4.

DIE GROSSE LOSLÖSUNG

Es gibt Geschichten vom Kind Jesus, die fast dreihundert Jahre nach dessen Geburt entstanden sind. Als Verfasser gilt ein gewisser Thomas, der als Israelit und Philosoph bezeichnet wird.28 Die christlichen Gemeinden dieser Zeit hatten offenbar ein großes Bedürfnis, etwas über die Kindheit Jesu zu erfahren, besonders über die Zeit zwischen seinem fünften und zwölften Lebensjahr. Und weil die Evangelien nichts davon erzählten, hat man die Fantasie spielen lassen. Diese Kindheitsgeschichten waren sehr beliebt und sie wurden in viele Sprachen übersetzt.

In diesen Erzählungen haben es Josef und Maria schwer mit ihrem Sohn Jesus. Dauernd kommen Leute aus dem Dorf und beklagen sich über ihn. Einmal verwandelt er einen Jungen, der ihn beim Spielen gestört hat, in einen verdorrten Baum. Einen anderen Jungen lässt er tot umfallen, nur weil der ihn beim Vorbeilaufen angerempelt hat. Alle Menschen in Nazaret haben Angst vor diesem Kind. Doch keiner traut sich mehr, etwas zu sagen, weil Jesus jeden, der sich über ihn beklagt, mit Blindheit straft. Maria und Josef befürchten, dass sie mit diesem seltsamen Kind nicht mehr weiter im Dorf bleiben dürfen und wegziehen müssen. Josef weiß sich nicht anders zu helfen und zieht seinen Sohn kräftig am Ohr, und er fordert ihn auf, in Zukunft diesen Unfug zu lassen.

Jesus jedoch bleibt unbeeindruckt. Die Lehrer, die ihn unterrichten wollen, bringt er zur Verzweiflung, weil er als Schüler viel klüger ist als sie, und ein Lehrer, der es wagt, ihn zu schlagen, fällt sogleich ohnmächtig um. Immerhin kann er auch Gutes bewirken. Als ein Junge namens Zenon beim Spielen vom Dach stürzt und tot liegen bleibt, erweckt er ihn wieder zum Leben. Und auch sein Vater Josef profitiert von den Zauberkräften seines Sohnes. Dem Zimmermann sind die zwei Seitenbretter für ein Bett unterschiedlich lang geraten. Jesus bringt das Missgeschick seines Vaters schnell in Ordnung. Er fasst das zu kurze Brett an und zieht es auf die richtige Länge.

Die Logik, die den Geschichten des Thomas zugrunde liegt, ist offensichtlich: Wer so Außergewöhnliches gesagt und getan hat wie Jesus, so schloss man, der muss schon als Kind außergewöhnlich gewesen sein. Also machte man aus Jesus ein Wunderkind, das nur einen Wunsch oder eine Verwünschung auszusprechen braucht und schon geschieht alles, was es will. Diesem Wunderkind kann man auch nichts mehr beibringen, weil es von Anfang an perfekt und allwissend ist. An diesem Wunderkind ist allerdings auch wenig Sympathisches. Es ist ein kleines Monster, ein altkluger Tyrann, dem man im alltäglichen Leben lieber nicht begegnen möchte.

Dieses sogenannte Kindheitsevangelium des Thomas ist nicht in die Sammlung des Neuen Testaments aufgenommen worden. Und das zu Recht. Es nimmt nämlich nicht ernst, dass Jesus auch ein richtiger Mensch war, und als solcher war er natürlich lernfähig und hat sich entwickelt. Vor allem aber übersehen diese Kindheitsgeschichten vollkommen, dass auch der erwachsene Jesus nie so aufgetreten ist, dass jeder gleich sehen musste, dass er der Gottessohn ist. Im Gegenteil. Jesus ließ seine Umgebung immer über sich im Unklaren. Er benahm sich immer anders, als die Menschen um ihn es erwarteten. Er wollte immer dienen, nicht herrschen. Er war auch kein Zauberer, er war nicht allwissend und allmächtig. Sogar seine engsten Gefährten wurden ihre Zweifel nie ganz los. Bis zuletzt waren sie sich nicht sicher, mit wem sie es eigentlich zu tun hatten. Jesus’ Göttlichkeit blieb immer verdeckt. Er blieb unkenntlich. Zum Glauben an ihn konnte man nicht durch eindeutige Beweise gelangen. Jesus machte sich zu einem Rätsel, und er stellte jeden Menschen, dem er begegnete, vor die Wahl, an ihn zu glauben oder nicht.

