Die Tätowiererin
Viele Menschen sprechen vom Sommer ihres Lebens, bei mir könnte man wohl sagen, dass ich den Winter meines Lebens in Paris verbrachte. Fünf Monate, von November bis März, prägten mein Leben wie nie etwas anderes zuvor. Ich war 19 Jahre alt und noch grün hinter den Ohren. Meine Eltern hatten ein gutes mittelständisches Unternehmen in Bayern und ich sollte in die Fußstapfen meines Vaters treten. Ich stellte mir allerdings etwas anderes für mein Leben vor: Ich wollte reisen, die Welt erkunden und Kunst studieren. Das kam für meine Familie allerdings nicht in Frage. Meine Begabung für Musik, Kunst und Literatur bemerkten sie zwar sehr früh, doch meine Zukunft sahen sie in einem sicheren Beruf wie den meines Vaters, der Werkzeugmechaniker war. Er hatte einiges geschafft. Er begann als einfacher Arbeiter und kämpfte sich durch, bis er eine eigene kleine Firma hatte. Er stellte Werkzeug für alle großen Firmen in der Umgebung her und hatte mehrere Mitarbeiter. Ich sollte nun, als einziger Sohn, das Ganze fortführen, doch mich lockte das Leben. Das Einzige, was mir von der Zeit damals geblieben ist, ist mein Tattoo auf der linken Schulter. Ich hatte es mir nicht weg machen lassen, auch nicht, als meine spätere Frau mich mehrfach dazu gedrängt hatte. Jetzt ist Doris, meine Frau, seit fünf Jahren tot und ich lebe mit meinem Sohn Dominik zusammen. Heute war sein 18. Geburtstag und ich hatte ihm vor langer Zeit versprochen, dass ich ihm zu diesem Geburtstag endlich erzählen würde, was es mit der geheimnisvollen Frau auf meinem Rücken auf sich hat. Da ich mir sicher war, dass ich mich schwer tun würde, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, schrieb ich sie nieder. Ich ließ nichts aus, denn SIE gehörte schließlich zu meinem Leben, auch wenn mein Sohn damals noch nicht geboren war. Ich legte den Brief sorgfältig auf seinen Nachttisch. Wenn er am nächsten Morgen aufwachen würde, konnte er ihn gleich sehen und lesen. Ich wollte währenddessen nicht im Haus sein, denn es waren meine intimsten Erinnerungen an eine Zeit, die lange vorbei war, die ich aber nie vergessen konnte.
Nach dem Abitur setzte ich mich mit einem Rucksack in einen Zug und fuhr ohne Ziel einfach los. Ich wollte ganz Europa kennenlernen, Menschen beobachten, Geschichten schreiben und Gesichter zeichnen. Ich wollte alles sehen – Berlin, London, Rom, Paris und alles, was dazwischen lag. Den Sommer nach dem Abitur verbrachte ich in Wien. Dort lag ich am Nachmittag in den grünen Parks und ließ die Welt an mir vorüberziehen. Ich war allein, wollte keine Bekanntschaften knüpfen, sondern nur die Zeit genießen. Die Wochen und Monate vergingen schnell und ehe ich mich versah, fand ich mich im November in Paris wieder. Es war ein überwältigendes Gefühl, in dieser Stadt zu sein, die so voller Leben, Geschichte, Flair – und voller Liebe war. Die Stadt der Liebe gibt es also wirklich, dachte ich, als ich die romantischen Gassen sah, wo sich die Menschen ungeniert in die Arme nahmen. Ich setzte mich in ein kleines unscheinbares Café, das von außen nach nichts aussah, aber die besten Croissants der Welt machte. Ich kuschelte mich in meine dicke Daunenjacke, setzte mich nach draußen und ließ Paris auf mich wirken. Die Menschen waren alle so wundervoll, so märchenhaft. Das war mein Eindruck, damals, als ich noch jung und voller Träume war. Ausgefallene, gewagte Klamotten, tolle Haarschnitte und eine einmalige französische Arroganz, die aber nicht abschreckend war. Für mich war der Klang der französischen Sprache in meinen Ohren wie Musik. Ich schlief lange, trank viel Kaffee, aß viel und beobachtete die Menschen um mich herum. Mich interessierte nicht so sehr die Kultur, sondern mehr das Leben der Pariser, die mir so magisch vorkamen. Zwar stieg ich auf den Eifelturm, besuchte die Museen in Paris, aber die Atmosphäre war mir viel wichtiger. Und dann begegnete sie mir wie aus dem Nichts, dieses unglaubliche Wesen, das wie aus einer anderen Welt zu sein schien.
