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* 1906 in Breslau 1912 Umzug der Familie nach Berlin 1923 Theologiestudium in Tübingen, Rom und Berlin 1927 Promotion 1928 Erstes theologisches Examen, Vikariat in Barcelona 1930 Zweites theologisches Examen und Habilitation, Studienaufenthalt am Union Theological Seminary in New York 1933-35 Pfarrer der deutschen evangelischen Gemeinde in London-Sydenham 1935 Leitung des Predigerseminars der Bekennenden Kirche in Zingst und Finkenwalde, nach der Schließung 1937 Fortsetzung im Untergrund 1936 Entziehung der Lehrerlaubnis für Hochschulen 1942 Begegnung mit dem Bischof von Chichester, George Bell 1943 Verlobung mit Maria von Wedemeyer 5. April Verhaftung durch die Gestapo unter Beschuldigung der Wehrkraftzersetzung 8. April 1945 Verurteilung zum Tod, Hinrichtung am 9. April

Maria hieß sie, war zwanzig Jahre alt und hatte sich gerade in einen 18 Jahre älteren Mann verliebt. Im Februar 1943 schrieb sie ihm: »Wenn Du mich hier so sehen würdest. Ich glaube, Du würdest mich manchmal gar nicht mögen. – Wenn ich so wild reite und mich mit Stallknechten auf Platt unterhalte. – (…). Wenn ich Grammophon spiele, dazu auf einem Bein durch die Stube hüpfe und auf das andere einen Strumpf mit einem riesengroßen Loch ziehe, (…) Ich mache noch viel schlimmere Sachen. Ich rauche eine Zigarre, weil ich solch ein Ding noch nie geraucht habe und doch wissen muß, wie das ist, und dann ist mir so sauhundeschlecht, daß ich weder zum Mittag noch zum Abendbrot etwas essen kann. – Oder ich stehe in der Nacht auf, ziehe ein langes Kleid an, tanze wie wild im Saal – gehe mit Harro spazieren und schlafe dafür am ganzen Vormittag durch.«

Im Mai 1944 schrieb sie, nachdem sie bei herrlichem Frühlingswetter im Garten gearbeitet hat: »Und vor allem freue ich mich drauf, das einmal in einem eigenen Gärtchen tun zu dürfen. Hilfst Du mir dann? Stellst Du Dir das nicht wahnsinnig lustig vor, wenn wir beide zusammen unseren Garten hübsch machen. In die Mitte kommt ein großer Rasenplatz, auf dem im Frühjahr Krokusse und dann Schlüsselblumen und Vergißmeinnicht wachsen. (…) In unserm Garten steht ein weißer Tisch mit Bank und Stühlen und im Sommer frühstücken wir draußen. Einen Hund haben wir vielleicht auch. – Es wird traumhaft schön werden. Und ich freue mich drauf!«

Der Traum wird sich nie erfüllen.

Der Mann, dem diese Briefe gelten, sitzt im Gefängnis und geht ein Jahr später aufs Schafott. Dietrich Bonhoeffer heißt er, Pfarrer ist er und gehört zu den wenigen in Deutschland und in der Evangelischen Kirche, die Hitler von Anfang an durchschauen und darum konsequent und kompromisslos bekämpfen.

Im Januar 1943 hat er sich mit Maria von Wedemeyer verlobt. Kaum drei Monate später wird er verhaftet. Aus dem Gefängnis schreibt er an den Freund Eberhard Bethge über seine Beziehung zu Maria: »Nun sind wir fast ein Jahr verlobt und haben uns noch nie eine Stunde allein gesehen. Ist das nicht Wahnsinn?«

Bei diesem Wahnsinn bleibt es.

Dietrich und Maria leben ihre kurze Liebe über Briefe aus. Zuletzt gibt es nicht einmal mehr Briefe. Der Kontakt zwischen den beiden reißt ab, als die Nazis ihn aus seinem Berliner Gefängnis holen, um ihn über mehrere Stationen quer durch Deutschland ins Lager Flossenbürg zu bringen. Als er dort am 9. April gehängt wird, wissen weder Maria noch seine Angehörigen, wo er ist, ob er noch lebt oder schon tot ist. Erst nach Kriegsende können sie mühsam in Erfahrung bringen, wie die letzten Monate in Dietrich Bonhoeffers Leben endeten.

Aus welchem Holz muss einer geschnitzt sein, der solch einen Leidensweg auf sich nimmt? Bonhoeffer hätte nach seiner Verlobung noch rechtzeitig aussteigen, sich aus der Gefahr begeben, mit seiner Maria ins Ausland fliehen können. Jeder normal verliebte Mensch hätte das getan, hätte sich gesagt: Pfeif auf Hitler, pfeif auf den Widerstand, die Liebe meines Lebens ist mir jetzt wichtiger, ich muss an unsere gemeinsame Zukunft denken. Er hat es nicht getan.

Und sie, Maria? Sie trug es mit. Nie hat sie ihn gebeten, um ihrer gemeinsamen Zukunft willen von seinem gefährlichen Tun abzulassen. Sie hat gebangt, gezittert um ihn, aber sich nie beklagt, nie daran gezweifelt, dass er tun muss, was er tut. Beide stimmten darin überein, dass es etwas gibt, was das Menschsein übersteigt und wichtiger ist als alles andere, wichtiger auch als ihre Liebe.

Wie wird man so? Wie entwickelt sich aus einem Kind ein junger Erwachsener, der lieber ins Gefängnis geht und seinen Tod in Kauf nimmt, als seine Verliebtheit auszuleben? Woher weiß einer, wann er ruhig mit dem Strom schwimmen kann und wann unter gar keinen Umständen? Woher nimmt er die Kraft, gegen den Strom zu schwimmen, woher den Mut, die Sicherheit des eigenen Urteils? Und woher die Gelassenheit gegenüber der Gefahr des Todes?

Bei den Menschen, die wir heute als Widerstandskämpfer bezeichnen, handelte es sich um sehr unterschiedliche Charaktere. Die einen waren zu Beginn für Hitler oder zumindest nicht gegen ihn und haben längere Zeit gebraucht, um gegen ihn zu sein, und noch länger, um ihn aktiv zu bekämpfen. Viele Offiziere der Wehrmacht gehörten zu dieser Gruppe. Andere, meist eher unpolitische Menschen, verhielten sich anfangs neutral, gleichgültig, abwartend, bis sie aktiv wurden. Eine dritte Gruppe wusste von Anfang an: Diesen Hitler, seine Helfer, deren Weltanschauung und deren Politik muss man bekämpfen, kompromisslos. Das waren in der Regel Kommunisten, die aber zuvor leider auch die Demokratie bekämpft und deshalb mit dazu beigetragen haben, Hitler zu ermöglichen. Und: Sie waren gegen Hitler, weil sie für Stalin waren, den anderen Diktator und Massenmörder.

Und dann gab es noch einige wenige wie Bonhoeffer, die von Anbeginn gegen diese ganze Diktatur kämpften, aber nicht, weil sie Kommunisten waren, sondern Christen. Und von jenen war Bonhoeffer der Entschiedenste, der schon ganz früh öffentlich opponierte und wusste: Da gibt es nicht viel zu diskutieren, da hat man keinen Entscheidungs- und Interpretationsspielraum. Entweder ist man Christ, dann kann man kein Nazi sein. Oder man ist Nazi, dann kann man kein Christ sein. Und dann gab es plötzlich massenhaft beides, christliche Nazis, nationalsozialistische Christen. Etwas, was Bonhoeffer zwar erschütterte, aber nicht verunsicherte, sondern nur sein theologisches Denken tief greifend veränderte.

Schon als junger Mann hatte er, wo andere schwankten, ein entschiedenes Urteil, kein vorschnelles, sondern eines, das Bestand hatte über den Tag hinaus. Als der 16-jährige Schüler Bonhoeffer im Jahr 1922 hörte, der Reichsaußenminister Walther Rathenau sei von Rechtsextremisten erschossen worden, habe Bonhoeffer mit großer Entrüstung reagiert, berichtet einer seiner Mitschüler. Rathenau war ein auf Ausgleich bedachter Friedenspolitiker, der Deutschland zu einem verlässlichen Partner in Europa entwickeln wollte. Seine Position war jedoch damals in konservativen Kreisen, im Adel, im Militär höchst umstritten. Nur wenige teilten sie, zu den wenigen gehörte Bonhoeffer.

