sprach und erwähnte, damit ließen sich Nachrichten bis in die Berge übermitteln. Man könnte glatt Verdacht schöpfen und sich fragen, ob er wusste, dass Angua ihm helfen würde, wenn er in ernste Schwierigkeiten geriet. Hatte er sich wirklich ganz darauf verlassen?

Gaspode blickte unter der Decke hervor. Schnee geriet ihm in die Augen. Neben dem Schlitten, nur einen knappen Meter entfernt, lief Gavin und schien im silbrigen Mondschein zu glühen. Hier bin ich, dachte Gaspode. Eingeklemmt zwischen Menschen auf der einen und Wölfen auf der anderen Seite. Es ist ein Hundeleben.

 

So lasse ich mir das Leben gefallen, dachte der amtierende Hauptmann Colon. Es gab kaum mehr Papierkram zu erledigen, und mit viel Mühe war es ihm gelungen, den ganzen Rückstand aufzuarbeiten. Außerdem ging es nicht mehr annähernd so laut zu wie früher.

Als Mumm die Stadtwache geleitet hatte – Fred Colon dachte diesen Namen jetzt, ohne ihm ein »Herr« oder »Kommandeur« voranzustellen –, waren im Wachhaus immer so viele Stimmen erklungen, dass man kaum sein eigenes Wort verstand. Wie konnte man angesichts eines so ineffizienten Systems hoffen, irgendetwas zu erledigen?

Erneut zählte er die Zuckerwürfel. Neunundzwanzig. Zwei hatte er für seinen Tee gebraucht, was bedeutete, dass alles in Ordnung war. Die Strenge zahlte sich aus.

Colon ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt breit, so dass er nach unten ins Büro sehen konnte. Es war erstaunlich, wie gut man die Burschen auf diese Weise überraschen konnte.

Stille und Ordnung herrschten. Es lagen keine Gegenstände auf den Schreibtischen – nichts erinnerte an das frühere Chaos.

Colon kehrte zu seinem eigenen Schreibtisch zurück und zählte die Zuckerwürfel. Siebenundzwanzig.

Ah-ha! Jemand versuchte, ihn um den Verstand zu bringen. Nun, den Spieß konnte er auch umdrehen.

Erneut zählte er die Zuckerwürfel. Es waren sechsundzwanzig – und jemand klopfte an die Tür.

Sie schwang nach innen auf, und Colon wirbelte um die eigene Achse. Boshafter Triumph glitzerte in seinen Augen.

»Ah-ha! Einfach so hereinplatzen, wie? Oh…«

Das »Oh« fügte Colon hinzu, als er sah, wer angeklopft hatte: Der Golem Obergefreiter Dorfl. Er war größer als die Tür und stark genug, um einen Troll in Stücke zu reißen. Von dieser Möglichkeit hatte er nie Gebrauch gemacht, weil er an bestimmten moralischen Grundsätzen festhielt. Wie dem auch sei: Selbst Colon schreckte davor zurück, mit jemandem zu streiten, der zwei rot glühende Löcher dort hatte, wo man die Augen vermutete. Gewöhnliche Golems taten Menschen nichts zu Leide, weil magische Worte in ihrem Kopf sie daran hinderten. Bei Dorfl fehlten diese Worte, doch er verzichtete trotzdem darauf, irgendjemandem ein Leid zuzufügen – er hielt so etwas einfach nicht für richtig. Diese Tatsache ließ genug Platz für den beunruhigenden Gedanken, dass er seine Meinung vielleicht änderte, wenn man ihn mit ausreichendem Nachdruck provozierte.

Neben dem Golem stand Obergefreiter Schuh und salutierte zackig.

»Wir sind gekommen, um die Soldzettel zu holen, Herr«, sagte er.

»Die was?«

»Die Soldzettel, Herr. Für den monatlichen Sold. Wir bringen sie zum Palast und kehren mit dem Sold zurück, Herr.«

»Davon weiß ich überhaupt nichts!«

»Ich habe sie gestern auf deinen Schreibtisch gelegt, Herr. Von Lord Vetinari unterschrieben, Herr.«

Colon konnte das kurze Flackern in seinen Augen nicht verbergen. Inzwischen hatte sich im Kamin ziemlich viel Asche angesammelt.

Schuh folgte dem Blick des amtierenden Hauptmanns.

»Ich habe nichts dergleichen gesehen«, sagte Colon. Die Farbe wich aus seinem Gesicht wie aus einem abgelutschten Eis am Stiel.