So gesehen passt es zu Jesus, dass seine Kindheit sich im Verborgenen abspielte, in einem kleinen, unbedeutenden Dorf in Galiläa, als Sohn einfacher Leute. Trotzdem und dennoch muss an Jesus etwas Ungewöhnliches gewesen sein, etwas, das man auf den ersten Blick nicht gleich wahrnehmen konnte, etwas, das die Menschen eher schockierte als beeindruckte. Davon erzählt die einzige Geschichte, die es in den Evangelien von dem Kind Jesus gibt, die Erzählung des Lukas vom zwölfjährigen Jesus im Tempel. (Lk 2,41-52)

Es dürfte um das Jahr 6 n. Chr. gewesen sein, als Jesus zwölf Jahre alt war. Er stand also kurz vor seiner Bar Mizwa, seiner religiösen Volljährigkeit, die ihn zu einem vollwertigen Mitglied der Glaubensgemeinschaft machte. Zu dieser Zeit kam es in Jerusalem zu bedeutenden Veränderungen. Herodes’ Sohn Archelaus, der von Kaiser Augustus zum Herrscher über Judäa ernannt worden war, hatte sich im Laufe seiner Amtszeit als ein ebenso grausamer und tyrannischer Herrscher entpuppt wie sein Vater. Klagen über Klagen waren in Rom über ihn eingegangen. Nun war Augustus mit seiner Geduld am Ende. Er schickte Archelaus in die Verbannung und stellte Judäa unter direkte römische Verwaltung. In Zukunft sollte ein Prokurator die neue Provinz regieren. Der Erste, der mit diesem Posten betraut wurde, war ein gewisser Coponius. Einer seiner Nachfolger wurde später Pontius Pilatus.

Auch die Steuern mussten nun direkt an Rom gezahlt werden. Grundlage hierfür sollte eine Volkszählung sein, die der neue Prokurator zusammen mit dem schon genannten Quirinius, dem neu ernannten Statthalter von Syrien, durchführen sollte. Wegen dieses neuerlichen Zensus kam es wieder zu gewaltsamen Unruhen. Der Kopf des Widerstandes war wieder jener Judas aus Galiläa, ein Schriftgelehrter. Er forderte seine Landsleute dazu auf, sich zu weigern, Steuern an die Römer zu zahlen. Das war für Judas die zwingende Konsequenz aus dem Gebot, keinen anderen Herrscher als Gott allein anzuerkennen. Für die Römer waren solche Aufrufe natürlich hoch gefährlich, und sie unternahmen alles, um diesen Judas mundtot zu machen.29

Judas, der Galiläer, wurde schließlich getötet, aber seine Lehren wirkten wie ein Lauffeuer, das sich unaufhaltsam ausbreitete. Immer mehr Juden, Zeloten wurden sie genannt, griffen aus religiöser Überzeugung, aber auch aus wirtschaftlicher Not zu den Waffen. Sie verließen ihre Familien und versteckten sich in den Höhlen der Golan-Berge. Von dort führten sie einen Guerillakrieg gegen die Besatzer. Sie überfielen römische Kohorten und verübten Attentate auf reiche und hochgestellte Römer.

Die Zeiten waren unruhig und gefährlich. Auch aus diesem Grund reisten die Pilger vom Lande nur in Gruppen nach Jerusalem. Eigentlich schrieb das Gesetz vor, dass jeder Gläubige dreimal im Jahr, zu den großen Festen, nach Jerusalem wallfahrten sollte. Von den »am-ha-aretz«, den Leuten vom Lande, wurde die strenge Einhaltung der Gebote nicht erwartet. Für die meisten genügte es, einmal im Jahr in das religiöse Zentrum zu kommen.

Nach Lukas gingen Josef, Maria und ihr zwölfjähriger Sohn Jesus zum Passahfest nach Jerusalem. Diese dreitägige Reise machten sie gemeinsam mit einer Pilgergruppe, zu der auch viele Bekannte und Verwandte aus Nazaret gehörten. Nach Jerusalem führten mehrere Wege. Die Pilger aus Galiläa bevorzugten den Weg entlang des Jordans bis zur Stadt Jericho.30 Von Jericho aus ging es dann ständig aufwärts durch die Bergwüste Juda mit ihren tiefen Schluchten und steilen Passwegen.