Über dessen Reaktion auf den Rathenau-Mord sagte der genannte Mitschüler: »Ich erinnere mich, dass er fragte, wo denn Deutschland hinkommen solle, wenn man ihm seine besten Führer ermorde. Ich erinnere mich daran, weil ich es bewunderte, dass man so genau wissen konnte, wo man stand.«

Zu wissen, wo man steht, war nicht leicht in der jungen, von vielen Seiten angefeindeten Weimarer Demokratie. Bonhoeffer jedoch wusste es stets mit fast traumwandlerischer Sicherheit. Hitler war noch gar nicht an der Macht, aber schon gab Bonhoeffer wie ein Seher merkwürdige Sätze von sich. Verstanden haben sie wohl nur wenige, viele hielten sie für übertrieben, aber schon wenige Jahre später wurden sie traurige Realität: »Wir müssen uns nicht wundern, wenn auch für unsere Kirche wieder Zeiten kommen werden, wo Märtyrerblut gefordert werden wird«, sagte er in einer Predigt im Juni 1932.

Und als Hitler dann am 30. Januar 1933 zum Kanzler ernannt wurde, trug Bonhoeffer nur zwei Tage später im Rundfunk seine gegen Hitler gerichteten Gedanken über die Figur des Führers vor, der in der Gefahr steht, zum Verführer zu werden. Obwohl er da noch fast ganz im Sinne des konservativen Bürgertums argumentierte, gegen die Führerschaft einzelner Menschen nichts einzuwenden hatte und über Hitler selbst kein Wort verlor, brach die Sendeleitung Bonhoeffers Radio-Essay vorzeitig ab – zu brisant waren seine Gedanken, zu deutlich erkennbar war die indirekte, in seinen allgemeinen Erwägungen enthaltene Kritik an jenem Verführer, der sich mit »mein Führer« anreden ließ.

Während also die Masse des Volkes Hitlers Ernennung zum Reichskanzler feierte, andere sich noch abwartend verhielten und nicht wenige, selbst viele Juden, sich der irrigen Annahme hingaben, bei Hitler handle es sich um einen kurzen Spuk, gehörte Bonhoeffer schon zu jener sehr kleinen Minderheit, die mit untrüglichem Instinkt spürte, dass nun alles auf eine Katastrophe zusteuern würde, wenn den Nationalsozialisten kein Einhalt geboten werde. Tief sitzende antijüdische Vorurteile in gebildeten, konservativen, kirchlichen und sogar liberalen Kreisen waren weit verbreitet. Kaum jemand ergriff Partei für die jüdischen Mitbürger, die nun von Tag zu Tag mehr unter Schikanen und Gewalt zu leiden hatten. Nur Bonhoeffer hatte lediglich zwei Monate gebraucht, um unerschrocken und deutlich wie immer seiner Kirche öffentlich ihren Platz an der Seite der Juden zuzuweisen.

Mit derselben Unerschrockenheit formuliert er zu dieser Zeit auch schon klar und hellsichtig wie kaum ein anderer ein Programm des Widerstands, das er dann später tatsächlich ganz konsequent durchziehen wird bis zu seinem Tod: Wenn der Staat gegen seine elementaren Pflichten verstößt und die Fundamente des Rechts aushöhlt, dann stehen der Kirche drei abgestufte Verhaltensmuster zur Verfügung. Erstens muss sie öffentlich Stellung beziehen gegen solch einen Staat, zweitens muss sie sich um die Opfer staatlichen Handelns – also beispielsweise um die Juden – kümmern und drittens besteht die Pflicht der Kirche darin, »nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen«, womit gemeint ist: handfest einzugreifen, den Wagen zum Stehen zu bringen, durch aktiven Widerstand.

Nur ganz wenige hatten damals Ohren für diese Botschaft. Früh schon wurde es einsam um Bonhoeffer und es stellt sich die Frage: Warum haben nicht alle so klarsichtig und entschieden gehandelt wie er? Wie konnte die Masse der Deutschen sich dieser einzig richtigen und wahrhaft vernünftigen Position Bonhoeffers widersetzen? Und woher nahm Bonhoeffer die Kraft und die Sicherheit, der Masse zu widerstehen?

Letztgültig lassen sich solche Fragen nicht beantworten, aber vermutlich gilt für Widerstandskämpfer auch nur, was für alle Menschen gilt: Was aus einem wird, hängt am wenigsten von ihm selber ab, sondern von den Zufällen, in die einer hineingeboren wird und die ihm im Lauf seiner Entwicklung widerfahren. Auch Widerstandskämpfer wird man vermutlich nur zu einem geringen Teil aus eigener Kraft und zu einem großen aus geschenkter.

Der Tank, aus dem in der Regel die meiste Kraft kommt, die Kraft fürs Leben, ist etwas sehr Altes und sehr Einfaches: die Familie. Zu welchen Überzeugungen einer gelangt, welcher Charakter in ihm heranreift, wofür er sich interessiert und wofür nicht, ob er für seine Überzeugungen kämpft oder sie verleugnet oder nie welche entwickelt, wird stark vorbestimmt von der Familie, in der er aufwächst.

Natürlich spielen auch die Gene, körperliche Robustheit, Gesundheit und die geistig-seelischen Anlagen, mit denen einer geboren wird, eine Rolle. Aber auch das kommt von Mutter und Vater und deren Vorfahren. Im Verlauf der Entwicklung eines Kindes üben mit fortschreitender Zeit die Geschwister einen wachsenden Einfluss aus, dazu Verwandte, Lehrer, Pfarrer, und nicht zu vergessen die Lektüre und die religiös-weltanschaulichen Überzeugungen, mit denen ein Kind in Berührung kommt, was aber ebenfalls zum großen Teil ein Ergebnis des Familienlebens und eine Folge unvorhergesehener Ereignisse, Erlebnisse und Zufälle ist.

Was an dem Ort, an dem man aufwächst, gedacht wird, als Wahrheit gilt, für gut befunden wird und was nicht, das dringt unaufhaltsam in Leib, Seele und Geist eines heranwachsenden Menschen ein und gewinnt Macht über ihn. Wenn einer in eine Welt hineingeboren wird, in der er von lauter Mitläufern umgeben ist, wird er sehr wahrscheinlich ebenfalls ein Mitläufer. Denkt seine Welt antisemitisch, entwickelt er sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Antisemiten.

Bevor also einer überhaupt erst damit beginnen kann, sich selbst zu formen, ist er schon vorgeformt worden von den Zusammenhängen und Strukturen, die nun einmal da sind, wenn man geboren wird, von einer Gesamtkonstellation, die sich aus dem Zusammenspiel von Familie, Politik, Wirtschaft, Technik, Religion, Geschichte, Landschaft, Schuldzusammenhängen und Verstrickungen seiner Zeit ergibt. So wird jeder zu einem Kind seiner Zeit und meistens gelingt es immer nur wenigen, sich von diesen zufälligen, aber prägenden Konstellationen zu emanzipieren und sich seine eigene Form zu geben. Es müssen viele günstige Umstände zusammenkommen, wenn einer es schafft, sich über die Zufälle seiner Existenz zu erheben, sich mit den Bedingtheiten seines Lebens auseinanderzusetzen, und sie in freier Entscheidung zu überwinden.

Man kann das gut zeigen am Beispiel des Pfarrers und Theologen Dietrich Bonhoeffer. Bei ihm ist es ein großbürgerlicher Professorenhaushalt in Breslau, in den er im Februar 1906 als sechstes von acht Geschwistern hineingeboren und in dem er geprägt wird. Die Familie bewohnt eines jener großen Bürgerhäuser, die man heute als »Herrenhaus« bezeichnen würde, und seine Bewohner fühlen sich auch so. Man weiß, wer man ist. Man hat Personal, Gesinde, das zu solch einem Haus gehört: die Köchin, das Stubenmädchen, der Chauffeur, die Erzieherin und weitere Dienstboten. Geldsorgen kennt die Familie nicht. Die Kinder haben genug Spielzeug, Bücher, Platz für Freunde, ein eigenes Zimmer, einen Garten und ein Ferienhaus im Harz.

