7.
DER SANFTE REBELL
Jesus hielt sich die meiste Zeit in Galiläa auf. Nur ab und zu verließ er diese Gegend. Wie oft er in Jerusalem war, darüber gibt es unterschiedliche Angaben. Nach den Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas, die man wegen ihrer Ähnlichkeit »Synoptiker« nennt, war Jesus nur einmal in der jüdischen Hauptstadt, gegen Ende seines Lebens. Der Evangelist Johannes, der sich von den Synoptikern inhaltlich erheblich unterscheidet, berichtet von mehreren Jerusalembesuchen, einer davon steht ganz am Anfang seines Wirkens.
Ein Ereignis, das sich im Tempel zu Jerusalem abspielte, wird allerdings in allen vier Evangelien geschildert. Dieser Zwischenfall zeigt Jesus von einer ganz anderen Seite. Der sonst so sanftmütige Mann aus Nazaret, der nur mit dem Wort kämpft und der zu jeder Form von Gewalt unfähig scheint, tritt plötzlich aggressiv auf und wird handgreiflich. Der äußere Rahmen ist das Passahfest in Jerusalem, zu dem jedes Jahr Tausende von Pilgern in die Stadt strömen. Als Jesus den riesigen Vorhof des Tempels betritt, sieht er die Tische und Stände der Geldwechsler und die Käfige und Verschläge mit den Tauben und Schafen, die als Opfertiere verkauft werden. (Joh 2,13-22 parr)
Beim Anblick dieser heiligen Geschäftemacherei packt Jesus der heilige Zorn. Er stößt die Tische, Hocker und Käfige um, schlägt mit einem Strick auf die Geldwechsler und Verkäufer ein und schreit sie an, dass sie von hier verschwinden sollen, denn sie hätten aus dem Haus seines Vaters eine Räuberhöhle und ein Kaufhaus gemacht.
Dieser Wutanfall sorgt natürlich für Aufsehen. Die Tempelpolizei greift sofort ein und Jesus wird von den Vorstehern der Juden zur Rede gestellt. Wer er eigentlich glaube zu sein, fragen sie ihn, dass er sich hier aufführe wie ein wild gewordener Prophet. »Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten«, antwortet ihnen Jesus. Alle, die das hören, halten eine solche Voraussage natürlich für blanken Unsinn. Fast fünfzig Jahre hat man bisher am Tempel gebaut und dieser unbekannte Zimmermann aus Nazaret will ihn in drei Tagen errichten? Was für eine Anmaßung! Einige Juden merken sich diese gotteslästerlichen Worte und sie werden sie später gegen Jesus verwenden.
Diese Szene bewahrt davor, Jesus nur als eine weiche, duldsame und liebe Gestalt zu sehen. Der Wutausbruch im Tempel zeigt, dass er auch zornig und kämpferisch sein konnte, und das beweist wiederum, dass Jesus keine abgehobene Himmelsfigur war, sondern ein »wahrer« Mensch, der die ganze Bandbreite der menschlichen Gefühle kannte: von der Trauer und Angst bis zu Freude, Zorn und Wut. Jesus hat sich jeden Augenblick ganz und gar auf Gott eingelassen, seine Verbundenheit mit Gott war total. Gleichzeitig war er ein wirklicher, geschichtlicher Mensch – und zwar ohne die Möglichkeit, aus seinem menschlichen Schicksal auszubrechen und sich in ein Jenseits zu flüchten.
Mit Jesus verhält es sich nicht wie mit einem König, der das Leben seiner Untertanen einmal aus nächster Nähe erfahren möchte und deshalb in normalen Kleidern sein Schloss verlässt und sich unter das Volk mischt. Wenn es ihm zu viel, zu gefährlich oder zu anstrengend wird, kann dieser König jederzeit sein Inkognito aufgeben, er kann wieder ins Schloss zurückkehren oder seine Soldaten holen. Bei Jesus ist das anders. Er schneidet sich jede Möglichkeit ab, sozusagen zurück ins Schloss zu gehen. Er begibt sich unter die Menschen, aber ohne eine Hintertür. Er versagt sich freiwillig jede Chance zum Rückzug. Er bindet sich ein für alle Mal selbst an sein menschliches Schicksal. Und so ist sein Leben nicht nur Spiel oder Schein, sondern echte Solidarität mit den Menschen. Darin liegt seine tiefe Mitmenschlichkeit.
