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MITTEN IN DER WELT
Manchmal wurde es auch Jesus zu viel: Dauernd war er von Menschen umgeben, die sich Hilfe von ihm erhofften. Besonders der Evangelist Markus schildert, welchem Andrang Jesus ausgesetzt war. (Mk 3,7-8) Die Leute kamen aus Jerusalem, aus den Gebieten jenseits des Jordans und sogar aus den Küstenstädten der Provinz Syrien. Viele wollten Jesus einfach nur berühren, sodass er oft von den Kranken und Verzweifelten fast erdrückt wurde und nicht einmal zum Essen kam. Dann musste er regelrecht die Flucht ergreifen. Er setzte sich mit seinen Jüngern in ein Boot, und sie fuhren an eine abgelegene Stelle an den Ufern des Sees Gennesaret, um dort allein zu sein. Doch die Menschen liefen ihnen zu Fuß am Ufer entlang nach. Und kaum waren Jesus und seine Begleiter an Land gegangen, waren sie schon wieder von einer Menge umringt. (Mk 6,30-44)
Jesus taten diese Hilfe suchenden Menschen leid. Er forderte sie auf, sich zu setzen, und redete lange zu ihnen. Darüber wurde es einmal Abend, und die Frage kam auf, was man nun mit den vielen Menschen, nach Markus waren es fünftausend, anfangen sollte. Sie waren teilweise sehr weit weg von ihrem Zuhause und hatten Hunger. Die Jünger wollten, dass Jesus sie wegschickt, damit sie sich in den umliegenden Dörfern etwas zu essen besorgten. Jesus lehnte das ab. Stattdessen sollten die Jünger herausfinden, wie viel an Essbarem da war. Das kärgliche Ergebnis waren, so erzählt es Markus, fünf Brote und zwei Fische.
Die Leute sollten sich nun in Gruppen ins Gras setzen. Daraufhin nahm Jesus die Brote und die Fische, blickte zum Himmel, sprach ein kurzes Gebet, und sagte dann zu seinen Jüngern, sie sollten alles verteilen. Und was keiner für möglich gehalten hatte, wurde wahr. Von dem wenigen Brot und den zwei Fischen wurden alle satt und es blieb sogar noch viel übrig.
Diese Geschichte, die in verschiedenen Versionen in allen vier Evangelien erzählt wird (Mt 14,13-21 parr), hat zu allen Zeiten die Interpreten vor eine schwierige Aufgabe gestellt: Wie ist es möglich, mit fünf Broten und zwei Fischen Tausende von Menschen satt zu bekommen? Manche Theologen haben versucht, dieses Wunder ganz natürlich zu erklären, indem sie etwa behaupteten, reiche Frauen hätten Körbe voll Fische und Brot an den Ort geschickt, wo Jesus und seine Anhänger versammelt waren.71 Gegen diese rationale Auflösung haben andere Theologen darauf beharrt, dass die Brotvermehrung eben ein Wunder sei. Und Wunder könne man eben nicht erklären, sie gingen über die Grenzen unseres Verstehens hinaus. Wo die einen das Wunder also ganz in das Diesseits herabziehen, schieben es die anderen in ein fernes Jenseits.
Dass eine natürliche Erklärung der Wunder allzu platt ist, leuchtet ein. Aber auch die übernatürliche Erklärung birgt eine große Gefahr. Sie geht nämlich von unserem neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Weltbild aus, das es zu Jesus’ Zeiten nicht gegeben hat. Wunder sind demnach Ereignisse, die gegen die Naturgesetze verstoßen. Und Jesus’ Göttlichkeit beweist sich folglich darin, dass er diese Gesetze durchbrechen, überwinden kann.
Es war der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der vor dem Gottesbild, das sich aus dieser Vorstellung ergibt, gewarnt hat. Gott wird nämlich zum Lückenbüßer.72 Überall dort, wo Fragen ungelöst sind und die Menschen mit ihrem Wissen und Können am Ende sind, da wird Gott ein Platz zugewiesen. Aber mit der Entwicklung der Wissenschaften, dadurch, dass immer mehr offene Fragen gelöst werden und immer mehr »dunkle« Bereiche unserer Wirklichkeit erklärt werden, wird der Platz für Gott immer kleiner. Die Menschen erobern den Weltraum und nirgendwo ist Gott zu finden. Die Genforschung macht unglaubliche Fortschritte, die immer fragwürdiger werden lassen, ob es so etwas wie menschliche Freiheit, Geist oder eine »Seele« überhaupt gibt. Gott befindet sich auf diese Weise immer mehr auf dem Rückzug. Und es ist absehbar, dass er irgendwann ganz aus unserer wissenschaftlich aufgeklärten Welt gedrängt wird. Was dann von ihm übrig bleibt, ist ein allmächtiger »Zauberer im Jenseits«73, der ab und zu in unsere Welt eingreift, aber ansonsten mit unserer Wirklichkeit wenig oder gar nichts zu tun hat. Und die Aufforderung zu glauben bedeutet dann, dass wir unbeweisbare Behauptungen für wahr halten sollen.