Aber man versteht sich als Herr im guten Sinn. Im Hause Bonhoeffer beruft man sich nicht auf seine Herkunft, sondern auf seine Leistung. Man fühlt sich nicht geboren, um zu herrschen, sondern um zu dienen: Zwar mit Autorität und dem Anspruch auf Gehorsam, aber in Verantwortung für die, die einem anvertraut sind. Die Welt ist klar geordnet, die Rollen sind ebenso klar definiert und eindeutig zugewiesen. Wie in der Familie der Vater als Patriarch in der Mitte stand und alles dominierte, so stand in der Nation der Kaiser an der Spitze, und ihm war alles andere untergeordnet. Der Staat, die Nation, das Militär, das waren zu jener Zeit drei Faktoren, die sich selbstverständlicher und zugleich höchster Wertschätzung erfreuten im Bürgertum, im Großen und Ganzen auch im Hause Bonhoeffer.

Und so steht denn auch im Zentrum der Familie der Vater, Karl Bonhoeffer, Professor für Psychiatrie und Neurologie. Er ist nicht nur Vater, sondern eine Institution, zu der man als Kind Distanz hält und der man sich nur mit Respekt nähern kann. Er spricht leise und nicht viel. Umso größer ist die Aufmerksamkeit, wenn er etwas sagt, und umso gewichtiger ist das wenige, das er sagt. Entsprechend verlangt er auch von seinen Kindern, sich knapp, klar und sachlich auszudrücken – womit er diese einerseits einschüchtert, ihnen manche Hemmung auferlegt, sie andererseits zwingt, vor dem Reden zu denken.

Über die dadurch erzeugten Hemmungen dachte Bonhoeffer später, als Erwachsener, nach und kam zu dem Schluss, dass sie für ihn am Ende ein Vorteil waren: »Manche verderben sich selbst dadurch, dass sie sich mit Mittlerem abfinden und so vielleicht schneller zu Leistungen kommen, sie haben eben weniger Hemmungen zu überwinden. Ich habe es als einen der stärksten Erziehungsfaktoren in unserer Familie empfunden, dass man uns so viele Hemmungen zu überwinden gegeben hat (in Bezug auf Sachlichkeit, Klarheit, Natürlichkeit, Takt, Einfachheit etc.), bevor wir zu eigenen Äußerungen gelangen konnten. (…) Und manchmal dauert es lange, ehe man eine solche Hürde genommen hat, und man denkt wohl auch gelegentlich, man hätte auf sehr viel billigere, leichtere Weise zu Erfolgen kommen können, wenn man diese Hindernisse einfach umgangen hätte.«

Meistens sahen die Kinder ihren Vater nur bei Tisch, immer mittags um zwei, und dort ging es – nach heutigen Maßstäben – etwas steif zu. Die Kinder durften nur etwas sagen, wenn sie gefragt wurden. Hielt der Vater im Haus nachmittags Sprechstunde für seine Patienten, wurde von den Kindern absolute Rücksichtnahme verlangt. Das Arbeitszimmer des Vaters war tabu und durfte nur in ganz seltenen Ausnahmefällen mit besonderer Erlaubnis der Mutter betreten werden.

In den meisten bürgerlichen und großbürgerlichen Haushalten war das damals so. Das Leben, das Verhalten wie die Überzeugungen waren in ihren Grundmustern genormt. Selbstverständlich war man national gesinnt, selbstverständlich akzeptierte man die Monarchie. Und dass alle führenden Köpfe der Nation aus dem Adel und dem Großbürgertum stammten, hielt man für so selbstverständlich wie ein Naturgesetz. Auch der junge Dietrich Bonhoeffer dachte so, hielt nichts von der Sozialdemokratie, den Arbeiterparteien und schon gar nichts von den Kommunisten. Diese Kräfte bedeuten für ihn damals Unordnung, Chaos, die Macht der Straße, Anarchie, Bolschewismus.

Er hatte bis dahin allerdings auch nie seine großbürgerlichen Kreise verlassen, hatte nie einen Anlass, in jene Armutsviertel zu gehen, in denen die Arbeiter, die Arbeitslosen und sein Dienstpersonal lebten. Später, als Pfarrer, wird er in diese Viertel gehen. Und seine Meinung ändern.

Dass er es tut und sich damit aus seiner Familie entfernt, wurzelt dennoch im Leben seiner Familie. Innerhalb der ganzen Uniformität des Großbürgertums blieb noch ein großer Spielraum für beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Häusern, und diese Unterschiede brachten unterschiedliche Biografien hervor. So wissen sich die Bonhoeffer-Kinder bei aller Distanz zum Vater und dessen damals üblicher Strenge auf eine verborgene Weise dennoch von ihm geliebt, was damals noch weniger selbstverständlich war als heute. Sie bemerken die Liebe ihres Vaters nicht an seinen Worten, schon gar nicht an zärtlichen Gesten, Umarmungen, Gefühlsäußerungen, sondern an den Nuancen menschlichen Verhaltens, der sparsamen, von angestrengter Selbstbeherrschung reduzierten Mimik, Gestik und Sprache ihres Vaters.

Als im Jahr 1918 Dietrichs Bruder Walter im Ersten Weltkrieg getötet wird, zeigt der Vater äußerlich kaum eine Regung. Wie tief sein Schmerz tatsächlich war, wird erst sehr viel später deutlich, als die Familie herausfand, dass er von jenem Tag an zehn Jahre lang das Familientagebuch nicht weiterschreiben konnte.

Mindestens so wichtig wie der Vater war die Mutter Paula. Mütter durften Gefühle zeigen und Paula strömte über von Gefühl, machte aber auch deutlich, dass Gefühl und Verstand zusammengehören. Und: Sie hielt nichts von der preußischen Erziehung, dem Drill, der Unterwerfung, der Erziehung zu Ruhe und Ordnung als erster Bürgerpflicht. Kritisch äußerte sie immer wieder, den Deutschen würde im Leben gleich zweimal das Rückgrat gebrochen, zuerst in der Schule, dann im Militär – eine durchaus zutreffende Beschreibung der Erziehung im Reich des Kaisers Wilhelm. Wohl auch eine der Ursachen dafür, dass später ein Hitler möglich werden konnte und so viele zum Gehorsam erzogene Offiziere und Beamte sich bis zuletzt so schwer getan hatten, gegen Hitler aufzustehen.

Im Haus Bonhoeffer dagegen atmete ein Geist der Freiheit und der kritischen Prüfung. Sowohl der Vater wie die Mutter haben diesen Geist gefördert und der Vater als Mann der Wissenschaft impfte seine Kinder mit nüchternem Realitätssinn und Misstrauen gegen große Worte, große Gefühle, Phrasen, Geschwätz, Schlagwörter, Gemeinplätze und Wortschwalle. So erzogene Kinder mussten fast zwangsläufig immun werden gegen den Pomp des Nationalsozialismus, die Beschwörung falscher Gefühle, die Lüge und die Heuchelei. Wo andere der Faszination der Massenaufmärsche, dem Führerkult, dem bloßen Schein, dem falschen Pathos und dem Glamour der nationalsozialistischen Inszenierungen erlagen, durchschauten die Bonhoeffers von Anfang an, welche Dämonen hinter der glänzenden Fassade ihr Unwesen trieben. Sie hörten aus der Sprache der NS-Redner deren barbarische Gesinnung und deren Mangel an Geist, Kultur und Bildung heraus. Wo andere vor Ehrfurcht schauderten, erkannten sie die Jämmerlichkeit der Figuren, die sich da zu Übermenschen aufgeblasen hatten.

Insofern hatten die Bonhoeffer-Kinder einfach Glück mit ihrem Elternhaus. Glück hatten sie auch noch auf andere Weise. Sie lernten schon am Familientisch, dass man sich politisch streiten kann, ja soll, dass man unterschiedliche Meinungen über die Monarchie und das kaiserliche Deutschland haben kann, und dass es diese unterschiedlichen Meinungen auch in der eigenen Familie und ihrer sehr bunten Verwandtschaft gibt, und zwar schon länger. Die Familie des Vaters bestand durchaus nicht nur aus treuen Untertanen des Kaisers, sondern es gab auch schon liberale Demokraten, und unter den adligen Vorfahren der Mutter gab es auch manchen Aussteiger und auch einen, der im Gefängnis war, weil er 1848 für die Republik gekämpft hatte.