Ob Jesus wusste, dass seine Aktion im Tempel ein direkter Angriff auf die Kaste des Priesteradels war? Die Sadduzäer gingen aus den vornehmsten Kreisen der Jerusalemer Aristokratie hervor, sie bekleideten die hohen priesterlichen Ämter und verwalteten den Tempelkult. Besonders einflussreich und mächtig war die Familie des ehemaligen Hohepriesters Hannas, dessen Schwiegersohn Kaiphas seit dem Jahr 18 n. Chr. dieses Amt innehatte.
Die Mitglieder der Familie des Hannas hätten es sehr gut verstanden, »Geldgeschäfte zu machen«, heißt es bei Flavius Josephus.62 Sie kontrollierten so gut wie alles, was mit dem Tempelkult zusammenhing, und schlugen daraus beachtlichen Profit. Auf dem Tempelberg gab es die sogenannten Hannashallen, das waren Kaufhallen und Wechselstuben, die für die Tempelbank arbeiteten und die Pilgermassen mit Tempelgeld, Opfertieren und den damals üblichen Devotionalien versorgten.63
Dieser fromme Großbetrieb war ein einträgliches Geschäft. Der religiöse Kult eng verflochten mit priesterlicher Macht und wirtschaftlichen Interessen. Der Tempel war nicht nur ein Ort des Gebetes, sondern auch ein Marktplatz, eine Bank und ein Verwaltungszentrum. Und die Verwalter der Tempelanlage waren die wichtigsten Arbeitgeber in Jerusalem. An die zehntausend Menschen standen in ihrem Dienst oder waren von ihnen abhängig. Für die Pilger in Jerusalem war das ganz normal. Nur für Jesus anscheinend nicht.
In der Tat ist sein Verhältnis zu Gott, wie es sich schon beim Zwölfjährigen und bei der Taufe am Jordan zeigt, ganz anders als das Gottesbild, wie es im Tempelkult zu Jerusalem zum Ausdruck kommt. Für Jesus ist Gott »Abba«, also wie ein Vater, zu dem er sich wie ein geliebter Sohn verhält, und dessen Vertrauen und Liebe er empfängt ohne jede Einschränkung und ohne jede Vorgabe. Im Tempel dagegen schiebt sich zwischen Gott und den Gläubigen ein ganzer Apparat von Priestern. Gott erscheint unerreichbar und erst durch kostspielige Opfer und Rituale kann man das Wohlwollen der Priester gewinnen und sich dadurch Gott nähern und seine Gunst gewinnen. Frömmigkeit bedeutet in diesem System die korrekte Erfüllung von Gesetzen und die Verrichtung von Opferhandlungen. Nicht die innere Einstellung und das eigene Gewissen zählen, sondern äußere Handlungen. Nicht die Erfahrung eines liebenden Vaters ist vorrangig, sondern die Furcht vor einem Gott, der straft, wenn man ihn nicht durch eigene Leistungen gnädig stimmt.
Das alles greift Jesus an, wenn er im Tempel auf die Händler und Geldwechsler losgeht. Dabei war ihm sicher klar, dass er am ganzen System der Priesterherrschaft und der religiös verbrämten Geldmacherei nichts ändern kann. Aber mit seinem Temperamentsausbruch hat er seinen Standpunkt deutlich gemacht, er hat damit Aufsehen erregt und sich Feinde geschaffen. »Die Hohenpriester aber und die Schriftgelehrten hörten davon und suchten nach einer Möglichkeit, ihn umzubringen«, so heißt es bei Markus. (Mk 11,18) Noch wussten sie nicht, wie sie es anstellen sollten. Denn Jesus hatte inzwischen zahlreiche Anhänger und viele wurden von seinen Worten berührt.