Das sind aber nicht der Gott und der Glaube, den Jesus verkündet hat. Jesus weigerte sich, übernatürliche Taten zu vollbringen, damit die Leute an ihn glaubten. »Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, glaubt ihr nicht«, sagt er einmal resignierend. (Joh 4,48) Nicht der Wundertaten wegen sollten die Menschen an ihn glauben, sondern umgekehrt. Der Glaube an den gütigen, liebevollen Gott verleiht erst die Kraft, Gutes zu bewirken, Menschen zu heilen. So verstanden handelt Gott nicht aus einer weltabgewandten Ferne, sondern mitten in der Welt. Und wenn wir davon reden, dass Gott im Jenseits ist, so dürfen wir das nach Bonhoeffer nicht so verstehen, dass Gott jenseits der Naturgesetze oder jenseits unseres Erkenntnisvermögens zu suchen ist. Sondern es ist ein Jenseits oder, wie die Theologen sagen, eine »Transzendenz«, die wir jederzeit und überall erfahren können. Oder wie Dietrich Bonhoeffer es paradox ausdrückt: »Gott ist mitten in unserm Leben jenseits.«74
Ein Gott, der mitten im Leben erfahren werden kann, macht es vielleicht auch möglich, dass eine Schar von Menschen mit ein paar Broten und Fischen versorgt werden kann. »Der Mensch lebt nicht nur von Brot allein«, sagte Jesus und meinte damit, dass etwas hinzukommen muss. Und nicht von ungefähr steht am Anfang dieses Wunders Jesus’ Blick zum Himmel, so als ob er sich noch einmal der grundlosen Güte Gottes versichern wollte. Es ist der Glaube an diese Güte, die für Jesus das Wichtigste ist, auch für die Menschen. Wer an diese Güte glaubt, kann sich in Gottes Arme fallen lassen und braucht sich keine Sorgen mehr zu machen um den nächsten Tag.
Diese Güte bewirkt eine Verwandlung. Sie kann Menschen das Gefühl geben, zuallererst und von Anfang an Empfangende zu sein und deshalb geben zu können. Sie kann die Angst nehmen davor, dass man zu kurz kommt. Sie kann Menschen so verändern, dass sie nicht mehr sich ängstlich an ihren Besitz klammern, nicht mehr in erster Linie an sich selbst denken, sondern freigiebig werden und lernen zu teilen. Und wenn viele so offenherzig und großzügig werden, kann es vielleicht auch sein, dass ganz wenige Lebensmittel für viele Menschen reichen. Und wäre das dann nicht ein Wunder?
Ein Wunder wäre wohl auch nötig gewesen, damit Jesus sich einmal in Ruhe hätte zurückziehen können. Er wählte den schwierigeren Weg und fuhr mit seinen Jüngern im Boot an das Ostufer des Sees Gennesaret. Dort lag das Gebiet der Dekapolis, ein Verbund von zehn Städten mit vorwiegend griechischer Bevölkerung und hellenistischer Kultur. Als Jesus aus dem Boot stieg, erwartete ihn am Ufer zwar keine Menschenmenge, aber von Weitem sah er schon einen Mann auf sich zurennen. Das muss eine furchterregende Erscheinung gewesen sein. Der Evangelist Markus berichtet, dass dieser Mann in den »Grabhöhlen« wohnte und von dort Tag und Nacht seine Schreie zu hören waren. (Mk 5,1-20) Man hatte versucht, ihn mit Stricken und dann mit Ketten zu fesseln. Aber dieser Mann war so wild und ungestüm, dass ihn niemand bändigen konnte.