Im großen Haus der Eltern lebten zeitweise ledige oder verwitwete Tanten, ältere Vettern und die Großmutter. Onkel und Cousinen kamen zu Besuch, aber auch Kollegen und Studenten des Vaters, Freunde und Freundinnen aus der Nachbarschaft, Bräute und Verlobte der älteren Geschwister – was ebenfalls ein großes Glück ist für ein Kind. Wie viel Anregungen für die Fantasie, wie viel Anlässe zum selbstständigen Weiterdenken ein Kind allein aus den vielfältig aufgeschnappten Erzählungen, Meinungsäußerungen, Streitigkeiten, Gesprächsfetzen und den persönlichen Beziehungen in solch einem von den unterschiedlichsten Menschen bevölkerten sozialen Kosmos erhält, kann man kaum ermessen.

Und schließlich: Als Dietrich Bonhoeffer sechs Jahre alt ist, zieht die Familie aus Breslau nach Berlin. Der Vater übernimmt dort den führenden Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie und die Leitung der Berliner Charité. Damit ist er nun weit oben angekommen in der gesellschaftlichen Hierarchie des Kaiserreichs aber auch in der internationalen Hierarchie der Wissenschaftler. Er wohnt standesgemäß in einer Villa im Professorenviertel im noblen Stadtteil Grunewald und hat als Nachbarn den Physiker Max Planck, den Theologen Adolf von Harnack, den Historiker Hans Delbrück. Die besucht man auch und die kommen selbst zu Besuch ins Haus. Im Schlepptau haben sie oft auch noch Gäste aus dem Ausland, berühmte Gäste meistens, und wenn nicht berühmt, so zumindest bedeutend. Menschen, die andere Leute nur aus der Zeitung oder dem Lexikon kennen, gehen im Hause Bonhoeffer ein und aus und hinterlassen ihre Eindrücke in Dietrichs Kopf.

Ein weiterer für die Entwicklung Dietrich Bonhoeffers wichtiger Punkt, in dem er sich von seinen Durchschnitts-Zeitgenossen unterschied, war sein früh erworbener Kosmopolitismus. 1934, also ein Jahr nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, hatte der damals 28-jährige Bonhoeffer schon einen Studienaufenthalt in Rom, ein Vikariat in Barcelona, ein Studiensemester in New York und ein Jahr als Pfarrer in London hinter sich. Noch vor Vollendung seines 30. Lebensjahres war Bonhoeffer international vernetzt und hatte gelernt, dass auch andere Völker und Nationen ihre Dichter und Denker hatten und über eine den Deutschen in jeder Hinsicht ebenbürtige Kultur und Wissenschaft verfügten.

Aus diesen Glückstreffern aber machte Bonhoeffer dann sein Eigenes. Begonnen hatte er damit schon in frühester Jugend, als er sich im Alter von 15 Jahren entschied, an seinem Gymnasium Hebräisch als Wahlfach zu nehmen. Das war praktisch schon die Vorentscheidung für die Theologie, die er dann später tatsächlich studierte.

Warum ausgerechnet Theologie? Warum nichts Handfestes wie seine Geschwister, die Naturwissenschaftler, Juristen oder wenigstens Sozialpädagogen wurden? Sein Vater, das spürte er, sah es ungern, obwohl er kein Wort darüber verlor und sich nie erlaubt hätte, seine Kinder daran zu hindern, ihre eigenen Wege zu gehen. Die Gründe konnte der junge Bonhoeffer anscheinend selbst nicht so richtig nennen. Vielleicht war es ja einfach nur der Wunsch, etwas ganz anderes machen zu wollen als seine Geschwister und der Vater, um sich auf einem der Familie fremden Feld selbstständig zu bewähren.

Aber dass die Entscheidung richtig war, daran gab es, je älter er wurde, umso weniger Zweifel. Und später, als Bonhoeffer mitten im Getümmel des gefährlichen Widerstands gegen Hitler steckte, sah auch der Vater ein, dass er sich mit seiner unausgesprochenen Geringschätzung des Theologen und Pfarrers wohl geirrt hatte. In einem Brief gestand der Vater dem Sohn: »Als Du Dich seinerzeit für die Theologie entschlossen hast, dachte ich manchmal im Stillen, dass ein stilles, unbewegtes Pastorendasein, wie ich es von meinen schwäbischen Onkeln kannte und wie es Mörike schildert, eigentlich doch fast zu schade für Dich wäre. Darin habe ich ja, was das Unbewegliche anlangt, mich gröblich getäuscht. Daß eine solche Krise auch auf dem Gebiete des Kirchlichen noch möglich wäre, schien mir aus meiner naturwissenschaftlichen Erziehung heraus eigentlich ausgeschlossen.«

Wie der Vater, so hatten auch Bonhoeffers Lehrer an der Universität und seine Kollegen und Vorgesetzten in der Kirche nicht mit etwas gerechnet, womit man in der Kirche eigentlich immer rechnen sollte, auch wenn es viel zu selten geschieht: Bonhoeffer nahm die Bibel beim Wort. Nicht wörtlich im Sinne von Buchstabenglaube nahm er das Wort Gottes, sondern ernst nahm er es, tödlich ernst.

Für Bonhoeffer hat nie ein Zweifel daran bestanden, dass Leben und Glauben zusammengehören. Fast instinktiv hat er die in seiner Kirche allgegenwärtige Tendenz bekämpft, scheinbar sauber zu trennen zwischen relevanter »Welt« und irrelevantem »Evangelium«. Was einer im Hören auf das Wort Gottes als wahr erkannt hat, muss er öffentlich aussprechen. Und was er öffentlich ausgesprochen hat, muss er tun. Was sonntags gepredigt wird, muss werktags gemacht werden, auch wenn es unbequem ist. Der christliche Glaube ist nicht dazu da, wohlhabenden Bürgern eine erbauliche Stunde im Sonntagsgottesdienst zu bereiten, ihrer Bürgerlichkeit die religiösen Weihen zu verleihen und das Sahnehäubchen für ihr sorgenfreies Leben abzugeben.

Bonhoeffer las daher die Bibel nicht zu seiner Erbauung oder zur Befriedigung religiöser Gefühle, sondern weil er tatsächlich erwartete, dass durch den alten Text über den Graben der Geschichte hinweg Gottes Stimme selbst zu hören ist. Wohl wissend, dass diese alten, schwer verständlichen Texte der Bibel zu ganz anderen Zeiten von uns völlig fremden Menschen für ganz andere Menschen als uns geschrieben wurden, las er in der Erwartung, aus diesen Buchstaben das lebendige Wort Gottes herauszuhören. Wer sich ganz ehrlich diesem toten Buchstabenhaufen öffnet und wirklich aufmerksam und unvoreingenommen hinhört, der wird auch etwas hören, und zwar das aktuell, jetzt für die jeweilige Gegenwart gültige Wort Gottes – das hat Bonhoeffer geglaubt.

In diesem Glauben hat er dann auch tatsächlich etwas gehört. Das passiert selten in der Kirchengeschichte, aber zuverlässig immer wieder, und wenn es passiert, ist in der Kirche meistens der Teufel los. Genau das geschah auch, als Bonhoeffer einfach ernst machte mit dem Evangelium und sich von diesen alten Texten durch seine Gegenwart führen ließ wie ein Blinder von seinem Blindenhund. So, nicht anders, wurde er herausgeführt aus seiner bürgerlichen Herkunft, immer weiter weg von seinem staatsgläubig protestantischen Traditions-Christentum.

Daran erkennt man im Übrigen mit hoher Verlässlichkeit, dass einer wirklich Gott gehört hat und nicht sich selbst, dass es einen wegführt vom Gewohnten, meistens mit Unannehmlichkeiten verbunden ist für einen selbst und die anderen und in der Regel großen Ärger einbringt. Was aber hat Bonhoeffer »gehört«? Natürlich nicht einen Ruf wie Donnerhall nach dem Muster: Werdet Widerstandskämpfer! Auch nicht: Stürzt Hitler! Oder: Mischt kräftig in der Politik mit!