Um nicht zu sehr ins Visier der Tempelbehörde zu geraten, zog sich Jesus immer wieder nach Galiläa zurück. Mehrere Wege kamen dafür infrage. Er konnte durch das Jordantal gehen oder die Straße entlang der Küste nehmen. Der kürzeste Weg führte durch das Bergland von Samarien. Er wurde allerdings von gesetzestreuen Juden gemieden, da zwischen den Juden und den Samaritern eine jahrhundertelange Feindschaft herrschte. Die Samariter verehrten auch den Gott Jahwe, sie hatten jedoch auf dem Berg Garizim einen eigenen Tempel und eigene Bräuche, was sie in den Augen der Juden zu Abtrünnigen machte.
Der Evangelist Johannes berichtet, dass Jesus und seine Begleiter auf ihrem Weg nach Norden Samarien durchquerten. (Joh 4,1-26) Diese Strecke kann man gut nachzeichnen. Der Höhenweg durch das Gebirge führte hinab in ein fruchtbares Tal, wo die Stadt Sichem lag und zwei wichtige Karawanenstraßen sich kreuzten. An dieser Kreuzung befand sich ein Brunnen, der Jakobsbrunnen, so benannt nach dem Stammvater Israels, der diesen Brunnen vor dreitausend Jahren angelegt haben soll.64 Die Gruppe kam in der Mittagshitze hier an, alle waren müde und erschöpft und wollten eine Rast einlegen. Die Jünger gingen in den Ort, um etwas zu essen zu besorgen. Jesus blieb und setzte sich auf den Brunnenrand.
Da kam eine samaritische Frau und wollte Wasser schöpfen. Die Situation, die sich nun ergibt, ist heikel. Denn Jesus ist Jude, und von einem jüdischen Mann wird erwartet, dass er eine fremde Frau nicht beachtet, noch dazu, wenn sie eine Ungläubige ist. Jesus spricht sie an und fordert sie zunächst recht barsch auf, ihm Wasser zu geben. Die Frau wundert sich, dass ein Jude eine samaritische Frau um Wasser bittet. Und noch mehr wundert sie sich, dass dieser fremde Mann von einem »lebendigen Wasser« redet, das auf immer jeden Durst löschen soll. Man kann es ihr nicht übel nehmen, dass sie diese abgehobene Rede nicht versteht, sondern denkt, dass Jesus tatsächlich so etwas wie Wunderwasser besitzt. Das würde sie natürlich gerne haben, denn dann bräuchte sie nicht dauernd zum Brunnen gehen und schwere Krüge schleppen.
Jesus gibt dem Gespräch nun plötzlich eine andere Richtung, so als hätte er gemerkt, dass er mit seinen rätselhaften Worten über den Kopf dieser Frau hinwegredet. Er wird persönlich. »Geh, ruf deinen Mann, und komm wieder her!«, fordert er sie auf. Die Frau muss aber gestehen, dass sie keinen Mann hat. Und es erschüttert sie geradezu, dass Jesus ihre Lebensverhältnisse kennt. »Denn fünf Männer hast du gehabt«, sagt er zu ihr, »und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann.«
Jesus sagt das nicht vorwurfsvoll wie ein Sittenwächter. Er stellt nur fest und gibt der Frau sozusagen zu denken. Man spürt förmlich, wie sie in sich geht und über ihr Leben sinniert. Vielleicht überlegt sie, ob es auch eine Art Durst war, der sie von einem Mann zum nächsten getrieben hat, und dass es schön wäre, diesen Durst einmal auf Dauer zu stillen. Anscheinend aber geht ihr das Gespräch zu nah. Sie lenkt es wieder von sich weg auf die Feindschaft zwischen den Samaritern und den Juden und stellt fragend fest, dass die einen Gott im Jerusalemer Tempel und die anderen auf dem Berg Garizim verehren.
Die religiösen Streitigkeiten zwischen Juden und Samaritern scheinen Jesus nicht zu interessieren. Eines Tages, so meint er, werde man Gott weder im Tempel zu Jerusalem noch auf dem Berg Garizim anbeten. Denn Gott sei »Geist« und man könne ihn darum nur »im Geist« anbeten. Mit anderen Worten: Wenn Gott »Geist« ist, dann ist er überall, und dann kann man ihn auch überall erfahren und zu ihm sprechen. Wichtig ist nicht, wo Gott angebetet wird, sondern wie. Entscheidend ist das innerliche und persönliche Verhältnis zu Gott.
