»… gibt es Probleme«, warf Mumm ein. Die sich bis nach Ankh-Morpork hin ausdehnen werden, fügte er in Gedanken hinzu. Im Moment sind es nur Krawalle.

»Wer wird König, wenn Rhys abdankt?«

»Albrecht Albrechtson, wie jeder weiß.«

»Und damit gehen ebenfalls Probleme einher«, sagte Mumm. »Nach dem, was ich hörte, könnte es zu einem Bürgerkrieg kommen.«

»Der König ist trotzdem bereit, auf sein Amt zu verzichten«, meinte Dee. »Irgendein König ist immer noch besser als Chaos. Zwerge mögen kein Chaos.«

»Das Chaos droht so oder so«, sagte Mumm.

»Es hat schon früher Rebellionen gegen Könige gegeben. Das Volk der Zwerge überlebt. Die Krone überdauert. Die Traditionen bleiben, ebenso wie die Steinsemmel. Es gibt eine… Vernunft, zu der man zurückkehren kann.«

Lieber Himmel, dachte Mumm. Tausende von Zwergen sterben, aber das ist in Ordnung, solange ein bestimmter Stein existiert. »Ich bin nicht als Polizist hier. Wie kann ich helfen?«

»Dies ist nicht passiert!«, heulte Dee. Seine Nerven hielten der Belastung kaum mehr stand. »Aber alle wissen, dass sich Fremde aus Ankh-Morpork nicht nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern!«

»Ah, du meinst… da du vermeiden möchtest, dass diese Sache bekannt wird… Es wäre keineswegs ratsam für dich, zu aufgeregt zu wirken, aber niemand könnte irgendwelche Vorwürfe gegen dich erheben, wenn ein paar dumme Polypen herumschnüffeln.«

Dee gestikulierte vage. »Dies alles war nicht meine Idee!«

»Eure Sicherheitsmaßnahmen würden nicht einmal dem Sparschwein eines Kinds gerecht. Mir fallen zwei oder drei Möglichkeiten ein, die Steinsemmel von diesem Ort verschwinden zu lassen. Was ist mit dem Geheimgang, der zu diesem Raum führt?«

»Ich weiß nichts von einem Geheimgang!«

»Oh, gut. Dann können wir diese Möglichkeit ausschließen. Geh jetzt und warte am Boot. Korporal Kleinpo und ich müssen über gewisse Dinge reden.«

Dee stapfte widerstrebend los. Mumm wartete, bis der Zwerg im Glühen der Kerzen jenseits der Brückenwaage zu sehen war.

»Was für ein Durcheinander«, sagte er. »Die Rätsel von verriegelten Zimmern werden noch schlimmer, wenn die Zimmer gar nicht verriegelt sind.«

»Du glaubst, dass Dösig vielleicht Beutel mit Sand unter seiner Kleidung getragen hat, Herr?«, fragte Grinsi.

Nein, fuhr es Mumm durch den Sinn. Das dachte ich nicht. Aber jetzt weiß ich, wie ein Zwerg dieses Problem lösen würde.

»Es wäre möglich«, räumte er ein. »Solchen Sand gibt es bestimmt nicht nur hier. Man fügt einfach jeden Tag ein wenig hinzu. Gerade genug, um nicht den Gewichtsalarm auszulösen. Schließlich hat man… Wie viel wiegt die Steinsemmel?«

»Etwa sechzehn Pfund, Herr.«

»Na schön. Man verteilt den Sand auf dem Boden, schiebt sich die Semmel unter den Mantel… Ja, es könnte klappen.«

»Es wäre riskant, Herr.«

»Aber niemand glaubt, dass wirklich jemand versucht, die Steinsemmel zu stehlen. Vier Wächter, die jeweils zwölf Stunden lang in dem kleinen Wachhaus sitzen… Sie sind bestimmt nicht die ganze Zeit über wachsam! Vier Personen ergeben eine gute Pokerrunde.«

»Vermutlich verlassen sie sich darauf, dass sie wissen, wann ein Boot kommt, Herr.«

»Ja. Ein großer Fehler. Und weißt du was? Ich wette, dass ihre Wachsamkeit besonders dann zu wünschen übrig lässt, wenn ein Boot gerade nach unten transportiert wurde. Grinsi, wenn ein Mensch in der Lage wäre, diesen Ort zu ereichen, so könnte er in die Semmelhöhle gelangen. Er müsste flink und ein guter Schwimmer sein, aber er könnte es schaffen.«

»Die Wächter am Tor wirkten sehr aufmerksam, Herr.«

»Oh, ja. Nach einem Diebstahl sind Wächter immer sehr wachsam. Die personifizierte Aufmerksamkeit und besonders auf Zack – für den Fall, dass sich jemand fragt, ob sie zur falschen Zeit geschlafen haben. Ich bin Polizist, Grinsi. Ich weiß, wie langweilig es sein kann, irgendwo Wache zu schieben. Erst recht, wenn man weiß, dass niemand das stehlen wird, was man bewacht.« Er scharrte mit dem Stiefel im Sand.

»Heute Morgen haben sie sich jeden Karren, der kam oder fortrollte, ganz genau angesehen. Und zwar deshalb, weil jemand die Steinsemmel gestohlen hat. Das ist genau die richtige Gelegenheit, um sehr förmlich und tüchtig zu wirken und sinnlose Aktivität zu entfalten. Oder willst du etwa behaupten, dass die Wächter letzte Woche jedes Fass öffneten und jede Ladung Heu untersuchten? Und das sogar bei den ankommenden Karren? Siehst du Dee? Blickt er in meine Richtung?«

Grinsi spähte an Mumm vorbei.

»Nein, Herr.«

»Gut.«

Mumm ging zum Tunnel, presste den Rücken gegen die Wand, holte tief Luft und stemmte dann die Füße an die gegenüberliegende Wand. Vorsichtig bewegte er Schulterblätter und Füße, schob sich zentimeterweise über die Platten der Brückenwaage hinweg und schnitt eine Grimasse, als seine Knie protestierten. Schließlich kehrte er auf den Boden zurück und ging zu Dee, der noch immer mit den Wächtern sprach.

»Wie…«

»Schon gut«, sagte Mumm. »Begnügen wir uns mit der Feststellung, dass ich größer bin als ein Zwerg, in Ordnung?«

»Hast du den Fall gelöst?«

»Nein. Aber ich habe eine Idee.«

»Wirklich?«, fragte Dee. »Tatsächlich? Und wie lautet sie?«

»Ich arbeite noch daran«, erwiderte Mumm. »Aber du kannst von Glück sagen, dass du vom König aufgefordert worden bist, dich an mich zu wenden. Eins habe ich nämlich herausgefunden: Kein Zwerg wird dir die richtige Antwort geben.«

 

Die Oper war fast zu Ende, als Mumm neben Sybil Platz nahm. »Habe ich irgendetwas verpasst?«, fragte er.

»Die Aufführung ist sehr gut. Wo bist du gewesen?«

»Du würdest es mir nicht glauben.«

Er blickte zur Bühne, ohne sie bewusst wahrzunehmen. Zwei Zwerge täuschten dort mit großer Akribie einen Kampf vor.

Also gut. Wenn es sich um eine politische Sache handelte, so ging es dabei um… Politik. In der Politik konnte er nicht viel unternehmen, woraus folgte: Er stellte sich die ganze Sache besser als ein Verbrechen vor…

Was war die einfache Lösung? Vielleicht sollte er hier die erste Regel der Polizeiarbeit anwenden: das Opfer verdächtigen. Allerdings wusste Mumm nicht genau, wer in diesem Fall das Opfer war. Also: den Zeugen verdächtigen. So lautete eine weitere gute Regel. Der inzwischen tote Dösig hätte die Steinsemmel stehlen und ihr Verschwinden erst einige Tage später »entdecken« können. Er wäre zu praktisch allem fähig gewesen. Die Art und Weise, wie die Semmel bewacht wurde, war ein Witz. Da hätten selbst Nobby und Colon bessere Arbeit geleistet. Sogar viel bessere, fügte Mumm in Gedanken hinzu, denn sie waren hinterhältig und deshalb Polizisten geworden. Die Wächter der Steinsemmel waren ehrenwerte Zwerge, und gerade solchen Leuten durfte man nichts anvertrauen. Für eine so wichtige Aufgabe brauchte man Personen mit der richtigen Mischung aus Schläue und Gemeinheit.

Andererseits ergab die Sache mit Dösig keinen Sinn. Der Verdacht musste sofort auf ihn fallen. Mit den Gesetzen der Zwerge kannte sich Mumm nicht sehr gut aus, aber er vermutete, dass ein Hauptverdächtiger kaum mit einer rosigen Zukunft rechnen durfte, vor allem dann, wenn sich keine andere Lösung des Falls anbot.

Vielleicht war er nach sechzig Jahren des Kerzenwechselns übergeschnappt. Nein, auch das klang nicht richtig. Wer einen solchen Job zehn Jahre lang ertrug, würde den Gleisen der Routine wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit folgen. Außerdem weilte Dösig jetzt in der großen Goldmine im Himmel oder tief im Boden, oder wo auch immer Zwerge das Paradies vermuteten. Er konnte keine Fragen mehr beantworten.

Ich bin in der Lage, diesen Fall zu lösen, dachte Mumm. Alles Notwendige war vorhanden. Es kam nur darauf an, die richtigen Fragen zu stellen und in den richtigen Bahnen zu denken.

Sein Mumm-Instinkt versuchte, ihm noch etwas anderes mitzuteilen.

Dies war ein Verbrechen – wenn man den Umstand, dass jemand ein Objekt als Geisel hielt, kriminell nennen konnte. Aber es handelte sich nicht in dem Sinne um das Verbrechen.

Es gab hier noch ein anderes Verbrechen. Mumm wusste es mit der gleichen Gewissheit, mit der ein Fischer am gekräuselten Wasser den Schwarm erkannte.

Auf der Bühne ging der Kampf weiter. Er kam nur langsam voran, weil er nach jeweils einigen vorsichtigen Axthieben für ein Lied unterbrochen wurde, bei dem vermutlich Gold im Mittelpunkt stand.

»Äh, worum geht es eigentlich?«, fragte er.

»Die Oper ist fast vorbei«, flüsterte Sybil. »Eigentlich wurde nur ein Teil aufgeführt, in dem die Steinsemmel gebacken wird, aber wenigstens haben sie die Geiselarie hinzugefügt. Mit der Hilfe von Skalt entkommt Eisenhammer aus dem Gefängnis, stiehlt die von Agi versteckte Wahrheit und verbirgt sie in der Semmel. Anschließend überredet er die Wächter am Lager von Blutaxt dazu, ihn passieren zu lassen. Die Zwerge glauben, die Wahrheit sei einst ein Gegenstand gewesen, eine Art seltenes Metall, und der letzte Teil davon steckt in der Semmel. Die Wächter können sich nicht widersetzen, weil die Wahrheit so mächtig ist. In dem Lied geht es darum, dass sich die Liebe – wie auch die Wahrheit – immer offenbart, so wie der Rest Wahrheit in der Semmel das ganze Objekt wahr werden lässt. Es ist eins der besten Musikstücke auf der ganzen Welt, und Gold wird darin kaum erwähnt.«

Mumm blinzelte. Er verlor schon den Überblick bei Liedern, die komplexer waren als solche mit Titeln wie »Wohin ist die ganze Vanille verschwunden (Aspik ist einfach kein Ersatz)?«

»Blutaxt und Eisenhammer«, murmelte er und merkte, dass ihm die in der Nähe sitzenden Zwerge verärgerte Blicke zuwarfen. »Welcher von ihnen…«

»Grinsi hat es dir doch gesagt. Es sind beides Zwerge«, erwiderte Sybil scharf.

»Ah«, brummte Mumm verdrießlich.

Was das anging, spürte er immer eine gewisse Unsicherheit. Es gab Männer, und es gab Frauen – so viel stand fest. Sam Mumm war ein sehr unkomplizierter Mann in dem, was manche Dichter als »Arena der Liebe«18 bezeichneten. Er wusste, dass es in den Schatten von Ankh-Morpork Leute gab, die ausgesprochen phantasievoll an diese Sache herangingen. Mumm begegnete dem Phänomen mit der gleichen Einstellung, die er einem fernen Land entgegenbrachte: Er war nie dort gewesen und von solchen Dingen nicht betroffen. Es erstaunte ihn, was sich manche Leute einfallen ließen, wenn sie Zeit hatten.

Er konnte sich kaum eine Welt ohne Karte vorstellen. Die Zwerge ignorierten den Sex nicht etwa; sie schienen ihn nur nicht für wichtig zu halten. Wenn Menschen auf die gleiche Weise denken würden, wäre Mumms Arbeit wesentlich einfacher.

Offenbar folgte nun eine Sterbebettszene. Mumm kannte nur ein paar Brocken Straßenzwergisch aus Ankh-Morpork, deshalb fiel es ihm schwer, den dargestellten Ereignissen zu folgen. Jemand starb, und jemand anders bedauerte das sehr. Beide Hauptsänger hatten Bärte, in denen man ein ganzes Huhn verstecken konnte. Ihre Schauspielerei beschränkte sich darauf, gelegentlich dem anderen Sänger zuzuwinken.

Überall um sich herum vernahm Mumm leises Schluchzen, und mehrere Nasen wurden recht laut geputzt. Selbst Sybils Unterlippe zitterte.

Mumm hätte am liebsten gesagt: Es ist doch nur ein Lied. Mit der Wirklichkeit hat es nichts zu tun. Verbrechen und Straßen und die Verfolgung von Schurken… Das ist die Realität. In Ankh-Morpork kommt ihr nicht weit, wenn ihr einem bewaffneten Wächter mit einem Brötchen zuwinkt…

Die Oper bekam jene Art von Applaus, die verriet, dass die Anwesenden nicht verstanden hatten, worum es ging, sich aber dazu verpflichtet fühlten, alles verstanden zu haben.

Nach der Aufführung bahnte sich Mumm einen Weg durch das Gedränge. Dee sprach mit einem in Schwarz gekleideten und kräftig gebauten jungen Mann, der irgendwie vertraut wirkte. Mumm schien auf ihn einen ähnlichen Eindruck zu machen, denn er nickte ihm ein wenig arrogant zu.

»Ah, Euer Gnaden Mumm«, sagte er. »Hat dir die Oper gefallen?«

»Besonders der Teil, der das Gold betraf«, erwiderte Mumm. »Und du bist…«

Der Mann schlug die Hacken zusammen. »Wolf von Überwald!«

Irgendetwas machte »Klick« hinter Mumms Stirn, und seine Augen nahmen Details wahr: die Schneidezähne ein wenig zu lang, das blonde Haar am Hals recht dicht…

»Anguas Bruder?«, fragte er.

»Ja, Euer Gnaden.«

»Wolf der Wolf, wie?«

»Danke, Euer Gnaden«, sagte Wolf würdevoll. »Das ist sehr komisch. Ja, wirklich! Schon seit langer Zeit habe ich diesen Witz nicht mehr gehört! Ankh-Morporks Sinn für Humor!«

»Aber du trägst Silber an deiner… Uniform. Diese… Abzeichen. Wolfsköpfe, die nach Blitzen schnappen…«

Wolf zuckte mit den Schultern. »Ah, so etwas fällt einem Polizisten natürlich sofort auf. Nun, es ist kein Silber, sondern Nickel.«

»Das Regiment kenne ich nicht.«

»Wir sind mehr eine… Bewegung«, sagte Wolf.

Auch die Haltung ähnelte der Anguas: eine selbstsichere Kämpfe-oder-Flucht-Pose; der ganze Körper wirkte wie eine gespannte Feder, deren Kraft sich jederzeit entladen konnte, und zwar ohne die Option »Flucht«. Wenn Angua schlechte Laune hatte, neigten Menschen in ihrer Nähe unbewusst dazu, den Kragen hochzuschlagen. Aber die Augen waren anders. Sie sahen nicht wie die Anguas aus, ließen sich nicht einmal mit den Augen eines Wolfs vergleichen.

Kein Tier hatte solche Augen. Aber Mumm hatte sie gelegentlich in Ankh-Morporks weniger gesunden Kneipen gesehen: Wenn man Glück hatte, kam man dort durch die Tür nach draußen, bevor der letzte Schluck einen blind werden ließ.

Colon nannte solche Leute »Flaschenbrut«, und Nobby sprach von »verdammten Irren«. Wie auch immer die Bezeichnung lauten mochte: Mumm erkannte einen Mistkerl, der keine Skrupel hatte, mit dem Kopf durch die Wand ging und nicht davor zurückschreckte, anderen Leuten die Augen auszukratzen. Bei einem Kampf blieb einem nichts anderes übrig, als ihn umzubringen, andernfalls würde er alles versuchen, um einen zu töten. Die meisten Randalierer in Kneipen gingen nicht so weit, denn inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass der Mörder eines Polizisten und seine Komplizen mit ziemlich unangenehmen Konsequenzen rechnen mussten. Aber ein echter Mistkerl scherte sich nicht darum, weil sich sein Gehirn an einem anderen Ort aufhielt, während er kämpfte.

Wolf lächelte. »Gibt es ein Problem, Euer Gnaden?«

»Was? Nein. Ich habe nur… nachgedacht. Sind wir uns schon einmal begegnet?«

»Heute Morgen hast du meinen Vater besucht.«

»Ah, ja.«

»Wir wechseln nicht immer die Gestalt, wenn Besucher kommen«, sagte Wolf. In seinen Augen flackerte nun ein orangenes Licht. Bisher hatte Mumm »glühende Augen« für eine Redewendung gehalten.

»Wenn du mich bitte entschuldigen würdest – ich muss mit dem Ideenschmecker sprechen«, sagte Mumm. »Über Politik.«

Dee folgte ihm in eine stille Ecke. »Ja?«

»Hat Dösig die Semmelhöhle jeden Tag zur gleichen Zeit aufgesucht?«

»Ich glaube schon. Es hing von seinen anderen Pflichten ab.«

»Also hat er sie nicht immer zur gleichen Zeit aufgesucht. Na schön. Wann findet der Wachwechsel statt?«

»Um drei Uhr.«

»Erreichte Dösig die Höhle vorher oder nachher?«

»Das hing von seinen anderen…«

»Meine Güte. Schreiben die Wächter alles auf?«

Dee starrte Mumm groß an. »Soll das heißen, er könnte die Höhle zweimal an einem Tag aufgesucht haben?«

»Ausgezeichnet. Nun, ich meine, das könnte der Fall gewesen sein. Ein Zwerg kommt allein mit einem Boot und bringt zwei Kerzen. Würden die Wächter großes Interesse an ihm zeigen? Und wenn ein anderer Zwerg eine Stunde später käme, nach dem Wachwechsel… Wäre das ein großes Risiko? Selbst wenn der andere Zwerg auffiele… Er brauchte nur etwas über… was weiß ich, schlechte Kerzen oder feuchte Dochte oder so zu murmeln.«

Dee blickte in die Ferne. »Es wäre trotzdem ziemlich gefährlich«, entgegnete er schließlich.

»Aber wenn der Dieb weiß, wann die Wache wechselt und wo sich der wahre Dösig aufhält… In dem Fall bleibt nur ein geringes Restrisiko. Und als Lohn winkt die Steinsemmel.«

Dee schauderte und nickte. »Morgen früh werden die Wächter befragt«, entschied er.

»Von mir.«

»Warum?«

»Weil ich weiß, mit welchen Fragen man Antworten bekommt. Wir richten hier ein Büro ein. Wir stellen fest, wer wann wo gewesen ist. Und wir reden mit den Wächtern. Auch mit denen am Tor. Wir stellen fest, wer gekommen und wer gegangen ist.«

»Du vermutest etwas, nicht wahr?«

»Nun, sagen wir, es formen sich gewisse Vorstellungen.«

»Ich… kümmere mich um alles.«

Mumm richtete sich auf und kehrte zu Lady Sybil zurück, die wie eine Insel in einem Meer aus Zwergen aufragte. Sie sprach mit einigen von ihnen, die Mumm zuvor auf der Bühne gesehen hatte.

»Wo bist du gewesen, Sam?«, fragte Sybil.

»Politik hat mich aufgehalten«, erwiderte Mumm. »Und der Umstand, dass ich meinem Instinkt vertraue. Kannst du sehen, wer uns beobachtet?«

»Ach, das Spiel?« Sybil lächelte zufrieden und fuhr in unverdächtigem Plauderton fort: »Praktisch alle. Aber wenn ich Preise verteilen müsste, würde ich die traurige Dame in der kleinen Gruppe links von dir in die engere Wahl ziehen. Sie hat Vampirzähne, Sam. Und sie trägt Perlen. Das eine passt nicht unbedingt zum anderen.«

»Siehst du Wolfgang?«

»Äh, nein. Da du es jetzt erwähnst… Eigentlich seltsam. Eben war er noch da. Hast du die Leute in Unruhe versetzt?«

»Vielleicht habe ich dazu beigetragen, dass sich die Leute gegenseitig in Unruhe versetzen«, sagte Mumm.