Nein, was er hörte, waren einfach nur Gedanken, die sich ganz leise in seinem Kopf zusammensetzten und sachliche, unspektakuläre, aber eindeutige Sachverhalte ausdrückten: Was bei euch mit den Juden geschieht, ist nicht Gottes Wille. Oder: Was dieser Hitler tut, steht ihm nicht zu. Er überschreitet seine Grenzen.

Mehr war es nicht. Aber wenn einer so etwas hört und ernst nimmt, ergibt sich der Rest von selbst.

Hitler begann mit der Zerstörung der Demokratie vom ersten Tag seiner Kanzlerschaft an. Versammlungsverbote, Gleichschaltungsgesetze, der geduldete, teilweise staatlich geförderte Terror der Straße, angeführt von SA-Trupps, Einschüchterung der Gegner, Verhaftung der Kritiker, das nahm nun kein Ende mehr. Am 7. April 1933 eröffnete die Regierung die offizielle, staatlich betriebene Hetze gegen die Juden mit dem »Arierparagrafen«. Sein Inhalt: »Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.« Das hieß: Die Juden waren aus dem Staatsdienst zu entlassen. Wovon sie künftig leben sollten, war dem Staat egal.

Die Kirchen waren von dem Paragrafen nicht betroffen. Noch nicht. Aber Bonhoeffer ahnte schon, was kommen würde, schrieb deshalb vorsorglich einen Vortrag über Die Kirche vor der Judenfrage, und noch im selben Monat, also im April, trug er ihn in einem Kreis von Pfarrern vor. Es ist jener bereits erwähnte Vortrag, in dem er davon spricht, dass es zur Pflicht der Kirche werden könnte, »dem Rad in die Speichen zu fallen«.

Es ist ein streng theologischer, im Grunde fast unpolitischer Vortrag. Als guter Lutheraner gestand Bonhoeffer dem Staat das Recht zu, auch die »Judenfrage« gesetzlich zu regeln. Als konservativer Theologe und Kind seiner Zeit war er, wie alle anderen, ganz unschuldig und naiv davon überzeugt, dass natürlich die Juden einem falschen Glauben anhingen, im Irrtum, ja in der Verstocktheit lebten, dass sie bekehrt werden müssen und eines Tages auch bekehrt werden. Aber dann verlässt er den Boden der bisher gültigen Luther-Theologie und behauptet, die Kirche habe den Staat zu fragen, ob er sein Handeln verantworten könne. Schon das war ein heftiger Angriff gegen alle damals lehrenden Groß-Theologen, denn dass die Kirche sich in die Angelegenheiten des Staates nicht einzumischen habe, das hatte doch Luther selbst schon vor vier Jahrhunderten entschieden. Das war ein erzprotestantisches Dogma.

Aber Bonhoeffer ging noch weiter und verlangte, die Kirche habe sich um die Opfer staatlichen Handelns zu kümmern, auch wenn diese nicht der Kirche angehörten. Sie habe sich also um die Juden zu kümmern. Das sahen die zuhörenden Pfarrer überhaupt nicht ein. Einige verließen unter Protest den Vortrag. So konnten sie nicht hören, dass Bonhoeffer noch eins draufsetzte, und so verpassten sie jenen geschichtlichen Moment, in dem Bonhoeffer mit dem Wort von »dem Rad in die Speichen fallen« erstmals den Gedanken eines aktiven kirchlichen Widerstands öffentlich aussprach.

Diejenigen, die Bonhoeffer bis zuletzt zugehört hatten, waren nicht begeistert. Fühlten sich auch nicht richtig betroffen. Was hatten sie mit den Juden zu schaffen? Bei dieser Haltung der Pfarrerschaft und der Christen blieb es weit überwiegend, auch als es jüdischen Rechtsanwälten immer schwerer gemacht wurde, ihren Beruf auszuüben, auch als der Arierparagraf in der Folgezeit auf immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ausgedehnt wurde, und zuletzt auch auf die Kirche.

Das musste das für Bonhoeffer Bedrückende, ja Dämonische gewesen sein: Dass das, was er glasklar als Gottes Wort vernommen hatte, von seinen Amtsbrüdern nicht so gehört wurde.

Sie sahen mehrheitlich keinen Anlass, gegen Hitler vorzugehen. Schlimmer noch: Sie öffneten diesem Hitler die Kirchentür. Weit. Und verbeugten sich vor ihm. Tief. Statt die Juden zu schützen, beteiligten sie sich an der Hetzjagd. Statt den staatlich Verfolgten einen Schutzraum in ihrer Kirche zu bieten, lieferten sie die Opfer der Staatsmacht aus. Statt in der Kirche von der Kanzel herab laut das Evangelium zu verkünden, plapperten sie die Parolen der Nazis nach und versahen diese mit kirchlichen Weihen. Statt zu protestieren, wenn jüdische Geschäfte boykottiert, zerstört oder gar geplündert wurden, applaudierten sie.

Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 veranstalteten viele Landeskirchen Fest- und Dankgottesdienste. Plötzlich hingen in den Kirchen Hakenkreuzflaggen und innerhalb der evangelischen Kirche spielte sich eine Gruppierung in den Vordergrund, die sich im Jahr davor gegründet hatte: die Glaubensbewegung Deutsche Christen.

Diese forderten die Verschmelzung der 29 Landeskirchen zu einer nach dem Führerprinzip strukturierten »Reichskirche«, die »Entjudung« der kirchlichen Botschaft durch Abkehr vom Alten Testament, die »Reinhaltung der germanischen Rasse« durch »Schutz vor Untüchtigen« und »Minderwertigen«, die Vernichtung des »volksfeindlichen Marxismus«, ein Verbot der Eheschließung zwischen Christen und Juden und den Ausschluss von zum Christentum konvertierten Juden.

In Preußen erkannte am 9. September 1932 der Berliner Oberkirchenrat die Deutschen Christen mitsamt ihrem Programm als Kirchenpartei an. Bei den folgenden Kirchenwahlen am 13. November 1932 erreichten sie durchschnittlich ein Drittel aller Sitze in den Kirchenvorständen der Preußischen Landeskirche. Nur wenige Monate später, am 23. Juli 1933, gewannen die Deutschen Christen in fast allen Landeskirchen eine Mehrheit von etwa zwei Dritteln aller abgegebenen Stimmen. Zuvor schon hatte Hitler der evangelischen Kirche eine neue Verfassung verordnet, die das »Führerprinzip mit einem lutherischen Reichsbischof« festsetzte und von 28 Landeskirchen anerkannt wurde. Am 6. September 1933 erreichten die Deutschen Christen ihr Ziel. Sie wählten ihren »Reichsbischof« Ludwig Müller und setzten den Arierparagrafen in der Kirche durch. Der Reichsbischof wurde Hitlers Vertrauensmann.

In all diesen Monaten kämpfte der 27-jährige Bonhoeffer unermüdlich gegen die braune Flut, versuchte seine Kirche wachzurütteln, hielt Ausschau nach Verbündeten. Weitgehend vergeblich. Er vervielfältigte Resolutionen mit seinen Studenten, sprach auf Protestversammlungen gegen den Reichsbischof und fand immerhin zwei Verbündete: Gerhard Jacobi, Pfarrer an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, und Martin Niemöller, Weltkriegskapitän und noch bis vor Kurzem Nationalist und Gegner der Weimarer Demokratie. Von Deutschlands Theologen wusste Bonhoeffer nur Karl Barth und Rudolf Bultmann auf seiner Seite. Paul Tillich hätte noch ein wichtiger Mit-Kämpfer sein können, aber der wurde 1933 wegen einer Schrift gegen die Nationalsozialisten entlassen und emigrierte in die USA.

Aber was konnten drei einzelne Pfarrer und ein paar Theologen gegen die braune Flut und den Zeitgeist ausrichten? Die Mehrheit der Amtskollegen hielt den Aktionismus dieses jungen Bonhoeffer für übertrieben. Der hatte vorgeschlagen, in einen Beerdigungsstreik zu treten. Da schmunzelten viele nur. Er schlug vor, aus dieser Kirche massenhaft auszutreten. Ohne Erfolg.

Zu Hilfe kamen ihm nicht die zögerlichen Amtskollegen, die auch sahen, dass die Dinge in ihrer Kirche in eine ungute Richtung liefen, zu Hilfe kamen ihm die Nazi-Christen. Indem sie überzogen.