Die Tempelreinigung und die Szene am Jakobsbrunnen zeigen, dass Jesus kein abgeschlossenes religiöses Wissen verkündete, sondern von Fall zu Fall entschied und jeden einzelnen Menschen in seinem Gewissen ansprach. Er bot keine fertigen Antworten. Stattdessen machte er die Menschen darauf aufmerksam, was in ihrem Leben schieflief und wie sie sich von lebensfeindlichen Ängsten und Abhängigkeiten befreien konnten. Das »Heil« jedes Einzelnen, und zwar das körperliche und seelische, lag ihm am Herzen, und seinen Protest erhob er immer dann, wenn Menschen durch irgendeine Entfremdung oder Unmenschlichkeit gehindert wurden, »heil« und frei zu sein.
Dass Jesus damit in Konflikt mit der jüdischen Gesetzesfrömmigkeit geriet, war unweigerlich. Das Gesetz, das war die Grundlage des Lebens eines jedes Juden, es regelte sein Leben von morgens bis abends, von der Geburt bis zum Tod. Was Gott von seinen Gläubigen verlangte, das stand in der Bibel, hauptsächlich in den fünf Büchern Mose, Pentateuch genannt. Um diese göttlichen Gebote möglichst genau zu befolgen, wurden sie dauernd ausgelegt und erweitert, sodass sich ein Netz von Vorschriften über das alltägliche Leben spannte.
Eine besondere Rolle kam dabei der Heiligung des Sabbats zu. Eine lange Liste schrieb vor, was am Sabbat alles verboten war. Das reichte von Arbeiten auf dem Feld wie Ernten und Dreschen, bis zu kleinen Tätigkeiten im Haushalt wie dem Nähen einer zerrissenen Tunika oder dem Tragen eines Eimers. Auch die Verbote wurden durch neue Bestimmungen ergänzt, in denen etwa die Frage aufgeworfen wurde, ob das Verbot, am Sabbat ein Tier zu schlachten, auch bedeutet, dass man einen Floh nicht zerquetschen darf.65
Wer es so genau nahm, der musste natürlich Anstoß daran nehmen, wie Jesus und seine Jünger sich verhielten. Einmal wanderten sie an einem Sabbat durch ein Kornfeld, rissen Ähren ab, zerrieben sie zwischen den Fingern und aßen die Körner. Damit machten sie sich gleich mehrerer Vergehen schuldig. Sie hatten mehr Schritte gemacht als erlaubt, sie hatten Erntearbeit geleistet und noch dazu Essen bereitet. Als einige fromme Pharisäer sich darüber empörten und Jesus angriffen, hielt er ihnen entgegen: »Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.« (Mk 2,27)
Diese Worte bedeuten nicht weniger als eine Revolution, eine Wende in der ganzen Auffassung von Religion, und sie haben eine ungeheuer befreiende Wirkung. Jesus will damit die Gesetze nicht abschaffen. Er will nur an ihren ursprünglichen Sinn erinnern. Die Gesetze wollen nämlich eine Beziehung zwischen Gott und den Menschen herstellen. In dieser Beziehung sollte Gott jemand sein, der es gut mit den Menschen meint und ihnen Hilfe zum Leben gibt. Wo aber die Gesetze nur noch um ihrer selbst willen erfüllt werden, da sind sie nicht mehr Hilfe, sondern eine Last, ein System der Unfreiheit. Und das, was Gott mit den Menschen will, droht verloren zu gehen hinter einem Wust von Vorschriften und Verboten und einem falschen Gehorsam. »Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig«, so wird es der Apostel Paulus einmal ausdrücken. (2 Kor 3,6)
In seiner Entgegnung an die übereifrigen Gesetzeshüter sagt Jesus auch, was Gott will. Gottes Wille ist Liebe. Und nur der, der diese Liebe annimmt und weitergibt, erfüllt Gottes Willen. Darum ist für Jesus das doppelte Liebesgebot das wichtigste aller Gebote: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele« und »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (Mt 22,36-40 parr) Beides gehört zusammen, beides bedingt einander. Lieben heißt, Gottes Willen tun, und es heißt, die Liebe, die man von Gott empfängt, an den Mitmenschen praktizieren.