»Das freut mich für dich. Darauf verstehst du dich gut.«

Mumm drehte sich halb um, wie jemand, der sich einen Eindruck von der Umgebung verschaffen möchte. Zwischen den menschlichen Gästen wanderten Zwerge hin und her, bildeten einzelne Gruppen. Fünf oder sechs versammelten sich und sprachen aufgeregt miteinander. Dann ging einer fort und schloss sich einer anderen Gruppe an, während jemand anders seinen Platz in der ersten einnahm. Manchmal löste sich eine ganze Gruppe auf, und ihre Angehörigen stoben wie die Trümmer nach einer Explosion auseinander: Jeder von ihnen strebte in eine andere Richtung, um sich einer neuen Gruppe hinzuzugesellen.

Mumm gewann den Eindruck, dass sich eine Struktur hinter diesen Bewegungen verbarg, ein langsamer, zielstrebiger Tanz der Information. Schachtversammlungen, dachte er. Kleine Gruppen, denn für mehr reicht der Platz nicht aus. Und man spricht nicht zu laut. Und wenn die Gruppe entscheidet, wird jedes Gruppenmitglied zu einem Botschafter dieser Entscheidung. Die Nachricht breitet sich kreisförmig aus. Eine ganze Gesellschaft, die auf formellem Klatsch basiert.

Mit der gleichen Methode, so überlegte Mumm, konnte man die Frage diskutieren, ob zwei und zwei wirklich vier ergab. Nach langen Debatten und gründlichen Erwägungen mochte die Gruppe zu dem Schluss gelangen, dass zwei und zwei vier und ein bisschen ergab, außerdem vielleicht auch noch ein Ei.19

Manchmal blieb ein Zwerg stehen und starrte, bevor er den Weg fortsetzte.

»Man erwartet uns zum Essen«, sagte Sybil und nickte in Richtung einer hell erleuchteten Höhle. Die meisten Anwesenden strebten dorthin.

»Lieber Himmel. Bier schlabbern? Gebratene Ratten? Wo ist Detritus?«

»Dort drüben. Er spricht mit dem Kulturattaché von Gennua. Ich meine den Mann mit den glasigen Augen.«

Sie näherten sich und hörten, wie Detritus ziemlich wortreich erklärte:

»… und dann da ist ein großer Raum mit vielen Sitzen drin, und die Wände rot sind, und dicke goldene Babys eine Säule hinaufklettern, aber mach dir keine Sorgen, es nicht sind richtige Babys, sie nur bestehen aus Gips oder so…« Es entstand eine kurze Pause, als Detritus nachdachte. »Und ich auch nicht glaube, dass es ist richtiges Gold, denn irgendein Mistkerl es längst geklaut hätte… Und vor der Bühne es eine große Grube gibt, und da drin die Musiker sitzen. Und das alles wäre für diesen Raum. Im nächsten Zimmer viele Marmorsäulen stehen, und rote Teppiche auf dem Boden liegen…«

»Detritus?«, fragte Lady Sybil. »Du hast diesen Herrn doch nicht etwa mit Beschlag belegt, oder?«

»Nein, ich ihm erzähle alles über unsere Kultur in Ankh-Morpork«, erwiderte Detritus hochtrabend. »Ich jeden Zentimeter vom Opernhaus kenne.«

»Ja«, bestätigte der Kulturattaché von Gennua benommen. »Ich muss sagen, dass ich es gar nicht abwarten kann, die Kunstgalerie zu besuchen und…« Er schauderte. »… ›zu sehen das Bild der Frau, ich glaube, der Künstler nicht wusste, wie man malt ein richtiges Lächeln, aber der Rahmen sicher den einen oder anderen Blick wert ist.‹ Klingt nach einer überaus wichtigen Erfahrung.«

»Wisst ihr, ich nicht glaube, dass er versteht viel von Kultur«, sagte Detritus, als der Mann fortging.

»Glaubst du, jemand vermisst uns, wenn wir uns verdrücken?«, fragte Mumm und sah sich um. »Ein langer Tag liegt hinter uns, und ich möchte in aller Ruhe über bestimmte Dinge nachdenken…«

»Sam, du bist der Botschafter, und Ankh-Morpork ist eine Weltmacht«, erwiderte Sybil. »Wir können nicht einfach verschwinden! Die Leute würden darüber reden

Mumm stöhnte. Inigo hatte also Recht: Wenn Mumm niest, putzt sich Ankh-Morpork die Nase.

»Euer Exzellenz?«

Er blickte auf zwei Zwerge hinab.

»Der Niedere König wird dich jetzt empfangen«, sagte einer von ihnen.

»Äh…«

»Wir müssen offiziell vorgestellt werden«, flüsterte Lady Sybil.

»Was, auch Detritus?«

»Ja!«

»Aber er ist ein Troll!« Zu Anfang schien es eine gute und sehr lustige Idee gewesen zu sein.

Mumm spürte ein gewisses Bewegungsmuster in der Menge in der großen Höhle, eine Art Strömung, die zum rückwärtigen Teil der Kaverne führte und von der man sich erfassen lassen musste, ob man wollte oder nicht.

Der Niedere König saß auf einem kleinen Thron unter einem der Kronleuchter. Das metallene Dach über ihm war bereits mit Wachsstalaktiten verkrustet.

Um ihn herum standen vier recht große Zwerge, die misstrauisch wachten und mit ihren dunklen Brillen recht bedrohlich wirkten. Jeder von ihnen hielt eine Axt. Die ganze Zeit über starrten sie andere Leute an.

Der König sprach mit dem gennuanischen Botschafter. Mumm sah kurz zu Grinsi und Detritus. Plötzlich erschien es ihm nicht mehr als gute Idee, dass er ausgerechnet sie mitgenommen hatte. In seiner offiziellen Kleidung wirkte der König viel… distanzierter, wie jemand, der nur sehr schwer zufrieden zu stellen war.

Immer mit der Ruhe, dachte Mumm. Grinsi und Detritus sind Bürger von Ankh-Morpork. Sie machen nichts falsch. Und dann berichtigte er sich: In Ankh-Morpork machen sie nichts falsch.

Die Schlange der Wartenden geriet wieder in Bewegung. Sie hatten den König fast erreicht. Die Aufmerksamkeit der Wächter galt nun Detritus, und sie hielten ihre Äxte weniger entspannt als vorher. Detritus gab vor, es nicht zu bemerken.

»Dieser Ort noch viel kultureller ist als das Opernhaus«, sagte er und sah sich respektvoll um. »Die Kronleuchter bestimmt eine Tonne wiegen.«

Er hob die Hand, rieb sich den Kopf, betrachtete dann seine Finger.

Mumm blickte nach oben. Etwas Warmes, wie ein Regentropfen aus Butter, traf ihn an der Wange. Als er ihn fortwischte, bewegten sich Schatten…

Die Dinge geschahen mit sirupartiger Langsamkeit. Mumm sah es aus der Perspektive eines wenige Meter entfernt stehenden Beobachters. Der andere Mumm vor ihm gab Grinsi und Sybil einen Stoß, rief etwas, sprang dem König entgegen und hob den Zwerg vom Thron, als eine Axt seinen Rückenpanzer traf.

Und dann rollte er herum, mit einem zornigen Zwerg in den Armen, und der Kronleuchter war auf halbem Weg nach unten, und die Flammen der Kerzen wuchsen in die Länge, und dort stand Detritus und hob die Hände mit einem berechnenden Gesichtsausdruck…

Es folgte ein Moment der Unbewegtheit und Stille, als der Troll den herabfallenden Berg aus Licht auffing. Dann kehrte die normale Physik zurück, in einer explodierenden Wolke aus Zwergen, Trümmern, geschmolzenem Wachs und lodernden Kerzen.

 

Mumm erwachte in Dunkelheit. Er blinzelte und berührte seine Augen, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich offen waren.

Dann richtete er sich auf und stieß mit dem Kopf gegen Stein. Und dann gab es plötzlich Licht, gemeines gelbes und purpurnes Licht, das sein Leben ganz plötzlich füllte. Er legte sich wieder hin und wartete, bis der grelle, schmerzhafte Glanz verschwand.

Er begann mit einer persönlichen Bestandsaufnahme. Mantel, Helm, Schwert und Rüstung fehlten. Er trug nur noch Hemd und Kniehose. Zwar war es an diesem Ort nicht eiskalt, aber er zeichnete sich durch eine feuchte Kälte aus, die ihm bereits in die Knochen kroch.

Na schön…

Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis er ein Gefühl für die Zelle bekam. Er bewegte sich Zentimeter für Zentimeter und tastete dabei mit den Armen umher, wie jemand, der einen Nahkampf gegen die Dunkelheit führte.

In völliger Finsternis wurden die Sinne unzuverlässig. Vorsichtig folgte er dem Verlauf der Wand, dann dem einer anderen, entdeckte schließlich eine dritte, die seinen Fingern den Umriss einer kleinen Tür mit Klinke zeigte.

Schließlich kehrte er zur ersten Wand mit der Steinplatte zurück, auf der er zu sich gekommen war.

Die ganze Zeit über musste er den Kopf bis zur Brust senken. Mumm war kein sehr großer Mann. Wäre er größer gewesen, hätte er sich ummittelbar nach dem Erwachen den Schädel aufgeschlagen.

Ihm standen keine Maßbänder oder ähnliche Dinge zur Verfügung, deshalb half er sich mit seinem Polizistenschritt. Wenn er auf bestimmte Weise schlenderte, wusste er ganz genau, wie lange es dauerte, die Messingbrücke zu überqueren. Anschließend musste er ein wenig rechnen, was ihm angesichts des immer noch schmerzenden Kopfes nicht leicht fiel, und gelangte dann zu dem Ergebnis: Er befand sich in einem etwa neun Quadratmeter großen Raum.

Er entschied sich dagegen, »Hilfe! Hilfe!« zu rufen. Immerhin war dies eine Zelle. Jemand hatte ihn mit Absicht hier untergebracht. Es gab daher allen Grund zu der Annahme, dass die betreffende Person nicht an seiner Meinung interessiert war.

Einmal mehr tastete er sich einen Weg zur Steinplatte und legte sich hin. Dabei vernahm er ein leises Rasseln.

Mumm klopfte auf seine Hosentaschen und fand eine Schachtel, die noch drei Streichhölzer enthielt.

Er erinnerte sich an den Kronleuchter. Er glaubte, sich daran zu erinnern, wie Detritus das Ding aufgefangen hatte. Überall waren Schreie erklungen und Leute umhergelaufen, und der König in Mumms Armen hatte geflucht, wie nur ein Zwerg fluchen konnte. Und dann hatte ihn ein Schlag getroffen.

Ein Schmerz im Rücken erinnerte ihn an den Axthieb, und so etwas wie Nationalstolz regte sich in ihm. Der Rückenpanzer aus Ankh-Morpork hatte dem Hieb standgehalten! Zugegeben, wahrscheinlich war er in Ankh-Morpork von Zwergen aus Überwald mit aus Überwald-Eisen gewonnenem Stahl hergestellt worden, aber es war trotzdem ein Rückenpanzer aus Ankh-Morpork.

Auf der Steinplatte lag ein Kissen, in Überwald hergestellt. Als Mumm den Kopf drehte, hörte er ein leises Klacken. Solche Geräusche brachte er normalerweise nicht mit Federn in Verbindung.

In der Dunkelheit griff er nach dem beutelartigen Objekt und schaffte es, den dicken Stoff mit den Zähnen aufzureißen.

Wenn das, was er daraus hervorzog, einmal Teil eines Vogels gewesen war, so wollte er ihm lieber nicht begegnen. Es fühlte sich ganz wie Inigos Ein-Schuss-Armbrust an. Vorsichtig tastete Mumm nach dem einen Ende des Apparats und stellte fest, dass er geladen war.

Nur ein Schuss, erinnerte er sich. Aber ein Schuss, mit dem niemand rechnete… Die Waffe war bestimmt nicht von der Zahnfee im Kissen versteckt worden – es sei denn, sie hatte es in letzter Zeit mit einigen sehr schwierigen Kindern zu tun gehabt.

Mumm schob die Armbrust in den Beutel zurück, als er Licht bemerkte. Schwaches Glühen machte ein vergittertes Fenster in der Tür erkennbar, und dahinter zeichneten sich schattenhafte Gestalten ab.

»Bist du wach, Euer Gnaden! Dies ist sehr bedauerlich.«

»Dee?«

»Ja.«

»Bist du gekommen, um mir mitzuteilen, dass ein grässlicher Irrtum vorliegt?«

»Leider nein. Ich bin natürlich von deiner Unschuld überzeugt.«

»Wirklich?«, knurrte Mumm. »Ich auch. Ich bin sogar so von meiner Unschuld überzeugt, dass ich nicht einmal weiß, in welcher Hinsicht ich keine Schuld auf mich geladen habe! Lass mich frei, oder…«

»… oder du bleibst da drin, fürchte ich«, sagte Dee. »Es ist eine ziemlich stabile Tür. Du bist hier nicht in Ankh-Morpork, Euer Gnaden. Ich werde Lord Vetinari so bald wie möglich von deiner misslichen Lage unterrichten, aber soweit ich weiß, ist der Nachrichtenturm schwer beschädigt…«

»Meine missliche Lage besteht darin, dass du mich eingesperrt hast! Warum? Ich habe euren König gerettet.«

»Es gab einen… Konflikt.«

»Jemand ließ den Kronleuchter herabfallen!«

»Ja, das stimmt. Offenbar einer deiner Mitarbeiter.«

»Das ist ausgeschlossen, wie du sehr wohl weißt! Detritus und Kleinpo begleiteten mich, als…«

»Herr Schaumlöffel gehörte ebenfalls zu deinen Mitarbeitern, nicht wahr?«

»Er… Ja, aber… Ich… Er würde nicht…«

»Ich glaube, in Ankh-Morpork gibt es so etwas wie eine Assassinengilde«, sagte Dee ruhig. »Du kannst mich gern berichtigen.«

»Er war im Turm.«

»Im beschädigten Nachrichtenturm?«

»Er wurde beschädigt, bevor Schaumlöffel…« Mumm unterbrach sich. »Wieso sollte er den Turm außer Betrieb setzen wollen?«

»Ich habe nicht gesagt, dass er ihn außer Betrieb gesetzt hat«, erwiderte Dee noch immer ganz ruhig. »Außerdem, Euer Gnaden, heißt es, dass du ein Zeichen gegeben hast, kurz bevor der Kronleuchter fiel…«

»Was?«

»Du hast die Hand zur Wange gehoben oder etwas in der Art. Und unmittelbar darauf kam es zu dem Zwischenfall.«

»Das verdammte Ding schwankte! Hör mal, lass mich mit Schaumlöffel reden!«

»Hast du übernatürliche Kräfte, Euer Gnaden?«

Mumm zögerte. »Er ist tot?«

»Wir glauben, dass er sich im Mechanismus der Winde verfangen hat, als er den Kronleuchter aus seiner Verankerung löste. In seiner Nähe fanden wir drei tote Zwerge.«

»Er würde nicht…« Mumm unterbrach sich erneut. Natürlich würde er nicht. Aber er gehörte zu einer bestimmten Gilde in Ankh-Morpork, und das weißt du ganz genau.

Offenbar sah Dee seinen Gesichtsausdruck. »In der Tat. Es laufen gründliche Ermittlungen. Wer unschuldig ist, hat nichts zu befürchten.«

Der Hinweis, dass sie nichts zu befürchten haben, erfüllt die Herzen aller Unschuldigen mit garantiertem Schrecken.

»Was habt ihr mit Sybil angestellt?«

»Angestellt, Euer Gnaden? Nichts. Wir sind keine Barbaren. Über deine Frau haben wir nur das Beste gehört. Natürlich ist sie ziemlich außer sich.«

Mumm stöhnte. »Und Detritus und Kleinpo?«

»Nun, sie standen unter deinem Befehl, Euer Gnaden. Einer ist ein Troll, und der andere ist… auf gefährliche Weise anders. Genau aus diesem Grund stehen sie in deiner Botschaft unter Hausarrest. Wir respektieren die Traditionen der Diplomatie und wollen uns nicht nachsagen lassen, aus reiner Bosheit gehandelt zu haben.« Dee seufzte. »Und dann gibt es da natürlich noch die andere Angelegenheit…«

»Willst du mir auch den Diebstahl der Steinsemmel zur Last legen?«

»Du hast den König berührt.«

Mumm starrte verblüfft. »Wie bitte? Ein tausend Kilo schwerer Kerzenhalter fiel auf ihn herab!«

»Darauf wurde bereits hingewiesen…«

»Und ihr habt mich eingesperrt, weil ich ihn vor dem Mordanschlag bewahrte, den ich selbst geplant habe?«

»Hast du ihn geplant?«

»Nein! Das verdammte Ding kam herunter – was hätte ich denn sonst machen sollen? Vielleicht am Teppich ziehen?«

»Ja, ja, ich verstehe. Aber in dieser Hinsicht gibt es klare Präzedenzfälle. Als im Jahre 1345 der damalige König in einen See fiel, rührten ihn seine Mitarbeiter nicht an, und später wurde entschieden, dass sie richtig gehandelt hatten. Es ist verboten, den König zu berühren. Ich habe der Konklave erklärt, dass es in Ankh-Morpork andere Regeln gibt, aber wir sind hier nicht in Ankh-Morpork.«

»Daran brauchst du mich nicht zu erinnern!«

»Du bleibst unser… Gast, solange die Ermittlungen andauern. Man wird dir zu essen und zu trinken bringen.«

»Und Licht?«

»Natürlich. Entschuldige bitte. Wenn du von der Tür zurückweichen würdest… Die Wächter in meiner Begleitung sind bewaffnet und sehr… unkomplizierte Leute.«

Das Gitter im Fenster schwang auf, und eine Hand stellte einen glühenden Käfig auf den nahen Sims.

»Was ist das? Ein krankes Glühwürmchen?«

»Eine Art Käfer, ja. Er wird gleich heller werden. Wir sind an die Dunkelheit gewöhnt.«

»Hör mal, Dee«, sagte Mumm, als das Gitter wieder zuschwang, »du weißt doch, dass dies alles lächerlich ist! Ich habe keine Ahnung, was die Sache mit Herrn Schaumlöffel zu bedeuten hat, aber ich werde es herausfinden! Und die gestohlene Semmel. Ich bin ziemlich sicher, dass ich kurz vor einer Lösung des Falles stehe. Wenn du mich zur Botschaft zurückkehren lässt… Wohin könnte ich schon gehen?«

»Das möchten wir nicht herausfinden. Vielleicht kommst du zu dem Schluss, dass das Leben in Ankh-Morpork angenehmer ist.«

»Ach? Und wie könnte ich dorthin zurückkehren?«

»Vielleicht mit der Hilfe eines Freundes, von dem du gar nichts wusstest.«

Mumm dachte an die gemeine kleine Waffe im Kissen.

»Man wird dich nicht schlecht behandeln, so wie es unserer Tradition entspricht«, sagte Dee. »Du hörst von mir, sobald ich Neuigkeiten habe.«

»He…«

Doch Dee verschwand in einem dämmerigen Licht, das fast überhaupt nicht vorhanden war.

In Mumms Zelle gab sich der Glühkäfer alle Mühe, aber es gelang ihm nur, die Dunkelheit in eine Ansammlung aus grünlichen Schatten zu verwandeln. Man konnte herumgehen, ohne gegen die Wände zu stoßen, aber das war auch alles.

Ein Schuss, mit dem niemand rechnete.

Damit schaffte er es vermutlich, die Zelle zu verlassen. Und dann befand er sich in einem Korridor. Tief im Boden. In einer Welt der Zwerge.

Andererseits war es erstaunlich, wie sehr sich die Indizien gegen einen richten konnten, wenn Absicht dahinter steckte.

Aber Mumm war Botschafter! Wo blieb die diplomatische Immunität? Doch dieses Argument nützte einem kaum etwas, wenn man es mit unkomplizierten Leuten zu tun hatte, die über Waffen verfügten. Vielleicht kamen sie auf den Gedanken, ein kleines Experiment durchzuführen und herauszufinden, ob die diplomatische Immunität wirklich immun machte.

Ein Schuss, den niemand erwartete…

Etwas später rasselten Schlüssel, und die Tür wurde geöffnet. Mumm bemerkte die schemenhaften Gestalten von zwei Zwergen. Einer hielt eine Axt; der andere trug ein Tablett.

Der Zwerg mit der Axt bedeutete Mumm zurückzutreten.

Eine Axt war keine gute Idee, fand Mumm. Zwerge bevorzugten diese Waffe, aber in einem kleinen Raum ließ sich damit nur wenig anfangen.

Er hob die Hände und tastete unauffällig nach seinem Nacken, als der andere Zwerg langsam an die Steinplatte trat.

Diese Zwerge wirkten nervös. Vielleicht bekamen sie nur selten Menschen zu Gesicht. An diesen sollten sie sich erinnern.