Und jetzt kommt er aus seiner Grabhöhle hervor und läuft auf Jesus zu. Man hätte erwarten können, dass er wie vorher viele andere Notleidende sich Jesus zu Füßen wirft und ihn um Hilfe anfleht. Es kommt jedoch ganz anders. Der wilde Mann schreit Jesus an, dass der ihn nicht quälen, sondern in Ruhe lassen soll. Das ist ein extrem widersprüchliches Verhalten und auch Jesus scheint überrascht zu sein. Denn zuerst hat er ihn für jemanden gehalten, der von einem Dämon besessen ist, und er hat dem Dämon befohlen, den Mann zu verlassen. Dieser Befehl hat aber den Widerstand des Mannes erst recht verstärkt. Offenbar hofft der Mann auf Hilfe, gleichzeitig aber hat er Angst davor, dass ihm geholfen wird. Seine Krankheit ist auch ein Schutzraum, in den er sich geflüchtet hat, damit ihm andere Verletzungen und Leiden erspart bleiben. Deswegen bedeutet Heilung für ihn eine Gefahr.
Jesus ändert seine Strategie. Er fragt den Mann nach seinem Namen. Und er erhält die erstaunliche Antwort: »Legion ist mein Name, denn viele sind wir.« Es ist tatsächlich so, als ob viele Stimmen aus ihm sprechen würden, und heute würde man vermutlich sagen, dass dieser Besessene eine multiple Persönlichkeit ist. Er hat kein eigenes Ich, sondern besteht aus vielen Ichs. Diese Ichs können die Einflüsterungen von Eltern oder Lehrern, es können die Hochglanzbilder von Frauen und Männern sein, wie sie in der Werbung und in den Medien als Ideal vorgestellt werden. Diese fremden Vor-Bilder, Meinungen und Erwartungen belagern den Kopf eines Menschen, und es kann ein lebenslanger, ein wütender und wilder Kampf sein, sich dieser Stimmen zu erwehren und seine eigene Stimme zu finden, zu bewahren und zu verteidigen.
Die Therapie, die Jesus anwendet, wirkt heute sehr fremd, ja geradezu märchenhaft. Er erlaubt nämlich den Dämonen, in eine Schweineherde zu fahren, und diese Schweineherde stürzt den Steilhang hinab und ertrinkt im Meer. Die vielen Ichs des wilden Mannes werden also gründlich entsorgt. So rätselhaft dieser Vorgang einem Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts vorkommen mag, so hat er sich bis heute vielleicht doch in dem Ausdruck erhalten, dass jemand »die Sau rauslässt«. Oder wissenschaftlicher und seriöser ausgedrückt könnte man auch sagen, der wilde Mann aus Gerasa agiere seine Aggressionen und Ängste aus. Das bedeutet es nämlich, wenn ein Mensch seine inneren Konflikte und verletzenden Erlebnisse überwindet, indem er sie noch einmal durchlebt und seiner Wut und seinen Enttäuschungen freien Lauf lassen darf – bis er versöhnt und befreit ist.
War Jesus also so eine Art Therapeut? Ganz sicher hat er ein feines Gespür für die Nöte und Sorgen der Menschen gehabt. Aber er war mehr als nur ein Lebensberater. Es ging ihm nicht darum, dass Menschen sich wohlfühlen oder eine positive Lebenseinstellung haben. Sein Angebot war viel radikaler. Die Menschen sollten sich von Grund auf ändern. Sie sollten, so drückt es der Theologe Paul Tillich aus, wieder »ganz werden«, körperlich und seelisch.75 Aber was heißt es, ganz zu werden? Und was ist vorher getrennt, ehe es wieder ganz werden kann?
Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat diese Frage zu beantworten versucht, indem er den Menschen als ein Beziehungswesen beschrieb.76 Er steht in Beziehung zu sich selbst, kann sich also selbst betrachten und feststellen, wie er ist oder sein möchte. Gleichzeitig steht er auch in Beziehung zu anderen, mit denen er sich auch vergleichen kann. In diesem ganzen Beziehungsgeflecht lauert für Kierkegaard eine »Krankheit zum Tode«, nämlich die »Verzweiflung«. Die Gefahr besteht darin, dass jemand »verzweifelt er selbst sein will« oder »verzweifelt nicht er selbst sein will«. Beides läuft auf das Gleiche hinaus, denn in beiden Fällen hat ein Mensch falsche Bilder von sich und möchte sich verzweifelt loswerden. Er ist mit sich unzufrieden und will anders sein, als er ist.