Wie das ganz konkret im Alltag aussehen kann, das hat Jesus wie immer in Gleichnissen begreiflich zu machen versucht. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn hat ein Vater zwei Söhne. (Lk 15,11-32) Der jüngere von beiden lässt sich sein Erbteil auszahlen und zieht weg in ein fernes Land. Dort führt er ein ausschweifendes Leben. Sein Geld hat er bald verprasst, und er muss froh sein, wenn er Schweinefutter zu essen bekommt. Reuig kehrt er zurück in sein Elternhaus. Wider Erwarten jagt ihn sein Vater nicht weg, er ist auch nicht böse, macht ihm nicht einmal Vorwürfe. Schon als er seinen Sohn von Weitem sieht, läuft er ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn. Dessen Schuldbekenntnisse scheint er gar nicht zu hören, stattdessen will er ein großes Fest feiern, aus Freude, den verlorenen Sohn wiedergefunden zu haben.
Diese Geschichte von dem Vater, dessen Liebe so groß ist, dass er seinem Sohn nicht nur verzeiht, sondern ihm sogar entgegenläuft und ihn umarmt, wird ergänzt durch ein anderes Gleichnis, in dem es darum geht, wie diese väterliche Liebe weitergegeben werden kann. Darin wird ein Mann von Räubern überfallen und bleibt schwer verletzt am Wegrand liegen. (Lk 10,30-37) Ein Priester kommt vorbei, sieht den Mann, geht aber weiter. Offenbar fürchtet er, dass der Mann tot ist, und einen Toten zu berühren, ist ihm nach dem Gesetz verboten.66 Ebenso verhält sich ein Tempeldiener. Erst ein Samariter, der auf dieser Straße unterwegs ist, hat Erbarmen mit dem verletzten Mann. Er verbindet notdürftig seine Wunden, bringt ihn in eine Herberge und gibt dem Wirt Geld, damit der sich in den folgenden Tagen um den Kranken kümmert.
Der Samariter, obgleich für die Juden ein Ungläubiger, weiß, wer sein Nächster ist. Er geht und sieht nicht vorbei. Er hat nicht nur Mitleid und bedauert den armen Mann, sondern handelt überlegt und sinnvoll. Überdies belässt er es nicht bei einer spontanen Hilfe, sondern er sorgt dafür, dass der Überfallene auch in Zukunft in guten Händen ist. Das Gebot der Nächstenliebe ist also keine abstrakte Forderung. Es ist der Aufruf, ganz praktisch zu handeln, wo Hilfe nötig ist, mit Verstand und Fantasie. Jesus macht aber immer deutlich, dass diese praktische Nächstenliebe genährt wird durch die grenzenlose Liebe eines Vatergottes. Gottesliebe und Nächstenliebe sind untrennbar miteinander verbunden. Und wo diese Doppelliebe der Grundsatz des Handelns ist, dort wird Gottes Wille verwirklicht, dort wird das Gesetz erfüllt. »Gehe hin und tu dergleichen« – mit dieser Aufforderung endet die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Jeder soll sich demnach seinem Nächsten zuwenden und ein »Samariter« sein.
Jesus hat diese Liebe vorgelebt. Deshalb musste er Tabus brechen und Gesetze missachten. Das hat ihm viel Zuneigung eingebracht, aber mindestens ebenso viel Feindschaft. Auch über die Tabus, mit denen Frauen damals belegt waren, hat er sich hinweggesetzt. Sogar seinen Jüngern war sein Verhalten nicht geheuer. Als sie aus der Stadt zurückkamen und sahen, dass Jesus mit der samaritischen Frau redete, waren sie ziemlich irritiert. Doch Jesus redete nicht nur mit Frauen, sondern ging auch ansonsten unbefangen und respektvoll mit ihnen um.