»Möchtet ihr einen kleinen Trick sehen?«, fragte Mumm.

»Grz’dak?«

»Beobachtet dies«, sagte Mumm, brachte die Hände nach vorn und schloss die Augen, kurz bevor das Streichholz aufflammte.

Er hörte, wie die Axt zu Boden fiel, als ihr Besitzer versuchte, sich die Augen abzuschirmen. Das war ein unerwarteter Bonus, aber er hielt sich nicht damit auf, dem Gott der Verzweifelten zu danken. Mumm sprang vor, trat mit aller Kraft zu und vernahm ein schnaufendes »Uff«. Dann warf er sich in die Dunkelheit, die den anderen Zwerg enthielt, fand dort einen Kopf, drehte ihn und schlug ihn gegen die Wand.

Der erste Zwerg versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Mumm tastete in der Finsternis nach ihm, packte ihn an der Jacke und krächzte: »Jemand hat mir eine Waffe zugesteckt. Du solltest getötet werden. Denk daran. Ich hätte dich töten können.«

Er rammte dem Zwerg die Faust in den Bauch. Er hatte nicht genug Zeit, nach den Regeln des Marquis von Fantailler20 vorzugehen.

Dann drehte er sich um, nahm den kleinen Käfig mit dem Lichtkäfer und eilte zur Tür.

Dahinter erstreckte sich ein Gang, der nach links und rechts führte. Mumm zögerte lange genug, um Zugluft zu spüren, und wandte sich dann in die entsprechende Richtung.

Nach einigen Dutzend Metern fand er einen weiteren Käfig mit einem Glühkäfer. Er beleuchtete – wenn man diesen Ausdruck bei einem Licht verwenden durfte, das die Dunkelheit nur weniger schwarz werden ließ – eine große runde Öffnung, in der sich träge ein Ventilator drehte.

Die Flügel waren so langsam, dass sich Mumm problemlos zwischen ihnen hindurchschieben und die gesamte Schwärze dahinter erreichen konnte.

Jemand will mich tot, dachte er, als er sich an der nächsten unsichtbaren Wand entlangtastete, das Gesicht der Zugluft zugewandt. Ein Schuss, mit dem niemand rechnet… Aber jemand rechnet damit…

Wenn man einen Gefangenen aus dem Knast holen wollte, so gab man ihm einen Schlüssel oder eine Feile, aber keine Waffe. Ein Schlüssel öffnete ihm vielleicht die Tür zur Freiheit, doch eine Waffe bedeutete, dass man ihn tötete.

Mumm verharrte mit einem Fuß über Leere. Das Licht des Glühkäfers zeigte ihm ein Loch im Boden. Ein besonderes Saugen verriet Tiefe.

Er hielt den Käfig zwischen den Zähnen, trat einige Schritte zurück und schätzte die Entfernung völlig falsch ein. Jenseits des Loches gab es einen Aufprall, der jede einzelne Rippe erschütterte und beide Arme fest auf den Boden presste.

Zwischen Mumms Zähnen zischte ein wenig Ankh-Morpork-Humor.

Nach einer Weile kam er wieder zu Atem, stand auf und holte die kleine Armbrust hervor. Er zog den Auslöser und hörte, wie sich der Bolzen in den Boden bohrte. Dann warf er die Waffe in das Loch – sie fiel recht lange, begleitet von gelegentlichem Klappern – und setzte den Weg fort, das Gesicht weiterhin der kalten Luft zugewandt.

 

Dies war kein Tunnel mehr, sondern der Boden eines Schachtes. Im grünen Glühen bemerkte Mumm etwas, das sich in der Mitte angesammelt hatte.

Er berührte Schnee, und als er nach oben sah, schmolz eine Flocke auf seinem Gesicht. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Im Licht des Käfers zeichneten sich die Konturen einer Wendeltreppe ab, die an den Felswänden nach oben führte.

Das Wort »Treppe« erwies sich als recht großzügige Beschreibung. Beim Anlegen des Schachtes hatten die Zwerge Löcher ins Gestein geschlagen und dicke Balken hineingetrieben. Versuchsweise belastete Mumm einen oder zwei mit seinem Gewicht – sie schienen stabil genug zu sein. Wenn er vorsichtig war, sollte es ihm eigentlich gelingen, nach oben zu klettern…

Er hatte bereits eine recht große Strecke zurückgelegt, als ein Balken brach. Aus einem Reflex heraus streckte er die Hände aus und schaffte es, die nächste Strebe zu ergreifen. Das Holz war glitschig, bot kaum Halt. Der Käfig mit dem Lichtkäfer fiel in die Tiefe. Während Mumm hin und her schwang, sah er, wie das Glühen immer mehr verblasste. Es schrumpfte zu einem Punkt und verschwand dann ganz.

Unmittelbar darauf begriff er, dass er sich nicht hochziehen konnte. Seine Finger waren taub, und der Rest seines Lebens dauerte nur noch so lange, wie sie an dem feuchten Holz nicht den Halt verloren.

Vielleicht eine Minute.

Vermutlich gab es viele Dinge, die sich in einer Minute erledigen ließen, aber die Auswahl wurde sehr viel kleiner, wenn man die eigenen Hände nicht benutzen konnte, weil man über einem tiefen Abgrund hing.

Mumm fiel.

Einen Augenblick später prallte er auf den nächsten Balken, der sich daraufhin von der Wand verabschiedete.

Mensch und Holz fielen. Mit einem die Rippen krümmenden Pochen knallte Mumm auf die nächste Stufe, während die anderen in ihrer Nähe nachgaben. Er lag auf dem zitternden Balken und hörte, wie geborstene Bestandteile der »Treppe« in die dunkle Tiefe fielen.

»…!« Mumm wollte fluchen, doch der Aufprall hatte ihm die Luft aus den Lungen gepresst. Wie eine gefaltete Hose hing er auf der Strebe.

Es war ziemlich lange her, seit er zum letzten Mal geschlafen hatte. Dem Erwachen auf der Steinplatte in der Zelle war kein erholsamer, die Kräfte erneuernder Schlaf vorangegangen, sondern Bewusstlosigkeit aufgrund eines wuchtigen Schlags. Nach gewöhnlichem Schlaf fühlte sich der eigene Mund nicht so an, als hätte jemand Kleister hineingeschüttet.

Erst am Morgen dieses Tages war der neue Botschafter von Ankh-Morpork aufgebrochen, um seine Beglaubigungsschreiben zu präsentieren. Erst am Abend dieses Tages hatte Ankh-Morporks Polizeichef damit begonnen, einen einfachen kleinen Diebstahl aufzuklären. Und jetzt hing er Dutzende von Metern über dem Boden eines kalten, dunklen Schachts. Einige Zoll dickes, altes und brüchiges Holz trennte ihn von einer kurzen Reise ins Jenseits.

Er konnte nur hoffen, dass er in den entscheidenden Sekunden nicht sein ganzes Leben sah. Es gab darin einige Abschnitte, an die er sich lieber nicht erinnern wollte.

»Ah… Sir Samuel. Wie schade. Und dabei hat alles so gut für dich begonnen.«

Er öffnete die Augen. Mattes, purpurnes Licht von oben fiel auf Lady Margolotta. Sie saß in der Leere.

»Kann ich dich irgendwie aufmuntern?«, fragte sie.

Mumm schüttelte benommen den Kopf.

»Wenn du dich dadurch besser fühlst: Ich mache dies wirklich nicht gern«, sagte die Vampirin. »Es entsprach so sehr den… Erwartungen. Meine Güte. Der morsche Balken sieht nicht sehr…«

Holz knirschte, knackte und brach. Mumm landete auf der nächsten Strebe, alle viere von sich gestreckt, doch unmittelbar darauf brach sie ebenfalls, wie auch die anderen Stufen daneben. Die ausgestreckten Hände bekamen einmal mehr einen Balken zu fassen, und wieder baumelte Mumm.

Lady Margolotta schwebte würdevoll herab.

Unten donnerten die geborstenen Streben.

»Nun, rein theoretisch könntest du auf diese Weise lebend bis zum Grund des Schachtes gelangen«, sagte die Vampirin. »Allerdings fürchte ich, dass die hinuntergefallenen Balken viele andere Stufen zerstört haben.«

Mumm verlagerte sein Gewicht. Seine Finger rutschten nicht ab. Vielleicht schaffte er es diesmal, sich in die Höhe zu ziehen…

»Ich wusste, dass du dahinter steckst«, brummte er und versuchte mit reiner Willenskraft, ein wenig Leben in die Schultermuskeln zurückzuzwingen.

»Nein, das stimmt nicht. Aber du wusstest, dass die Steinsemmel nicht gestohlen wurde.«

Mumm starrte zu der seelenruhig schwebenden Gestalt. »Die Zwerge würden nicht glauben, dass…« Der Balken ruckte kurz – eine Bewegung, die unglücklichen Passagieren mitteilte, dass gleich eine Landung bevorstand.

Lady Margolotta schwebte etwas näher. »Ich weiß, dass du Vampire verabscheust«, sagte sie. »Das ist durchaus normal für deinen Persönlichkeitstyp. Es geht dabei um den… Penetrationsaspekt. Aber wenn ich in der gegenwärtigen Situation an deiner Stelle wäre, so würde ich mich fragen: Verabscheue ich Vampire wirklich so sehr?«

Sie streckte die Hand aus.

»Nur ein Biss, und alle meine Probleme sind gelöst, wie?«, knurrte Mumm.

»Ein Biss wäre ein Biss zu viel, Sam Mumm.«

Das Holz knackte. Lady Margolotta griff nach Mumms Handgelenk.

Wäre er imstande gewesen, darüber nachzudenken, so hätte Mumm damit gerechnet, jetzt an einem Vampir zu baumeln. Stattdessen schwebte er.

»Du solltest jetzt besser nicht loslassen«, sagte Margolotta, als sie sanft durch den Schacht aufstiegen.

»Ein Biss wäre einer zu viel?«, wiederholte Mumm. Der Spruch klang vertraut. »Du bist… abstinent?«

»Inzwischen seit fast vier Jahren.«

»Überhaupt kein Blut?«

»O doch. Von Tieren. Für sie ist es nicht ganz so schlimm wie geschlachtet zu werden, oder was meinst du? Natürlich werden sie dadurch ziemlich sanftmütig, aber eine Kuh hat ohnehin kaum Aussicht, jemals den Preis für den besten Denker des Jahres zu gewinnen. Ich bin nicht mehr nass, Herr Mumm.«

»Trocken«, brachte Mumm hervor. »Es heißt: Ich bin trocken. Und es ersetzt wirklich menschliches Blut?«

»So wie Limonade Alkohol ersetzt. Glaub mir. Außerdem kann ein intelligenter Kopf etwas… anderes finden.« Die Wände des Schachtes blieben unter ihnen zurück, und eiskalte Luft umgab sie, stach sofort durch Mumms Hemd. Sie schwebten ein wenig zur Seite, und dann wurde Mumm in knietiefem Schnee abgesetzt.

»Eine der besseren Eigenschaften der Zwerge besteht darin, dass sie nur selten etwas Neues versuchen und das Alte nie aufgeben«, sagte die Vampirin und verharrte über dem Schnee. »Du warst nicht schwer zu finden.«

»Wo bin ich hier?« Mumm sah sich um. Überall ragten Felsen und Bäume auf, von Schnee umhüllt.

»In den Bergen, ein ganzes Stück von der Stadt entfernt, in entgegengesetzter Richtung, Herr Mumm. Auf Wiedersehen.«

»Du willst mich einfach so zurücklassen?«

»Wie bitte? Du hast dich zur Flucht entschlossen. Ich bin überhaupt nicht hier. Ein Vampir, der sich in die Angelegenheiten der Zwerge einmischt? Undenkbar! Nun, sagen wir… Es gefällt mir, wenn die Chancen gleich verteilt sind.«

»Es ist kalt! Und ich habe nicht einmal einen Mantel! Was willst du?«

»Du bist frei, Herr Mumm. Strebt nicht jeder nach Freiheit? Sollte nicht ein angenehm warmer Schein von ihr ausgehen?«

Lady Margolotta verschwand im Schnee.

Mumm zitterte. Erst jetzt begriff er, wie warm es unter Tage gewesen war. Außerdem musste er sich eingestehen, dass er das Zeitgefühl verloren hatte. Schwaches Licht zeigte sich. War es kurz nach Sonnenuntergang oder kurz vor dem Morgengrauen?

Eisiger Wind wehte, und Schneeflocken sammelten sich auf seiner feuchten Kleidung.

Freiheit konnte tödlich sein.

Eine Unterkunft. Das war wichtiger als alles andere. Ein Toter konnte mit exakten Informationen über Zeit und Ort nichts anfangen. Tote wussten immer, wo sie sich befanden und dass es zu spät war.

Er entfernte sich vom Schacht und wankte in den Wald, wo der Schnee weniger hoch war. Schwaches Licht ging davon aus, noch schwächer als das eines kranken Glühkäfers – die fallenden Schneeflocken schienen das Licht aus der Luft zu absorbieren.

Mit Wäldern konnte Mumm nicht viel anfangen. Bisher waren es für ihn nur Dinge gewesen, die man gelegentlich am Horizont sah. Wäre er jemals bereit gewesen, über sie nachzudenken, hätte er sie sich als eine Ansammlung von Bäumen vorgestellt, die wie Pfähle aufragten, unten braun, oben buschig und grün.

Hier gab es Unebenheiten aller Art und dunkle Zweige, die sich unter dem Gewicht des Schnees nach unten neigten und knackten. Gelegentlich fielen Schneeklumpen herab und erzeugten einen weiteren Schauer aus kalten Kristallen, wenn der von seiner Last befreite Zweig nach oben schnellte.

Nach einer Weile glaubte Mumm, eine Art Weg zu erkennen, oder zumindest eine etwas breitere, von Schnee bedeckte Fläche. Er folgte dem Verlauf des hypothetischen Pfades, wenn auch nur deshalb, weil sich keine Alternativen anboten. Der warme Schein der Freiheit hielt nicht lange vor.

Mumm hatte Stadtaugen. Er wusste, wie Polizisten sie entwickelten. Wenn ein Neuling in der Stadtwache nur einen kurzen Blick auf die Straße warf, dann lernte er, und wenn er nicht schnell lernte, so sammelte er schon bald große Erfahrung im Sterben. Wer eine Zeit lang in den Straßen von Ankh-Morpork unterwegs gewesen war, nahm aufmerksam alle Details zur Kenntnis, bemerkte Schatten, sah Vordergrund und Hintergrund und jene Leute, die versuchten, weder im einen noch im anderen sichtbar zu sein. Angua nahm die Straßen auf diese Weise wahr. Sie arbeitete daran.

Alte Hasen unter den Wächtern – sogar Nobby, wenn er einen guten Tag hatte – brauchten eine Straße nur einmal kurz zu sehen, um alles zu erkennen.

Vielleicht gab es auch… Landaugen. Oder Waldaugen. Mumm sah Bäume, kleine Hügel, Schnee und sonst kaum etwas.

Der Wind wurde stärker und begann zwischen den Bäumen zu heulen. Die Schneeflocken stachen nun.

Bäume. Zweige. Schnee.

Mumm trat nach einem Haufen neben dem Weg. Schnee rieselte von dunklen Kiefernnadeln. Er sank auf Hände und Knie, kroch nach vorn.

Ah…

Es war noch immer kalt, und ein wenig Schnee lag auf den heruntergefallenen Nadeln, aber die unteren Zweige formten eine Art Zeltdach. Mumm gratulierte sich zu seinem Glück. Hier drin wehte kein Wind, und entgegen aller Vernunft schien der Schnee darüber alles wärmer zu machen. Es roch sogar warm… ein Geruch von… Tieren…

Drei Wölfe lagen träge um den Baumstamm und beobachteten Mumm interessiert.

Zuvor hatte die Kälte versucht, ihn erstarren zu lassen. Das Entsetzen war erfolgreicher.

Wölfe!

Und das war es auch schon. Es ergab ebenso viel Sinn zu sagen: Schnee! Oder: Wind! Sowohl vom einen als auch vom anderen ging derzeit tödliche Gefahr aus.

Irgendwo hatte er gehört, dass Wölfe nicht angriffen, wenn man sie anstarrte.

Das Problem war: Er würde bald einschlafen. Er spürte, wie sich die Müdigkeit immer mehr in ihm ausdehnte. Er konnte nicht mehr richtig denken, und jeder Muskel schmerzte.

Draußen ächzte der Wind. Und Seine Gnaden der Herzog von Ankh schlief ein.

Er erwachte mit einem Schnaufen und, zu seiner großen Überraschung, mit allen Armen und Beinen. Ein kalter Tropfen, durch seine Körperwärme vom Schneedach über ihm geschmolzen, rann ihm über den Hals. Seine Muskeln schmerzten nicht mehr. Die meisten von ihnen konnte er überhaupt nicht mehr fühlen.

Und die Wölfe waren fort. Auf der gegenüberliegenden Seite des improvisierten Baus hatten Pfoten den Schnee zertreten. Licht strömte herein, so grell, dass Mumm stöhnte.

Das Tageslicht kam von einem Himmel, der blauer war, als ihn Mumm jemals zuvor gesehen hatte, so blau, dass er im Zenit purpur zu werden schien. Er trat nach draußen in eine Welt, deren weißer Mantel knirschte und glänzte.

Der Sonnenschein fühlte sich warm an, die Luft war kalt, und der Atem kondensierte.

Eigentlich sollten Leute in der Nähe sein. Mumm wusste nicht genau über ländliche Dinge Bescheid, aber sollte es im Wald nicht Köhler, Holzfäller und… er versuchte, sich zu erinnern… kleine Mädchen geben, die ihrer Großmutter irgendetwas brachten? Die Geschichten, die Mumm als Kind gehört hatte, berichteten von Wäldern, in denen reger Betrieb herrschte und wo gelegentlich Schreie erklangen. Doch hier war alles still.

Mumm schlug eine Richtung ein, die nach unten führte – das erschien ihm angemessen. Nahrung gewann jetzt immer mehr an Bedeutung. Er hatte noch zwei Streichhölzer und konnte ein Feuer anzünden, wenn er eine zweite Nacht in den Bergen verbringen musste, doch die Appetithäppchen beim Empfang lagen schon eine ganze Weile zurück.

Hier stapft Ankh-Morpork über und durch den Schnee…

Nach einer halben Stunde erreichte er ein kleines Tal, wo ein Bach zwischen zwei eisverkrusteten Ufern plätscherte. Dampf stieg auf.

Das Wasser war warm.

Mumm folgte dem Verlauf des Baches. An beiden Ufern verliefen Spuren von Tieren. Hier und dort sammelte sich das Wasser in tiefen Mulden und roch nach faulen Eiern. Gefrierender Dampf hatte die blattlosen Büsche in der Nähe mit Eis überzogen.

Nahrung konnte warten. Mumm streifte die Kleidung ab und stieg in einen der tieferen Tümpel. Das Wasser war so heiß, dass er unwillkürlich aufschrie, aber dann streckte er sich darin aus.

Gab es so etwas nicht oben in Nichtsfjord? Er hatte Geschichten gehört. Die Leute dort nahmen heiße Dampfbäder, und anschließend liefen sie durch den Schnee und schlugen sich gegenseitig mit Scheiten aus Birkenholz. Oder etwas in der Art. Auch wenn es noch so dämlich war – irgendein Ausländer war irgendwo damit befasst.

Bei den Göttern, es fühlte sich herrlich an. Heißes Wasser bedeutete Zivilisation. Mumm spürte, wie die Wärme die Steifheit in seinen Muskeln schmelzen ließ.

Nach einigen Minuten platschte er zum Ufer, kramte in seiner Kleidung und entdeckte schließlich ein zerdrücktes Zigarrenpäckchen. Nach den Ereignissen der vergangenen vierundzwanzig Stunden enthielt es einige Dinge, die wie fossile Zweige aussahen.

Er hatte zwei Streichhölzer.

Ach, und wenn schon. Jeder konnte mit einem Streichholz ein Feuer anzünden.

Mumm streckte sich wieder im Wasser aus. Eine gute Entscheidung. Er spürte, wie er wieder zu sich selbst fand. Die Wärme gab ihm neue Kraft und vertrieb den Dunst der Benommenheit…

»Ah, Euer Gnaden…«

Wolf von Überwald saß am gegenüberliegenden Ufer. Er war splitternackt, und Dampf stieg von ihm auf, als hätte er gerade Sport getrieben. Seine Muskeln glänzten wie geölt – ein Eindruck, der vermutlich nicht täuschte.

»Laufen im Schnee ist großartig, nicht wahr?«, sagte Wolf freundlich. »Du scheinst wirklich bemüht zu sein, dir die Traditionen von Überwald anzueignen, Euer Gnaden. Lady Sybil lebt, ist bei bester Gesundheit und kann zur Stadt zurückkehren, sobald die Pässe wieder frei sind. Es erleichtert dich sicher, das zu hören.«

Andere Gestalten näherten sich durch den Wald, Männer und Frauen. Sie alle waren nackt und ebenso unbefangen wie Wolf.