Auf einer Großkundgebung der Deutschen Christen in Berlin am 13. November 1933 forderte der Gauobmann der »Deutschen Christen von Großberlin«, Reinhold Krause, unter dem Jubel von 20 000 Zuhörern die »Befreiung« der christlichen Religion »vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lernmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten«. Und selbst das Neue Testament sollte »entjudet, von allen offenbar entstellten und abergläubischen Berichten« gereinigt werden. Auch die »Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus« müsse raus.

Das ging vielen evangelischen Christen nun doch zu weit. Gegen die Ausformung des Luthertums zu einer christlichen Nationalreligion hätten sie nichts gehabt, aber die Umwandlung ihres Glaubens in eine Hitler-Religion, das konnten sie nicht mehr mittragen. Tausende traten nun wieder aus, verließen die Deutschen Christen. Fast alle Teilorganisationen der evangelischen Kirche distanzierten sich von dieser Gruppierung und ihrem Reichsbischof Müller. Damit hatten die Deutschen Christen ihre beste Zeit hinter sich. Es gab sie zwar weiterhin bis zum bitteren Ende, aber ihre bestimmende Macht über die Kirche hatten sie verloren, mussten sie sich teilen mit Christen, die anderer Ansicht waren, gemäßigter, distanzierter, oppositioneller.

Aber eine Umkehr der evangelischen Christen, so etwas wie geschlossenen Widerstand gegen Hitler, hat es nicht gegeben, auch später nicht, bis ganz zuletzt nicht. Was es gab, war der Pfarrernotbund. Sein Hauptakteur war Martin Niemöller. Von Anfang an dabei: Dietrich Bonhoeffer.

Der Pfarrernotbund verpflichtete seine Mitglieder, der Anwendung des Arierparagrafen in der Kirche zu widerstehen und vom Kirchenausschluss bedrohten jüdischen Pfarrern zu helfen, auch finanziell. Dies war immerhin ein Zeichen. Ein Signal für einen machtvollen Widerspruch, wie ihn Bonhoeffer forderte, war es nicht. Dieser ging nun nach England, weil er nicht Pfarrer werden wollte in einer Kirche, die mehrheitlich hinter Hitler stand und in ihrer Minderheit uneins war, zu zaghaft, zu leisetreterisch, zu wenig selbstsicher auftrat. Bonhoeffer spürte, wie sein Drängen in diesem Kreis der Zögerlichen zunehmend als lästig empfunden wurde.

An Karl Barth, den kämpferischsten Hitler-Gegner von Rang unter Deutschlands evangelischen Theologen, schrieb Bonhoeffer von England aus damals: »Ich fühlte, daß ich mich unbegreiflicherweise gegen alle meine Freunde in einer radikalen Opposition befände, ich geriet mit meinen Ansichten über die Sache immer mehr in die Isolierung, obwohl ich persönlich in nächster Beziehung mit diesen Menschen stand und blieb – und das alles machte mir angst, machte mich unsicher, ich fürchtete, daß ich mich aus Rechthaberei verrennen würde – und dabei sah ich gar keinen Grund dafür, daß ich jetzt gerade die Dinge richtiger und besser sehen sollte als so manche ganz tüchtige und gute Pfarrer, zu denen ich einfach aufsehe – und so dachte ich, es wäre wohl Zeit, für eine Weile in die Wüste zu gehen und einfach Pfarrarbeit zu tun, so anspruchslos wie irgend möglich.«

Barth hielt rein gar nichts von der Wüstenidee und machte Bonhoeffer unmissverständlich deutlich, dass die Wüste nicht in England sondern in Deutschland sei, und dort sei auch Bonhoeffers Platz. Er solle darum das nächstbeste Schiff nehmen und zurückkehren. Damit jedoch ließ sich Bonhoeffer rund anderthalb Jahre Zeit. Die nutzte er einerseits, um seinen eigenen Standpunkt weiter zu klären, andererseits, um Kontakte in England zu knüpfen und diese für den Widerstand daheim zu nutzen. Dabei war er nicht ganz erfolglos. Der Erzbischof von Canterbury empfing Bonhoeffer, das machte die deutschen Behörden nervös.

In London lernte Bonhoeffer den anglikanischen Bischof von Chichester, George Kennedy Allen Bell, kennen, der in der ökumenischen Bewegung hohe Ämter bekleidete und einer der engsten ausländischen Freunde Bonhoeffers wurde. Bonhoeffer und Bell erreichten, dass englische Gemeinden öffentlich über das Treiben der Deutschen Christen sprachen, den Rücktritt von Ludwig Müller verlangten und kritische Briefe an den Reichspräsidenten schrieben. Das störte.

Das Hitler-Regime saß damals noch nicht so fest im Sattel, als dass es sich hätte leisten können, die öffentliche Weltmeinung zu ignorieren. Hitler brauchte das Ausland für verschiedene Ziele wie etwa die Olympischen Spiele, die er nach Berlin holen wollte. Auch wollte er, während er schon an Krieg dachte und mit der Aufrüstung begann, die ausländischen Mächte in Sicherheit wiegen. Sie sollten nicht vorzeitig auf die Idee kommen, ihrerseits aufzurüsten. Insofern kam einer wie Bonhoeffer dem Regime total in die Quere.

Und in Barmen, nahe Wuppertal, formierte sich vom 29. bis zum 31. Mai 1934 neuer Ärger für das Hitler-Regime. Dort trafen sich 138 Abgeordnete aus allen evangelischen Kirchen und schlugen den Nazis die geöffneten Kirchentüren wieder zu, indem sie die berühmte »Barmer Theologische Erklärung« formulierten. Diese im Wesentlichen von Karl Barth formulierte Erklärung enthält eigentlich nur Selbstverständliches in sechs Sätzen, zum Beispiel, dass Jesus Christus der Glaubensgrund der Kirche sei. Aber damals war die Formulierung des Selbstverständlichen eine hochpolitische Angelegenheit: Wer darauf beharrte, dass in der Kirche Gott der Herr sei, verwarf damit, ohne dass er das ausdrücklich formulieren musste, den Anspruch, dass Hitler der Herr über die Kirche sein könne.

Die paar Sätze dieser Barmer Erklärung wirkten wie eines dieser Schilder auf Metzgerei-Türen, wo man einige Hunde sieht und die Aufschrift »Wir müssen leider draußen bleiben«. Vor Kirchentüren hing jetzt – unsichtbar, aber wirksam – ein Schild, das Hitler, Goebbels, Göring zeigt und die Aufschrift: »Wir müssen leider draußen bleiben.« Hitler soll getobt haben, als er von den Neuigkeiten aus Barmen unterrichtet wurde.

Damit waren die Maßstäbe wieder einigermaßen zurechtgerückt in der Evangelischen Kirche. Aus dieser Barmer Erklärung wuchs die Bekennende Kirche, die später den Anspruch erhob, die »rechtmäßige Evangelische Kirche Deutschlands« zu sein. Viel ausgerichtet hat sie nicht, weil sie weitgehend unpolitisch blieb, mehr auf ihren Selbsterhalt bedacht war als darauf, die politische Großwetterlage zu ändern. Dass sie klargestellt hatte, dass in der Kirche Gott der Herr sei und darum kein anderer, damit waren die meisten zufrieden. Wer aber außerhalb der Kirche, also in der Welt, in Deutschland, Herr sein solle, darüber konnten sie sich nicht einigen. Aber wenigstens war die Existenz der Bekennenden Kirche etwas, woran die Kirche nach dem Krieg anknüpfen konnte. Sie konnte sagen: Nicht alle waren Nazis, nicht alle hatten versagt, nicht alle hatten mitgemacht.

Als Bonhoeffers von vornherein auf maximal zwei Jahre beschränkte Zeit in England vorbei war, wollte er eigentlich nach Indien, Gandhi kennenlernen, von dem er so viel gehört und gelesen hatte. Ob sich von ihm etwas lernen ließe für die aktuelle Lage in Deutschland? Daraus wurde nichts. Seine Bekennende Kirche brauchte ihn in Deutschland, um an der »Erneuerung des Pfarrerstandes« mitzuarbeiten. Er sollte ein Predigerseminar leiten.

