»So, ist es das?«

»Unbedingt. Ich würde niemals etwas tun, um Paige zu schaden. Ich war ihr Babysitter, als sie noch klein war. Hat sie dir das nicht erzählt?«

»Sie hat mir erzählt, dass du das gesagt hast . . . wobei sie sich nicht daran erinnern kann.«

»Immer noch nicht?« Ich konnte die Enttäuschung in meiner Stimme nicht verbergen. »Ich frage mich, ob ihre Mutter ihre Erinnerungen an mich blockiert hat, nachdem ich den Zirkel verlassen hatte. Nicht, dass ich mir vorstellen könnte, Ruth würde so etwas tun aber, na ja, ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Paige mich einfach so vergessen kann. Ich hab ihr ihre erste Formel beigebracht. Eine Aufschließformel, weil ihre Mutter immer Paiges Lieblingsspielzeug wegge . . . «

»Paige hat mir noch etwas anderes erzählt«, unterbrach Lucas. »Als sie dich in der Geisterwelt getroffen hat, hast du ein paar Dinge gesagt, die sie etwas beunruhigend fand. Sie hat gesagt, du wärst auf der Suche nach einer Methode gewesen, Savannah zu helfen, und hättest sehr entschlossen gewirkt.«

»Hey, damit wollte ich nicht sagen, dass ich euch nicht traue.

Ihr macht das fantastisch, und « Ich unterbrach mich. »Du glaubst, das ist es, was ich gerade mache? Dass ich Paiges Körper in Besitz genommen habe, um zurückzukommen? Oha.

Nein, nein, nein.« Ich drehte mich und versuchte ihm ins Gesicht zu sehen, aber er behielt die Hand an meiner Kehle und mein Gesicht von sich abgewandt. »Ich bin hier, um etwas ganz Bestimmtes zu erreichen. Sehr vorübergehend, sehr wichtig.

Dann gehe ich. Ich sage Savannah nicht mal, dass ich hier bin.«

Er zögerte, dann fragte er: »Und was genau ist dieses ganz Bestimmte?«

»Darf ich mich hinsetzen? Bitte?«

Wieder ein Zögern, länger diesmal. Dann lösten sich seine Finger von meiner Kehle. Ich rieb mir den Hals und lieferte ihm eine sehr kurz gefasste Beschreibung der Situation mit möglichst wenig Details, weil ich nicht wusste, wie viel ich ihm erzählen sollte oder konnte.

»Du erzählst mir also, dass Jaime Vegas vorhat, Paige und mich umzubringen und es Savannah in die Schuhe zu schieben?«

»Genau.«

Er nahm das schnurlose Telefon vom Schreibtisch. »Du hast eine Minute Zeit, Paige in ihren Körper zurückzuholen, oder ich werde innerhalb einer Stunde den besten Nekromanten des Landes hier haben und einen Exorzismus durchführen lassen . . . ein Vorgang, von dem ich dir versprechen kann, dass er für dich sehr unangenehm sein wird.«

»Äh, ich glaube, ich liefere dir lieber die ausführliche Version.«

Er hob das Telefon. »Zwei Minuten.«

Als ich fertig war, erwiderte er meinen Blick; sein Ausdruck war nicht zu deuten.

»Was in diesem Bürgerzentrum passiert ist, die Schüsse das war also diese Nixe.«

Ich nickte, aber ich wusste, dass ich ihn nicht überzeugt hatte, dass meine Geschichte zu abstrus war und er

»Wir haben uns Sorgen gemacht, dass es auf irgendeine Art mit Savannah zu tun haben könnte«, sagte er ruhig. »Wir haben versucht, uns selbst zu überzeugen, dass wir paranoid werden, aber « Sein Kopf fuhr hoch. »Diese Nixe steckt in Jaime?

Jetzt?«

»Yeah, aber keine Sorge. Wir kümmern uns drum, bevor sie auch nur in die Nähe «

Lucas war bereits auf den Beinen und zur Tür hinaus. Ich sprang von meinem Stuhl auf und rannte hinter ihm her.

»Hey!«, rief ich, als er die Treppe hinunterjagte.

Er wurde nicht einmal langsamer. Er kam unten an und verschwand durch die Tür zum Esszimmer. Als ich ins Esszimmer stürzte, fegte er bereits durch die Küche; er hielt nur inne, um nach den Schlüsseln zu greifen.