Der tödlichen Krankheit der Verzweiflung kann nach Kierkegaard ein Mensch nur entgehen, wenn er sich frei macht von fremden Bildern und Ideen, wenn er mit sich Freundschaft schließt oder, mit einem Wort, wenn er sich selbst erkennt. Diese Selbsterkenntnis ist aber bei Kierkegaard keine nur psychologische Leistung. Hier kommt eine weitere Beziehung ins Spiel, nämlich die Beziehung zu Gott. Erst wenn ein Mensch sich mit Gott versöhnt, kann er auch mit sich selbst einverstanden sein und damit auch Frieden mit der Welt schließen. Die Freundschaft mit Gott ermöglicht wahre Menschlichkeit. Bleibt Gott für einen Menschen eine Drohung, bleibt er auch mit sich selbst und der Welt uneins. Und diese »Verzweiflung«, dieser Mangel an Selbsterkenntnis und seelischem Frieden ist die Quelle von Unheil. Sich nicht zu erkennen, macht böse. Menschen, die sich nicht erkennen, neigen zu religiösem Fanatismus, zu Geiz, zu Konsumdenken. Sie folgen leicht Wahnideen, legen Bomben und töten Unschuldige im Glauben, die Welt zu erlösen.
Natürlich haben Jesus und die Evangelisten nicht Wörter wie »Egoismus«, »seelisches Gleichgewicht« oder »Therapie« verwendet. Jesus hat sehr oft vom »Reich Gottes« gesprochen, und um verständlich zu machen, was er damit meint, hat er Gleichnisse erzählt. Den Stoff dafür hat er der Welt entnommen, von der er umgeben war. Die Gleichnisse sind wie ein Stück Heimatkunde und vermitteln ein anschauliches Bild vom Palästina zur Zeit Jesu. Sie handeln von der Arbeit auf dem Feld und in Weingärten, von Herren und Knechten, von Blumen und Vögeln, von armen Witwen und reichen Kornbauern, von verlorenen Schafen und Münzen.
Nehmen wir an, es war ein Tag im Frühsommer 29 n. Chr., als Jesus wieder so ein Gleichnis erzählte. Der Evangelist Matthäus berichtet, dass Jesus »das Haus« verließ und sich an das Ufer des Sees Gennesaret setzte. (Mt 13,1-23) Gleich sammelten sich viele Menschen um ihn, und das Gedränge wurde so groß, dass Jesus in ein Boot stieg und sich ein Stück auf den See hinaus fahren ließ, um von dort zu den Leuten zu reden.
Experten glauben, dass sich die Jesus-Bewegung zu dieser Zeit in einer Krise befand.77 Die erste Begeisterung war verebbt. Sich weiterhin zu ihm zu bekennen, wurde eine immer riskantere Sache. Die Schriftgelehrten und Priester hatten sich gegen Jesus gestellt, und er musste damit rechnen, dass die römischen Behörden bald etwas gegen ihn unternehmen würden. Schlimmer noch war, dass sich viele Erwartungen nicht erfüllt hatten. Nicht wenige seiner Anhänger hatten sich enttäuscht von ihm abgewandt. Nüchtern und von außen betrachtet war der »neue Weg« ein ziemlich aussichtsloses Unternehmen: Ein Zimmermann aus einem Kuhdorf in Galiläa, dem Kinder, Frauen, Aussätzige und von Dämonen Besessene nachliefen, der sich mit zwielichtigem Gesindel wie Zöllnern und Huren abgab, der außer ein paar Wundern nichts vorzuweisen hatte – was war von dem zu erwarten? Nicht einmal auf seine Jünger konnte er sich verlassen, immer wieder ließen sie ihn im Stich. Und wo blieb das »Reich Gottes«, von dem er dauernd redete?
Als Jesus vom Boot aus zu den Leuten am Ufer spricht, will er auf diese Ängste, Sorgen und Fragen eingehen. Er erzählt von einem Sämann, der aufs Feld geht und Samenkörner ausstreut. Ein Teil davon fällt auf den Weg und wird gleich von den Vögeln aufgefressen. Ein anderer Teil fällt auf felsigen Boden, geht sofort auf, wird aber von der Sonne verbrannt, weil der Saat die Wurzeln fehlen. Eine Handvoll Körner landet in den Dornen und wird überwuchert. Ein kleiner Teil fällt schließlich doch auf fruchtbaren Boden und daraus wird vielfache Frucht.
Die Zuhörer am Seeufer merken natürlich, dass Jesus sie meint und auch von sich selber spricht. Er ist der Sämann, der durchs Land zieht und seine Worte vom Reich Gottes ausstreut. Wie der Sämann kann er nichts weiter machen, als seine Botschaft zu verbreiten. Was daraus wird, liegt nicht mehr in seiner Macht. Er kann nur abwarten, sonst nichts.