Ich schlenderte über den Place du Tertre in Montmartre und beobachtete die Touristen, die trotz der Kälte ein Foto nach dem anderen schossen. Plötzlich sah ich eine Frau. Sie war eingehüllt in eine dicke Jacke, hatte Handschuhe an, eine Mütze auf dem Kopf und einen dicken Schal um den Hals gebunden. Mein Blick folgte ihr, sie schlenderte umher, scheinbar ohne Ziel. Ich musste sie die ganze Zeit anstarren. Es waren nicht die Klamotten, die mich so faszinierten, nein, es waren die Tattoos, die sie mitten im Gesicht trug. Sie musste mindestens 15 Jahre älter als ich sein, aber das störte mich nicht. Sie setzte sich in ein Café, trank einen Kaffee und beobachtete anscheinend wie ich die Menschen um sie herum. Als sie ging, heftete ich mich an die Fersen der Unbekannten, bis sie sich abrupt zu mir umdrehte und mich auf Französisch ansprach. Ich verstand sie und mir wurde plötzlich bewusst, dass ich sie verfolgte. Ich wurde rot, das Blut schoss mir in den Kopf und ich fing an, auf Französisch zu stottern.
„Äh, tut mir Leid, aber ich wollte dich nicht belästigen. Wir haben wohl zufällig den gleichen Weg“.
„Ich habe dich bereits in Montmartre gesehen. Was willst du von mir?“
Sie durchdrang mich mit ihren Blicken. Ihre Augen waren faszinierend und die Tattoos gaben ihr ein mysteriöses Aussehen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also drehte ich mich um und wollte gehen.
„Hast du ein Tattoo?“
Ich blieb stehen und wünschte mir, ihr nie begegnet zu sein, doch ich konnte nicht weitergehen. Ich drehte mich um.
„Nein, ich habe kein Tattoo, warum fragst du?“
„Komm mit.“
Warum ich mitging, weiß ich heute nicht mehr. Ich war einfach fasziniert von dieser Frau, und ich wusste, dass ich ihr folgen musste. Wir gingen ungefähr zehn Minuten nebeneinander her, ohne ein Wort zu wechseln. Die Gassen wurden unheimlich, immer mehr fiel mir auf, dass ich mich vom belebten Touristenzentrum entfernte. Menschen saßen auf den Straßen, rauchten, tranken und stritten. Mir gefiel das. Wir bogen in eine kleine Seitengasse ein und blieben vor einem Laden mit geschlossenen Gittern stehen. Anscheinend war es ihr Laden, denn sie öffnete die verschiedenen Schlösser und befahl mir ruppig, ihr zu helfen, das Gitter hochzuschieben. Hinter der Glasfront zeichnete sich nun ein Studio ab. Ich sah Bilder von tätowierten und gepiercten Menschen.
„Willst du nicht reinkommen?“
Ich folgte ihr in das Studio, das einen Empfangsbereich hatte, in dem viele Ordner mit verschiedenen Tattoo-Mustern standen. Die Wände waren komplett mit tätowierten Menschen vollgehängt. Für mich war das Neuland, ich hatte nicht viel übrig für Tattoos und kannte mich diesbezüglich nicht aus. Sie zog ihre Winterklamotten aus und nahm die Mütze ab. Darunter hatte sie pechschwarze Haare verborgen gehabt, die sie zu einem engen Zopf gebunden trug. Sie hatte zwei Tattoos, eins auf der linken Schläfe und eins auf der rechten. Neben dem linken Auge war ein Schriftzeichen zu sehen, dessen Bedeutung ich nicht kannte. Auf der rechten Schläfe hatte sie einen Engel, der die Hände zum Gebet gerichtet hatte. Es waren beides recht ungewöhnliche Tätowierungen, an ungewöhnlichen Stellen dazu, fand ich.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also sah ich mir die Bilder an. Sie folgte mir mit ihrem Blick, das merkte ich, und das machte mich nervös.
„Wie heißt du, Junge?“
„Wieso sprichst du mich mit ‚Junge‘ an?“
Ich war ziemlich verärgert, denn ich wollte als Mann gesehen werden.