Mumm begriff, dass seine Stunde geschlagen hatte. Er sah es in Wolfs Augen. »Ein heißes Bad vor dem Frühstück tut wirklich gut«, sagte er.

»Ah, ja. Auch wir haben noch nicht gefrühstückt«, erwiderte Wolf. Er stand auf, streckte sich – und sprang mit einem Satz über den Tümpel hinweg. Auf der anderen Seite griff er nach Mumms Hose und durchsuchte sie.

»Ich habe Inigos verdammtes Ding weggeworfen«, sagte Mumm. »Ich glaube nicht, dass es ein Freund im Kissen versteckt hat.«

»Es ist alles Teil des großen Spiels, Euer Gnaden«, meinte Wolf. »Mach dir nichts draus! Die Stärksten überleben, und so sollte es auch sein!«

»Dee hat dies geplant, nicht wahr?«

Wolf lachte. »Der liebe kleine Dee? Oh, er hatte einen Plan. Es war ein guter kleiner Plan, wenn auch ein wenig verrückt. Zum Glück brauchen wir ihn nicht mehr!«

»Du möchtest, dass die Zwerge in den Krieg ziehen?«

»Stärke ist gut«, sagte Wolf und faltete Mumms Kleidung sorgfältig zusammen. »Aber wie einige andere gute Dinge bleibt sie nur dann gut, wenn sie nicht zu vielen Personen zur Verfügung steht.« Er warf die Kleidungsstücke so weit wie möglich fort.

»Was willst du jetzt von mir hören, Euer Gnaden?«, fuhr Wolf fort. »Vielleicht etwas in der Art von ›Du wirst sterben, und deshalb kann ich dir ruhig alles erklären?‹«

»Nun, das wäre nicht schlecht«, sagte Mumm.

»Du wirst sterben.« Wolf lächelte. »Warum hältst du nicht einen kleinen Vortrag?«

Dadurch gewinne ich Zeit, dachte Mumm. Vielleicht trafen die Holzfäller und Köhler bald ein. Wenn sie ihre Äxte nicht mitbrachten, würden sie mit ihm zusammen in große Schwierigkeiten geraten.

»Ich bin… ziemlich sicher, warum die Nachbildung der Steinsemmel in Ankh-Morpork gestohlen wurde«, begann Mumm. »Und ich glaube fast, dass eine Kopie davon angefertigt wurde. Vermutlich gelangte sie mit einer unserer Kutschen hierher – das Gepäck von Diplomaten wird nicht durchsucht.«

»Bravo.«

»Unglücklicherweise kam Igor zur Kutsche, als einer deiner Jungs die Kopie holen wollte.«

»Oh, es ist schwer, einen Igor zu verletzen!«

»Es ist dir völlig gleich, stimmt’s?«, fragte Mumm. »Einige Zwerge wollen Albrecht auf dem Thro… auf der Semmel, um an den Gewissheiten der guten alten Zeit festzuhalten, und du möchtest, dass die Zwerge gegeneinander kämpfen. Und der alte Albrecht bekommt nicht einmal die richtige Steinsemmel zurück!«

»Nun, sagen wir, dass Albrechts Anhänger und ich derzeit gemeinsame Interessen haben«, entgegnete Wolf.

Aus den Augenwinkeln sah Mumm, wie die anderen Werwölfe sich am Ufer des Tümpels verteilten.

»Und dann hast du dafür gesorgt, dass mir alles in die Schuhe geschoben wurde«, sagte er. »Eine recht dilettantische Angelegenheit. Aber auch beeindruckend, denn Dee blieb nicht viel Zeit, als er dachte, dass eine Lösung des Falls kurz bevorstand. Es hätte auch geklappt. Die Leute sind keine guten Augenzeugen. Das weiß ich. Sie glauben, was sie sehen wollen und was andere Leute angeblich gesehen haben. Und dann die Sache mit der kleinen Ein-Schuss-Armbrust. Er muss wirklich gehofft haben, dass ich jemanden umbringen würde, um zu entkommen…«

»Wird es nicht Zeit für dich, den… Tümpel zu verlassen?«, fragte Wolfgang.

»Du meinst, ich soll das Bad beenden?«, erwiderte Mumm, und ja: Wolf zuckte leicht zusammen. Oh, du gehst aufrecht und sprichst, mein Junge, und du bist stark wie ein Ochse. Aber in einer Mischung aus Mensch und Wolf gibt es auch Elemente eines Hundes.

»Wir haben hier einen uralten Brauch«, sagte Wolf und wandte den Blick ab. »Wir legen großen Wert darauf. Jeder kann uns herausfordern. Es ist eine kleine… Jagd. Das große Spiel! Ein Wettkampf, wenn du so willst. Wer schneller ist als wir, bekommt vierhundert Kronen. Das ist ziemlich viel Geld! Ein Mann kann sich damit selbständig machen. Aber wenn der Betreffende nicht schneller ist als wir… Nun, die dürfte klar sein, dass sich die Frage des Geldes dann kaum mehr stellt!«

»Hat euch irgendwann einmal jemand geschlagen?«, fragte Mumm. Wo bleibt ihr denn, Holzfäller? Die Leute brauchen Holz!

»Manchmal geschieht das tatsächlich. Wenn jemand trainiert und das Land gut kennt! In Bums gibt es einige erfolgreiche Männer, die ihren Start im Leben unserem kleinen Brauch verdanken. In deinem Fall… Wir geben dir einen Vorsprung von, nun, einer Stunde. Damit du wenigstens eine geringe Chance hast.« Wolf streckte den Arm aus. »Fünf Meilen in diese Richtung, und du erreichst Bums. Die Regeln schreiben vor, dass du erst dort ein Gebäude betreten darfst.«

»Und wenn ich nicht laufe?«

»Dann wird diese Angelegenheit nur wenig Zeit in Anspruch nehmen! Wir mögen Ankh-Morpork nicht. Wir wollen nicht, dass du hier bist!«

»Wie seltsam«, sagte Mumm.

Wolf runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Oh, es ist nur… Überall in Ankh-Morpork gibt es Leute aus Überwald. Zwerge, Trolle, Menschen. Alle arbeiten fleißig und schreiben Briefe nach Hause, in denen es heißt: Hier ist es großartig; niemand kommt auf den Gedanken, einen bei lebendigem Leibe zu fressen.«

Wolf kräuselte die Lippen und entblößte einen Schneidezahn. Mumm hatte diesen Ausdruck auch in Anguas Gesicht gesehen. Er bedeutete, dass sie schlechte Laune hatte. Und bei Werwölfen konnte die schlechte Laune ziemlich lang andauern.

Er gab seinem Glück einen Stoß – es war ganz offensichtlich zu schwach, um sich aus eigener Kraft zu bewegen. »Angua geht es gut…«

»Mumm! Herr Zivilisiert! Ankh-Morpork! Du wirst laufen

Mumm hoffte, dass ihn die Beine trugen, als er ganz langsam aus dem Tümpel auf den Schnee am Ufer kletterte. Die Werwölfe lachten.

»Du gehst angezogen ins Wasser?«

Mumm blickte auf seine tropfnassen Beine. »Hast du noch nie eine Unterhose gesehen?«

Erneut kräuselten sich Wolfs Lippen. Triumphierend sah er zu den anderen. »Seht nur – das ist Zivilisaton!«, sagte er.

Mumm paffte Leben in seine Zigarre zurück und sah möglichst hochmütig über die kalte weiße Landschaft.

»Vierhundert Kronen, hast du gesagt?«, fragte er.

»Ja!«

Mumm richtete erneut einen arroganten Blick auf den Wald. »Wie viel ist das in der Währung von Ankh-Morpork? Etwa anderthalb Dollar?«

»Das spielt überhaupt keine Rolle!«, donnerte Wolf.

»Nun, ich möchte nicht das ganze Geld hier ausgeben müssen…«

»Lauf!«

»Unter diesen Umständen erübrigt sich wohl die Frage, ob du das Geld dabeihast.«

Mumm wanderte fort von den Werwölfen, dankbar dafür, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnten. Die Haut an seinem Rücken kribbelte und hätte sich am liebsten gelöst, um nach vorn zu kriechen.

Er ging weiter ganz ruhig, während die nasse Unterhose in der kalten Luft zu knistern begann – bis er sicher sein konnte, dass er außer Sichtweite des Rudels war.

So, mal sehen… Sie sind stärker. Sie kennen dieses Land. Und wenn sie so gut sind wie Angua, können sie einem Furz selbst durch das Frühstück eines Stinktiers folgen. Außerdem schmerzen deine Beine.

Und die Pluspunkte? Nun, du hast Wolf sehr verärgert.

Mumm lief los.

Von vielen Pluspunkten konnte hier wohl kaum die Rede sein.

Mumm lief schneller.

In der Ferne heulten Wölfe.

 

Es heißt: Wenn man als Streikposten steht, wird es nicht besser.

Korporal Nobbs – besser gesagt: Gildenpräsident C. W. St. J. Nobbs – dachte darüber nach. Früher Schnee zischte in der Luft über der metallenen Tonne, die vor dem Wachhaus stand und nach anerkannter Streiktradition rot glühte.

Ein großes Problem war, dass es in philosophischer Hinsicht irgendwie verkehrt erschien, vor einem Gebäude, das ohnehin niemand betreten wollte, Streikposten aufzustellen. Es ist unmöglich, Leute aus etwas herauszuhalten, in das sie gar nicht hineinwollen.

Der Sprechchor funktionierte nicht. Eine Alte hatte Nobbs einen Cent gegeben.

»Colon, Colon, Colon! Raus! Raus! Raus!«, rief Reg Schuh fröhlich und winkte mit seinem Transparent.

»Das klingt nicht richtig, Reg«, sagte Nobby. »Es hört sich fast nach einer Operation an.«

Er sah zu den anderen Transparenten. Dorfl hielt ein besonders großes, das in kleiner Schrift ausführlich alle Beschwerden schilderte, auf Vorschriften der Wache verwies und diverse philosophische Texte zitierte. Obergefreiter Schuhs Sandwich-Plakat verkündete: »Was nützet es dem Königreich, wenn man herauslässt die Luft aus dem Ochsen? Rätsel II, Vers 3.«

Aus irgendeinem Grund gelang es diesen stichhaltigen Argumenten nicht, die Stadt in die Knie zu zwingen.

Nobbs drehte sich um, als eine Kutsche heranrollte. Das Wappen an ihrer Seite bestand zum größten Teil aus einem schwarzen Schild. Darüber blickte Lord Vetinari aus dem Fenster.

»Ah, niemand anders als Korporal Nobbs«, sagte der Patrizier.

An dieser Stelle hätte Nobby ziemlich viel dafür gegeben, doch jemand anders zu sein als Korporal Nobbs.

Er wusste nicht genau, ob er als Streikender salutieren sollte. Er salutierte trotzdem, einfach deshalb, weil es sicher nicht schaden konnte.

»Wie ich hörte, verweigerst du die Arbeit«, fuhr Lord Vetinari fort. »In deinem Fall muss das ziemlich schwer sein.«

Nobby war nicht sicher, was er von diesem Satz halten sollte. Wie dem auch sei: Der Patrizier wirkte recht freundlich.

»Kann nicht tatenlos zusehen, wenn es um die Sicherheit der Stadt geht, Herr«, sagte er. Verletzte Loyalität quoll aus jeder unverstopften Pore.

Lord Vetinari zögerte lange genug, um Nobby Gelegenheit zu geben, die Geräusche einer Stadt zu hören, die sich ständig am Rand einer Katastrophe bewegte.

»Nun, es käme mir natürlich nie in den Sinn, mich einzumischen«, sagte er schließlich. »Dies ist eine Gildenangelegenheit. Seine Gnaden versteht das bestimmt, wenn er zurückkehrt.« Er klopfte an die Seite der Kutsche. »Weiterfahren.«

Und die Kutsche rollte davon.

Ein Gedanke, der sich schon seit einer ganzen Weile in Nobbs regte, wählte genau diesen Moment, um ihm einen metaphorischen Ellenbogen in die mentalen Rippen zu bohren.

Herr Mumm wird durchdrehen. Bestimmt rastet er völlig aus.

Lord Vetinari lehnte sich in seinem Sitz zurück und lächelte.

»Äh, hast du das ernst gemeint, Herr?«, fragte der Sekretär Drumknott.

»Natürlich. Gegen drei Uhr soll die Küche Kakao und Brötchen zum Wachhaus schicken. Natürlich anonym. An diesem Tag hat es keine Verbrechen gegeben, Drumknott. Das ist sehr ungewöhnlich. Selbst die Diebesgilde hält sich zurück.«

»Ja, Herr. Der Grund dafür ist mir ein Rätsel. Wenn die Katze aus dem Haus ist…«

»Ja, Drumknott, aber Mäuse machen sich keine Sorgen um die Zukunft. Ganz im Gegensatz zu Menschen. Und sie wissen, dass Mumm in einer Woche oder so zurückkehren wird, Drumknott. Und Mumm wird nicht glücklich sein. Nein, ganz bestimmt nicht. Und wenn ein Kommandeur der Wache unglücklich ist, neigt er dazu, sein Unglück mit einer großen Schaufel überall zu verteilen.«

Er lächelte erneut. »In einer solchen Zeit halten es vernünftige Leute für besser, ehrlich zu sein, Drumknott. Ich hoffe nur, dass Colon dumm genug ist, es dabei zu belassen.«

Es schneite stärker.

 

»Wie schön der Schnee ist, Schwestern…«

Drei Frauen saßen am Fenster ihres einsamen Hauses und sahen in das Weiß des Überwald-Winters hinaus.

»Und wie kalt der Wind ist«, sagte die zweite Schwester.

Die dritte und jüngste Schwester seufzte. »Warum reden wir immer übers Wetter?«

»Worüber sollten wir denn sonst reden?«

»Nun, entweder es ist eiskalt oder brütend heiß. Ich meine, das wär’s auch schon.«

»So sind die Dinge bei Mutter Überwald«, sagte die älteste Schwester langsam und streng. »Der Wind und der Schnee und die brütende Hitze im Sommer…«

»Weißt du, wenn wir den Kirschgarten abschaffen, könnten wir eine Rollschuhbahn anlegen…«

»Nein.«

»Oder einen Wintergarten. Es wäre möglich, Ananas anzubauen.«

»Nein.«

»Wenn wir dieses Haus verkaufen, könnten wir uns von dem Erlös eine Wohnung in Bums zulegen…«

»Dies ist unser Zuhause, Irina«, sagte die älteste Schwester. »Ein Heim verlorener Illusionen und enttäuschter Hoffnungen…«

»Dann könnten wir tanzen gehen und so.«

»Ich weiß noch, als wir in Bums gewohnt haben«, meinte die zweite Schwester verträumt. »Damals war das Leben besser.«

»Damals war alles besser«, sagte die älteste Schwester.

Die jüngste Schwester seufzte, sah aus dem Fenster – und schnappte nach Luft. »Dort läuft ein Mann durch den Kirschgarten!«

»Ein Mann? Was könnte er wollen?«

Die jüngste Schwester sah genauer hin. »Es scheint, er möchte eine… Hose.«

»Ah«, sagte die zweite Schwester verträumt. »Die Hosen waren damals besser.«

 

Das Rudel verharrte in einem kalten blauen Tal, als das Heulen die Luft erfüllte. Angua eilte zum Schlitten, zog mit der Schnauze ihren Kleiderbeutel aus dem Gepäck, warf Karotte einen kurzen Blick zu und verschwand hinter den Schneewehen. Einige Augenblicke später kehrte sie zurück und knöpfte sich die Bluse zu.

»Wolfgang hat irgendeinen armen Teufel dazu gebracht, sich auf das Spiel einzulassen«, sagte sie. »Ich werde der Sache einen Riegel vorschieben. Es war schon schlimm genug, dass Vater diese Tradition fortgesetzt hat, aber wenigstens hielt er sich dabei an die Gebote der Fairness. Wolfgang mogelt. Er verliert nie

»Handelt es sich um das Spiel, von dem du mir erzählt hast?«

»Ja. Wie ich schon sagte: Vater respektierte die Regeln. Wenn ein Läufer schnell und flink genug war, so bekam er vierhundert Kronen, und Vater lud ihn zum Essen ins Schloss ein.«

»Und wenn er verlor, fraß dein Vater ihn im Wald.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst.«

»Ich habe versucht, nicht nett zu sein.«

»Vielleicht verfügst du in dieser Hinsicht über ein bisher unentdecktes natürliches Talent«, sagte Angua. »Niemand musste laufen – darauf wollte ich hinaus. Rechtfertigungen liegen mir fern. Immerhin bin ich Polizistin in Ankh-Morpork gewesen. Das inoffizielle Motto der Stadt lautet: Vielleicht wirst du nicht getötet.«

»Nun, eigentlich lautet es…«!

»Ich weiß, Karotte. Und unser Familienmotto lautet: Homo Homini Lupus. ›Jeder Mensch ist dem anderen Menschen ein Wolf.‹ Wie dumm. Soll das etwa heißen, dass Menschen scheu, zurückhaltend und loyal sind und nur töten, um sich Nahrung zu beschaffen? Natürlich nicht! Es soll heißen, dass sich Menschen anderen Menschen gegenüber wie Menschen verhalten, und je schlimmer sie sind, desto mehr gefällt ihnen die Vorstellung, ein Wolf zu sein! Menschen hassen Werwölfe, weil sie den Wolf in uns sehen, aber Wölfe hassen uns, weil sie den Menschen in uns erkennen – und ich kann es ihnen nicht verdenken!«

 

Mumm wandte sich von dem Bauernhaus ab und sprintete zur nahen Scheune. Bestimmt gab es dort etwas. Selbst zwei Säcke würden genügen. Die kratzenden Eigenschaften von steif gefrorener Unterwäsche können sehr unterschätzt werden.

Seit einer halben Stunde lief er, eigentlich seit fünfundzwanzig Minuten. Die anderen fünf Minuten hatte er damit verbracht, zu humpeln, zu schnaufen, sich die Hand auf die Brust zu pressen und zu fragen, welche Symptome auf einen Herzanfall hindeuteten.

Das Innere der Scheune sah… scheunenartig aus. Mumm erblickte Heustapel, verstaubte landwirtschaftliche Instrumente… und zwei abgenutzte Säcke an einem Haken. Dankbar griff er nach einem.

Hinter ihm öffnete sich die Tür mit einem leisen Knarren. Er wirbelte herum, drückte den Sack an sich und sah drei sehr ernst gekleidete Frauen, die ihn misstrauisch beobachteten. Eine von ihnen hielt ein Küchenmesser in der zitternden Hand.

»Bist du gekommen, um uns zu vergewaltigen?«, fragte sie.

»Verehrteste! Werwölfe verfolgen mich!«

Die drei sahen sich an. Mumm hatte plötzlich den Eindruck, dass der Sack viel zu klein war.

»Äh, dauert das den ganzen Tag?«, fragte eine der Frauen.

Mumm drückte den Sack noch fester an sich. »Meine Damen! Ich bitte euch! Ich brauche dringend eine Hose!«

»Das sehen wir.«

»Und eine Waffe. Und Stiefel, wenn ihr welche habt! Bitte!«

Die Frauen steckten die Köpfe zusammen.

»Wir haben die traurige und nutzlose Hose von Onkel Wanja«, sagte eine skeptisch.

»Er trug sie nur selten«, meinte eine andere.

»Und ich habe eine Axt in meinem Wäscheschrank«, sagte die Jüngste. Sie richtete einen schuldbewussten Blick auf die beiden anderen Frauen. »Nur für den Fall, wisst ihr. Ich hatte natürlich nicht vor, damit jemanden niederzuschlagen

»Ich wäre euch sehr dankbar«, sagte Mumm. Er betrachtete die gute, aber alte Kleidung, die verblasste Vornehmheit, und spielte dann seinen einzigen Trumpf aus. »Ich bin Seine Gnaden der Herzog von Ankh, obwohl das derzeitig nicht unbedingt auf den ersten Blick erkennbar ist…«

Die drei Frauen seufzten gleichzeitig.

»Ankh-Morpork!«

»Dort gibt es ein wundervolles Opernhaus und prächtige Galerien.«

»Und herrliche Straßen!«

»Ein wahres Paradies der Kultur, der Eleganz und ungebundenen Männer von Format!«

»Äh, ich meine Ankh-Morpork«, betonte Mumm. »Mit einem A und einem M.«

»Wir haben immer davon geträumt, die Stadt zu besuchen.«

»Unmittelbar nach meiner Heimkehr lasse ich euch drei Kutschenfahrkarten schicken«, versprach Mumm. Er glaubte bereits zu hören, wie der Schnee unter schnellen Pfoten knirschte. »Aber, teure Damen, wenn ihr mir jene Dinge holen könntet…«

Sie eilten fort. Nur die Jüngste zögerte ein wenig länger an der Tür.

»Gibt es lange kalte Winter in Ankh-Morpork?«, fragte sie.