Als er bei einem Pharisäer zu Gast war, kam plötzlich eine stadtbekannte Prostituierte zur Tür herein, warf sich vor ihm auf den Boden, trocknete mit ihren Haaren seine von ihren Tränen nassen Füße und rieb sie mit einer kostbaren Salbe ein. Der Gastgeber war entrüstet, und noch mehr war er vor den Kopf geschlagen, als Jesus auch noch sagte, dass er dieser Frau dankbarer sei als ihm, seinem Gastgeber. (Lk 7,36-50)
Es muss diese von Karl Jaspers beschriebene »wunderbare Unbefangenheit« Jesu, seine vollkommene Unabhängigkeit, seine völlige Angstlosigkeit und menschenfreundliche Offenheit gewesen sein, die so viele Außenseiter und insbesondere Frauen in die Nähe des Mannes aus Nazaret zog. Einige gehörten zum engeren Kreis und begleiteten Jesus »von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf«, wie es im Lukasevangelium heißt. (Lk 8,1-3)
Eine dieser Frauen hieß Johanna und war die Frau eines Regierungsbeamten des Landesfürsten Antipas. Mit ihrer Entscheidung, dem Hofstaat, dem sie angehörte, den Rücken zu kehren und sich Jesus anzuschließen, stellte sie sich auf die Seite eines Wanderpredigers, der vom Dienstherrn ihres Mannes als gefährlicher Unruhestifter betrachtet wurde. Es waren sicher schwerwiegende Gründe, die sie dazu bewogen haben, ihr privilegiertes Leben aufzugeben und wie eine Landstreicherin durch Galiläa zu ziehen. Bei Lukas wird nur erwähnt, dass Jesus sie von »bösen Geistern« befreit hat. Heute würde man wohl sagen, dass Johanna in einer tiefen seelischen Krise gesteckt hat und mit Jesu Hilfe wieder herausfand.
Noch hilfsbedürftiger war offenbar eine andere Frau, von der gesagt wird, dass sie von »sieben Dämonen« erlöst wurde. Wie Jesus’ Mutter hieß sie Maria und stammte aus Magdala, einer Stadt am nordwestlichen Ufer des Sees von Gennesaret. Von ihr weiß man nicht viel, lediglich dass sie ein sehr enges Verhältnis zu Jesus hatte und ihm bis zu seinem Lebensende treu war. Trotz dieser wenigen Informationen hat diese Maria Magdalena, wie sie später genannt wurde, über Generationen hinweg die Fantasie der Menschen beschäftigt. Man hat sie, völlig unbegründet, mit der Frau gleichgesetzt, die Jesus mit ihren Haaren die Füße getrocknet hat, und sie so zur Dirne gemacht. Durch die Bekanntschaft mit Jesus soll sie ihre Sünden bereut und Buße getan haben. Der Bestsellerautor Dan Brown hat in seinem Roman Sakrileg, der auf wissenschaftlichen Beweisen gegründet sein soll, Maria Magdalena zur Ehefrau von Jesus gemacht und zur Mutter seiner Kinder.67
Das alles sind haltlose Spekulationen, und sie beweisen nur, dass Maria von Magdala eine ideale Projektionsfigur ist, in die man seine Fantasien hineinlegen kann. Eine Frau, die erst Hure war und dann zur Heiligen geworden ist, eignet sich als ideales Vorbild für eine Moral, die Sexualität als Sünde erklärt und ihre Unterdrückung zur christlichen Pflicht macht. Generationen von Jugendlichen, Männern und Frauen haben unter einer solchen Verteufelung der Sexualität gelitten.68
Beim biblischen Jesus sind solche Verklemmtheiten nicht zu finden. Sein Umgang mit Frauen ist völlig entspannt. Er tritt nie als Feind der Sexualität auf. »Das Heilige und das Geschlechtliche sind für ihn nicht unvereinbar«, stellt der Theologe Heinz Zahrnt fest.69 In einem nichtbiblischen Text, der vermutlich erst im zweiten Jahrhundert entstanden ist, heißt es, dass Jesus Maria Magdalena mehr geliebt habe als seine Jünger und sie »oftmals auf ihren Mund« geküsst habe.70 Diese Stelle ist heftig umstritten. Die einen wollen damit ein reges Sexualleben des Nazareners beweisen. Andere stellen den Text wegen seiner lückenhaften Überlieferung in Zweifel und wollen damit Jesus’ Reinheit verteidigen. Aber fallen nicht beide Positionen hinter die souveräne Freiheit zurück, die Jesus auszeichnet? Was eigentlich ist schlimm an einem Jesus, der eine Frau liebt und das auch mit Zärtlichkeiten zeigt?