»Oh, Scheiße!«, sagte ich. »Sie ist schon da, stimmt’s? Sie war das mit Savannah im Auto.«

Ich holte ihn im Schuppen ein, wo er die Plane von seinem Motorrad zog.

»Moment«, sagte ich. Als er nicht zuhörte, riss ich ihm die Schlüssel aus der Hand. »Lucas, warte! Sie hat es nicht auf Savannah abgesehen, und wenn du sie jetzt verfolgst, wird sie herausfinden, dass wir Bescheid wissen. Und wenn sie nur noch die Wahl hat, entweder Savannah umzubringen oder ihre Rache ganz aufzugeben, dann weiß ich genau, welches davon sie sich aussuchen wird.«

Er drehte sich zu mir um und öffnete den Mund, um zu antworten; als er mich sah, brach er ab, und ein unbehaglicher Ausdruck glitt über sein Gesicht.

»Wirk den Blendwerkzauber«, sagte ich.

»Bitte?«

»Das hier ist dir unangenehm dass ich aussehe wie Paige.

Du weißt, wie ich wirklich aussehe, also wirk den Blendwerkzauber, dann wirst du stattdessen mich sehen.«

Er nickte und tat es. Als er fertig war, flog sein Blick zu mir herüber; er wirkte angespannt, als wappnete er sich für etwas.

Dann entspannte er sich.

»Besser?«, fragte ich.

Er nickte. »Danke.«

»Du wirst ihn aufheben müssen, wenn sie zurückkommen, damit du dich dran erinnerst, wer ich angeblich bin. Wann ist Jaime also hier aufgetaucht?«

»Heute Vormittag. Savannah war natürlich begeistert, und Paige und ich « Er schüttelte den Kopf. »Wir waren genauso zufrieden. Wir dachten, es wäre genau das, was Savannah braucht, und wie nett es von Jaime war . . . « Wieder ein Kopfschütteln.

»Sie ist euch überhaupt nicht . . . merkwürdig vorgekommen?«

»Wenn es irgendjemand anderes gewesen wäre, hätte ich das Ganze bestimmt merkwürdig gefunden. Aber Jaimes Stimmungen und ihr Verhalten können etwas . . . unberechenbar sein. Sie hat angerufen, nachdem sie von der Schießerei gehört hatte, und sich nach Savannah erkundigt; insofern war es nicht ungewöhnlich, dass sie dann plötzlich auf die Idee kam, sie zu besuchen. Nicht für Jaime.«

Er sah zu den Schlüsseln in meiner Hand hin. Ich schloss die Finger fester darum.

»Glaub mir«, sagte ich, »ich wünsche mir mindestens so sehr wie du, hinter ihr herzujagen, aber solange du die Schlüssel nicht hast und ich nicht Motorrad fahren kann, sind wir ziemlich sicher. Wohin wollten sie? Bleiben sie lange weg?«

»Sie wollten nur in die Videothek und ein paar Lebensmittel besorgen, sie müssten jeden Moment zurück sein.« Er ging aus dem Schuppen ins Freie und sah die Einfahrt entlang. »Vielleicht rufe ich sie besser an «

»Gute Idee, sag ihr, es ist keine Milch mehr da oder irgend so was.«

Er nickte und wählte. Seiner Stimme merkte ich an, dass er mit Savannah sprach. Ich glaube nicht, dass ich diesen Anruf hätte erledigen können, ohne mich zu verraten, aber er sprach so gelassen, als ginge es wirklich nur um eine Tüte Milch.

»Alles in Ordnung«, sagte er, als er das Gespräch beendete.

»Sie sind jetzt an der Kasse, was bedeutet, dass wir noch etwa zehn Minuten zum Planen haben.«

Wir verständigten uns auf ein paar Grundregeln auf die im Wesentlichen Lucas kam, nicht ich. Sobald die Nixe merkte, dass sie in eine Falle gegangen war, würde sie Jaimes Körper verlassen; der tödliche Schlag würde also überraschend kommen müssen. Die andere Möglichkeit war, sie in einen Kampf zu verwickeln. Wenn sie selbst es war, die ihn anfing, dann würde sie nicht merken, was wir vorhatten. Mit anderen Worten, wir mussten warten, bis sie einen von uns umzubringen versuchte sie würde es nur natürlich finden, wenn wir uns wehrten.