»Nur Dreck und Schneematsch, normalerweise.«

»Und habt ihr irgendwelche Kirschgärten?«

»Nein, ich glaube nicht, bedaure sehr.«

Sie hob die Faust. »Jaaa!«

Einige Minuten später war Mumm allein in der Scheune. Er trug eine alte schwarze Hose, mit einem Seil um die Taille geschnürt, und in der rechten Hand hielt er eine überraschend scharfe Axt.

Ihm blieben vielleicht noch fünf Minuten. Wölfe verloren bestimmt keine Zeit damit, über Herzanfälle und dergleichen nachzudenken.

Mumm sah keinen Sinn darin, einfach wegzulaufen. Seine Gegner waren viel schneller. Er musste in der Nähe der Zivilisation und ihrer Gütesiegel wie zum Beispiel Hosen bleiben.

Vielleicht war die Zeit auf Mumms Seite. Angua sprach nur selten über ihre Heimat, aber sie hatte einmal auf Folgendes hingewiesen: In jeder Gestalt verlor ein Werwolf langsam die Fähigkeiten der anderen Gestalt. Nach einigen Stunden auf zwei Beinen war Anguas Geruchssinn nicht mehr phänomenal, nur noch gut. Und wer zu lange ein Wolf blieb… war wie trunken, soweit Mumm wusste. Ein kleiner Teil des eigenen Selbst versuchte nach wie vor, Anweisungen zu geben, doch der Rest verhielt sich dumm. Der menschliche Teil verlor an Kontrolle.

Erneut sah er sich in der Scheune um. Eine Leiter führte zum Heuboden empor. Er kletterte hinauf und blickte durch ein glasloses Fenster über die schneebedeckte Weide. In der Ferne bemerkte er einen Fluss und etwas, das wie ein Bootshaus aussah.

Nun, wie dachte ein Werwolf?

 

Die Werwölfe wurden langsamer, als sie das Gebäude erreichten. Der Anführer nickte einem Mitglied des Rudels zu, das daraufhin zum Bootshaus lief. Die anderen folgten Wolf in die Scheune. Der letzte verwandelte sich kurz in einen Menschen, um die Tür zu verriegeln.

In der Mitte der Scheune blieb Wolf stehen. Heu lag auf dem Boden verstreut.

Er kratzte vorsichtig mit einer Pfote, und einige Büschel rutschten von einem straff gespannten Seil.

Wolf holte tief Luft. Die anderen Werwölfe spürten, was nun geschah, und wandten den Blick ab. Es folgte ein Moment wirrer Gestaltlosigkeit, und dann erhob sich Wolf auf zwei Füßen, blinzelte dabei im Morgengrauen der Menschlichkeit.

Das ist interessant, dachte Mumm auf dem Heuboden. Für ein oder zwei Sekunden nach dem Gestaltwechsel wissen sie nicht recht, was um sie herum geschieht…

»Oh, Euer Gnaden«, sagte Wolf und sah sich um. »Eine Falle? Wie… zivilisiert.«

Er sah Mumm oben am Fenster.

»Was wolltest du damit erreichen, Euer Gnaden?«

Mumm bückte sich und griff nach der Öllampe. »Sie sollte als Ablenkung dienen.«

Er warf die Lampe ins trockene Heu und ließ die brennende Zigarre folgen. Dann nahm er die Axt und kletterte aus dem Fenster, als sich das verschüttete Öl mit einem Wumm entzündete.

Mumm landete im tiefen Schnee und lief zum Bootshaus.

Eine andere Spur, die nicht von einem Menschen stammte, führte dorthin. Er stieß die Tür auf, schlug mit der Axt nach der Dunkelheit dahinter und wurde mit einem kurzen Jaulen belohnt.

Das Boot in dem verfallenen Schuppen war zu einem Viertel mit dunklem Wasser gefüllt, aber er wagte es noch nicht, mit dem Schöpfen zu beginnen. Er griff nach den staubigen Riemen, ruderte mit beträchtlicher Anstrengung und nicht sehr schnell auf den Fluss hinaus.

Kurze Zeit später stöhnte er. Wolf lief lässig über den Schnee, gefolgt von den anderen. Es schien niemand zu fehlen.

Wolf wölbte die Hände trichterförmig vor dem Mund. »Sehr zivilisiert, Eure Gnaden! Aber weißt du, wenn du eine Scheune anzündest, in der sich Wölfe befinden, so geraten sie in Panik, Euer Gnaden! Und wenn es Werwölfe sind, öffnet einer von ihnen die Tür! Werwölfe kann man nicht töten, Herr Mumm!«

»Sag das dem im Bootshaus!«, rief Mumm, als die Strömung das Boot erfasste.

Wolf blickte kurz in die Schatten, und dann formten seine Hände erneut einen Trichter. »Er wird sich erholen, Herr Mumm!«

Mumm fluchte leise, als er entgegen seiner Hoffnungen beobachtete, wie zwei Wölfe flussaufwärts ins Wasser sprangen und zum anderen Ufer schwammen. Aber so verhielten sich Hunde. Draußen warfen sie sich voller Vergnügen ins Wasser, doch daheim fürchteten sie ein Bad.

Wolfgang lief am Ufer entlang, und die beiden schwimmenden Wölfe erreichten die andere Seite des Flusses. Die Verfolger befanden sich jetzt rechts und links von Mumm.

Doch die Strömung ließ das Boot schneller werden. Mumm begann, mit beiden Händen Wasser zu schöpfen.

»Du bist langsamer als der Fluss, Wolf!«, rief er.

»Und wenn schon, Herr Mumm! Darauf kommt es nicht an. Die interessanteste Frage lautet: Was stellt der Wasserfall mit dir an? Bis später, Herr Zivilisiert!«

Mumm sah sich um. In der Ferne schien eine Art perspektivischer Streich den Fluss abgeschnitten zu haben. Als er sich konzentrierte, hörte das innere Ohr des Schreckens dumpfes Donnern.

Rasch griff er wieder nach den Rudern und versuchte, das Boot flussaufwärts zu bewegen. Er kam tatsächlich gegen die Strömung voran, aber er konnte nicht schneller rudern, als die Wölfe liefen. Und sich zwei Werwölfen zum Kampf zu stellen, die am Ufer warteten, und wohl kaum überrascht werden konnten… Das kam gewiss nicht in Frage.

Wenn er jetzt sofort den Wasserfall hinter sich brachte, erreichte er dessen Ende vielleicht vor Wolf und den anderen.

Der Satz klang nicht gut, nicht einmal in Gedanken.

Er ließ die Ruder los und zog das Vertäuungsseil zu sich heran. Wenn ich zwei Schlaufen knüpfe, dachte er, könnte ich mir die Axt am Rücken festbinden…

Er stellte sich vor, was mit einem Mann geschah, der in den Hexenkessel eines Wasserfalls geriet und dabei einen scharfen Metallgegenstand am Leib trug…

GUTEN MORGEN.

Mumm blinzelte. Eine große, in einen dunklen Umhang gehüllte Gestalt saß plötzlich im Boot.

»Bist du der Tod?«

ES LIEGT AN DER SENSE, NICHT WAHR? DEN LEUTEN FÄLLT IMMER DIE SENSE AUF.

»Sterbe ich?«

VIELLEICHT.

»Vielleicht? Du erscheinst, wenn jemand vielleicht stirbt?«

JA. DAS IST JETZT GANZ NEU. WEGEN DES UNSICHERHEITSPRINZIPS.

»Was ist das denn?«

ICH BIN NICHT SICHER.

»Ein sehr nützlicher Hinweis.«

ICH GLAUBE, ES BEDEUTET, DASS JEMAND VIELLEICHT ODER VIELLEICHT AUCH NICHT STIRBT. NATÜRLICH BRINGT ES MEINEN TERMINKALENDER VÖLLIG DURCHEINANDER, ABER ICH VERSUCHE, MODERN ZU SEIN.

Das dumpfe Donnern klang jetzt weniger dumpf. Mumm streckte sich im Boot aus und schloss die Hände um die Kanten.

Ich spreche mit dem Tod, dachte er. Um mich abzulenken.

»Habe ich dich nicht letzten Monat gesehen, als ich Größer-als-der-kleine-Dave Dave über die Pfirsichblütenstraße verfolgte und dabei vom Sims fiel?«

DAS STIMMT.

»Aber ich landete auf dem Karren. Ich kam nicht ums Leben.«

DU HÄTTEST STERBEN KÖNNEN.

»Aber ich dachte, für jeden von uns gibt es eine Sanduhr, die Auskunft über den genauen Zeitpunkt des Todes gibt.«

Das Donnern gewann nun eine fast physische Qualität. Mumm schloss die Hände noch fester um die beiden Kanten.

O JA, bestätigte der Tod. DU HAST VÖLLIG RECHT.

»Dann müsstest du doch wissen, ob ich jetzt sterbe oder nicht.«

OH, DU WIRST STERBEN. DARAN KANN ÜBERHAUPT KEIN ZWEIFEL BESTEHEN.

»Aber eben hast du gesagt…«

JA, ES IST EIN BISSCHEN SCHWER ZU VERSTEHEN. OFFENBAR GIBT ES DA ETWAS, DAS MAN HOSE DER ZEIT NENNT, WAS MIR SEHR SELTSAM ERSCHEINT, DENN DIE ZEIT BRAUCHT DOCH EIGENTLICH GAR KEINE…

Das Boot kippte.

Mumm spürte, wie Wasser mit einem ohrenbetäubenden Lärm auf ihn einschlug, und es folgte ein markerschütterndes Dröhnen, als das Boot unten auf den Teich prallte. Er kehrte zu dem zurück, was unter den gegebenen Umständen als Oberfläche galt, wurde von der Strömung erfasst und gegen einen Felsen geschleudert. Eine halbe Sekunde später rollte er herum und fühlte sich von weiß schäumendem Wasser mitgerissen.

Er schlug wild mit den Armen um sich, bekam einen anderen Felsen zu fassen und zog sich in einen Bereich relativer Ruhe. Als er dort versuchte, wieder zu Atem zu kommen, sah er einen grauen Schemen von Stein zu Stein springen. Und dann bekam Mumm eine weitere Dosis Entsetzen ab, als der Wolf knurrend neben ihm landete.

Verzweifelt klammerte er sich fest, als das Geschöpf danach trachtete, ihn zu beißen. Eine Pfote rutschte auf dem glitschigen Stein aus, und die plötzlichen Schwierigkeiten bewirkten eine automatische Reaktion: Der Werwolf schickte sich an, die Gestalt zu wechseln…

Der Wolf schien zu schrumpfen, während an der gleichen Stelle ein Mensch größer zu werden versuchte. In einem kurzen schrecklichen Augenblick durchdrangen sich die beiden Gestalten.

Dann folgten ein oder zwei Sekunden jener Verwirrung, die Mumm schon einmal bemerkt hatte.

Die Zeit genügte für ihn, den Kopf des Mannes mit der ganzen Kraft, die er aufbringen konnte, gegen den Stein zu schmettern. Mumm glaubte, ein Knacken zu hören.

Dann glitt er in die Strömung zurück und ließ sich von ihr forttragen, beschränkte seine Bemühungen darauf, an der Oberfläche zu bleiben. Er bemerkte Blut im Wasser. Nie zuvor hatte er jemanden mit bloßen Händen getötet. Um ganz ehrlich zu sein: Nie zuvor hatte er absichtlich jemanden umgebracht. Gelegentlich war jemand gestorben, denn wenn Leute übers Dach rollen und versuchen, sich gegenseitig zu erdrosseln, entscheidet allein der Zufall, wer beim Aufprall auf den Boden oben liegt. Doch das war etwas anderes – mit dieser festen Überzeugung ging er jeden Abend zu Bett.

Ihm klapperten die Zähne, und das grelle Licht der Sonne schmerzte in seinen Augen. Trotzdem fühlte er sich… gut.

Am liebsten hätte er auf seine eigene Brust getrommelt und geschrien.

Sie hatten versucht, ihn zu töten!

Sorg dafür, dass sie Wölfe bleiben, sagte eine innere Stimme. Je mehr Zeit sie auf vier Beinen verbringen, desto dümmer werden sie. Und eine andere Stimme, rot und rau und viel tiefer in seinem Innern, sagte: Bring sie alle um!

Der Zorn brodelte und brannte heißer, kämpfte gegen die Kälte an.

Mumms Füße berührten den Boden.

Der Fluss wurde hier so breit, dass er eine Art See formte. Ein breiter Eiskeil ging vom Ufer aus, hier und dort von Schnee bedeckt. Nach Schwefel riechende Nebelschwaden zogen darüber hinweg.

Klippen ragten auf der anderen Seite des Flusses empor. Ein einzelner Werwolf, zuvor Begleiter des Geschöpfes, das nun in der Strömung trieb, beobachtete Mumm vom nächsten Ufer aus. Wolken schoben sich vor die Sonne, und es schneite wieder. Große, faserige Flocken fielen.

Mumm watete zum Eis und versuchte, sich dort aus dem Wasser zu ziehen. Doch die gefrorene Masse knackte bedrohlich, dünne Risse bildeten sich und formten ein Zickzackmuster.

Der Wolf kam näher und bewegte sich mit großer Vorsicht. Mumm unternahm einen neuerlichen Versuch, woraufhin sich eine Eisplatte löste und sich so plötzlich zur Seite neigte, dass er ins Wasser zurückrutschte und darin verschwand. Der Wolf wartete einige Sekunden, wagte sich dann einige weitere Zentimeter übers Eis vor und knurrte, als feine Risse Sterne unter seinen Pfoten formten.

Ein Schatten glitt unter dem Eis dahin. Von einem Augenblick zum anderen spritzte Wasser, als Mumm die dünne Eisschicht unter dem Werwolf durchbrach, ihn packte und sich zurückfallen ließ.

Eine Kralle kratzte über Mumms Seite, aber er ließ sich davon nicht beirren, drückte mit Armen und Beinen so fest wie möglich zu, als sie unter dem Eis dahintrieben. Er wusste, dass die Sache auf einen verzweifelten Test der Lungenkapazität hinauslief, aber er hatte wenigstens Zeit genug gehabt, tief Atem zu holen. Er hielt den Wolf fest, während das Wasser in seinen Ohren dröhnte und das Geschöpf trat und kratzte. Und dann, als er entweder loslassen oder ertrinken musste, stieß er seinen Gegner von sich und tauchte auf.

Nichts schlug nach ihm. Er brach sich einen Weg durch das Eis zum Ufer, sank dort auf Hände und Knie und übergab sich.

Überall um ihn herum heulte es in den Bergen.

Mumm sah auf. Blut rann ihm über die Arme. Die Luft stank nach verfaulten Eiern. Und dort, auf einem etwa eine Meile entfernten Hügel, stand der Nachrichtenturm… mit Steinwänden und einer Tür, die sich verriegeln ließ…

Taumelnd setzte er sich in Bewegung. Der Schnee unter ihm wich bereits Grasbüscheln und Moos. Die Luft war wärmer, aber es war die klamme Hitze von Fieber. Mumm sah sich um und begriff, wo er sich befand.

Vor ihm erstreckte sich eine Landschaft aus nacktem Boden und Felsen. Hier und dort bewegte sich etwas und machte »Blup«.

Wohin er auch blickte: Überall gab es große Geysire. Ringe aus erstarrtem gelben Fett umgaben zischende kleine Tümpel – es war so alt und ranzig, dass nicht einmal Sam Mumm sein Brot hineingetunkt hätte, es sei denn, er wäre sehr hungrig gewesen. Er bemerkte sogar schwimmende schwarze Brocken, die sich bei genauerem Hinsehen als Insekten herausstellten, die bei der Konfrontation mit heißem Fett nicht schnell genug gelernt hatten.

Mumm erinnerte sich an einen Hinweis Igors. Wenn Zwerge an den oberen Schichten arbeiten, wo das Fett vor Jahrtausenden zu einer Art Talg geronnen war, so fanden sie manchmal seltsame Tiere, die vollkommen erhalten und perfekt durchgebraten waren.

Welch ein Festschmaus, dachte Mumm und lachte aus reiner Erschöpfung.

Mwahahaa.

Es schneite stärker, und das Zischen der Fetttümpel wurde lauter.

Mumm sank auf die Knie. Sein ganzer Körper schmerzte, nicht nur deshalb, weil sein Gehirn Schecks ausstellte, die der Leib nicht einlösen konnte. Er war längst über dieses Stadium hinaus. Derzeit borgten sich die Füße Geld, das den Beinen fehlte, und die Rückenmuskeln suchten unter den Sofakissen nach einigen vergessenen Münzen.

Hinter ihm zeigte sich nichts. Die anderen Werwölfe mussten doch inzwischen den Fluss überquert haben.

Dann sah er einen, der wie aus dem Nichts erschien. Ein anderer trat hinter einer Schneewehe hervor.

Sie saßen einfach da und beobachteten ihn.

»Kommt schon!«, rief Mumm. »Worauf wartet ihr?«

Um ihn herum zischten und blubberten die Fetttümpel. Es war warm hier. Wenn sich die Werwölfe nicht von der Stelle rührten, so konnte er ebenfalls verharren und ein wenig ausruhen.

Er richtete den Blick auf einen Baum am Rand der Geysire. Das Ding wirkte mehr tot als lebendig, und einige Fettfladen hingen an den unteren Ästen. Andererseits schien er einem Kletterer keine zu großen Probleme zu bereiten. Mumm konzentrierte sich darauf, schätzte die Entfernung ab und überlegte, wie schnell er laufen konnte.

Die Werwölfe drehten die Köpfe und sahen ebenfalls zu dem Baum.

Ein weiterer Wolf erreichte die Lichtung an einer anderen Stelle. Jetzt beobachteten ihn drei.

Mumm begriff, dass sie erst dann laufen würden, wenn er ebenfalls lief. Andernfalls machte es keinen Spaß.

Er zuckte mit den Schultern, wandte sich vom Baum ab… drehte sich dann mit einem Ruck um und lief los. Auf halbem Weg fürchtete er, dass sein Herz durch den Hals nach oben kriechen würde, aber er lief weiter, sprang unbeholfen, bekam einen Ast zu fassen, rutschte ab, stand keuchend wieder auf, griff erneut nach dem Ast und schaffte es schließlich, sich in die Höhe zu ziehen. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass sich spitze Zähne durch seine Haut bohrten.

Er saß auf schmierigem Holz. Die Werwölfe hatten sich nicht von der Stelle gerührt und beobachteten ihn interessiert.

»Verdammte Mistkerle«, knurrte Mumm.

Die Wölfe gaben ihre abwartende Haltung auf und näherten sich dem Baum vorsichtig, ohne Eile. Mumm kletterte noch etwas weiter nach oben.

»Ankh-Morpork! Herr Zivilisiert! Wo sind deine Waffen, Ankh-Morpork?«

Es war Wolfgangs Stimme. Mumms Blick glitt über die Schneewehen, zwischen denen die Schatten bereits dichter wurden, als sich der Nachmittag dem Ende entgegenneigte.

»Ich habe zwei von euch erwischt!«, rief er.

»Ja, und bestimmt leiden sie eine Zeit lang an Kopfschmerzen! Wir sind Werwölfe, Ankh-Morpork! Man kann uns kaum aufhalten!«

»Du hast gesagt…«

»Euer Herr Müde konnte wesentlich schneller laufen als du, Ankh-Morpork!«

»Schnell genug?«

»Nein! Und der Mann mit dem kleinen schwarzen Hut konnte besser kämpfen als du!«

»Gut genug?«

»Nein!«, rief Wolfgang fröhlich.

Mumm knurrte. Selbst Assassinen verdienten keinen solchen Tod. »Bald geht die Sonne unter!«

»Ja! Ich habe gelogen, was das angeht!«

»Na schön. Weck mich morgen früh. Ich könnte ein wenig Schlaf gebrauchen!«

»Du wirst erfrieren, zivilisierter Mensch!«

»Gut!« Mumm sah zu den anderen Bäumen. Selbst wenn er auf einen anderen springen konnte: Es waren ausnahmslos Nadelbäume, in denen er ziemlich schmerzhaft landen würde, und die kaum Halt boten.

»Ah, das ist sicher der berühmte Ankh-Morpork-Humor.«

»Nein, es war nur Ironie«, erwiderte Mumm und hielt noch immer nach einem luftigen Fluchtweg Ausschau. »Zu dem berühmten Ankh-Morpork-Humor kommen wir, wenn ich anfange, über Brüste und furzen zu reden, du aufgeblasener Armleuchter!«

Welche Möglichkeiten standen ihm zur Verfügung? Er konnte im Baum bleiben und sterben oder laufen und sterben. Der Tod in einem Stück erschien ihm besser.

FÜR EINEN MANN IN DEINEM ALTER BEHAUPTEST DU DICH ERSTAUNLICH GUT.

Tod saß auf einem höheren Ast im Baum.

»Folgst du mir, oder was?«

SIND DIR DIE WORTE »DER TOD WAR SEIN STÄNDIGER BEGLEITER« VERTRAUT?