Bei manchen, die seine Worte hören, gehen sie schnell verloren. Vielleicht werden sie von anderen Menschen weggepickt wie im Gleichnis die Körner von den Vögeln. Und man bekommt stattdessen zu hören, dass dieses ganze Gerede von einem Reich Gottes nur das kindische Geschwätz von Leuten sei, die es nicht ertragen könnten, dass das Leben nichts weiter ist als ein Kampf ums Dasein, der mit der Geburt beginne und mit dem Tod ende. Mehr nicht.
Bei anderen Leuten lösen die ausgestreuten Worte gleich eine große Begeisterung aus, die aber merkwürdigerweise schnell wieder verfliegt, wenn sich die ersten Schwierigkeiten ergeben oder ein neuer, anderer Sämann auftaucht, für dessen Botschaft man sich begeistern kann. Es ist aber auch möglich, dass Menschen diese Worte durchaus gerne hören, sie ihnen auch zustimmen, aber mit einem gewissen wehmütigen Lächeln. Denn für sie ist es eine traurige Gewissheit, dass die Wirklichkeit eben mit diesen Worten von einem »Reich Gottes« nicht vereinbar ist.
In dieser Wirklichkeit gibt es Pflichten, Aufgaben, Erfordernisse und Sachzwänge, die eine Einstellung, wie Jesus sie verkündet, nicht zulassen. Seien wir ehrlich, so sagen sie, wer kann es sich schon leisten, zu existieren wie die Lilien auf dem Felde oder wie die Vögel, die unbeschwert in den Tag hinein leben und sich nicht darum sorgen, was morgen sein wird? Und in der Tat – jeder Tag scheint immer aufs Neue zu beweisen, wie richtig und unvermeidlich die Haltung eines illusionslosen Realismus ist. Und dennoch und trotzdem – kann es sein, dass Sorgen und Zwänge jede Möglichkeit, dass es auch anders sein könnte, schon im Ansatz überwuchern wie Dornenranken einen zarten Sprössling?
Jesus ist der lebende Beweis dafür, dass ein solches Leben möglich ist. Aber damit seine Zuhörer das auch glauben, müssen sie aufhören, nach anderen Beweisen und Zeichen zu fragen. Und vor allem müssen sie aufhören, auf eine Erlösung zu warten, die irgendwo in der fernen Zukunft liegt. »Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch«, antwortete Jesus den Pharisäern, die wissen wollten, wann das Gottesreich denn kommt. Dieses Reich kann winzig, verborgen und unscheinbar sein wie ein Samenkorn, aber es ist da, und es kann eine ungeheure Kraft entfalten, wenn es nur im richtigen Boden heranreift.
Allerdings kann man dieses Wachsen nicht aus sicherer Entfernung beobachten wie ein unbeteiligter Zuschauer. Der Boden, von dem Jesus spricht, das sind die Zuhörer selbst, das sind wir selbst. Nur unter dem Einsatz der eigenen Person können wir erfahren, was das »Reich Gottes« bedeutet und wie es sich vermehrt. Aber wie äußert sich dieses »Reich«? Wo sind seine Spuren mitten in der Welt? Und wie kann man sie erkennen?
Der Theologe Paul Tillich hat behauptet, dass es »zwei Seinsordnungen« gibt.78 Diese Ordnungen sind total verschieden und doch ineinander verwoben. Wenn wir sie beschreiben wollen, so müssen wir nach Tillich von uns selber reden, weil wir, so schreibt er, »in jedem Moment unseres Lebens zu beiden gehören«. Die eine Ordnung, die Tillich die menschliche oder historische nennt, erfahren wir vielleicht dann am intensivsten, wenn wir schwermütig sind. Schwermut ist eine dunkle Kraft, die selbstzerstörerisch sein kann. In ihr zeigt sich aber auch unsere »Verwundbarkeit«. Wer schwermütig ist, ist besonders »wertfühlig«79 und leidet unter Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit.