„Weil du einer bist, oder nicht?“
Ich antwortete nicht. Ich war verletzt. Warum, das weiß ich heute nicht mehr. Ich kannte diese Frau nicht, fühlte mich aber ungewöhnlich stark zu ihr hingezogen. Plötzlich bemerkte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper jagte. „Soll ich dir ein Tattoo stechen?“
Ich drehte mich nicht um, sondern blieb einfach so stehen. Ich wusste nicht, ob ich das wollte, aber ich wusste, ich musste bei ihr bleiben. Anstatt zu antworten, drehte ich mich um und küsste sie. Anders als erwartet, erwiderte sie meinen Kuss, was mich sehr überraschte. Er war so leidenschaftlich, dass ich glaubte, der Boden würde mir unter meinen Füßen weggezogen. Sie küsste mit einer Intensität, die ich nicht kannte. Plötzlich war nicht ich derjenige, der die Situation in der Hand hatte, sondern sie, diese unglaubliche Person, deren Namen ich noch nicht einmal kannte. Genauso schnell, wie der Kuss begonnen hatte, so schnell war er wieder vorbei. Ich zitterte am ganzen Körper. Ja, es mag lächerlich klingen, aber ich hatte weiche Knie wie nach meinem ersten Kuss als Junge.
„Was willst du eigentlich von mir?“
Auf diese Frage wusste ich keine Antwort. Ich war ihr wie ein Verrückter gefolgt, küsste sie einfach so und stand nun in ihrem Tattoo-Studio.
„Ich weiß es nicht.“
Ich bemerkte, wie ich rot wurde, das war mir peinlich.
„Was schleppst du da eigentlich mit dir rum?“
„Ach, das ist nichts Besonderes.“
Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, da hatte sie sich schon meine Mappe geschnappt und blätterte darin herum. Sie sah überrascht aus, sogar sehr. Sie setzte sich an den Tresen und betrachtete meine Zeichnungen.
„Die sind wirklich gut. Hast du die wirklich selber gemacht?“
Es imponierte mir, dass sie das sagte und ich traute mich, näher an sie heranzutreten.
„Ja, aber die sind nicht besonders gut, ich kann es besser.“
„Die sind verdammt nochmal sehr gut. Glaub mir, ich verstehe etwas davon.“
Darauf sagte ich nichts, sondern sah mich unsicher weiter im Laden um.
„Wem gehört dieses Studio?“
„Na, was denkst du denn?“
„Du bist eine Tätowiererin?“
Das passte irgendwie nicht in mein Bild. Ich stellte mir immer bullige, kahlgeschorene Männer als Tätowierer vor.
„Ja, stell dir vor, ich bin eine Tätowiererin.“
Sie lachte und dabei sah sie noch hinreißender aus.
„Komm morgen wieder, ich habe einen Job für dich.“
„Woher willst du wissen, ob ich einen Job suche?“
„Komm oder lass es bleiben.“
Mit diesen Worten drängte sie mich zum Gehen, was ich auch tat.
Ich wanderte ziellos durch das nächtliche Paris, aufgekratzt, lebendig. Ich fühlte mich sonderbar wohl in meiner Haut. Diese Frau faszinierte mich, ich konnte nur noch an ihre Lippen denken, die die meinen berührten. Sie war keine Schönheit im eigentlichen Sinne, doch sie hatte etwas Einzigartiges, das mich magisch anzog. Noch nie hatte ich solche Augen gesehen, düster und verletzlich zugleich. Ich ging in meine kleine Wohnung, die ich mir mit zwei anderen Studenten teilte, und träumte von der Unbekannten. Am nächsten Tag lungerte ich einige Zeit vor dem Studio herum, ehe ich mich hineinwagte. Wieder war kein Kunde in Sicht.
„Oh, du bist doch gekommen? Dachte, du wärst nicht interessiert?“
Sie hatte ein T-Shirt an, das ihre Arme frei gab und so konnte ich sehen, dass ihr gesamter linker Arm tätowiert war, und es gefiel mir.
„Was hast du für einen Job für mich?“
„Du kannst Zeichnungen für mich anfertigen. Ich suche etwas Spezielles, das ich in deiner Kunst gesehen habe.“
Sie erklärte mir, was sie wollte, und ich fing an zu zeichnen. Sie saß mir dabei gegenüber, sah mir zu und ich konzentrierte mich. Einige Stunden arbeitete ich vor mich hin, ich vergaß alles um mich herum. Das war nichts Neues. Immer wenn ich in meinem Element war, vergaß ich die Welt um mich herum. Die Frau beobachtete mich, rauchte nebenbei und trank harte Sachen.