Mit seinem Verhalten hat Jesus den Frauen eine Würde gegeben, die sie zu dieser Zeit nicht hatten. Den Männern waren sie in jeder Beziehung untergeordnet. Schon wenn in einer Familie ein Mädchen geboren wurde, war das wie ein Unglücksfall. Natürlich war es von der Schulbildung ausgeschlossen und durfte auch am religiösen Leben nur passiv teilnehmen. Wenn eine Frau die monatliche Regel hatte, galt sie als »unrein« und durfte nicht den Tempel betreten. In der Synagoge musste sie stets schweigen und auch in der Familie hatte sie nicht viel zu sagen. Bevor sie verheiratet wurde – das konnte ab dem zwölften Lebensjahr geschehen –, gehörte sie dem Vater, später dann war sie Eigentum des Ehemannes. Der konnte sie jederzeit wieder wegschicken. Für den Scheidebrief, den er dazu ausstellen musste, brauchte er keine großen Gründe, es reichte schon ein kleiner Verstoß gegen die Konventionen, nachlassende Attraktivität oder eine angebrannte Mahlzeit. Männer durften fremdgehen und mussten nicht mit Strafen rechnen, während bei Frauen auf Ehebruch die Todesstrafe stand.
Vor diesem Hintergrund muss man es verstehen, warum Jesus die Ehe vehement verteidigt hat. Er wollte die Frauen vor männlicher Willkür schützen, auch davor, irgendwann einfach abgeschoben zu werden. Wer weiß, vielleicht sind auch Johanna und Maria von Magdala auf diese Weise fallen gelassen und zu einem verachteten Sozialfall gemacht worden.
In Jesus’ Nähe jedenfalls wehte ein anderer Wind. Er setzte sich über die gängigen gesellschaftlichen und religiösen Regeln hinweg und behandelte Männer und Frauen gleich. Das ist ein Verhalten, das bis heute auf Widerstände und Einwände trifft. Schon seinen Zeitgenossen hat Jesus einiges zugemutet. Wenn es darum ging, Menschen aus ihrer gesellschaftlichen und religiös bedingten Isolation und Ächtung zu befreien, hat er sich nicht davor gescheut, Grenzen zu überschreiten, allgemein anerkannte Urteile einfach zu ignorieren und Tabus zu brechen. Dazu boten sich auf seinen Wanderungen jederzeit Gelegenheiten.
Auch in Kafarnaum, seiner Wahlheimat. Dort, an der Grenze zum Herrschaftsgebiet des Herodessohnes Philippus, gab es eine Zollstation. Darunter kann man sich eine kleine Hütte vorstellen mit einem Wechseltisch davor, an dem die Passanten ihre Abgaben bezahlten und ihre Quittung erhielten. Der Zöllner in Kafarnaum hieß Levi und er war wie alle seinesgleichen bei den Juden tief verachtet. Zöllner trieben Geld für die römische Besatzungsmacht ein. Da sie Pacht zahlen mussten und nicht unerhebliche Ausgaben hatten, waren sie gezwungen, auch in die eigene Tasche zu wirtschaften, was ihnen den Ruf als Betrüger und Halsabschneider einbrachte.