In Predigerseminare werden Theologen geschickt, die ihr Examen hinter sich und ihre erste praktische Bewährung in einer Gemeinde vor sich haben. Es ist also eine Vorbereitung auf den Pfarrerberuf. Bonhoeffer wurde nach Finkenwalde bei Stettin in Pommern geschickt. Dort sollte er Pfarrer fit machen für ihren Dienst in Gemeinden der Bekennenden Kirche. Das war eine Aufgabe nach seinem Geschmack.

Der junge Direktor und seine jungen Theologen bezogen ein altes Gutshaus, in dem es praktisch an allem fehlte, was notwendig war, ob Betten, Bücher oder Brot. Sie bettelten sich das Fehlende zusammen und Bonhoeffer ließ einfach seine umfangreiche Privatbibliothek aus Berlin nach Finkenwalde kommen, und seinen Bechstein-Flügel gleich dazu.

Kaum hatten die Seminare begonnen, wurden sie verboten. Im Mai 1935 zogen die ersten Seminaristen ein, im Dezember 1935 erließ die Regierung eine Verordnung »zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der Evangelischen Kirche«. Sie erklärte alle »kirchenregimentlichen und kirchenbehördlichen Befugnisse durch kirchliche Vereinigungen oder Gruppen« als unzulässig.

Bonhoeffer rief daraufhin seine Kandidaten zusammen und stellte ihnen angesichts der neuen Lage frei, abzureisen. Alle blieben. Sie machten einfach weiter. Immerhin: Eine kleine Gruppe von Pfarrern gehorchte Gott mehr als den Menschen. Zunächst hatte das keine Folgen, denn es dauerte rund zwei Jahre, bis die Behörden vom illegalen Treiben in Finkenwalde Wind bekamen. Dann aber erschien die Gestapo, um das Haus zu versiegeln.

Bonhoeffer fand trotzdem noch für zweieinhalb weitere Jahre eine Form der Fortsetzung des Predigerseminars: die des »Sammelvikariates«. Die Zuweisung von Kandidaten ins Vikariat bei Gemeindepfarrern – dem Berufseinstieg – war üblich und unbestritten vonseiten der Amtskirche. Also suchte Bonhoeffer Pfarrer, die bereit waren, Bekenntnis-Vikare zu nehmen. Die Woche über sollten sie in einem leeren Pfarrhaus zusammenkommen und den Lehrbetrieb mit Bonhoeffer fortsetzen. Man fand solche Pfarrer in den benachbarten Kreisen Köslin und Schlawe. Ihre Vorgesetzten deckten alles. Bonhoeffer fuhr nun je eine halbe Woche zum Unterricht nach Köslin und nach Groß-Schlönwitz bei Schlawe bzw. seit 1939 in ein Kleist’sches Forsthaus Sigurdshof in der Nähe.

Das funktionierte, bis die Gestapo wiederkam. Im März 1940 versiegelte sie auch den Sigurdshof. Fünf Jahre Predigerseminar, fünf Jahre Finkenwalde waren nun zu Ende. Aber sie hatten sich gelohnt, nicht nur, weil demonstriert wurde, dass man als Kirche in der Diktatur Möglichkeiten hat zu widerstehen, sondern auch, weil Bonhoeffer in dieser Zeit etwas für die evangelische Kirche völlig Neues, weil Katholisches, ausprobiert hatte: Mit seinem Freund und späteren Biografen Eberhard Bethge und einigen weiteren Finkenwaldern hatte er eine Kommunität gegründet, deren Mitglieder sich, wie Mönche, zu Besitzlosigkeit, Gütergemeinschaft, Ehelosigkeit und Einsatz für die Sache Christi in der Welt verpflichteten.

Hier lernten Bonhoeffer und die Seinen, dass Christus-Nachfolge nicht bedeutet, ein Leben als einsamer Held führen zu sollen, sondern ein Leben in Gemeinschaft. Denn nur aus diesem Leben mit den anderen speist sich die Kraft, die nötig werden kann, wenn man später dann doch dazu verurteilt ist, einsam und verlassen irgendwo auszuharren oder seinem Tod entgegenzusehen – eine Kraft, die Bonhoeffer schon bald brauchen sollte.

Ganz anders war es den übrigen Teilen der Bekennenden Kirche ergangen. Schon um das Jahr 1938 war nicht mehr viel von ihr übrig. Zu viele ihrer Mitglieder schafften es nicht, sich von ihrer deutschnationalen Staatsgläubigkeit zu lösen. Hitler und die Nationalsozialisten brachen ein Recht nach dem anderen und in der Kirche wurde immer wieder aufs Neue diskutiert, ob man dazu etwas sagen, ja sogar dagegen protestieren solle. Hitler ließ Pfarrer den Eid auf seine Person abnehmen und diese schafften es nicht, sich dem Ansinnen geschlossen zu widersetzen. Als am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht die Synagogen brannten und Juden zu Tausenden misshandelt wurden, brachte die sogenannte Bekennende Kirche kein öffentliches Wort mehr zustande.

Einsamer Rufer in der Wüste damals wieder einmal: Dietrich Bonhoeffer. »Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen«, rief er seinen Amtskollegen und Mitchristen in die Ohren, womit gemeint war: Wenn ihr euch jetzt nicht für die Juden und überhaupt alle Verfolgten einsetzt, dann hört auf, Gottesdienste zu feiern. Predigt und Gebet sind dann nur leeres Gerede, Lied und Gesang nur hohler Klang. Aber viele derer, die Bonhoeffer hörten, und erst recht jene, die ihn nicht hörten, gingen gregorianisch singen, um anschließend draußen, auf der Straße, »Judensau« zu brüllen.

So zeichnete sich für Bonhoeffer immer deutlicher ab, dass er mit wenigen Getreuen und vielleicht mit ganz anderen Verbündeten in eine ganz andere Richtung gehen musste. Nach einem Zwischenaufenthalt in England und in den USA, wo ihm abermals klar wurde, dass sein Platz nicht im Exil sein konnte, auch nicht in der inneren Emigration, sondern mitten im Getümmel in Deutschland, entschied er sich schließlich zu jener letzten radikalen Konsequenz, die er in Gedanken schon früh längst vorweggenommen hatte: den Kampf gegen Hitler im Untergrund fortsetzen, konspirativ tätig werden, und, ja, notfalls Gewalt anwenden. Und das hieß: Sein eh schon gefährliches Leben würde dadurch noch gefährlicher werden. Sich gegen Hitler zu verschwören, um ihn zu beseitigen, bedeutete im Fall der Entdeckung den sicheren Tod. Diese Möglichkeit nahm Bonhoeffer nun bewusst in Kauf.

Natürlich wäre er alleine gar nicht fähig gewesen, direkte Gewalt gegen Hitler auszuüben. Dazu brauchte er Verbündete. Er fand sie in der Villa seines Vaters, wo schon immer hochrangige Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Militär verkehrten. Und auch verwandtschaftliche Verbindungen nutzte er jetzt für seinen Kampf gegen Hitler. Hans von Dohnanyi beispielsweise, Referent des Justizministers Franz Gürtner, war ein Schwager Dietrich Bonhoeffers – und einer derer, die heimlich am Sturz Hitlers arbeiteten. Dohnanyi konspirierte mit Hans Oster, damals Oberst in der militärischen Abwehr des Admirals Canaris. Dohnanyi, Oster, Canaris arbeiteten wiederum mit Ludwig Beck zusammen, General und Haupt der späteren Verschwörung gegen Hitler. Diese Männer statteten den Grafen Stauffenberg mit jener Bombe aus, mit der Hitler getötet werden sollte.

Dietrich Bonhoeffer war über die konspirativen Tätigkeiten dieser Verschwörer schon früh eingeweiht. Wenn er eh schon Mitwisser war und das, was er wusste, billigte – was bereits ein todeswürdiges Verbrechen war -, sollte er dann nicht auch den letzten Schritt machen und zum aktiven Mittäter werden? Bonhoeffer hatte in dieser Frage lange mit sich gerungen. Die Entscheidung fiel, als er mal wieder im Ausland, in den USA, war. Dort hat er dann klar erkannt: Es muss sein. Man muss dem Rad in die Speichen fallen.

Nach seiner Rückkehr aus den USA sagte er seinem Schwager: Ich mach mit. Was soll ich tun? Wofür könnt ihr mich brauchen?