Es war bereits dunkel draußen, als sie die Tür abschloss. Sie kochte uns Tee mit Rum und wir redeten über Paris und die Kunst. Ihren Namen wusste ich immer noch nicht, ich traute mich aber auch nicht, zu fragen. Ich wollte die Stimmung nicht kaputt machen. Als ich gehen wollte, fragte sie mich, ob ich denn nicht bleiben wollte. Und ja, ich wollte es, mehr als alles andere. Sie führte mich in einen weiteren Raum, der direkt an das Studio grenzte. Hier befand sich ihr privater Bereich. Es gab ein großes rundes Fenster an dem einen Ende des Zimmers, durch das ich sehen konnte, wie draußen die Schneeflocken fielen. Am anderen Ende befand sich ein Bett, mit schneeweißer Bettwäsche, ungewöhnlich für eine Tätowiererin, dachte ich. Es lagen Klamotten auf dem Boden, Bilder hingen überall an den Wänden, nicht strukturiert, sondern wild durcheinander. Es war gemütlich, das kann ich heute noch sagen. Nie wieder fühlte ich mich so geborgen, wie in diesem Zimmer, das von nun an für sechs Monate mein Zuhause sein sollte. Sie zog mich ans Bett und ich setzte mich, während sie sich langsam entkleidete. Sie drehte mir den Rücken zu, als sie das T-Shirt über den Kopf streifte und ihr nackter Rücken zum Vorschein kam. Wobei der Rücken nicht wirklich nackt war, sondern einen großen Engel zum Vorschein brachte. Ihre Haut war dunkel, selbst jetzt im Winter. Sie ging zu einem Kassettenrecorder und legte Musik auf. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also blieb ich einfach sitzen. Sie streifte nun auch ihre Hose ab und stand nackt vor mir. Mein Atem wurde schneller und meine Hand wanderte zu ihren nackten Brüsten. Ihre Brustwarzen waren gegenüber denen, die ich bisher gesehen hatte, riesig. Ich umkreiste sie mit meinen Fingern. Strich über ihre zahlreichen Tattoos, die überall zu sein schienen. Nicht nur ihr Rücken, sondern auch ihr Bauch, ihre Brust, ihre Beine waren mit Kunst bedeckt. Ich konnte nicht fassen, wie unglaublich erotisch ein tätowierter Körper sein konnte! Ihr Körper war weiblich, verführerisch und machte mich hungrig auf mehr. Dass sie älter als ich war, fand ich sexy. Sie war erfahren und genau das wollte ich. Ich musste nichts machen, sie zog mich aus, küsste mich, bestieg mich und führte mich an einen Ort, den ich vorher nicht kannte. Es ging nicht schnell, wie mit meinen anderen Freundinnen, nein, es war ein Spiel, das die ganze Nacht dauerte. Sie zog mich in eine andere Welt. Die Nacht schien kein Ende zu nehmen und ich wollte nur mit ihr zusammen sein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag sie immer noch neben mir. Es war also alles real gewesen. Ich betrachtete ihren Rücken, der mir zugewandt war. Behutsam strich ich über ihren Engel, der eine lachende und eine weinende Gesichtshälfte hatte, was mich ein wenig erschreckte. Als hätte sie gespürte, was ich dachte, drehte sie sich um, sah mich an und fragte mich:
„Was, denkst du, bedeutet der Engel? Darüber hast du doch nachgedacht oder nicht?“
„Ja, das stimmt, ich bin aber noch zu keinem Entschluss gekommen.“
Die nächsten Wochen verbrachten wir damit, Zeichnungen anzufertigen, die Nächte zum Tag zu machen und uns zu lieben. Wir schliefen morgens lange, blieben abends lange wach, redeten über dies und jenes und ich erfuhr auch endlich ihren Namen: Giselle. Wie ich fand, war es der schönste Name überhaupt. Es war ein magischer Winter. Viele Menschen sagen, man müsse Paris im Sommer besuchen, wenn die Gassen belebt sind und das Leben auf der Straße stattfindet. Für mich steht allerdings fest, dass dieser Winter in Paris der schönste meines Lebens war. Es schneite und war kalt. Wir kuschelten uns in Giselles geheizter Wohnung ein und gaben uns der Lust und der Kunst hin. Es war einmalig. Ich brach den Kontakt zu meiner Familie fast vollkommen ab, lebte nur noch in den Tag hinein. Durch meine ausgefallenen Zeichnungen bekamen wir auch wieder mehr Kunden. Ich beobachtete Giselle, wie sie Menschen verschönerte, und war fasziniert. Es kamen Kerle, die sich ihre Babys auf den Arm tätowieren ließen, Frauen, die sich den Namen des Ehemanns auf den Allerwertesten stechen ließen und natürlich ganz Verrückte, die am ganzen Körper den Teufel trugen. Mir gefiel das Leben in Paris, durch Giselle konnte ich mein Leben so leben, wie ich es wollte, das dachte ich zumindest.