»Geh rauf in Paiges Büro«, sagte Lucas, als wir das Auto in der Einfahrt hörten. »Ich erzähle ihnen, dass die Website eines Kunden zusammengebrochen ist und du nicht gestört werden willst. Ich bringe dir das Essen rauf «

»Hey, Moment! Wenn ich mich in dem Büro verkrieche, wird sie ihre Pläne ändern müssen, und je länger sie braucht, desto länger werde ich hierbleiben müssen.«

Lucas überlegte. »Dann rufe ich dich zum Essen runter. Sag so wenig wie möglich. Nach dem Essen werden wir . . . ja, wir werden das Video ansehen, das sie mitgebracht haben.« Er nickte. »Ja, das ist gut. Dann brauchst du nicht zu reden.«

»Hey, dass ich dich nicht täuschen kann, bedeutet nicht, dass ich nicht eine verdammt gute PaigeImitation hinkriegen würde.«

Er sah mich an.

»Na ja, eine ziemlich gute«, sagte ich.

Er sah mich immer noch an.

»Ich halte den Mund.«

Eine Tür schlug zu. Savannah rief etwas. Ich zögerte, aber Lucas löste den Blendwerkzauber und schob mich zur Treppe.

Die erste halbe Stunde in Paiges Büro verbrachte ich damit, mir die Sachen auf ihrem Computer anzusehen. Es war nicht so, dass ich herumschnüffelte, aber ich hatte ja schließlich nichts zu tun. Okay, vielleicht schnüffelte ich herum . . . ein kleines bisschen. Nach der halben Stunde tauchte Lucas auf, bat mich sehr höflich, Paiges Dateien in Frieden zu lassen, und schloss das EMailProgramm und alle anderen Fenster bis auf zwei Solitaire und eine Datei, die wie irgendwelches Programmierzeug aussah. Wenn Savannah oder die Nixe hereinkamen, konnte ich wenigstens so tun, als arbeitete ich. Wobei Lucas die Programmierdatei in den NurLesenModus geschaltet hatte. Man hätte meinen können, der Typ traute mir nicht.

Das mit dem mangelnden Vertrauen traf mich ein bisschen.

Okay, nicht nur ein bisschen. Es traf mich. Konnte ich es ihnen zum Vorwurf machen? Nein. Ich hatte es mir verdient, vielleicht nicht dadurch, dass ich ihnen persönlich etwas angetan hatte, aber durch meinen Ruf. Na ja, ich nehme an, wenn man den gebrochenen Arm mitrechnete, den ich Lucas damals bei der Grimoriensache verpasst hatte, dann hatte ich ihnen persönlich etwas angetan. Trotzdem hätte ich gedacht, sie beide aus der Geisterwelt gerettet zu haben, würde für mich sprechen.

Vielleicht tat es das ja. Wenn es nicht so gewesen wäre, dann hätte ich jetzt vielleicht auch auf diesem Stuhl gesessen, aber nicht mit einem rücksichtsvoll für mich geöffneten SolitaireSpiel vor mir auf dem Bildschirm, sondern festgebunden und in Erwartung eines Exorzisten.

Also spielte ich Solitaire und gab mir sehr, sehr viel Mühe, nicht auf die Stimme meiner Tochter im Erdgeschoss zu lauschen, nicht daran zu denken, dass sie endlich in Reichweite war, dass ich hinuntergehen und sie in den Arm nehmen konnte und ihr sagen, dass aber darüber dachte ich ja nicht nach.

Vierzig Minuten vergingen, dann hörte ich unten die Hintertür zuschlagen. Ich ging zum Fenster, konnte aber niemanden aus dem Haus kommen sehen. Ich öffnete das Fenster und horchte. Zwei Stimmen Lucas und Jaime.

». . . wirklich ein wunderschönes Motorrad«, sagte Jaime.

»Und dass du es selbst restauriert hast «

Hatte sie vor, ihn in seinem Motorradschuppen umzubringen? Aber inwiefern würde das aussehen, als sei es Savannahs Schuld? Wollte sie zuschlagen, solange ich in meinem Büro verbarrikadiert war? Ich musste runtergehen und etwas

Das Telefon klingelte.

Ich erstarrte auf halbem Weg zur Tür. Lucas, ich bin sicher, du hörst das. Die perfekte Entschuldigung, um wieder ins Haus zu kommen

Das Telefon hörte auf zu klingeln. Gut. Und jetzt

»Paige!«, brüllte Savannah.

Scheiße! Was jetzt? Halt, nein, Lucas hatte ihr gesagt, sie sollte mich Paige in Frieden lassen, also würde sie

Schritte donnerten die Treppe herauf. Ich rührte mich nicht.