Vor allem ist es der Gedanke, dass alles Leben vergänglich ist, der schwermütig machen kann. Wir gehen jahrelang in Schulen, lernen und arbeiten, setzen uns in unserem Beruf ein, machen Karriere, ziehen Kinder groß, mühen uns ab und kämpfen für unsere Überzeugungen. Aber was hat das alles für einen Sinn, wenn es uns nach wenigen Jahren nicht mehr gibt? »Alles Fleisch ist wie Gras«, so drückt das Alte Testament diese Erfahrung aus. »Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt.« (Jes 40,7) Noch drastischer formuliert es eine Figur in einem Buch des Schriftstellers Botho Strauß, die meint: »Wenn wir nicht mehr sind, weht noch lange der Wind … Wir aber versanden. Wir werden zugeweht wie ein Scheißhaufen am Strand.«80
In dieser Klage steckt bereits der Protest. Alles wehrt sich in uns gegen den Gedanken, dass all unsere Mühen und Hoffnungen umsonst sein sollen. Mit dem Tod können wir uns nicht endgültig abfinden, mit dem Vergessen auch nicht, und Unrecht wollen wir nicht einfach hinnehmen. In diesem Protest meldet sich nach Paul Tillich eine andere Ordnung, eine göttliche. In unserem Leben äußert sie sich dadurch, dass sie uns immer unzufrieden sein lässt mit dem, was uns gegeben ist. Auch für die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann ist ständig der Wunsch in uns wach, »die Grenzen unserer Welt zu überschreiten«. »Innerhalb der Grenzen aber«, so schreibt sie, »haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.«81
Den Blick auf das Unmögliche und Unerreichbare kann man sehen als ein Samenkorn, das auf den Boden unserer Existenz gefallen ist, und das fruchtbar werden kann, wenn wir es nur bemerken und wachsen lassen. In diesem Sinne hat der amerikanische Soziologe Peter L. Berger dazu aufgerufen, die »Zeichen der Transzendenz« in unserem Alltag wiederzuentdecken. Dafür hält er es für nötig, die »Offenheit der Wahrnehmung« wiederzugewinnen, um die »Spuren der Engel« sehen zu lernen.82 Solch eine Spur ist für Berger die Tatsache, dass es sogar an unmenschlichen Orten wie den Konzentrationslagern Humor und Hoffnung gegeben hat. Eine weitere Spur sei die Lust am interesselosen Spiel, wie wir sie in Sport, Kunst und Musik erleben. Im zweckfreien Spiel scheint unsere Wirklichkeit wie außer Kraft gesetzt, als ob ein Stück Ewigkeit in unsere Welt einbricht.
Dass dieses Erlebnis auch heilend wirken kann, darauf hat der Schriftsteller Michael Ende hingewiesen. In einem in Tokio gehaltenen Vortrag meinte er: »Wenn Sie aus einem guten Konzert kommen, meine Damen und Herren, dann sind Sie nicht klüger geworden, aber Sie haben etwas erlebt, das Ihre Ganzheit wiederhergestellt hat, etwas in Ihnen ist heil geworden. Wahre Kunst, Literatur wie Musik, macht den Menschen heil, sie heilt ihn.«83
Mit seinen Worten wollte Jesus auch heilend wirken. Anscheinend ist ihm das nur selten gelungen. Enttäuschend war es für ihn, wenn die Leute ihm nur aus Neugier oder aus einer gewissen Sensationslust zuhörten. Und oft genug riefen seine Worte nur Abwehr und Empörung hervor. Es gab sogar Männer und Frauen, die anfangs begeistert von ihm gewesen waren und nun nur noch den Kopf über ihn schüttelten. »Was er sagt, ist unerträglich«, meinten sie. »Wer kann das anhören?« (Joh 6,60)
Auch auf seine größte Rede, die sogenannte Bergpredigt, die eigentlich eine Zusammenstellung verschiedener Reden ist, reagierte das Publikum eher skeptisch und betroffen. Jesus soll sie ganz in der Nähe von Kafarnaum, auf einem Hügel oberhalb des Ortes Tabgha gehalten haben. Auf diesem Hügel steht heute eine Kirche und man hat von hier einen wunderbaren Blick auf den See Gennesaret. Stellen wir uns also vor, dass sich auf diesem Hügel wieder eine Schar von Menschen um Jesus versammelt hat. Vielleicht sind ein paar Schriftgelehrte darunter, die man aus Jerusalem hierher geschickt hat, um auszuspionieren, was dieser Wanderprediger verkündet. Der weitaus größte Teil jedoch sind ungebildete Landbewohner. Bauern, Handwerker, Fischer, Tagelöhner – Leute also, die ein kärgliches Dasein führen, die von Krankheiten geplagt und von der Steuerlast der Römer schier erdrückt werden.