Sie brauchten ihn, um die Regierungen des Auslands darüber zu informieren, dass sie an Hitlers Sturz arbeiteten, einerseits, weil sie sich Hilfe von außen erwarteten, andererseits, um prinzipiell zu signalisieren: Nicht alle sind Nazis. Nicht einmal in der obersten Heeresleitung und unter Hitlers höchsten Beamten herrscht bedingungslose Gefolgschaft. Außerdem sollte Bonhoeffer die Verschwörer mit Informationen aus dem Ausland, vor allem von ausländischen Freunden, versorgen. Für diese Aufgabe war Bonhoeffer mit seinen internationalen Kontakten und dem Vertrauen, das er sich im Ausland erworben hatte, genau der Richtige. Die internationalen ökumenischen Beziehungen des Pfarrers sollten nun also für den deutschen militärischen Geheimdienst – in Wahrheit natürlich dem Widerstand – genutzt werden. Es war nichts mehr normal in diesem Land und dieser Kirche.

Und so reiste also Bonhoeffer ab dem Frühjahr 1941 mit gefälschten Pässen in die Schweiz, nach Schweden, Norwegen und Italien, später auch wieder nach England zu seinem Freund, dem Bischof George Bell. Ihm erzählte Bonhoeffer von einem bevorstehenden Putsch gegen Hitler, nannte Einzelheiten und die Namen der Beteiligten. Die englische Führung sollte beim Auftauchen dieser Namen im Falle des Staatsstreiches den Putschisten Raum und Zeit geben, um eine neue Regierung zu etablieren.

Alles, was Bonhoeffer Bell berichtete, gab dieser an den britischen Außenminister Eden weiter, aber dieser lehnte jede Antwort an die Verschwörer ab. Warum? Glaubte man dem Deutschen nicht? Oder wollte man nichts davon hören, weil man sich sowieso auf der Siegerstraße wähnte und man sich mit einem am Boden liegenden Deutschland, das bedingungslos kapitulieren muss, leichter tat als mit einem neuen Deutschland, das mitten im Krieg Friedensverhandlungen anbietet? Die Historiker sind sich bis heute uneinig in dieser Frage. Fest steht nur: Die englische Führung wusste von den Verschwörern, aber diese spielten in der englischen Kriegspolitik keine Rolle.

Bischof Bell verstand das nicht. Im Frühjahr 1943 – in Deutschland wurde gerade auch unter Mitarbeit von Bonhoeffer und Dohnanyi ein Bombenattentat auf Hitler vorbereitet – konnte Bischof Bell im britischen Oberhaus die Frage stellen, ob die englische Regierung gewillt sei, zwischen Nazis und Deutschen zu unterscheiden. Die Antwort fiel unbefriedigend aus. Und die von Fabian von Schlabrendorff in Hitlers Nähe geschmuggelte Bombe explodierte nicht.

Bonhoeffer konspirierte weiter im Ausland, mit Helmuth Graf von Moltke in Norwegen, mit seinem Schwager Dohnanyi in Rom. Zu Hause bereiteten die Verschwörer das nächste Bombenattentat vor, das immer wieder verschoben werden musste, weil Hitlers Reisepläne sich änderten, weil der um Hitler errichtete Schutzzaun immer enger wurde oder auch, weil es schon erste Verhaftungen gab.

Am 5. April 1943 war es bei Dietrich Bonhoeffer so weit. Zwei Männer, der Oberstkriegsgerichtsrat Manfred Roeder und der Gestapo-Kriminalrat Sonderegger, bogen gegen 16 Uhr in einem schwarzen Mercedes um die Ecke, stiegen aus und holten Bonhoeffer ab – nicht, weil sie von den Verschwörern und deren Putschplänen Wind bekommen hätten, sondern wegen einer dummen Geschichte, die einen ganz anderen Hintergrund hatte: kleine Eifersüchteleien und Rivalitäten zwischen Reichssicherheitshauptamt und militärischer Abwehr und die übliche Machtsucht eines Nazi-Schergen, in diesem Fall Himmler. Er wollte die Abwehr des Generals Canaris seinem Machtbereich einverleiben. Dazu war der Nachweis nötig, dass die Abwehr schlecht arbeite. Also überprüfte man dies und das und entdeckte Devisenunregelmäßigkeiten bei einem Mann, der im Auftrag eines Konsuls Schmidhuber in München zu handeln vorgab. Schmidhuber aber gehörte zu denen, die in Canaris’ Auftrag bestimmte Leute zu unterstützen hatten, zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer.

Schmidhuber wurde 1942 verhaftet und natürlich immer wieder vernommen. Irgendwann wird er wohl den Namen Bonhoeffer genannt haben, und damit nahm die Sache ihren Lauf. Bonhoeffer landete im Gefängnis Berlin-Tegel. Dort blieb er und wartete auf seinen Prozess. Noch waren Hitler und seine Getreuen ahnungslos. Das änderte sich am 20. Juli 1944, dem Tag des Bombenattentats auf Hitler durch Graf Stauffenberg – das Hitler überlebte.

Jetzt wurde die Verschwörung aufgedeckt, wurde eine große Zahl der Verschwörer verhaftet und teilweise sofort hingerichtet. Nun war es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die Ermittler auch Bonhoeffers Beiträge zur Verschwörung entdeckten. Dieser fasste daher den Plan, aus dem Gefängnis zu fliehen. Sein Wächter, Unteroffizier Knobloch, der heimlich mit ihm konspirierte, war bereit, ihm zur Flucht zu verhelfen. Am 24. September fuhren Freunde und Verwandte Bonhoeffers nach Berlin-Niederschönhausen und gaben dort Kleidung, Lebensmittelkarten und Geld in einem Schrebergarten ab. Eine Woche später aber wurden eben diese Freunde und Verwandten, darunter Eberhard Bethge, verhaftet. Bonhoeffer ließ daraufhin den Fluchtplan fallen, um seine Helfer nicht zusätzlich zu gefährden. Es kam, wie es kommen musste. Die Ermittler wurden nun auf Bonhoeffers Verschwörer-Rolle aufmerksam und verfrachteten ihn aus Tegel in das Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamts. Noch immer war ihnen das ganze Ausmaß der Verschwörung unbekannt. Noch gab es weiße Flecken auf ihrer Karte und das verhinderte die sofortige Vollstreckung der Todesurteile. Man wollte nun aus den Gefangenen alles herauspressen und herausfoltern, was diese wussten. Andererseits stand Berlin bereits unter Beschuss der Alliierten.

Daher wurden am 7. Februar 1945 Bonhoeffer und andere prominente Häftlinge ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Als auch dort die Alliierten näher rückten, verfrachtete man die Gefangenen in den Bayerischen Wald. Am 5. April entschied Hitler, dass Oster, Canaris, Dohnanyi und Bonhoeffer hinzurichten seien.

Das Deutsche Reich steht jetzt kurz vor der Kapitulation, alles bricht zusammen, nichts funktioniert mehr, 25 Tage noch, und Hitler wird Selbstmord begehen, der Krieg wird vorbei sein – aber Hitlers Mordmaschine funktioniert bis zuletzt.

Am 8. April werden Canaris, Oster und Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg standgerichtlich zum Tode verurteilt. Im Morgengrauen des 9. April wurden Bonhoeffer und seine Freunde erhängt. Vermutlich am 9. April wurde Hans von Dohnanyi im Konzentrationslager Sachsenhausen umgebracht. Noch am 23. April, eine Woche vor Hitlers Ende, arbeitet dessen Mordmaschine weiter. Bonhoeffers Bruder Klaus und sein Freund Rüdiger Schleicher werden nachts aus ihrem Gefängnis geholt und von einem Rollkommando der SS erschossen. Nur Eberhard Bethge wurde durch die Ankunft der Sowjets in Berlin befreit und überlebte.

Der Lagerarzt in Flossenbürg berichtete, Dietrich Bonhoeffer habe vor seiner Hinrichtung gebetet und er sei ruhig und gefasst gewesen.

Noch in Berlin hatte er ein Gedicht geschrieben, das zur Jahreswende für seine Mutter und seine Verlobte Maria bestimmt war. Es ist eines der schönsten Gedichte des evangelischen Geistes und vielleicht einer der letzten verbliebenen Gründe, warum man auch heute noch Christ sein kann. Sein letzter Vers lautet:

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.