Konnte mich nicht rühren.

Die Tür flog auf, und da stand meine Tochter. Meine wunderschöne fünfzehnjährige Tochter. Stand da. Sah mich an.

Mich nicht irgendetwas unmittelbar links vom unsichtbaren Geist ihrer Mutter, sondern wirklich und wahrhaftig mich. Sah mich

»Telefon«, sagte sie, während sie damit vor meiner Nase herumwedelte. »Was bist du eigentlich, taub?«

Ich zwang meine Hand nach oben. Sie gab es mir, segelte quer durchs Zimmer und ließ sich auf den zweiten Stuhl plumpsen.

Ich starrte sie an, dann riss ich mich los und hob das Telefon ans Ohr.

»Paige Winterbourne.«

»Oh, Gott sei Dank, du bist zu Hause«, sagte eine Frauenstimme. »Liza hat nicht gewusst, was wir machen sollen, und ich habe gesagt: ›Ich rufe schnell Paige an, der fällt sicher was ein‹.«

»Mhm. Sieh mal, ich bin hier ziemlich im Druck. Könnte ich dich «

»Oh, es dauert wirklich nur einen Moment. Es ist wegen dem EMRAW.«

»Em. . . ?«

»Elliot Memorial Run and Walk?« Sie lachte. »Nach einer Weile hören sich diese ganzen karitativen Sachen alle gleich an, oder?«

»Äh, stimmt.«

»Flaschen oder Becher?«

»Hä?«

»Das Wasser. Wir müssen ja Wasser für die Teilnehmer haben. Wenn wir Großbehälter kaufen und es in Becher gießen, würde uns das eine Menge Geld sparen. Aber es könnte knauserig aussehen.«

»Knauserig?«

»Eben. Also, sollen wir doch lieber kleine Flaschen besorgen?«

Sekundenlang saß ich einfach nur da und dachte: »Was zum Teufel ?«

»Paige?«

»Oh, was soll’s, kauft Evian«, sagte ich. »Es sind schließlich bloß Spendengelder, die ihr ausgebt, oder?«

Lautes Schweigen am anderen Ende. Ich verdrehte die Augen.

»Becher natürlich«, sagte ich. »Es ist eine karitative Veranstaltung. Wenn die Wasser in Flaschen haben wollen, können sie gehen und das Joggen im Country Club erledigen.«

Wieder Schweigen, dann ein unsicheres »Okay. Äh, ich hab mir gedacht, dass du das sagen würdest, aber «.

»Warum dann der Anruf?«

Ich legte auf. Unfassbar. Zeit in gemeinnützige Anliegen zu investieren ist ja sehr schön und nobel, aber wo zum Teufel nahm Paige eigentlich die Geduld für so was her? Da versucht sie nun die Welt vor den Mächten des Bösen zu retten und muss sich mit Idioten abgeben, die, die Frage, wie sie das Wasser anbieten sollen, für eine Entscheidung auf Leben und Tod halten.

Wenn Sie mich fragen, das ist kein Anstand mehr, sondern ein Märtyrerkomplex.

»Lucas hat recht, du bist wirklich in einer komischen Stimmung«, sagte Savannah. »Er hat gesagt, ich soll dich in Frieden lassen, weil du zu tun hast. Aber ich hab dich schließlich nicht gestört. Das war das Telefon. Und wenn du jetzt sowieso schon gestört bist, kann ich ja auch mit dir reden, oder?«

Ich dachte an Lucas unten im Erdgeschoss und in Gesellschaft der Nixe.

»Äh, können wir «

»Es ist wegen Trevor«, sagte sie. »Der benimmt sich ich versteh den einfach nicht, weißt du. Ich glaube, er will mit mir zusammen sein, aber dann benimmt er sich wieder « Sie stöhnte und hörte auf, auf dem Stuhl herumzuschaukeln. »Er ist wieder so richtig verdreht.«

»Und du du willst einen Rat von mir?«

»Gah, nee. Ich will bloß wissen, was du dazu meinst. Ich meine, klar, wenn du mir einen Rat geben willst, kann ich dich nicht abhalten. Du machst es ja sowieso. Aber es ist ja nicht so, dass ich mich dran halten muss.«

Ich stand sprachlos da.

Meine Tochter wollte meinen Rat wegen eines Jungen. Wie oft hatte ich mir diese Unterhaltung ausgemalt, hatte mir überlegt, was ich sagen würde, welche weisen Ratschläge ich ihr geben konnte oder im Hinblick auf meine eigene romantische Erfolgsgeschichte vielleicht eher, welche Warnungen ich vermitteln konnte.