Levi wird wie alle seine Berufsgenossen in Kafarnaum ein verhasster Außenseiter gewesen sein, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Und was machte Jesus? Er ging zur Zollstation, redete mit Levi und forderte ihn schließlich auf, sich ihm anzuschließen. (Mt 9,9-13) Nach dem biblischen Bericht war Levi völlig aus dem Häuschen und ließ alles stehen und liegen. Nicht genug, dass Jesus mit diesem Ausgestoßenen redete, er ließ sich von Levi auch noch in dessen Haus zum Essen einladen. Da saß er dann am Tisch mit anderen Zöllnern und Leuten mit schlechtem Ruf. Und man kann sich vorstellen, wie die Menschen in Kafarnaum sich den Mund zerrissen und es nicht fassen konnten, mit welchen Leuten sich Jesus abgab. Auf die Vorwürfe der Religionsführer antwortete Jesus aber nur: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.« (Mt 9,12)
Die Kranken, das waren für Jesus alle, die aus sozialen oder religiösen Gründen ausgeschlossen, an den Rand gedrängt, zu Sündern oder Minderwertigen erklärt worden waren. Jesus wusste offenbar, dass Menschen, die keine Anerkennung erfahren, denen jede Würde genommen wird, die vom öffentlichen Leben ausgeschlossen und isoliert sind, »krank« werden, krank an Leib und Seele. Darum besteht auch bei den Krankenheilungen, die Jesus vornimmt, ein erster und wichtiger Schritt darin, dass er die Kranken aus ihrer Vereinsamung herausholt. Heilung bedeutet immer auch Anerkennung, Würdigung, Gleichberechtigung.
Dieser Zusammenhang wird in einer Geschichte deutlich, die ebenfalls in Kafarnaum spielt. Dort gab es neben der Zollstation auch einen Posten der römischen Armee, der von einem Hauptmann befehligt wurde. Dieser Hauptmann scheint Sympathien mit den Juden gehabt und auch den Bau der Synagoge in Kafarnaum unterstützt zu haben. Er hat auch mitbekommen, welche ungewöhnlichen Heilungen Jesus bewirkt hat, und richtet sich nun an ihn mit der Bitte, seinen kranken Knecht zu heilen. (Mt 8,5-13) Jesus ist auch sofort dazu bereit, obwohl der Hauptmann ein Heide und es einem frommen Juden verboten ist, das Haus eines Ungläubigen zu betreten. Hinzu kommt, dass sich römische Soldaten oft Knechte und Sklaven als »Lustknaben« hielten. Das war bekannt und auch Jesus hätte zumindest diesen Verdacht haben können. Homosexualität galt im Judentum als schwere Sünde.
In der biblischen Geschichte kümmert sich Jesus weder um das Heidentum des Hauptmanns noch um eventuelle Gerüchte um sein Sexualleben. Einzig und allein der Glaube des Mannes ist für ihn entscheidend. Der Hauptmann ist fest überzeugt davon, dass Jesus seinem Knecht helfen kann. Er selber gesteht dagegen seine Unwürdigkeit und seine Ohnmacht ein und möchte nicht, dass Jesus sich die Mühe macht, in sein Haus zu kommen. Ein Wort von ihm sei genug. »Herr, bemüh dich nicht!«, so lässt er Jesus ausrichten. »Denn ich bin es nicht wert, dass du mein Haus betrittst.« Von dieser Haltung ist Jesus so beeindruckt, dass er den Hauptmann als Vorbild hinstellt und schließlich zu ihm sagt: »Es soll geschehen, wie du geglaubt hast.« (Mt 8,13)
Der Knecht des Hauptmanns wird gesund, obwohl ihn Jesus nicht zu Gesicht bekommt. Aber nicht diese Fernheilung steht in der Geschichte im Mittelpunkt, sondern die Haltung des Hauptmanns. Es ist sein Bekenntnis, hilflos und angewiesen zu sein und ganz auf Jesus zu vertrauen. Vonseiten Jesus’ besteht unentwegt das Angebot einer bedingungslosen Anerkennung und göttlichen Liebe. Aber dieses Angebot kann nur angenommen werden von jemandem, der zugibt, dass er sein Heil nicht alleine herstellen kann, dass er auf Hilfe angewiesen ist. Erst wenn diese zwei Seiten zusammenkommen, das Angebot göttlicher Liebe und die Einsicht menschlicher Ohnmacht, dann kann das geschehen, was die Bibel »Wunder« nennt.