»Ich habe dir die Zettel ganz bestimmt auf den Schreibtisch gelegt«, fuhr Obergefreiter Schuh fort. »So etwas vergesse ich nicht, Herr. Ich erinnere mich deutlich daran, dass ich zum Obergefreiten Besuch sagte: ›Waschtopf, ich gehe jetzt und lege die…‹«

»Hör mal, ich bin ein sehr beschäftigter Mann, wie du siehst!«, schnappte Colon. »Lass die Sache von einem Feldwebel in Ordnung bringen!«

»Es gibt nur noch einen Feldwebel, Herr, und der heißt Feuerstein«, erwiderte Obergefreiter Schuh. »Er verbringt die ganze Zeit damit, umherzustapfen und die Leute zu fragen, was er tun soll. Wie dem auch sei, Herr: Es ist die Pflicht des vorgesetzten Offiziers, die Soldzettel zu unterschreiben und…«

Colon stand auf, stützte die Fingerknöchel auf den Schreibtisch und beugte sich vor. »Ach, es ist meine Pflicht, wie? Ich muss irgendwelche Zettel unterschreiben? Was für eine Frechheit. Die meisten von euch können froh sein, dass ihnen jemand einen Job gibt! Zombies, Irre, Rasenschmuck und Felsen – solch ein Haufen seid ihr! Mir reicht’s jetzt endgültig mit euch!«

Schuh wich ein wenig zurück, um nicht vom Speichelregen getroffen zu werden. »Ich fürchte, dann muss ich mich in dieser Sache an die Wächtergilde wenden, Herr.«

»Die Wächtergilde? Ha! Und seit wann gibt es eine Wächtergilde?«

»Keine Ahnung. Wie spät ist es jetzt?«, fragte Korporal Nobbs und schlenderte herein. »Es müssen mindestens zwei Stunden vergangen sein. Morgen, Hauptmann.«

»Was machst du hier, Nobby?«

»Für dich heißt es Herr Nobbs, Hauptmann. Und ich bin Präsident der Wächtergilde, wenn du’s genau wissen willst.«

»So eine verdammte Gilde gibt es überhaupt nicht!«

»Damit ist alles in Ordnung, Hauptmann. Beim Palast registriert und so. Und die Wächter hatten es erstaunlich eilig, Mitglied zu werden.« Er hob sein schmutziges Notizbuch hervor. »Ich möchte einige Dinge mit dir klären, wenn du ein wenig Zeit hast. Nun, ich spreche von einigen Dingen, aber…«

»Das brauche ich mir nicht bieten zu lassen!«, donnerte Colon. Sein Gesicht glühte scharlachrot. »Das ist Hochverrat! Ihr seid alle gefeuert! Ihr…«

»Wir streiken«, sagte Nobby ruhig.

»Ihr könnt nicht streiken, während ich euch entlasse!«

»Unsere Streikzentrale befindet sich im Hinterzimmer des Eimers in der Schimmerstraße«, sagte Nobby.

»He, das ist meine Kneipe! Ich verbiete euch, in meiner Stammkneipe zu streiken!«

»Du findest uns dort, wenn du mit Verhandlungen beginnen willst. Kommt, Brüder. Wir sind jetzt ganz offiziell im Ausstand.«

Sie marschierten hinaus.

»Kommt bloß nicht zurück!«, rief Colon ihnen nach.

 

Bums entsprach nicht Mumms Erwartungen. Eigentlich wusste er gar nicht, was er erwartet hatte, aber dies war es gewiss nicht.

Der Ort lag in einem schmalen Tal mit einem Fluss, der sich weißschäumend hindurchwand. Die Wehrwälle konnte man nicht mit denen von Ankh-Morpork vergleichen, die zuerst zu einem Hindernis für das Wachstum der Stadt wurden und dann zu einer Quelle für Baumaterial. Diese Wehrwälle hatten eine Innen- und eine Außenseite. Schlösser erhoben sich auf den Bergen. In dieser Gegend konnte man praktisch auf jedem Berg ein Schloss vorfinden. Und Tore bildeten Barrieren auf den Straßen.

Detritus klopfte an die Seite der Kutsche. Mumm sah aus dem Fenster.

»Da Leute sind auf der Straße«, sagte der Troll. »Sie spitze Dinger haben.«

Mumm blickte nach vorn und bemerkte sechs mit Hellebarden bewaffnete Wächter.

»Was wollen die denn?«, fragte er.

»Vermutlich möchten sie ebenfalls unsere Papiere überprüfen und die Kutsche durchsuchen«, sagte Inigo.