Jaimes Lachen trieb durch das offene Fenster herein.

»Scheiße!«, sagte ich.

Savannah sah mich an; eine Braue schob sich nach oben.

»Äh, Lucas«, sagte ich. »Ich muss ihm wirklich sagen Ist er unten?«

»Nee, draußen. Jaime wollte sein Motorrad sehen. Als ob sie das nicht schon gesehen hätte.«

»Ich muss das mit dem Jungen. Nicht vergessen. Bin gleich zurück.«

Ich rannte aus dem Raum und hörte, wie Savannah mir folgte, die Treppe hinunter und zur Hintertür hinaus. Jaime drehte sich um, und einen Sekundenbruchteil lang sah ich etwas in ihrem Gesicht, das ganz und gar nicht nach Jaime aussah, ein innerliches Fauchen der Frustration.

»Ah, Paige«, sagte Lucas. »Gutes Timing. Wir müssen übers Abendessen reden.«

»Schon?«, fragte Jaime mit einem gezwungenen Lachen.

»Und ich dachte, Lucas könnte mich vielleicht mal mitfahren lassen.«

»Wollten wir nicht Hähnchen essen?«, fragte Savannah hinter mir.

»Ursprünglich ja«, sagte Lucas. »Aber Paige war mit dieser abgestürzten Site so beschäftigt, dass sie es nicht vorbereiten konnte, also brauchen wir eine Alternative.«

»Kümmert ihr euch drum«, sagte Savannah. »Jaime und ich haben nämlich was zu besprechen.«

Jaime musterte sie stirnrunzelnd.

»Du weißt schon«, sagte Savannah. »Diese Sache da.«

»Welche Sache?«, fragte ich.

»Curry«, sagte Lucas.

Ich runzelte die Stirn. »Sie müssen über Curry reden?«

»Nein zum Abendessen. Wir holen uns indisches Essen.

Du magst indisches Essen, oder nicht, Jaime?«

Sie lächelte. »Ich find’s wunderbar.«

Savannah zog sie am Ärmel und nickte zum Haus hin. Als sie verschwanden, stand ich da und starrte hinterher. Von wegen MutterTochterGespräch über Männerfragen. Vielleicht ein anderes Mal.

Ich wandte mich an Lucas. »Jaime mag indisches Essen überhaupt nicht, stimmt’s? Die richtige Jaime, meine ich.«

»Sie verabscheut es.«

»Ah, du hast mir also nicht geglaubt. Es hätte einfachere Methoden gegeben, das zu überprüfen . . . und wir hätten die beiden nicht allein lassen müssen, um etwas Essbares zu besorgen.«

Er schüttelte den Kopf. »Wir gehen auch nichts Essbares besorgen. Die Frage nach dem indischen Essen war einfach eine naheliegende Methode, um zu verifizieren, dass die Nixe nach wie vor in Jaimes Körper steckt. Ich war mir ziemlich sicher, als sie mich hier herausgebeten hat, aber ziemlich sicher ist in Anbetracht unseres Vorhabens nicht gut genug.« Er reichte mir Paiges Helm und nahm seinen eigenen vom Regal.

»Hast du nicht gesagt «, begann ich.

»Wir müssen zumindest den Anschein erwecken, dass wir wegfahren. Das wird uns auch Gelegenheit geben, uns zurückzuschleichen und herauszufinden, was Savannah gemeint hat

was sie und Jaime zu besprechen haben.«

48

Lucas stellte das Motorrad bei einem winzigen Gemüsegarten einen halben Block entfernt ab. Wir ketteten die Helme am Motorrad an und rannten zurück zum Haus.

»Verschwimmformel?«, fragte ich. »Das heißt, beherrschst du sie?«

»Du wirst vermutlich feststellen, dass meine Fähigkeiten als Formelwirker seit unserer letzten Begegnung deutlich zugenommen haben. Von einer mit Magierformeln arbeitenden Hexe übertroffen zu werden, muss auf jeden Magier eine anspornende Wirkung haben. Ich habe die Verschwimmformel letztes Jahr schließlich gemeistert.«

»Wie ist es mit Paige? Weil ich hier nämlich auf ihre magischen Fähigkeiten beschränkt bin. Meine AspicioKräfte funktionieren nicht.«