»Aber normalerweise sehe ich dich nicht!«

VIELLEICHT HAT DEIN BEWUSSTSEIN EINE HÖHERE AUFMERKSAMKEITSSTUFE ERREICHT, VERURSACHT VON MANGEL AN NAHRUNG, SCHLAF UND BLUT.

»Wirst du mir helfen?«

ÄH… JA.

»Wann?«

ÄH, WENN DER SCHMERZ UNERTRÄGLICH WIRD. Tod zögerte kurz und fügte dann hinzu: ICH NEHME AN, DU HAST DIR EINE ANDERE ANTWORT ERHOFFT.

Die Sonne, groß und rot, stand jetzt dicht über dem Horizont.

Ein Wettlauf mit der Sonne… Das war ein weiteres Spiel in Überwald. Sicher daheim zu sein, bevor die Sonne unterging…

Eine halbe Meile oder etwas mehr, durch tiefen Schnee und einen Hang hinauf.

Leichte Erschütterungen kündigten an, dass jemand am Baum emporkletterte. Mumm sah nach unten. Im kalten blauen Glühen zog sich ein nackter Mann lautlos von Ast zu Ast.

Mumm fühlte sich von neuerlichem Zorn erfasst. Das war unfair!

Unten erklang ein leises Stöhnen, als der Kletterer ausrutschte und dann wieder Halt fand.

WIE FÜHLST DU DICH UNTER DEN GEGENBENEN UMSTÄNDEN?

»Sei still! Selbst wenn du nur eine Halluzination bist!«

Es musste doch irgendetwas an den Werwölfen geben, das er zu seinem Vorteil nutzen konnte. Wenn er nur wüsste, was…

Keine Waffen. Das hatte er im Schloss bemerkt. In normalen Schlössern wimmelte es geradezu davon: Speere, Streitäxte, absurd wirkende Rüstungen, große alte Schwerter…

Selbst bei Vampiren hingen Rapiere an den Wänden und zwar deswegen, weil Vampire manchmal eine Waffe benutzen mussten.

Bei Werwölfen lag der Fall anders. Auch Angua zögerte, bevor sie nach einem Schwert griff. Für einen Werwolf war eine Waffe immer die zweite Wahl.

Mumm presste die Beine gegeneinander und schwang um den Ast, als der Werwolf nach oben kam. Er traf ihn am Ohr, und als der Bursche den Kopf hob, fing er sich einen weiteren Hieb gegen die Nase ein.

Der Mann holte zu einem Schlag aus, der vielleicht das Ende gewesen wäre – wenn er sich nicht gleichzeitig noch ein wenig höher gezogen hätte, wodurch er in Reichweite von Mumms Ellenbogen geriet.

Dieser verdiente es, kursiv hervorgehoben zu werden. Bei vielen Straßenkämpfen hatte er triumphiert. Schon früh in seiner beruflichen Laufbahn hatte Mumm gelernt, dass die Friedhöfe voller Leute waren, die die Schriften des Marquis von Fantailler gelesen hatten. Bei einem Kampf ging es vor allem darum, so schnell wie möglich zu verhindern, dass der Gegner einen schlug. Niemand strebte danach, Punkte zu erzielen. Mumm hatte unter Umständen gekämpft, bei denen die freie Nutzung der Hände an Luxus grenzte, doch es war erstaunlich, was man mit einem gut gezielten Ellenbogenstoß erreichen konnte – erst recht dann, wenn er zudem auf die Hilfe eines Knies zurückgreifen konnte.

Er rammte den Ellenbogen in die Kehle des Werwolfs und wurde mit einem schrecklichen Geräusch belohnt. Mumm wartete nicht ab, packte eine Hand voll Haar, zog, ließ los, schlug mit dem Handballen zu und traf das Gesicht in dem verzweifelten Versuch, seinem Gegner keine Zeit zum Nachdenken zu geben. Angesichts der Muskeln des Mannes wollte er auf keinen Fall in die Defensive geraten.

Der Werwolf reagierte.

Es gab einen plötzlichen Moment morphologischer Ungenauigkeit. Eine Nase verwandelte sich in eine Schnauze, während Mumms Faust unterwegs war, doch als der Wolf nach ihm schnappen wollte, geschahen zwei Dinge.

Erstens: Der Wolf befand sich hoch im Baum; keine sehr günstige Position für ein Geschöpf, das die Natur dazu bestimmt hatte, auf dem Boden zu leben. Zweitens: Die Gravitation machte sich bemerkbar.

»Dort unten mag irgendein Spiel stattfinden«, schnaufte Mumm, als Pfoten am schmierigen Holz vergeblich nach Halt suchten. »Aber hier bestimme ich die Regeln.«

Er griff nach oben, hielt sich dort am Ast fest und trat zu.

Der Wolf jaulte, als er abrutschte und gegen den nächsten Ast prallte.

Etwa auf halbem Weg nach unten versuchte er, sich erneut zu verwandeln, und vereinte so in einer fallenden Gestalt alle Eigenschaften eines Geschöpfs, das nicht für den Aufenthalt in Bäumen geeignet ist, mit denen eines Wesens, das nicht gut auf dem Boden landen kann.

»Hab dich erwischt!«, rief Mumm.

Geheul erscholl durch den Wald um ihn herum.

Plötzlich brach der Ast, an dem er sich fest hielt. Eine Sekunde hing er an der schwarzen Hose von Onkel Wanja, die sich irgendwo verfangen hatte, und dann riss der alte Stoff. Mumm fiel.

Er erreichte den Boden schneller, weil der fallende Werwolf auf dem Weg nach unten ziemlich viele Zweige entfernt hatte. Aber er landete weicher, denn der Werwolf richtete sich gerade auf.

Mumms Hand bekam einen zerbrochenen Ast zu fassen.

Eine Waffe.

Seine Gedanken hörten mehr oder weniger auf, als sich die Hand um den Ast schloss. Was auch immer das Denken in den Pfaden des Gehirns ersetzte, kam von woanders und war viele tausend Jahre alt.

Der Werwolf stand auf und wandte sich ihm zu. Der Ast traf ihn an der Seite des Kopfes.

Dampf stieg von Sir Samuel Mumm auf, als er sich nach vorn warf und dabei wie ein Tier knurrte. Erneut schlug er zu und brüllte dabei. Er versuchte überhaupt nicht, irgendwelche Worte zu formulieren, beschränkte sich darauf, jene Geräusche von sich zu geben, die vor den Worten existiert hatten. Wenn ihnen überhaupt eine Bedeutung zukam, dann drückten sie Bedauern darüber aus, dass sie nicht genug Pein verursachen konnten…

Der Wolf jaulte einmal mehr, fiel, rollte sich herum… und wechselte die Gestalt.

Der Mensch streckte ihm flehentlich eine blutende Hand entgegen. »B-bitte…«

Mumm zögerte mit erhobener Keule.

Die rote Wut verflüchtigte sich. Er stand auf einem kalten Hügel, vor dem Hintergrund eines frostigen Sonnenuntergangs, und sie hatten ihn allein gelassen, und vielleicht schaffte er es bis zum Turm…

In einer fließenden Bewegung sprang der Werwolf und wurde dabei wieder vom Menschen zum Wolf. Mumm fiel mit dem Rücken in den Schnee, spürte heißen Atem und das Blut, aber keinen Schmerz…

Keine Klauen kratzten, und keine Zähne bissen.

Und das Gewicht wurde weniger. Hände zogen den Körper von Mumm herunter.

»Das war ziemlich knapp«, ertönte eine fröhliche Stimme. »Man sollte ihnen gegenüber nie nachsichtig sein.« Ein Speer hatte den Werwolf durchbohrt.

»Karotte?«

»Wir zünden ein Feuer an. Das ist ganz einfach, wenn man das Holz zuerst in die Fettquellen taucht.«

»Karotte?«

»Bestimmt hast du schon seit einer ganzen Weile nichts mehr gegessen. So nahe der Stadt gibt es nur wenig Wild, aber ich glaube, wir haben noch etwas…«

»Karotte?«

»Äh, ja, Herr?«

»Was machst du hier, bei allen Göttern?«

»Es ist ein bisschen kompliziert, Herr. Wenn ich dir aufhelfen darf…«

Mumm stieß die Hand beiseite, die ihn auf die Beine zu ziehen versuchte.

»Ich bin bisher allein zurechtgekommen und kann ohne Hilfe aufstehen, herzlichen Dank«, sagte er und zwang die Beine, sein Gewicht zu tragen.

»Offenbar hast du deine Hose verloren, Herr.«

»Ja, das ist der berühmte Ankh-Morpork-Humor«, brummte Mumm.

»Allerdings… Angua kehrt gleich zurück, und… und…«

»Feldwebel Anguas Verwandte, Hauptmann, haben die Angewohnheit, splitterfasernackt durch den Wald zu laufen!«

»Ja, Herr, aber… Ich meine… du weißt schon… es ist nicht gerade…«

»Ich gebe dir fünf Minuten, um einen Klamottenladen zu finden. Andernfalls… Hör mal, wohin sind die verdammten Werwölfe verschwunden? Ich habe damit gerechnet, in einen Haufen aus knurrenden Mäulern zu fallen, und jetzt bist du hier, besten Dank dafür, und die Werwölfe sind plötzlich nicht mehr da.«

»Gavins Gefährten haben sie verjagt, Herr. Bestimmt hast du das Heulen gehört.«

»Gavins Gefährten? Oh, freut mich! Wirklich ausgezeichnet! Bin froh, das zu hören! Gut gemacht, Gavin! Und wer, verdammt und zugenäht, ist Gavin

Auf einem fernen Hügel heulte jemand.

»Das ist Gavin«, sagte Karotte.

»Ein Wolf? Gavin ist ein Wolf? Wölfe haben mich vor Werwölfen gerettet?«

»Schon gut, Herr. Eigentlich ist es nicht viel anders, als von Menschen vor Werwölfen gerettet zu werden.«

»Wenn ich jetzt darüber nachdenke… Ich hätte besser liegen bleiben sollen«, sagte Mumm schwach.

»Gehen wir zum Schlitten, Herr. Ich wollte eben darauf hinweisen, dass wir deine Kleidung gefunden haben. Dadurch konnte Angua deiner Spur folgen.«

Zehn Minuten später saß Mumm in eine Decke gehüllt vor dem Feuer, und die Welt schien ein wenig mehr Sinn zu ergeben. Er aß ein Stück Rehfleisch, das ausgezeichnet schmeckte – Mumm war viel zu hungrig, um sich daran zu stören, dass der Metzger ganz offensichtlich seine Zähne verwendet hatte.

»Die Wölfe beobachteten die Werwölfe?«, fragte er.

»In gewisser Weise, Herr. Gavin behält die Dinge für Angua im Auge. Sie sind… alte Freunde.«

Ein Moment der Stille wurde ein wenig zu lang.

»Er scheint ein sehr intelligenter Wolf zu sein«, sagte Mumm, als ihm keine diplomatischeren Bemerkungen einfielen.

»Mehr als das. Angua glaubt, dass ein Werwolf unter seinen Vorfahren sein könnte.«

»Ist so etwas möglich?«

»Sie meint ja. Habe ich erwähnt, dass er den ganzen weiten Weg bis nach Ankh-Morpork kam? In die Stadt? Kannst du dir vorstellen, wie das für ihn gewesen sein muss?«

Mumm drehte sich um, als er ein leises Geräusch vernahm.

Ein großer Wolf stand am Rand des Feuerscheins und bedachte ihn mit einem aufmerksamen Blick. Es war nicht der Blick eines Tieres, das ihn als Nahrung, Gefahr oder Ding einordnete. Hinter diesem Blick drehten sich mentale Zahnräder. Neben dem Wolf hockte eine sehr stolz wirkende Promenadenmischung und kratzte sich hingebungsvoll.

»Ist das Gaspode?«, fragte Mumm. »Der Hund, der sich oft beim Wachhaus herumtreibt?«

»Ja, er… hat mir auf dem Weg hierher geholfen«, sagte Karotte.

»Ich frage besser nicht nach Einzelheiten«, murmelte Mumm. »Vermutlich öffnet sich gleich eine Tür im nächsten Baum, und Fred und Nobby kommen heraus.«

»Hoffentlich nicht, Herr.«

Gavin legte sich ein wenig vom Feuer entfernt hin und beobachtete Karotte.

»Hauptmann?«, fragte Mumm.

»Ja, Herr?«

»Dir dürfte aufgefallen sein, dass ich bisher nicht gefragt habe, warum nicht nur Angua hier ist, sondern auch du.«

»Ja, Herr.«

»Nun?«, hakte Mumm nach. Inzwischen glaubte er, Gavins Gesichtsausdruck zu erkennen, auch wenn das Gesicht in seinem Fall eine ungewöhnliche Form hatte. So sah ein Gentleman aus, der in einer Bank saß und das Kommen und Gehen beobachtete, um zu erkennen, wie alles funktionierte.

»Ich habe deine Diplomatie bewundert, Herr.«

»Hmm? Was?«, fragte Mumm und starrte noch immer zu dem Wolf.

»Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du es vermieden hast, bestimmte Fragen zu stellen, Herr.«

Angua trat ans Licht des Feuers. Sie sah sich um und nahm dann genau auf halbem Weg zwischen Karotte und Gavin Platz.

»Sie sind jetzt viele Meilen entfernt. Oh, hallo, Herr Mumm.«

Wieder wurde es still.

»Hat jemand vor, mir etwas zu erklären?«, fragte Mumm.

»Meine Familie versucht, die Krönung zu sabotieren«, sagte Angua. »Sie arbeitet mit einigen Zwergen zusammen, die nicht wollen, dass… die wollen, dass Überwald isoliert bleibt.«

»Das habe ich bereits herausgefunden. Wenn man durch einen kalten Wald um sein Leben läuft, gelangt man zu erstaunlichen Erkenntnissen.«

»Ich muss dir leider mitteilen, dass mein Bruder die Nachrichtenübermittler des Turms getötet hat, Herr. Er hat dort überall seinen Geruch hinterlassen.«

Gavin knurrte leise.

»Und auch noch einen anderen Mann, den Gavin nicht kennt. Er verbrachte viel Zeit damit, sich im Wald zu verstecken und unser Schloss zu beobachten.«

»Das dürfte ein gewisser Müde gewesen sein. Einer unserer… Agenten«, sagte Mumm.

»Seine Leistungen waren nicht schlecht. Er schaffte es mit einem Boot einige Meilen flussabwärts. Unglücklicherweise hatte sich an Bord ein Werwolf versteckt.«

»Mir kam ein Wasserfall in die Quere«, sagte Mumm.

»Bitte um Erlaubnis, ganz offen sprechen zu dürfen, Herr«, sagte Angua.

»Sprichst du nicht immer offen?«

»Die Werwölfe hätten dich jederzeit erledigen können, Herr. Im Ernst. Sie wollten dich in unmittelbare Nähe des Turms gelangen lassen, um dann anzugreifen. Wolfgang hält so etwas vermutlich für hübsch symbolisch.«

»Ich habe drei von ihnen erwischt!«

»Ja, Herr. Aber gegen alle drei gleichzeitig hättest du keine Chance gehabt. Wolfgang hat sich einen Spaß erlaubt. Auf diese Weise hat er das Spiel immer gespielt. Er ist gut darin vorauszudenken. Er liebt den Hinterhalt. Es gefällt ihm, irgendeinen armen Kerl fast das Ziel erreichen zu lassen – um dann über ihn herzufallen.« Angua seufzte. »Weißt du, Herr, ich möchte Schwierigkeiten vermeiden…«

»Er hat Menschen getötet!«

»Ja, Herr. Aber meine Mutter ist eine unwissende Närrin, und mein Vater hat nur noch einen Rest Verstand im Kopf. Er verbringt so viel Zeit als Wolf, dass er kaum mehr weiß, wie sich ein Mensch benimmt. Sie leben nicht in der realen Welt. Sie glauben wirklich, dass in Überwald alles so bleiben kann, wie es bisher war. Nun, hier oben gibt es eigentlich nicht viel, aber es gehört uns. Wolfgang ist ein mörderischer Idiot, der glaubt, die Werwölfe seien zum Herrschen geboren. Das Problem besteht darin, dass er bisher nicht gegen die Regeln verstoßen hat.«

»Lieber Himmel!«

»Bestimmt könnte er viele Zeugen beibringen, die bestätigen, dass er allen einen angemessenen Vorsprung gewährte, so wie die Regeln verlangen.«

»Und seine Einmischung in die Angelegenheiten der Zwerge? Er hat die Steinsemmel gestohlen oder ausgetauscht… was weiß ich. Ich kenne noch nicht alle Einzelheiten, aber ein armer Zwerg musste deshalb bereits sein Leben lassen! Grinsi und Detritus stehen unter Arrest! Inigo ist tot! Man hat Sybil irgendwo eingesperrt! Und du meinst, es wäre so weit alles in Ordnung?«

»Hier sind die Dinge anders, Herr«, erwiderte Karotte. »Erst vor zehn Jahren wurden Gottesurteile durch Gerichtsverfahren abgelöst, und nur deshalb, weil man herausfand, dass Anwälte viel scheußlicher sein können.«

»Ich muss nach Bums zurück. Wenn sie Sybil etwas zu Leide getan haben, sind mir die hiesigen Regeln piepegal!«

»Herr Mumm!«, protestierte Karotte. »Du bist völlig erschöpft!«

»Ich bin noch längst nicht erschöpft genug. Wir brechen sofort auf. Lass den Schlitten von einigen Wölfen ziehen…«

»Sie nehmen keine Anweisungen entgegen, Herr«, sagte Karotte. »Wir können uns höchstens mit einer entsprechenden Bitte an Gavin wenden.«

»Äh, wärst du so freundlich, ihm die Situation zu erklären?«

Ich stehe hier mitten in einem kalten Wald, dachte Mumm kurze Zeit später, und beobachte, wie eine recht attraktive junge Frau ein knurrendes Gespräch mit einem Wolf führt. So etwas geschieht nicht sehr oft. Zumindest nicht in Ankh-Morpork. Hier passiert es vermutlich jeden Tag.

Schließlich ließen sich sechs Wölfe anspannen, und Mumm wurde zur Straße getragen.

»Halt!«

»Herr?«, fragte Karotte.

»Ich brauche eine Waffe! In dem Turm muss es irgendetwas geben, das ich verwenden kann!«

»Nimm mein Schwert, Herr! Außerdem stehen die… Jagdspeere zur Verfügung.«

»Du weißt sicher, was du mit den Jagdspeeren anstellen kannst!«

Mumm trat die Tür im Sockel des Turms auf. Der Wind hatte Schnee hereingeweht, die Spuren von Wölfen und Menschen teilweise verwischt.

Er fühlte sich wie betrunken. Teile seines Gehirns schalteten sich ein und aus. Seine Augen fühlten sich an, als wären sie mit Frottee voll gestopft, und die Beine schienen ihm nur widerwillig zu gehorchen.

Der Nachrichtenturm musste doch irgendetwas Nützliches enthalten.

Selbst die Säcke und Fässer waren verschwunden. Es gab viele Bauern in den Bergen, und der Winter kam, und wer auch immer hier stationiert gewesen war, brauchte keinen Proviant mehr. Selbst Mumm hätte in diesem Zusammenhang nicht von Diebstahl gesprochen.

Er kletterte in den ersten Stock. Die sparsamen, vorsorglichen Waldbewohner waren auch hier gewesen. Aber sie hatten weder die Blutflecken vom Boden entfernt, noch Inigos kleinen runden Hut mitgenommen, der erstaunlicherweise in der Holzwand feststeckte.

Mumm zog ihn heraus und bemerkte eine rasiermesserscharfe Klinge am dünnen Filzrand.

Der Hut eines Assassinen, dachte er. Und dann: Nein, nicht der eines Assassinen. Er erinnerte sich an die Straßenkämpfe, die er als Kind gesehen hatte, ausgetragen von Männern, die viel tranken und selbst einen Kampf mit bloßen Fäusten für vornehm hielten. Einige von ihnen nähten Klingen in ihre Hutkrempe, um nicht völlig hilflos zu sein, wenn es heiß herging. Dies war der Hut eines Mannes, der versuchte, sich unter schwierigen Umständen einen Vorteil zu verschaffen.

Hier hatte es nicht funktioniert.

Mumm ließ den Hut fallen, und sein Blick glitt zu der Kiste mit den Mörsern. Sie war wie alles andere geplündert worden, aber die Rohre lagen auf dem Boden verstreut. Allein die Götter wussten, wofür die menschlichen Schakale sie gehalten hatten.

Er legte sie in die Kiste zurück. Inigo hatte sie richtig beurteilt. Eine so ungenaue Waffe, dass man mit ihr nicht einmal einen Schuppen vom Innern des Schuppens aus treffen konnte, taugte als Waffe überhaupt nichts. Doch es lagen auch andere Dinge herum. Manche Gegenstände erinnerten an jene Männer, die hier ein einfaches, entbehrungsreiches Leben geführt hatten. Bilder an der Wand. Ein Tagebuch, eine Pfeife, Rasierzeug. Schachteln waren auf dem Boden ausgeschüttet worden…

»Wir sollten den Weg fortsetzen, Herr«, erklang Karottes Stimme an der Leiter.