Es war der 22. Februar, das weiß ich noch genau. Ich holte für Giselle und mich Croissants. Wir hatten eine wunderbare Nacht verlebt und brauchten dringend eine Stärkung. Als ich zurückkam, lag sie immer noch im Bett, das freute mich. Ich kam mit frischem Kaffee und den Croissants ins Bett und küsste sie wach. Als sie die Augen öffnete, sagte ich:
„Ich liebe dich, Giselle.“
Sie stieß mich zur Seite und flippte völlig aus.
„Wie kannst du das sagen? Nach so kurzer Zeit? Du weißt nicht, was wahre Liebe ist!“
„Was hast du auf einmal? Ich spreche doch nur das aus, was wir miteinander haben.“
Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Sie schmiss mich aus der Wohnung und sagte, sie wolle mich nie wieder sehen. Ich klopfte wie wild an die Fenster des Studios, aber es tat sich nichts. Den ganzen Tag verbrachte ich vor ihrer Tür, bevor sie mich wieder hineinließ.
„Sag nie wieder, dass du mich liebst!“
Das war alles, was sie mir sagte, dann war wieder alles wie vorher. Doch ich behielt ein schlechtes Gefühl. Wochen später sagte ich ihr, dass sie mir nun ein Tattoo stechen sollte. Ich wollte ihr damit beweisen, dass ich sie wirklich liebte. Sie freute sich sehr darüber.
„Was für ein Motiv willst du?“
„Such du eins für mich aus.“
„Ich steche dir ein Tattoo, aber du darfst es erst betrachten, wenn es wirklich ganz fertig ist.“ Sie brauchte zwei Tage, bis sie mit meinem Rücken fertig war. Ich genoss es, von ihr gestochen zu werden. Es tat nicht weh, sondern fühlte sich richtig an. Ich wusste, dass Giselle das richtige Motiv ausgesucht hatte. Nach diesem Tag, sagte sie mir, ich solle in meiner eigenen Wohnung schlafen und dann das Tattoo alleine betrachten. Ich war zwar überrascht, dachte mir aber, dass es eine Überraschung sein sollte. Sie wollte nicht dabei sein, wenn ich sehen würde, was sie gestochen hatte. Ich fühlte mich wie nach unserer ersten Begegnung, frei und unbefangen. Meine Mitbewohner waren überrascht, als ich plötzlich wieder vor der Türe stand, und auch mein Zimmer war bereits weiter vermietet, doch das war mir egal - für diese Nacht würde auch die Couch reichen. Als ich meinen Pullover auszog und die Folie abnahm, spürte ich wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss. Ich drehte mich mit dem Rücken zum Spiegel im Badezimmer und versuchte das Tattoo zu betrachten. Ich war überwältigt und sehr glücklich. Ich blickte in das Gesicht von Giselle und darunter war mit schnörkeliger Schrift geschrieben: Ich liebe dich. Diese Nacht war die glücklichste Nacht in meinem bisherigen Leben.
Als ich am nächsten Morgen voller Eifer in das Studio kam, war es abgeschlossen. Niemand war zu sehen. Ich klopfte, aber Giselle öffnete nicht. Egal, ich beschloss zu warten, bis sie kam. Aber sie kam nicht. Sie kam nie wieder. Ich erkundigte mich bei den Nachbarn, aber von Giselle wusste niemand etwas. Auch vom Vermieter erfuhr ich nur, dass sie bereits vor drei Monaten ihren Mietvertrag gekündigt hatte und nun weg war. Ich war verzweifelt und wusste nicht, was ich machen sollte. Ich verbrachte noch einen Monat in Paris, doch die Suche nach Giselle blieb ergebnislos. Ich wusste nur ihren Vornamen und deshalb konnte mir keiner weiterhelfen. Das Einzige, was mir geblieben ist, ist das Tattoo auf meinem Rücken.
Der Tag hatte sich ganz schön hingezogen. Ich war natürlich gespannt, was Dominik zu meinem Brief sagen würde, in dem ich ihm von meiner geheimnisvollen Liebe erzählte. Ich schloss die Tür auf und fand meinen Sohn in der Küche. Er saß am Tisch und vor ihm lag mein Brief. Er schaute mich mit großen Augen an und ich fragte mich, was er von der ganzen Geschichte hielt. Nach einem Moment des Schweigens, der mir ewig lang vorkam, sagte mein Sohn:
„Papa, ich werde deine Giselle für dich finden!