»Paige ist auch da recht kompetent. Alles, was ich kann, kann auch sie . . . « Ein kleines Lächeln. »Oder sie tut ihr Bestes, um es zu lernen.«

»Und wie ist es mit dem Tarnzauber? Wenn du ihn nicht kannst, könnte ich «

»Paige ist nicht die Einzige, die sich bemüßigt fühlt, ihr Repertoire zu erweitern. Ich beherrsche den größten Teil der Hexenmagie, die sie kennt, einschließlich der Tarn und Bindeformeln, wobei ich glaube, bei Letzterer an meine speziesbedingten Grenzen gestoßen zu sein.«

»Na, du bist der erste Magier, den ich treffe, der sie überhaupt beherrscht, du hast also einen ordentlichen Vorsprung vor den anderen.«

Wir nutzten Verschwimmformeln, um es bis unters Wohnzimmerfenster zu schaffen, und sprachen dann jeweils einen Tarnzauber.

Das Wetter war noch kühl, aber die meisten Fenster des Hauses waren gekippt. Am Wohnzimmerfenster hörten wir Stimmen, und mit etwas Konzentration waren auch Worte zu verstehen.

». . . aber wenn es gefährlich ist «, sagte Savannah gerade.

Jaime lachte. »Und seit wann machst du dir darüber Gedanken?«

»Darüber muss ich mir ja wohl Gedanken machen. Bei meinen Kräften kann ich nicht einfach Formeln in die Gegend schmeißen. Ich muss genau wissen, was ich da mache und was passieren kann, sonst «

Jaime lachte wieder; diesmal schwang ein schärferer, spöttischer Klang darin mit. »Herrgott, du hörst dich ja an wie Paige.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch mal erlebe. Deine Mutter würde die Krise kriegen.«

Ich biss die Zähne zusammen.

Nein, Baby, würde ich nicht. Paige hat recht. Du musst wirklich aufpassen. Du musst

»Klar, Paige sagt immer, ich soll vorsichtig sein«, sagte Savannah. »Das heißt aber nicht, dass ich auf sie höre.«

»Sieh mal, Savannah, entweder du willst deine Mom beschwören, oder du willst es nicht.«

Mein Herz hämmerte.

»Natürlich will ich«, sagte Savannah.

»Dann musst du aber auch bereit sein, die Risiken zu akzeptieren. Wie du selbst sagst, du hast die Kräfte dazu. Dieses Ritual würde sonst kaum funktionieren. Aber du könntest es tun.«

Eine Hand berührte mich am Arm. Ich blickte auf und sah, dass Lucas mit dem Kinn zum Gehweg hinüberdeutete.

»Genug gehört«, formte er mit den Lippen.

Ich zögerte; dann wirkte ich den nächsten Verschwimmzauber und schoss quer über den Rasen und hinter den Zaun des Nachbargrundstücks.

»Das hat sie also vor«, sagte ich. »Savannah einreden, dass sie eine Möglichkeit kennt, Verbindung zu mir aufzunehmen.

Und wenn wir, du und Paige meine ich, dann umkommen, wird sie sagen, es lag an der Formel, Savannah hätte irgendwas falsch gemacht.« Lucas nickte.

Wir setzten uns in Bewegung, zurück zu seinem Motorrad.

»Aber wie hat sie vor, uns zu töten, während Savannah das Ritual durchführt?«, fragte ich. »Nekros können niemanden umbringen nicht auf magischem Weg.«

»Ich vermute, sie hat vor, uns schon vorher aus dem Weg zu räumen«, sagte Lucas. »Das könnte der Gedanke hinter der Sache mit dem Motorrad gewesen sein. Eine Möglichkeit finden, mich umzubringen, das Motorrad zu verstecken und zu erklären, ich hätte irgendwas zu erledigen gehabt.«

»Dann mich umzubringen Paige, meine ich und uns nach dem Ritual tot aufzufinden. Woraufhin Savannah glauben würde, sie hätte euch beide getötet, weil sie so erpicht drauf war, mich zu kontaktieren. Herrgott, wenn ich dieses Miststück erst in die Finger kriege «

»Vorsicht. Wir müssen die Initiative hier ihr überlassen.«

Er warf mir einen Seitenblick zu. »Hast du damit ein Problem?«

»Nicht, wenn es bedeutet, dass ich sie irgendwann wirklich in die Finger kriege.«

An diesem Punkt beschlossen wir, Savannah und Jaime zu erzählen, dass die Schlange vor dem indischen Lokal zu lang gewesen war, und stattdessen Pizza kommen zu lassen. Ich würde mich wieder in Paiges Büro zurückziehen. Lucas würde die erste Gelegenheit nutzen, um Savannah von Jaime fortzulocken, und mit etwas Glück würde die Nixe dann versuchen, sich mich als Erstes vorzunehmen.