Die Nachrichtenübermittler lebten nicht mehr. Sie hatten laufen müssen, durch Kälte und Dunkelheit, verfolgt von Ungeheuern. Und anschließend waren irgendwelche Bauern, die nicht einmal versucht hatten, ihnen zu helfen, hierher gekommen und hatten ihre Sachen genommen.

Verdammt! Mumm knurrte, verstaute alles in einer Kiste und zog sie zur Leiter.

»Wir bringen das hier zur Botschaft«, sagte er. »Ich möchte den Plünderern nichts übrig lassen. Denk nicht einmal daran, mir zu widersprechen.«

»Käme mir nie in den Sinn, Herr. Nicht einmal im Traum.«

Mumm zögerte. »Karotte? Der Wolf und Angua…« Er zögerte. Lieber Himmel, wie brachte man einen solchen Satz zu Ende?

»Sie sind alte Freunde, Herr.«

»Sind sie das?«

Karottes Gesicht enthielt nur die für ihn typische völlig offene Ehrlichkeit.

»Oh… wir… dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Mumm.

Eine Minute später waren sie wieder unterwegs. Angua lief als Wolf weit vor dem Schlitten, zusammen mit Gavin. Gaspode hatte sich unter den Decken zusammengerollt.

Und wieder findet ein Wettlauf mit der Sonne statt, dachte Mumm. Der Himmel weiß, warum. Ich befinde mich in der Gesellschaft eines Werwolfs und eines Wolfs, der noch schlimmer aussieht, und ich sitze auf einem Schlitten, der von Wölfen gezogen wird und den ich nicht steuern kann. Versuch mal, das im Handbuch nachzuschlagen.

Er döste und beobachtete aus halb geöffneten Augen, wie die Sonne zwischen den Bäumen flackerte.

Wie konnte man die Steinsemmel aus ihrer Höhle stehlen?

Er hatte mehrere Möglichkeiten erwähnt und damit keineswegs übertrieben, aber alle waren riskant. Jede einzelne von ihnen hing zu sehr von Glück und unaufmerksamen Wächtern ab. Aber dies fühlte sich nicht nach einem Verbrechen an, bei dem Glück eine Rolle spielte. Alles hatte klappen müssen.

Die Semmel war nicht wichtig. Es kam nur darauf an, dass sich unter den Zwergen Chaos ausbreitete: kein König, gewaltsame Auseinandersetzungen, Kämpfe im Dunkeln. Und dann blieb es dunkel in Überwald. Und es schien wichtig zu sein, dass der König die Schuld bekam. Immerhin war er es, der die Steinsemmel verloren hatte.

Worin auch immer der Plan bestand: Er musste schnell durchgeführt werden. Die Nachrichtentürme erwiesen sich dabei sicher als nützlich. Wolfgang hatte von den cleveren Leuten in Ankh-Morpork gesprochen und damit Menschen gemeint, nicht Zwerge.

Willi Keinesorge, der in seinem Bottich schwamm…

Man tauchte eine Holzhand hinein und bekam einen Handschuh. Hand in Handschuh…

Es kommt nicht darauf an, wo man das Ding unterbringt, sondern wo es sich nach Meinung der Leute befindet. Nur das zählt. Darin liegt die besondere Magie.

Mumm erinnerte sich an seinen ersten Gedanken, als er beobachtet hatte, wie Grinsi in der Semmelhöhle auf den Boden starrte und der kleine Polizist hinter seiner Stirn zu schreien begann.

»Wie bitte, Herr?«, fragte Karotte.

»Hmm?« Mumm zwang die Lider nach oben.

»Du hast gerade etwas gerufen, Herr.«

»Was denn?«

»›Das verdammte Ding wurde überhaupt nicht gestohlen!‹, Herr!«

»Mistkerle! Ich wusste, dass ich kurz vor der Lösung des Falls stand! Es passt alles zusammen, wenn man nicht wie ein Zwerg denkt! Wir vergewissern uns, dass Sybil in Sicherheit ist, und dann, Hauptmann…«

»Treten wir jemandem in den Hintern, Herr?«

»Und zwar kräftig!«

»Da wäre nur eine Sache, Herr…«

»Ja?«

»Du bist ein Verbrecher auf der Flucht.«

Einige Sekunden hörte man nur das Geräusch von Pfoten im Schnee.

»Nun«, erwiderte Mumm schließlich, »ich weiß, dass wir hier nicht in Ankh-Morpork sind. Man hat mich immer wieder daran erinnert. Aber wo wir uns auch aufhalten, und wohin wir auch gehen, Hauptmann: Polizisten bleiben immer Polizisten.«

 

Ein einzelnes Licht glühte am Fenster. Hauptmann Colon saß im Kerzenschein und starrte ins Nichts.

Die Vorschriften verlangten, dass sich immer mindestens ein Wächter im Wachhaus aufhielt, und deshalb blieb Colon in seinem Büro.

Unten knarrten die Bodendielen in eine neue Position. Über Monate hinweg waren rund um die Uhr Leute über sie hinweggegangen, denn im Hauptraum hatten sich nie weniger als sechs Personen aufgehalten. Permanent von verschiedenen Hinterteilen erwärmte Stühle ächzten leise, als sie abkühlten.

Ein einzelner Gedanke summte immer wieder durch Fred Colons Kopf.

Herr Mumm wird noch mehr außer sich geraten als der Quästor. Bestimmt wird’s noch schlimmer als mit dem Bibliothekar, wenn er das T-Wort hört.

Seine Hand streckte sich dem Schreibtisch entgegen und bewegte sich automatisch zurück, während Colon weiter ins Leere starrte.

Ein leises Knirschen deutete auf einen Zuckerwürfel hin, der verspeist wurde.

 

Es schneite wieder. Der Wächter, den Mumm Colonesk genannt hatte, lehnte in seiner kleinen Wachkabine am mittwärtigen Tor von Bums an der Wand. Er hatte die Kunst perfektioniert, stehend und mit offenen Augen zu schlafen. Das gehörte zu den ersten Dingen, die man in einer endlosen Nacht lernte.

In unmittelbarer Nähe seines Ohrs erklang die Stimme einer Frau. »Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Sache hinter uns zu bringen.«

Die Haltung des Wächters veränderte sich nicht. Er blickte weiter starr geradeaus.

»Du hast nichts gesehen. Das ist die Wahrheit. Du brauchst nur zu nicken.«

Der Wächter nickte.

»Gut. Du hast mich nicht gehört. Du brauchst nur zu nicken.«

Er nickte.

»Und du weißt nicht, wann ich wieder weg bin. Du brauchst nur zu nicken.«

Er nickte.

»Du willst keine Schwierigkeiten. Du brauchst nur zu nicken.«

Er nickte.

»Du verdienst nicht genug für diese Arbeit. Du brauchst nur zu nicken.«

Diesmal nickte der Wächter mit mehr Nachdruck.

»Du wirst viel öfter für die Nachtschicht eingeteilt, als es eigentlich richtig ist.«

Colonesks Kinnlade klappte nach unten. Wer auch immer hinter ihm stand, konnte ganz offensichtlich seine Gedanken lesen.

»Ausgezeichnet. Bleib einfach hier stehen und pass auf, dass niemand das Tor stiehlt.«

Colonesk hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. Er hörte, wie das Tor geöffnet und wieder geschlossen wurde.

Ihm fiel ein, dass die Frau keine Einzelheiten bezüglich der zweiten Möglichkeit genannt hatte, und dafür war er sehr dankbar.

»Was war die zweite Möglichkeit?«, fragte Mumm, als sie durch den Schnee eilten.

»Wir hätten nach einem anderen Weg in die Stadt suchen müssen«, sagte Angua.

Nur wenige Personen waren in den Straßen unterwegs, die der Schnee nun mit neuem Weiß bedeckte, abgesehen von den Stellen, wo Dampf aus Gittern aufstieg. In Überwald schien der Sonnenuntergang eine eigene Ausgangssperre zu verhängen. In diesem Fall ergab sich ein Vorteil daraus, denn die ganze Zeit über knurrte Gavin leise.

Karotte kehrte von der nächsten Ecke zurück.

»Zwerge bewachen die Botschaft«, sagte er. »Sie scheinen nicht zu Verhandlungen bereit zu sein, Herr.«

Mumm senkte den Blick. Sie standen auf einem Gitter.

 

Hauptmann Tantony von der Stadtwache in Bums begegnete seinen derzeitigen Aufgaben mit erheblicher Skepsis. Am vergangenen Abend hatte er die Oper gesehen und später gewisse Dinge beobachtet, die nach Anweisung des Bürgermeisters gar nicht passiert waren. Es kam natürlich darauf an, den Befehlen zu gehorchen. Es drohte keine Gefahr, wenn man den Befehlen gehorchte. Das wussten alle Angehörigen der Wache. Doch diese fühlten sich nicht nach sicheren Befehlen an.

Er hatte gehört, dass man in Ankh-Morpork anders vorging. Von Lord Mumm hieß es, dass er jeden verhaften würde.

Tantony hatte einen Schreibtisch im Flur der Botschaft aufgestellt, um den Haupteingang im Auge zu behalten, und seine Männer mit großer Sorgfalt im Innern des Gebäudes verteilt. Den Zwergenwächtern draußen traute er nicht. Angeblich hatten sie den Befehl, Mumm sofort zu töten, und das ergab keinen Sinn. Es musste doch irgendeine Art von Gerichtsverfahren geben.

Im Obergeschoss erklang ein leises Geräusch. Tantony stand langsam auf und griff nach seiner Armbrust. »Korporal Schwetzl?«

Wieder ertönte ein Geräusch. Tantony ging zum unteren Ende der Treppe.

Oben erschien Mumm. Blut klebte an seinem Hemd und bildete Krusten auf einer Seite seines Gesichts. Zum großen Entsetzen des Hauptmanns schickte er sich an, die Treppe herunterzukommen.

»Ich schieße auf dich!«

»Das ist dein Befehl, nicht wahr?«, fragte Mumm.

»Ja! Bleib stehen!«

»Aber wenn ich ohnehin erschossen werde, hat es doch gar keinen Sinn, jetzt stehen zu bleiben, oder?«, erwiderte Mumm. »Außerdem glaube ich nicht, dass du auf mich schießen wirst, Hauptmann. Weil du intelligent bist.« Mumm stützte sich am Geländer ab. »Hättest du nicht schon die anderen Wächter alarmieren müssen?«

»Du sollst stehen bleiben

»Du weißt, wer ich bin. Wenn du wirklich beabsichtigst, mit dem verdammten Ding auf mich zu schießen, so hast du jetzt Gelegenheit dazu. Aber es wäre deiner weiteren beruflichen Laufbahn sehr förderlich, wenn du zuerst den Klingelzug dort drüben ziehen würdest. Was könnte schlimmstenfalls passieren? Deine Armbrust bleibt auf mich gerichtet. Es gibt da etwas, das du erfahren solltest.«

Tantony bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick, trat jedoch einige Schritte zur Seite und zog den Klingelzug.

Igor kam hinter einer Säule hervor. »Ja, Herr?«

»Bitte sag diesem jungen Mann, wo er sich befindet.«

»Er ift in Ankh-Morpork, Herr«, verkündete Igor ruhig.

»Siehst du?«, meinte Mumm. »Und starr Igor nicht so an. Ich hab’s zunächst überhört, als er mich hier begrüßte, aber es stimmt. Dies ist eine Botschaft, mein Lieber«, fuhr er fort und setzte sich wieder in Bewegung. »Was bedeutet: Dieses Gebäude gehört offiziell zum Territorium meiner Heimat. Willkommen in Ankh-Morpork. Tausende von Überwald-Bürgern leben in unserer Stadt. Du möchtest doch keinen Krieg beginnen, oder?«

»Aber… aber… sie sagten… meine Befehle… Du bist ein Verbrecher!«

»Ich bin höchstens angeklagt, Hauptmann. In Ankh-Morpork bringen wir niemanden um, nur weil er angeklagt ist. Zumindest nicht absichtlich. Und erst recht nicht, weil jemand entsprechende Anweisungen erteilt.«

Mumm nahm die Armbrust aus Tantonys widerstandslosen Händen und jagte den Bolzen in die Decke.

»Und jetzt schick deine Männer fort«, sagte er.

»Ich bin in Ankh-Morpork?«, brachte der Hauptmann hervor.

Mumm war zwar nicht gerade in bester Verfassung, aber er wusste die Zeichen zu deuten.

»Ja, das stimmt«, sagte er und legte Tantony den Arm um die Schultern. »Und in unserer Stadtwache gibt es immer einen Platz für einen fähigen jungen Mann…«

Tantony versteifte sich. Er stieß Mumms Arm beiseite. »Du beleidigst mich, Milord. Dies ist mein Land!«

»Ah.« Mumm merkte, dass Karotte und Angua vom Treppenabsatz aus zusahen.

»Ich werde nicht zulassen, dass jemand Schande darüber bringt«, fuhr der Hauptmann fort. »Dies ist nicht richtig. Ich habe beobachtet, was gestern Abend geschah. Du hast den König in Sicherheit gebracht, und anschließend hat der Troll den Kronleuchter aufgefangen! Und dann behauptete man, du hättest den König umbringen wollen und bei der Flucht mehrere Zwerge getötet…«

»Bist du der Kommandeur der hiesigen Wache?«

»Nein. Der Bürgermeister ist das Oberhaupt.«

»Und wer gibt ihm Befehle?«

»Praktisch alle«, sagte Tantony bitter. Mumm nickte. Es klang nur zu vertraut…

»Willst du mich daran hindern, meine Leute von hier fortzubringen?«

»Wie sollte das möglich sein? Die Zwerge haben das Gebäude umstellt!«

»Wir benutzen… diplomatische Kanäle. Zeig mir einfach, wo all die anderen sind, und dann machen wir uns auf den Weg. Ich kann dich niederschlagen und fesseln, wenn du möchtest…«

»Das ist nicht erforderlich. Die Zwergin und der Troll sind im Keller. Und Ihre Lordschaft… dürfte sich dort befinden, wohin die Baronin sie gebracht hat.«

So etwas wie heißes Eis glitt über Mumms Rücken. »Wohin die Baronin sie gebracht hat?«, wiederholte er.

»Äh, ja.« Tantony wich zurück, als er Mumms Gesichtsausdruck sah. »Du kennst die Baronin, Herr! Sie meinte, sie seien alte Freunde und sie könnte alles in Ordnung bringen! Und dann…« Mumms Miene ließ Tantonys Stimme sich erst in ein Murmeln verwandeln, und wenige Sekunden später verstummen.

Als Mumm sprach, hatten seine Worte einen monotonen Klang, der ebenso bedrohlich wirkte wie ein Speer.

»Du stehst da mit deinem glänzenden Brustharnisch und deinem dummen Helm und einem Schwert ohne eine einzige Kerbe und einer dämlichen Hose und weist mich darauf hin, dass Werwölfe meine Frau fortgebracht haben?«

Tantony trat noch einen Schritt zurück. »Es war die Baronin…«

»Und Baronen widerspricht man natürlich nicht. Verstehe. Du widersprichst niemandem. Weißt du was? Es beschämt mich, dass sich jemand wie du Wächter nennen darf. Und jetzt gib mir die Schlüssel.«

Tantonys Wangen glühten.

»Du hast bisher allen Befehlen gehorcht«, sagte Mumm. »Denk… nicht… einmal… daran… dich… dieser… Anweisung… zu… widersetzen.«

Karotte erreichte das Ende der Treppe und legte Mumm die Hand auf die Schulter.

»Beruhige dich, Herr Mumm.«

Tantony musterte die beiden und traf dann eine für sein Leben sehr wichtige Entscheidung.

»Ich hoffe, du… du findest deine Frau, Milord.« Er holte ein Schlüsselbund hervor und reichte es Mumm. »Ich hoffe es wirklich.«

Mumm rang noch immer nach Atem und gab die Schlüssel Karotte. »Lass die Gefangenen frei.«

»Willst du zum Schloss der Werwölfe?«, brachte Tantony hervor.

»Ja.«

»Dort hast du nicht die geringste Chance, Milord. Die Werwölfe machen, was ihnen gefällt.«

»Dann muss sie jemand aufhalten.«

»Das ist unmöglich. Die älteren Werwölfe halten sich an die Regeln, aber Wolfgang hat vor nichts Respekt!«

»Ein Grund mehr, ihn aufzuhalten. Ah, Detritus.« Der Troll salutierte. »Du hast deine Armbrust, wie ich sehe. Hat man dich gut behandelt?«

»Sie mich nannten dummen Troll«, erwiderte Detritus finster. »Einer von ihnen mich trat an empfindliche Stelle.«

»War es dieser Mann?«

»Nein.«

»Aber er ist ihr Hauptmann«, sagte Mumm und trat von Tantony weg. »Feldwebel, ich befehle dir: Erschieß ihn.«

Der Troll schwang die gewaltige Armbrust herum und visierte das Ziel an. Tantony erbleichte.

»Na los«, sagte Mumm. »Ich habe dir einen Befehl erteilt, Feldwebel.«

Detritus ließ die Armbrust sinken. »Ich nicht so dumm bin, Herr.«

»Das war ein Befehl

»Dann du mit dem Befehl machen kannst, was Findling der Sturz machte mit seinem Beutel Kies, Herr! Mit Respekt!«

Mumm trat vor und klopfte dem zitternden Tantony auf die Schulter.

»Nur eine kleine Demonstration«, sagte er.

»Aber wenn du findest den Mann, der trat mich an empfindliche Stelle…«, grollte Detritus. »Ich mich freuen würde, ihm zu verpassen einen Satz warme Ohren. Ich weiß, wer es war. Er humpelt.«

 

Lady Sybil trank den Wein mit großer Vorsicht. Er schmeckte nicht sehr angenehm. Im Moment empfand sie ziemlich viele Dinge als nicht sonderlich angenehm.

Sie war keine gute Köchin. Niemand hatte sie die Kochkunst gelehrt. An ihrer Schule hatte man immer angenommen, dass andere Leute das Kochen erledigten, und zwar für fünfzig Personen, die mindestens vier verschiedene Gabeln benutzten. Die Spezialitäten, die Sybil beherrschte, fanden auf sehr kleinen Tellern Platz und sahen vor allem interessant aus.

Aber sie kochte für Sam, denn die Ehefrau in ihr hielt das für angebracht. Außerdem war er als Esser ihren kulinarischen Fähigkeiten bestens angepasst. Er mochte verbrannte Würstchen und Spiegeleier, die Boing machten, wenn man die Gabel hineinstach. Kaviar hätte er vermutlich nur gebraten verspeist. Ein solcher Mann ließ sich leicht ernähren, solange man genug Schmalz im Haus hatte.

Doch diese Speisen schmeckten so, als seien sie von jemandem zubereitet worden, der noch nie zuvor gekocht hatte. Bei der Besichtigungstour hatte Sybil einen kurzen Blick in die Küche werfen können, und ihrer Meinung nach erwartete man einen solchen Raum in einem kleinen Haus. Die Speisekammern für das Wildbret hingegen boten geradezu verblüffend viel Platz. Nie zuvor hatte Sybil so viele tote Tiere gesehen.

Sie zweifelte kaum daran, dass Rehfleisch nicht gekocht serviert werden sollte, zusammen mit knusprigen Kartoffeln. Wenn es sich überhaupt um Kartoffeln handelte. Selbst Sam, der die schwarzen Brocken mochte, die manchmal im Kartoffelbrei auftauchten, hätte sich zu einem Kommentar hinreißen lassen. Doch Sybil wusste, wie man sich benahm. Wenn man nichts Freundliches über das Essen sagen konnte, suchte man sich einen anderen Anlass für freundliche Bemerkungen.

»Dies sind… sehr interessante Teller«, sagte sie pflichtbewusst. »Äh, bist du sicher, dass es keine weiteren Neuigkeiten gibt?« Sie versuchte, den Blick nicht auf den Baron zu richten. Er schenkte Sybil und seiner Frau keine Beachtung, stocherte auf seinem Teller herum, als könnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie man mit Messer und Gabel umging.