»Blutsteige« wurde dieser Weg genannt, wegen des roten Gesteins und weil hier häufig Wanderer von Straßenräubern überfallen wurden. Die biblische Geschichte vom barmherzigen Samariter, der sich um einen von Räubern zusammengeschlagenen Mann kümmert, soll sich hier zugetragen haben. Am Ende des gefährlichen Steiges lag ein Rastplatz mit einer Quelle. Nach einer Pause zogen die Pilger weiter am Ort Betanien vorbei auf den Ölberg. Hier öffnete sich unter ihnen das tief eingeschnittene Kidrontal, und jenseits davon lag das Ziel ihrer Reise: Jerusalem.

Für die Pilger vom Lande und besonders für einen zwölfjährigen Jungen muss der Anblick atemberaubend gewesen sein. »Wer nicht den Bau des Herodes gesehen hat«, sagte ein Sprichwort, »hat nie etwas Schönes gesehen.« Flavius Josephus berichtet31, dass der blendend weiße Marmor der Tempelanlage von ferne aussah wie Schnee auf einem Hügel. Und das Tempelhaus, der heilige Mittelpunkt der Anlage, war mit goldenen Platten verkleidet, die in der Sonne so stark glänzten, dass man seine Augen bedecken musste. Vor fünfundzwanzig Jahren, 19 v. Chr., war mit dem Bau des neuen Tempels begonnen worden und die Arbeiten daran waren noch längst nicht beendet.

Vom Ölberg aus konnte man auch die Ströme von Pilgern sehen, die von allen Seiten, laut singend und betend, in die Stadt drängten. Flavius Josephus übertreibt jedoch maßlos, wenn er sagt, dass zu den großen Festen zwei bis drei Millionen Besucher nach Jerusalem kamen. Einige Hunderttausend dürften es aber gewesen sein. Vor den Toren der Stadt entstanden Zeltlager, in denen die Pilger notdürftig kampierten. Wer Glück hatte, konnte einen Platz in einer Herberge finden oder bei Verwandten unterkommen.

Wer von Jericho nach Jerusalem kam, der musste den Bach Kidron überqueren und dann den gewundenen Weg hinaufsteigen zum Plateau der Tempelanlage. Über sich hatten die Pilger die hochragenden Mauern der Burg Antonia mit ihren vier mächtigen Türmen. Die Burg war für jeden Juden das schmerzliche Sinnbild der römischen Besatzung. Hier, direkt am Rand des wichtigsten jüdischen Heiligtums, hatten auch die Römer ihre militärische Zentrale. Von den Türmen aus überwachten die Soldaten den ganzen Tempelbezirk. Und wenn sie nur die geringsten Zeichen einer beginnenden Unruhe bemerkten, alarmierten sie die Wachsoldaten, die sofort ausrückten und jeden Aufruhr im Keim erstickten.

Zu der Zeit, als der Herodessohn Archelaus abgesetzt wurde, der römische Prokurator Coponius in den Königspalast einzog und die Stimmung im Land hochexplosiv war, wurden die Sicherheitsmaßnahmen zum Passahfest nochmals verstärkt. Überall in Jerusalem standen die Legionäre, ausgestattet mit Bronzehelm und Kettenpanzer, bewaffnet mit einem Wurfspieß, mit Schwert und Dolch.

Die Pilger aus Richtung Jericho betraten den Tempelbezirk durch das sogenannte Schaftor im Norden. Erst nach der vorschriftsmäßigen Reinigung durften sie das Innere des Tempelbereiches betreten, zunächst den riesigen Innenhof, der von überdachten Säulenhallen gesäumt war. Jetzt waren sie an dem Ort, wo das zerstreute Volk der Juden seine Heimat hatte, das herrlichste Heiligtum, der religiöse Nabel der Welt. Die ganze Anlage war nochmals ausgerichtet auf einen Mittelpunkt, auf das eigentliche Tempelhaus, wo Gott wohnte. Je näher man diesem Zentrum kam, desto heiliger wurde der Ort. Auf dem Vorhof durften sich auch noch Heiden aufhalten. Hier herrschte an Festtagen drangvolle Enge. Hier konnte man seine Münzen in Tempelgeld wechseln, denn nur damit durften die kultisch reinen Opfertiere gekauft werden.