Diese Menschen haben allen Grund, mit ihrer Lage unzufrieden zu sein. Und es wäre nur zu verständlich, wenn sie von Jesus eine Brandrede erwarten: gegen die Verhöhnung ihrer Religion durch die Besatzungsmacht, gegen die Ausbeutung durch römische Großgrundbesitzer, gegen willkürliche Rechtsprechung und brutale Unterdrückung. Und die Aufzählung all dieser Ungerechtigkeiten könnte dann münden in den Aufruf, dass Gottes Reich nahe sei und man zu den Waffen greifen müsse, um Gottes Ehre zu verteidigen und die Herrschaft der gottlosen Heiden endlich abzuschütteln.
Wer das erwartet, wird enttäuscht. Denn Jesus beginnt damit, dass er die armen Teufel, die da um ihn sitzen, auch noch zu ihrem traurigen Dasein beglückwünscht. So jedenfalls könnte man es auch übersetzen, wenn er alle »seligpreist« (Mt 5,3-12), die im Grunde genommen immer die Verlierer und Außenseiter sind. Die von der Gesellschaft ausgestoßen sind, die übers Ohr gehauen werden, die gegenüber den Mächtigen immer den Kürzeren ziehen, die mit ihrer friedlichen Haltung unter die Räder geraten, die unter Krankheit und Hoffnungslosigkeit leiden.
Jesus schürt nicht den Zorn dieser »Armen«, wie er sie nennt. Er verspricht ihnen auch keine bessere Zukunft. Sondern er sagt, dass gerade ihnen Gott besonders nahe ist. Sie sind das »Salz der Erde«, sie sind das »Licht der Welt«. Ihr »Lohn im Himmel« wird groß sein.
Will Jesus alle diese Zukurzgekommenen nur vertrösten, damit sie sich mit ihrer hoffnungslosen Lage abfinden und nichts dagegen unternehmen? So hat der Philosoph Friedrich Nietzsche die Bergpredigt verstanden und sie als »Sklavenmoral« bezeichnet. In die gleiche Richtung geht auch der Vorwurf von Karl Marx, für den jede Religion »Opium« war, das man dem Volk gibt, damit es nicht aufbegehrt und sich willig ausbeuten lässt. Jesus' Botschaft kann so verstanden werden. Aber damit übersieht man völlig, was Jesus von Anfang an und immer wieder über das »Reich Gottes« und Gottes Gerechtigkeit gesagt hat.
Wenn nämlich das Samenkorn auf fruchtbarem Boden aufgeht, dann vollzieht sich eine völlige Umkehrung der Werte. Was uns normalerweise als abstoßend, schwach, hilflos, minderwertig erscheint, das ist dann anziehend, gut und wertvoll. Jesus will den »Armen« nicht billigen Trost zusprechen, er versichert ihnen, dass Gott auf ihrer Seite ist. Ja, er geht sogar so weit zu sagen, dass alles, was ihnen widerfährt, ihm angetan wird, und das im Negativen wie im Positiven. Wer einem Hungernden Brot und einem Durstenden Wasser gegeben hat, der hat Gott Brot und Wasser gegeben. Und wer einem Leidenden diese Hilfe verweigert hat, der hat sie Gott verweigert. »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«, sagt er an anderer Stelle. (Mt 25,40)
Auf dem Höhepunkt seiner Rede spricht Jesus Forderungen aus, die alles auf den Kopf stellen, was seine Zuhörer bisher geglaubt und gedacht haben. Jesus weiß das und formuliert die Gegensätze in aller Schärfe. Bisher sei gesagt worden: »Auge um Auge, Zahn um Zahn.« Er aber fordert die Menschen nun dazu auf, dem Bösen keinen Widerstand zu leisten und auch die rechte Wange hinzuhalten, wenn jemand auf die linke geschlagen worden ist.
Und damit nicht genug. Es sei einfach, so meint er, nur diejenigen gernzuhaben, die einen auch mögen. Und es sei nichts Besonderes, nur seine Freunde zu grüßen. Jesus aber verlangt mehr: »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen.« (Mt 5,43-44)
Sind das die Träumereien eines weltfremden Idealisten? Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt hat einmal geäußert, dass man mit der Bergpredigt keine Politik machen könne. Jesus hätte ihm recht gegeben. Denn die Forderungen der Bergpredigt können höchstens eine moralische Richtschnur in der Politik abgeben. In erster Linie richten sie sich jedoch an den Einzelnen. Seine innere Umkehr ist unbedingte Voraussetzung. Erst wenn diese erfüllt ist, kann sich daraus ein richtiges Handeln ergeben, das dann natürlich auch politische Folgen haben kann.