»Wolfgang und seine Freunde suchen noch immer«, sagte Serafine. »Aber es herrschte schreckliches Wetter für einen Mann auf der Flucht.«

»Er ist nicht auf der Flucht«, schnappte Sybil. »Er hat kein Verbrechen begangen!«

»Oh, natürlich nicht«, erwiderte die Baronin in beschwichtigendem Tonfall. »Es gibt nur Indizienbeweise. Völlig klar. Nun, ich schlage vor, dass du mit deinem, äh, Gefolge nach Ankh-Morpork zurückkehrst, sobald die Pässe frei sind und bevor es hier richtig Winter wird. Wir kennen dieses Land, meine Liebe. Wenn dein Mann noch lebt, finden wir bestimmt eine Möglichkeit, ihm zu helfen.«

»Ich lasse auf keinen Fall zu, dass man Schande über ihn bringt! Du hast gesehen, wie er den König gerettet hat!«

»Oh, das hat er bestimmt. Ich habe zu diesem Zeitpunkt mit meinem Mann gesprochen, aber es käme mir überhaupt nicht in den Sinn, an deinen Worten zu zweifeln. Stimmt es, dass er die Männer am Wilinus-Pass getötet hat?«

»Was? Es waren Räuber!«

Am anderen Ende des Tisches griff der Baron nach einem Fleischbrocken und versuchte, ihn mit den Zähnen zu zerreißen.

»Oh, natürlich. Ja. Natürlich.«

Sybil zwickte sich in den Nasenrücken. Der größte Teil von ihr hätte Sam nicht einmal dann des Mordes – eines echten Mordes nicht – für schuldig gehalten, wenn drei Götter mit Botschaften am Himmel gegen ihn ausgesagt hätten. Doch das eine oder andere kam ihr zu Ohren, auf Umwegen. Sam regte sich über gewisse Dinge auf, und manchmal entlud sich sein Zorn ganz plötzlich. Zum Beispiel die Sache mit dem kleinen Mädchen und den Männern bei den Dolly-Schwestern. Als Sam die Unterkunft der Männer durchsuchte, stellte er fest, dass sie dem Mädchen einen Schuh gestohlen hatten, und später meinte Detritus, wenn er nicht gewesen wäre, hätte nur Sam den Raum lebend verlassen.

Sybil schüttelte den Kopf. »Ich würde jetzt gern ein Bad nehmen«, sagte sie. Es klapperte am anderen Ende des Tisches.

»Du solltest besser im Ankleideraum essen, Schatz«, sagte die Baronin, ohne ihren Mann anzusehen. Sie bedachte Lady Sybil mit einem kurzen, spröden Lächeln. »Wir haben kein… kein… nichts Derartiges im Schloss.« Ihr fiel etwas ein. »Wir benutzen die heißen Quellen. Das ist viel hygienischer.«

»Draußen im Wald?«

»Oh, es ist nicht weit. Und ein Lauf im Schnee tut dem Körper gut.«

»Ich glaube, ich lege mich jetzt ein wenig hin«, sagte Lady Sybil fest. »Herzlichen Dank.«

Sie ging zu dem muffig riechenden Schlafzimmer und war auf damenhafte Weise wütend.

Es gelang ihr einfach nicht, Serafine zu mögen, und das war entsetzlich, denn Lady Sybil mochte sogar Nobby Nobbs, und dazu brauchte man eine sehr gute Erziehung. Doch die Baronin kratzte wie eine grobe Feile an ihren Nerven. Sie erinnerte sich daran, dass sie Serafine schon in der Schule nicht gemocht hatte.

Zu dem unerwünschten Gepäck, das man der jungen Sybil aufgebürdet hatte, um ihr den Weg durchs Leben zu erschweren, gehörte die Verpflichtung, zu anderen freundlich zu sein und nette Dinge zu sagen. Deshalb hielten die anderen Leute sie oft für dumm.

Sie verabscheute die Art und Weise, in der Serafine über die Zwerge gesprochen hatte. Von »Untermenschen« war die Rede gewesen. Die meisten von ihnen lebten tatsächlich unter Menschen, also in ihrer Mitte oder in unterirdischen Höhlen. Wie dem auch sei: Sybil mochte Zwerge. Und Serafine sprach so von Trollen, als wären sie Dinge. Sybil war nicht vielen Trollen begegnet, aber offenbar verbrachten sie ihr Leben damit, ihre Kinder großzuziehen und zu arbeiten, so wie alle anderen.

Und es kam noch schlimmer. Serafine ging davon aus, dass Sybil ihre Ansichten allein deshalb teilte, weil sie eine Lady war. Sybil Käsedick kannte sich in diesen Dingen nicht besonders gut aus, denn moralische Philosophie hatte kaum eine Rolle gespielt bei einem Lehrplan, der Blumenarrangements den Vorrang einräumte. Aber irgendetwas teilte ihr mit, dass bei beliebigen Debatten der richtige Standpunkt auf der gegenüberliegenden Seite von Serafine war.

Sie hatte ihr all die vielen Briefe geschrieben, weil es sich so gehörte. Man schrieb alten Freunden Briefe, selbst wenn von Freundschaft kaum die Rede sein konnte.

Sybil setzte sich aufs Bett und starrte an die Wand, bis das Geschrei begann, und als es begann, wusste sie, dass Sam lebte – nur Sam ließ die Leute so zornig werden.

Sie hörte, wie der Schlüssel im Schloss klickte.

Daraufhin rebellierte Sybil.

Sie war dick und nett. Die Schule hatte ihr nicht sonderlich gefallen. Wenn man allein die Gesellschaft von Mädchen genießt, ist es nicht besonders vorteilhaft, dick und nett zu sein, denn die anderen neigen dazu, das mit »dumm« oder gar mit »dämlich« gleichzusetzen.

Lady Sybil blickte aus dem Fenster. Das Schlafzimmer lag im zweiten Stock.

Gitterstäbe steckten vor dem Fenster, aber sie sollten vor allem verhindern, dass etwas von draußen hereinkam. Von drinnen ließen sie sich leicht aus ihrer Einfassung lösen. Und es lagen zwar muffige, aber recht dicke Laken und Decken auf dem Bett. Einer durchschnittlichen Person hätte dies vielleicht nicht viel bedeutet, aber das Leben in einer strengen Schule für wohlerzogene Damen kann sehr lehrreich sein, wenn es um die Tricks des Ausbrechens geht.

Fünf Minuten nach dem Klicken des Schlüssels steckte nur noch eine Stange im Fenster. Sie zitterte und knirschte im Gestein, was deutlich darauf hinwies, dass ein schweres Gewicht an den zusammengebundenen Laken hing.

 

Fackeln brannten an den Schlossmauern. Die schauderhafte rote und schwarze Fahne wehte im Wind. Mumm blickte über den Rand der Brücke. Der Fluss strömte ziemlich weit unten und schäumte schon ein ganzes Stück vor dem Wasserfall. Hier gab es nur zwei Richtungen: nach vorn oder zurück.

Er inspizierte seine Truppen. Leider dauerte das nicht sehr lange. Selbst ein Polizist konnte bis fünf zählen. Außerdem waren noch Gavin und seine Wölfe im Wald. Und nicht zu vergessen Gaspode, der Korporal Nobbs der Hundewelt, der sich ungebeten der Gruppe angeschlossen hatte.

Was ließ sich sonst noch zu Mumms Gunsten anführen? Nun, der Feind benutzte keine Waffen. Doch dieser Vorteil verflüchtigte sich rasch, wenn man bedachte, dass ihm scharfe Krallen und spitze Zähne zur Verfügung standen.

Mumm seufzte und wandte sich an Angua. »Es ist deine Familie«, sagte er. »Ich könnte es gut verstehen, wenn du dich zurückhältst.«

»Wir werden sehen, Herr.«

»Wie sollen wir ins Innere des Schlosses gelangen, Herr?«, fragte Karotte.

»Wie würdest du dabei vorgehen?«

»Zunächst einmal anklopfen, Herr.«

»Tatsächlich? Feldwebel Detritus, tritt bitte vor.«

»Herr!«

»Zerstöre die verdammte Tür!«

»Ja, Herr!«

Mumms Blick kehrte zu Karotte zurück, als der Troll nachdenklich zur Tür sah und einige zusätzliche Male die Winde der Armbrust drehte. Die Federn ächzten, als sie Widerstand leistete. Ihr Kampf blieb vergeblich.

»Dies ist nicht Ankh-Morpork«, sagte Mumm.

Detritus legte mit der Armbrust an und trat einen Schritt nach vorn.

Es pochte dumpf. Mumm sah nicht, wie das Pfeilbündel die Waffe verließ. Vermutlich bestand es nur noch aus Splittern, als es dreißig Zentimeter zurückgelegt hatte. Auf halbem Weg zur Tür fing die sich ausdehnende Splitterwolke von der Luftreibung Feuer.

Was die Tür traf, war ein Feuerball, der ebenso wütend und unaufhaltsam war wie der Fünfte Elefant und mit einem beträchtlichen Bruchteil der lokalen Lichtgeschwindigkeit flog.

»Bei den Göttern, Detritus«, brummte Mumm, als das Donnern verklang. »Das ist keine Armbrust, sondern ein nationaler Notstand.«

Einige verkohlte Türteile fielen auf das Kopfsteinpflaster.

»Die Wölfe begleiten uns nicht ins Schloss, Herr Mumm«, sagte Angua. »Gavin folgt mir, aber die anderen kommen nicht mit, nicht einmal für ihn.«

»Warum nicht?«

»Weil es Wölfe sind, Herr. In Häusern fühlen sie sich nicht wohl.«

Einige Sekunden war nur ein leises Quietschen zu hören, verursacht von Detritus, der seine Armbrust wieder spannte.

»Und wenn schon«, sagte Mumm, zog sein Schwert und trat vor.

 

Lady Sybil löste ihr Kleid von der Unterwäsche und schlich vorsichtig über den kleinen Hof. Sie befand sich irgendwo im rückwärtigen Bereich des Schlosses, soweit sie das feststellen konnte.

Als sie ein Geräusch hörte, drückte sie sich so flach wie möglich an die Mauer und schloss die Hand fester um einen Gitterstab, der zuvor im Fenster des Schlafzimmers gesteckt hatte.

Ein großer Wolf kam um die Ecke und hielt einen Knochen im Maul. Er schien nicht erwartet zu haben, Sybil zu begegnen, und mit der Stange hatte er gewiss nicht gerechnet.

»Oh, tut mir schrecklich Leid«, sagte Sybil automatisch, als der Wolf bewusstlos aufs Kopfsteinpflaster sank.

Auf der anderen Seite des Schlosses explodierte etwas. Das klang nach Sam.

 

»Glaubst du, man hat uns gehört, Herr?«, fragte Karotte.

»Vermutlich konnte man uns selbst in Ankh-Morpork hören, Hauptmann. Nun, wo sind die Werwölfe?«

Angua ging los. »Hier entlang«, sagte sie.

Sie führte ihre Begleiter eine Treppe aus niedrigen Stufen hinauf und öffnete oben eine Tür.

Auch im Flur brannten Fackeln.

»Sie geben uns die Möglichkeit, irgendwohin zu laufen«, sagte Angua. »Gewisse Werwölfe mögen es, wenn Leute weglaufen.«

Am gegenüberliegenden Ende des Flurs wurden die beiden Flügel einer kleineren Tür aufgedrückt. Eine Klinke fehlte, wie Mumm feststellte. Pfoten können keine Klinken drehen.

Wolfgang trat vor. Zwei Dutzend Werwölfe begleiteten ihn, schwärmten hinter ihm aus, setzten sich – besser gesagt, sie flegelten sich hin – und bedachten die Besucher mit interessierten Blicken.

»Ah, Herr Zivilisiert!«, sagte Wolfgang fröhlich. »Du hast das Spiel gewonnen! Möchtest du es noch einmal versuchen? Wenn Menschen eine zweite Runde wollen, geben wir ihnen ein Handicap mit auf den Weg. Wir beißen ihnen ein Bein ab! Guter Witz, nicht wahr?«

»Ich glaube, der Ankh-Morpork-Humor ist mir lieber«, erwiderte Mumm. »Wo ist meine Frau, du Mistkerl?« Er hörte noch immer, wie Detritus die Winde drehte. Das war das Problem mit seiner riesigen Armbrust: Man konnte sie nur nach geologischen Maßstäben als Schnellfeuerwaffe bezeichnen.

»Und Delfine! Sieh nur, was der Hund hereingeschleppt hat!«, sagte Wolfgang und schenkte Mumm keine Beachtung. Erneut trat er vor. Mumm hörte, wie Angua zu knurren begann – ein Geräusch, das bei vielen Angehörigen der kriminellen Population von Ankh-Morpork sofortigen Gehorsam bewirkte, wenn sie es in einer dunklen Gasse vernahmen. Ein etwas tieferes Knurren kam von Gavin.

Wolfgang blieb stehen.

»Dir fehlt für diese Sache der nötige Grips, Wolfie«, sagte Angua. »Mit den Verschwörungen, die du geplant hast, kämst du nicht einmal aus einer nassen Papiertüte heraus. Wo ist Mutter?« Ihr Blick glitt zu den hechelnden Werwölfen. »Hallo, Onkel Ulf… Tante Hilda… Magwen… Nancy… Urania… Das ganze Rudel ist versammelt. Abgesehen von Vater, der sich vermutlich in irgendetwas wälzt. Was für eine Familie…«

»Ich möchte, dass diese abscheulichen Leute unverzüglich von hier verschwinden«, sagte die Baronin und trat in den Flur. »Wie kannst du es wagen, einen Troll ins Schloss zu bringen!«

»Alles klar, meine Waffe jetzt wieder einsatzbereit ist«, sagte Detritus munter und stützte die summende Armbrust auf seiner Schulter ab. »Worauf ich schießen soll, Herr Mumm?«

»Um Himmels willen, nicht hier drin! Wir sind in einem Gebäude!«

»Nur so lange, bis ich betätigt habe den Auslöser, Herr.«

»Wie zivilisiert«, sagte die Baronin. »Wie typisch für Ankh-Morpork. Du glaubst, nur drohen zu müssen, und schon fügen sich die Angehörigen unwichtiger Völker.«

»Hast du kürzlich das Schlosstor gesehen?«, entgegnete Mumm.

»Wir sind Werwölfe!«, schnappte die Baronin. Es war tatsächlich ein Schnappen – die Worte klangen so scharf und abgehackt wie gebellt. »Vor so dummen Spielzeugen haben wir keine Angst.«

»Aber sie halten euch eine Zeit lang auf. Und jetzt hol Lady Sybil!«

»Lady Sybil ruht sich aus. Du bist nicht in der richtigen Position, um Forderungen zu stellen, Herr Mumm. Wir sind keine Verbrecher.«

Mumms Kinnlade klappte nach unten, als die Baronin fortfuhr: »Das Spiel verstößt nicht gegen die Regeln. Seit Tausenden von Jahren wird es gespielt. Und was, glaubst du, haben wir uns abgesehen davon zuschulden kommen lassen? Hältst du uns für die Diebe des Steins, der den Zwergen so wichtig ist? Wir…«

»Du weißt, dass er nicht gestohlen wurde«, sagte Mumm. »Und du weißt…«

»Du weißt nichts! Du verdächtigst alles und jeden.«

»Dein Sohn meinte…«

»Mein Sohn hat jeden Muskel in seinem Körper zur Perfektion entwickelt, nur nicht diejenigen, die man zum Denken braucht«, sagte die Baronin. »Im zivilisierten Ankh-Morpork kannst du vielleicht in die Häuser anderer Leute platzen und irgendwen beschuldigen, aber hier in der zurückgebliebenen Provinz brauchst du mehr als nur leere Behauptungen.«

»Ich rieche Furcht«, sagte Angua. »Und sie geht von dir aus, Mutter.«

»Sam?«

Sie sahen auf. Lady Sybil stand oben auf einer steinernen Treppe, die zu einem der unteren Stockwerke führte. Sie wirkte verwirrt und zornig und hielt eine krumme Stange in der Hand.

»Sybil!«

»Sie meinte, du wärst auf der Flucht, und alle würden versuchen, dir zu helfen, aber das stimmt nicht, oder?«

Es war schrecklich, sich so etwas einzugestehen, aber wenn man die Wand an den Schulterblättern fühlte, kam jede Waffe gelegen, und derzeit war Sybil geladen und schussbereit.

Sie wusste mit Leuten umzugehen. Praktisch von dem Augenblick an, als sie sprechen gelernt hatte, verstand sie es auch zuzuhören. Und wenn Sybil anderen Personen zuhörte, fühlten sich die Betreffenden besser. Es hatte vermutlich etwas damit zu tun, dass sie ein… großes Mädchen war. Sie versuchte, kleiner zu werden, und dadurch gewannen alle anderen in ihrer Nähe den Eindruck, größer zu sein. Sie kam mit Leuten fast ebenso gut zurecht wie Karotte. Kein Wunder, dass die Zwerge sie mochten.

Mehrere Seiten in Twurps Adelsstände befassten sich mit ihrer weit in die Vergangenheit zurückreichenden Ahnenreihe, und die Zwerge respektierten jemanden, der den vollen Namen seines Urururgroßvaters kannte. Und Sybil konnte nicht lügen – sie lief rot an, wenn sie es versuchte. Sybil war wie ein Fels. Neben ihr wirkte Detritus wie ein Schwamm.

»Wir hatten einen herrlichen Lauf im Wald, Schatz«, sagte er. »Und jetzt komm bitte hierher, denn wir sollten zum König gehen. Ich habe den Fall gelöst und werde ihm alles erklären.«

»Die Zwerge bringen dich um«, prophezeite die Baronin.

»Ich schätze, ich bin schneller als ein Zwerg«, sagte Mumm. »Und nun… Wir brechen auf. Angua?«

Angua hatte sich nicht gerührt. Sie starrte noch immer ihre Mutter an und knurrte leise.

Mumm erkannte die Anzeichen. An jedem Samstagabend konnte man sie in den Kneipen von Ankh-Morpork beobachten. Nackenhaare richteten sich auf, und Fäuste wurden geballt, und dann genügte es, wenn jemand eine Flasche zerbrach. Oder blinzelte.

»Wir verlassen das Schloss, Angua«, sagte Mumm. Die anderen Werwölfe standen auf und streckten sich.

Karotte griff nach Anguas Arm. Sie drehte sich um und fauchte. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, und eigentlich hatte sie den Kopf gar nicht bewegt – dann war es vorbei, und sie brachte sich wieder unter Kontrolle.

»Dass isst alsso der junge Mann?«, fragte die Baronin. Ihre Aussprache wurde undeutlicher. »Desshalb verrätst du deine Familie?«

Mumm glaubte zu sehen, wie ihre Ohren wuchsen, und die Muskeln in ihrem Gesicht bewegten sich auf seltsame Weise.

»Und wass hat dich Ankh-Morpork ssonsst noch gelehrrt?«

Angua schauderte. »Selbstbeherrschung«, erwiderte sie leise. »Gehen wir, Herr Mumm.«

Die Werwölfe kamen näher, als sie Richtung Treppe zurückwichen.

»Kehr ihnen nicht den Rücken zu«, sagte Angua ruhig. »Und lauf nicht.«

»Das brauchst du mir nicht extra zu sagen«, antwortete Mumm. Er beobachtete Wolfgang, der über den Boden schlich, den Blick starr auf die Besucher gerichtet.

Sie müssen sich zusammendrängen, um uns durch die Tür zu folgen, dachte er und sah zu Detritus. Die riesige Armbrust schwang hin und her, als der Troll versuchte, alle Wölfe im Schussfeld zu behalten.

»Schieß«, sagte Angua.

»Aber es ist deine Familie!«, entfuhr es Sybil.

»Sie heilen schnell, glaub mir!«

»Detritus, schieß nur, wenn dir nichts anderes übrig bleibt«, sagte Mumm, als sie zur Zugbrücke schritten.

»Er muss jetzt von seiner Waffe Gebrauch machen«, beharrte Angua. »Früher oder später springt Wolfgang, und die anderen…«

»Es gibt da etwas, das du wissen solltest, Herr«, sagte Grinsi. »Du solltest wirklich darüber Bescheid wissen, Herr. Es ist wichtig

Mumm blickte über die Zugbrücke. Viele Gestalten zeichneten sich dort im Dunkeln ab. Fackelschein glänzte auf Rüstungen und Waffen, die den Weg versperrten.

»Na, wenigstens kann es jetzt nicht mehr schlimmer werden«, kommentierte er.

»Oh, es wäre noch schlimmer, wenn es hier Schlangen gäbe«, sagte Lady Sybil.

Karotte drehte den Kopf, als er Mumms kurzes, schnaubendes Lachen hörte.

»Herr?«

»Oh, schon gut, Hauptmann. Behalt die Mistkerle im Auge. Um die Soldaten kümmern wir uns später.«

»Du nur ein Wort zu sagen brauchst, Herr«, grollte Detritus.

»Jetzt ssitzt ihrr in der Falle«, knurrte die Baronin. »Wächterr! Errfüllt eurre Pflicht!«

Jemand kam mit einer Fackel über die Zugbrücke. Hauptmann Tantony erreichte Mumm und richtete einen finsteren Blick auf ihn.

»Tritt zur Seite, Herr«, sagte er. »Tritt zur Seite, oder ich verhafte dich, bei den Göttern – ob du nun Botschafter bist oder nicht.«

Sie musterten sich gegenseitig. Dann sah Mumm zur Seite.

»Lass ihn passieren«, sagte er. »Der Hauptmann hat beschlossen, seine Pflicht zu erfüllen.«