Der innere Bereich des Tempels war durch eine Balustrade vom Vorhof abgetrennt. An den Eingängen waren Warnschilder angebracht, die den Heiden den Zugang unter Todesstrafe verboten. Über Treppen gelangte man zunächst in einen Vorhof, der Frauen vorbehalten war, weiter voranschreiten in den nächsten Vorhof durften nur die Männer. Sie hatten nun freien Blick auf den Priesterhof, wo der große Altar stand, auf dem die Opfertiere verbrannt wurden. Zwölf Stufen führten von hier hinauf in das eigentliche Tempelhaus, das Haus des Herrn.

Der heiligste Raum dieses Gebäudes war durch einen großen Vorhang abgetrennt. Das Allerheiligste war leer. Nur ein Stein bezeichnete die Stelle, wo früher die verloren gegangene Bundeslade gestanden hatte. Niemand durfte diesen Raum betreten, nicht einmal einen Blick durfte man hineinwerfen. Nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag, betrat der Hohepriester diesen heiligen Raum, wo Himmel und Erde sich berührten, wo Gott anwesend war.32

Die Gemeinschaft dieses Gottes mit den Menschen zu bekräftigen und sie von Störungen frei zu halten, das war der Sinn der täglichen Opfer. Diese Störungen wurden von den Menschen verursacht, dann nämlich, wenn sie sich sittlicher oder ritueller Vergehen schuldig machten. Wer gegen die Sabbatruhe oder die Reinigungsvorschriften verstoßen hatte, der konnte durch seine Opfer den Zorn Gottes beschwichtigen und die Gemeinschaft mit ihm wiederherstellen. Und die Gemeinschaft mit Gott, die bestand in der strengen Einhaltung der Gesetze, die er seinem Volk gegeben hatte. So war für jeden Israeliten der Tempel der Ort, wo der Mensch die Hoheit Gottes anerkannte und sich ihm unterwarf. Und diese Hingabe und Unterwerfung geschah durch das Opfer.

In der legendenhaften Beschreibung des Lukas blieb Josef mit seiner Familie die ganze siebentägige Festzeit in Jerusalem. (Lk 2,43) Am Vormittag nach dem letzten Festtag machte sich die Reisegruppe aus Galiläa wieder auf den Rückweg in die Heimat. Josef und Maria dachten sich nichts dabei, als Jesus beim Aufbruch nicht bei ihnen war und sie ihn auch in der Folgezeit nicht zu Gesicht bekamen. Sie waren sich offenbar sicher, dass er, wie schon bei der Hinreise, mit anderen Kindern vorausgelaufen war und sich Verwandten oder Freunden angeschlossen hatte. Erst als die Gruppe schon einen ganzen Tag unterwegs war, suchten sie nach ihm, konnten ihn aber nicht finden. Er musste in Jerusalem zurückgeblieben sein. Die Eltern kehrten sofort um und kamen wahrscheinlich in den frühen Morgenstunden wieder in Jerusalem an. Voller Sorge und Angst durchstreiften sie die Gassen der Stadt und fragten in Gasthäusern und bei Straßenhändlern nach einem allein herumirrenden Kind. Doch niemand hatte Jesus gesehen. Auch am nächsten Tag war er nirgendwo zu finden.

Am dritten Tag gingen seine wohl schon ziemlich verzweifelten Eltern wieder in den Tempel, wo sie an den Festtagen ihre Opfer dargebracht hatten. Als sie die marmornen Säulenhallen entlanggingen, wollten sie ihren Augen nicht trauen. Jesus saß da seelenruhig in einem Kreis von Schriftgelehrten und diskutierte mit ihnen. Es war Maria, die erleichtert, aber auch verärgert zu ihrem Sohn ging, ihn streng bei der Hand packte und zu ihm sagte: »Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht.« Jesus sah seine Eltern aber nur verständnislos an und meinte: »Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?«

Weder Maria noch Josef verstanden, was er damit sagen wollte. Sein Vater war doch auf dem Heimweg nach Nazaret gewesen und nicht im Tempel! Joseph hätte allen Grund gehabt, den Ausreißer an den Ohren nach Hause zu schleifen.33 Doch Jesus hatte anscheinend schon öfter seltsame Dinge gesagt, und so zerbrachen sie sich nicht weiter ihre Köpfe über ihren merkwürdigen Sohn. Hauptsache, sie hatten ihn wieder.