Oben in Paiges Zimmer machte ich mich daran, ihre Schubladen zu durchsuchen.

Nach ein paar Minuten hatte ich gefunden, was ich brauchte: ein Stück robustes Band. Ich verwendete es, um Paiges lange, dicke Locken im Nacken zusammenzubinden, und machte eine Schleife, die sich mit einem einzigen Ruck öffnen ließ.

Lucas und ich waren uns einig darüber, dass Erstickung die beste Methode war, Jaimes Körper »beinahe« zu töten. Ich hatte zwar vor, die bloßen Hände zu verwenden und der Nixe ins Gesicht zu sehen, während ich sie erwürgte, aber ich brauchte zur Sicherheit ein Werkzeug, und das Band war gut geeignet.

Zwanzig Minuten später hörte ich von draußen einen dumpfen Aufprall, gefolgt von einem Brüllen von Savannah. Ich sprang auf und stürzte zum Fenster. Wieder ein Aufprall; es kam von der anderen Seite des Hauses. Savannah stöhnte laut und schrie dann etwas.

Ich öffnete das Fenster und beugte mich hinaus. Savannah und Lucas waren unten in der Einfahrt und spielten Basketball.

Der Anblick ließ mich schlagartig vorsichtig werden. Wenn die beiden da draußen waren, dann war ich mit der Nixe allein im Haus. Und wenn sie nicht einmal versuchte, heraufzukommen und etwas zu unternehmen, dann musste ich wohl nachhelfen.

Ich fand sie im Wohnzimmer; sie saß in einem Sessel meinem Sessel und starrte ins Nichts. Zunächst glaubte ich, dass sie das Nachbild der weinenden Frau gesehen hatte, aber sie sah nicht in Richtung Esszimmer. Sie starrte geradeaus, und ihre Augen waren so blicklos wie die einer Schaufensterpuppe.

»Da bist du ja«, sagte ich im Hereinkommen.

»Nein!« Die Nixe sprang auf, ihre Lippen verzogen sich zu einem Fauchen. »Verschwinde!«

Ich spielte einen erschrockenen Schritt rückwärts. »Jaime?

Sag mal, ist alles in Ordnung?«

Ihr Blick flog zu mir herüber; sie runzelte die Stirn, als hätte sie mich eben erst bemerkt.

»Was?«, schnappte sie. Dann ein hastiges Zwinkern. »Oh, Paige. Es tut mir leid.«

»Macht irgendein Geist Ärger?«, fragte ich.

Wieder ein schneller, überraschter Lidschlag. Dann ein kurzes, heftiges Kopfschütteln, das in ein Nicken und ein schiefes Lächeln überging. »Yeah. Du weißt ja Bescheid. Die lassen uns nie in Frieden. Bist du fertig mit der Arbeit?«

»So ziemlich. Ich wollte nur schnell nachsehen, ob wir irgendwas in der Tiefkühltruhe haben, das sich als Nachtisch eignet. Da müsste noch irgendwo Kuchen sein.«

»Klingt gut.«

»Wenn Lucas oder Savannah reinkommen, sag ihnen doch, dass ich unten bin. Im Keller. Kann eine Weile dauern diese Truhe ist vollgestopft bis zum Rand.«

Sie nickte und setzte sich wieder hin; ihre Augen wurden blicklos, als hätte sie bereits vergessen, dass ich da war. Ich ging zur Kellertreppe. An der Hintertür warf ich einen Blick ins Freie. Lucas bemerkte mich und sah zu mir herüber. Ich teilte ihm mit einer Geste mit, dass ich in den Keller ging, und er nickte.

»Ich gehe jetzt runter«, murmelte ich. »In den dunklen Keller.

Ganz allein.«

Eine Sekunde lang glaubte ich, Kristofs leises Lachen zu hören, aber das Geräusch wurde zu dem Aufprall eines gedribbelten Basketballs in der Einfahrt.

Unten im Keller musste ich nach der Tiefkühltruhe suchen.

Ich wusste genau, dass es hier irgendwo eine gab, und ich war mir ziemlich sicher, es würde ein Obstkuchen drin sein. Hausgemacht wahrscheinlich. Wie Paige die Zeit für so etwas fand, war mir ein Rätsel. Ich hatte sie nie gefunden. Nun hatte ich es natürlich auch nie probiert.