Wenn diese Voraussetzung übersprungen wird, wenn also die Bergpredigt zu einer allgemeinen ethischen Forderung oder zu einem politischen Programm gemacht wird, dann besteht die Gefahr, dass sie zu einer politischen Utopie wird, die man mit Gewalt durchsetzen will. Das aber würde heißen, sie ins Gegenteil zu verkehren.
Die Feinde, das sind immer Feindbilder, die nur dann entstehen können, wenn wir uns nicht mehr die Mühe machen, einen Menschen und seine Geschichte kennenzulernen. An die Stelle einer konkreten Begegnung tritt ein Bild, in das wir unsere eigenen Ängste und Vorurteile hineinprojizieren. Das ist ein Prozess einer langsamen Entmenschlichung, und im äußersten Fall fällt es dann leicht, auf ein entmenschlichtes Bild zu schießen oder damit einverstanden zu sein, dass es ausgemerzt wird. Innere Umkehr bedeutet auch, Bilder wieder durch Menschen zu ersetzen, Ängste durch Vertrauen, Vorurteile durch Erfahrung. Wie das geschehen kann, das hat Hermann Hesse einmal in einem seiner Bücher an einem Mann vorgeführt, den man als sein Alter Ego betrachten kann.84
Dieser Mann ist auf Kur in einem Hotel. Aber sein Aufenthalt wird ihm durch einen Gast im Nebenzimmer zur Hölle gemacht. Dieser Gast, ein Holländer, ist nämlich sehr laut. Man hört ihn durch die Wand reden, lachen, gurgeln und husten. Der Kurgast, ein ruhiger und lärmempfindlicher Mensch, beginnt den Holländer langsam zu hassen. Als er ihn auf dem Hotelflur kurz sieht, ärgert er sich auch über dessen affige Weste, sein glattes, selbstzufriedenes Gesicht und über seine scheinbar so unverwüstliche gute Laune. Der Holländer wird zum Inbegriff jener oberflächlichen Touristen, die rücksichtslos ihr Vergnügen suchen und die der Kurgast noch nie ausstehen konnte. Jetzt fällt ihm auch wieder ein, dass es die Holländer waren, die ihre Kolonien bis aufs Blut ausgebeutet haben. Das verstärkt noch seine Abneigung gegen den Zimmernachbarn. Und als der Kurgast wieder nicht schlafen kann, weil der Holländer nebenan wieder laut lacht und hustet, steigert sich seine Abneigung in blinden Hass, sodass er den Störenfried am liebsten auslöschen, totschießen möchte.
Der Kurgast begreift es als ein kleines Wunder, dass er in einem plötzlichen Moment aus seinen Hassfantasien aufwacht wie aus einem bösen Traum. Denn wenn er es recht überlegt, sind seine Vorwürfe gegen den Holländer eigentlich völlig unsinnig. Und er beschließt, seinen »wertlosen Hass« abzubauen und seinen Zimmernachbarn, den Holländer, zu »verwandeln«. »Was ich zu tun hatte«, so heißt es, »war lediglich die Erfüllung jenes wunderbaren Wortes ›Liebet eure Feinde‹. Ich war längst gewohnt, alle diese so merkwürdig zwingenden Worte des Neuen Testamentes nicht bloß moralisch zu nehmen, nicht als Befehle, sondern als freundliche Andeutungen eines wahrhaft Weisen, der uns zuwinkt: ›Probier es einmal, diesen Spruch buchstäblich zu erfüllen, du wirst dich wundern, wie wohl das dir tun wird.‹« Der Kurgast probiert es also. Das ist eine harte Arbeit und dauert die ganze Nacht.
Zunächst führt er sich den Holländer genau vor Augen, in allen Einzelheiten, mit allen körperlichen Eigenarten und Mängeln. Dann stellt er sich vor, wie der Holländer als Kind und Jugendlicher war, wie er schon früh an Asthma litt und den Eltern Sorgen machte. Wie er heiratete, Kinder hatte, wie er langsam älter wurde und unter den ersten ernsthaften gesundheitlichen Problemen litt. So begleitet der Kurgast seinen Zimmernachbarn durch dessen Leben. Allmählich schmelzen die früheren Widerstände und er empfindet Mitleid, ja Sympathie mit diesem Mann. Und nach einer langen, anstrengenden Nacht, in den frühen Morgenstunden hat er es geschafft:
Aus dem Feind ist ein Bruder geworden.