Die Handwerkerfamilie aus Nazaret ist immer wieder als »heilige Familie« verklärt und in der Kunst auch wiederholt so dargestellt worden. Josef, der fleißige Zimmermann und treu sorgende Familienvater. Maria, die aufopferungsvolle und zärtliche Mutter. Jesus, der »gehorsame Sohn«. Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel passt nicht zu dieser Idylle und bringt einen hässlichen Missklang in das harmonische Familienbild.

Aus der Sicht von Maria und Josef ist es grausam, gedankenlos und egoistisch, wie sich Jesus benimmt. Ist es nicht das Natürlichste der Welt, dass sie sich Sorgen machten, als Jesus verschwunden war? Bisher war Jesus in Nazaret immer in ihrer Nähe gewesen, und wenn er nicht zu Hause war, wussten sie, wo er war, bei Verwandten oder Freunden. Nun war er plötzlich weg. Nicht auszudenken, was ihm alles hätte passieren können. Das Kind allein in dieser großen Stadt! Drei Tage suchten sie erfolglos nach ihm und waren vor Sorge und Angst schier verrückt geworden. Und wie reagierte Jesus, als sie ihn endlich im Tempel fanden? Er benahm sich völlig gleichgültig. Er wunderte sich darüber, dass seine Eltern ihn gesucht haben, und er schien sich überhaupt nicht vorstellen zu können, welche Ängste sie seinetwegen ausgestanden hatten. Und was er seiner Mutter auf ihre Vorwürfe antwortete, war geradezu eine Frechheit, eine Unverschämtheit.

Aus seiner Sicht tat Jesus nur etwas, wozu die Eltern sich schon längst religiös verpflichtet hatten. Als sie ihn beschneiden ließen und ihn mit in den Tempel nahmen, haben sie mit diesen Ritualen erklärt, dass ihr Kind nicht ihnen gehört. Jetzt, da er schon auf der Schwelle zu seiner religiösen Volljährigkeit steht, wollen sie ihn aber nicht loslassen.

Was Jesus macht, das hat der Philosoph Friedrich Nietzsche die »große Loslösung« genannt. Diese Loslösung ist für Nietzsche notwendig für jeden, der ein »freier Geist« werden will, aber sie ist unvermeidlich mit einem schlechten Gewissen verbunden, weil man sich nun gegen das wendet, was man bisher geliebt, was einem bisher Wärme und Sicherheit gegeben hat. »[…] ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehen«, schreibt Nietzsche, »irgendwohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in all ihren Sinnen. ›Lieber sterben als hier leben‹ – so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies ›hier‹, dies ›zu Hause‹ ist alles, was sie bis dahin geliebt hatte!«34

Damit der Ausbruch aber gelingt, muss der »Wille zur Freiheit« größer sein als das schlechte Gewissen. Allerdings gibt es für Nietzsche sehr feste, fast unzerreißbare Stricke, die einen immer noch an das Alte fesseln. Zu diesen Stricken gehören die »Pflichten«, die »Dankbarkeit« und vor allem die »Liebe«. Es ist eine Liebe, die nicht freilässt, sondern einengt und einen auf fatale Weise gefangen hält, die Nietzsche anprangert. Und darum gehört für ihn zu einer gelungenen Befreiung notwendig auch der »Hass auf die Liebe«.

Diesen Argwohn gegen die Liebe, die letztlich eine falsche Liebe ist, hat vielleicht niemand stärker empfunden und unter ihr hat niemand mehr gelitten als der Beamte und heimliche Dichter Franz Kafka. Er, der nach eigener Aussage das größte Bedürfnis nach Selbstständigkeit hatte, lebte noch als Dreißigjähriger bei den Eltern, und es bestand keine Aussicht, dass es je anders werden würde. Wie sollte er auch revoltieren gegen eine Mutter und einen Vater, die immer beteuerten, dass sie für ihren Sohn alles tun, dass sie ihr Herzblut für ihn geben würden. »Nichts wollen die Eltern«, so schrieb Kafka verzweifelt, »als einen zu sich hinunterziehen, in die alten Zeiten, aus denen man aufatmend aufsteigen möchte, aus Liebe wollen sie es natürlich, aber das ist ja das Entsetzliche.«35

Im Vergleich zum »ewigen Sohn« Franz Kafka handelt der zwölfjährige Sohn Jesus mit einer bewundernswerten Entschlossenheit. Von den Vorhaltungen seiner Mutter lässt er sich nicht beeindrucken, auch nicht von ihrer ängstlichen Sorge. Und seinem Vater sagt er auf den Kopf zu, dass er einen anderen Vater habe. Jesus will Josef nicht verletzen, er will ihm nur deutlich machen, dass die Eltern lediglich eine Zeit lang für ihn zuständig sind, sozusagen als Stellvertreter. Sie können ihm ein Heim, Essen und Fürsorge geben. Aber die Liebe und das Vertrauen, das ein wirklich eigenständiges und freies Leben ermöglicht, die können sie ihm nicht geben. Die kann er nur von einem anderen »Vater« empfangen, einem Vater, der jenseits der menschlichen Welt steht. Josef und Maria haben ihren Sohn bereits verloren, sein Platz ist im Tempel. Sie bleiben seine Eltern, kommen aber an zweiter Stelle. Wenn sie nicht bereit sind, ihn zu »opfern«, ihn herzugeben, freizulassen, dann ist das der sicherste Weg, ihn endgültig zu verlieren.

Jesus zeigt in dieser Frage eine unsentimentale Entschiedenheit, die er später als Erwachsener auch von anderen erwarten wird. Menschen, die sich ihm anschließen wollen, stellt er vor eine radikale Wahl. »Wenn jemand zu mir kommt«, so sagt er im Lukasevangelium, »und nicht seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine Brüder und seine Schwestern und dazu sein Leben gering achtet, kann er nicht mein Jünger sein.« (Lk 14,25)

Nachfolge bedeutet für Jesus, so zu handeln, zu glauben und zu leben wie er. Ein Nachfolgender in diesem Sinne war der Tuchhändlersohn Franz von Assisi. Er, der einstige Liebling seiner Eltern und Partyheld seiner Heimatstadt, fing plötzlich an, sich sehr seltsam, ja verrückt zu benehmen. Was ihn lockte, war eine andere Idee von Freiheit, und um diese auch zu leben, war es unumgänglich, seinem Vater zu widersprechen. So kam es zu dem großen Eklat auf einem Platz in Assisi. Der wütende Vater stand dem nun fremden Sohn gegenüber. Franz verzichtete nicht nur auf sein Erbe, er zog seine Kleider aus, als Zeichen dafür, dass ihn nichts mehr mit seinem Vater verband. Und er verkündete, von nun an keinen anderen Vater mehr zu haben als den »Vater im Himmel«.

Der heilige Franziskus hasste seinen Vater nicht. Er sprach ihm nur das Recht ab, über sein Leben zu bestimmen. Die Trennung von seinem Vater war ein »Sprung in die Freiheit«. Es ist dieselbe Freiheit, dieselbe »wundersame Unbekümmertheit«, die der Philosoph Karl Jaspers am Menschen Jesus beobachtet und die ihm so »unbegreiflich« ist.36 Ein Mensch wie Jesus, so Jaspers, bleibt der Welt verbunden, er nimmt an allem teil, sein Blick ist offen für alles und er kann Menschen verstehen wie kein anderer. Das ist nur möglich, weil er ungebunden bleibt, weil Dinge und Menschen ihn nicht an sich fesseln können, er nicht ihr Gefangener ist. Diese »unendliche Kraft«, die Jesus auszeichnet, kommt für Jaspers aus einem »nicht mehr welthaften Grund«. Es ist ein Grund, den Jesus »Vater« nennt.

Nach Lukas kehrte der zwölfjährige Jesus mit seinen Eltern nach Nazaret zurück und war ihnen ein gehorsamer Sohn. Rein äußerlich bleibt die »heilige Familie« vereint wie früher. Was sich in Jerusalem ereignet hat, das lässt sich in seinen Folgen nur schwer erkennen, und doch lässt sich hier das Besondere erahnen, das Jesus aus macht und ihn als Messias auszeichnet. Es besteht nicht darin, dass er Zaubertricks beherrscht, dass er Menschen tot umfallen lassen kann oder dass er mit seinem überragenden Wissen alle Lehrer lächerlich macht. Es besteht allein in dem sicheren Glauben, einen anderen Vater zu haben. Mit diesem Glauben wird Jesus noch lange ein verborgenes, unspektakuläres Leben in Nazaret führen. Gott, so sagt es Romano Guardini, »ist nicht im Sturm und nicht im Erdbeben, sondern im stillen Hauch.«37