Irgendwann fand ich die Truhe. Und sie war so voll, wie ich angenommen hatte. Ich fand einen ganzen Stapel von Kuchen, also schob ich ein Brot darüber, um ihn zu verstecken, und tat dann so, als wühlte ich. Oben blieb es still.

»Jetzt komm schon«, murmelte ich. »Das ideale Opfer, den Kopf praktischerweise schon in der Kühltruhe. Worauf wartest du eigentlich? Darauf, dass ich hier drin genug Platz für meine eigene Leiche frei räume?«

Ich hatte das kaum ausgesprochen, als ich über mir Schritte hörte.

»Wurde auch Zeit. Beeil dich, bevor ich hier Frostbeulen bekomme.«

Die Schritte durchquerten die Küche, stiegen die paar Stufen zum Hintereingang hinunter und hielten inne wahrscheinlich vergewisserte sich die Nixe, dass Lucas und Savannah draußen beschäftigt waren. Ich schob zwei Dosen mit Keksteig in der Gegend herum. Mit Schokoladenstückchen. War der nach Ruths Rezept entstanden? Mmm. Es musste zwanzig Jahre her sein, seit ich ihre Kekse gegessen hatte. Vielleicht konnte ich ein paar davon

Die Schritte brachen ab.

»Ich weiß, dass hier irgendwo Kuchen ist«, murmelte ich.

Paige war nicht der Typ, der Selbstgespräche führt, aber die Truhe stand hinter einer Ecke, und vielleicht hatte die Nixe Schwierigkeiten, mich zu finden.

Aber es verging mindestens eine Minute, ohne dass etwas geschah. Das Gesicht nach wie vor zur Kühltruhe gewandt, sah ich zur Seite, so weit ich konnte.

Die nackte Glühbirne an der Decke warf meinen Schatten und den der Waschmaschine auf den Fußboden. Aber keinen jaimeförmigen Schatten. Dreißig Sekunden lang stand ich da, den Hals unbequem verrenkt, und beobachtete den Fußboden. Schließlich gab ich es auf, schloss leise den Deckel der Kühltruhe und glitt an der Wand entlang in Richtung Tür, um vorsichtig einen Blick auf die Treppe hinauszuwerfen. Keine Spur von der Nixe.

Ich hatte sie ganz entschieden auf der Treppe gehört. Sie war nicht nach unten gekommen, aber ich war mir einigermaßen sicher, dass sie weiter gegangen war als bis zu dem Treppenabsatz an der Hintertür. Was hatte Lucas doch gleich gesagt? »Ziemlich sicher« war in Anbetracht der Umstände nicht gut genug?

Okay, »einigermaßen sicher« war dann wirklich zu wenig. Sie konnte längst wieder nach oben gegangen sein, während ich noch damit beschäftigt gewesen war, Dosen mit gefrorenem Plätzchenteig zu beäugen.

»Nein!«

Ich fuhr zusammen und wäre beinahe hinter der Ecke herausgestolpert.

»Ich hab nicht gefragt Nein! Dies gehört mir!«

Es war die Nixe, das vollkommen jaimeuntypische Fauchen, das ich schon oben gehört hatte. Die Stimme kam von der Treppe her. Mit wem redete sie da? Nicht mit Lucas oder Savannah, so viel stand fest nicht in diesem Ton.

Ein Knurren, bei dem sich mir die Härchen auf den Armen aufstellten, dann schwere Schritte, als sie wieder hinaufging.

Die Hintertür quietschte. Ich rannte aus meinem Versteck zum Fuß der Treppe.

»Jaime? Bist du das?«

Sie ging weiter und ließ die Tür hinter sich zufallen. Ich galoppierte die Treppe hinauf und in den Garten hinaus. Als ich dort ankam, stand sie neben der Einfahrt. Lucas brach mitten im Wurf die Bewegung ab, und der Ball rollte ihm aus der Hand. Savannah kicherte hämisch und stürzte sich darauf.

Dann sah sie uns und hielt inne.

»Jaime!«, rief ich, während ich hinter ihr hertrabte.

Sie ignorierte mich.

»Was ist los?«, flüsterte Savannah.

Ich holte die Nixe ein und berührte ihren Arm, aber sie schüttelte mich ab und knurrte etwas davon, dass sie frische Luft brauchte. Als ich mich umdrehte, fing Lucas meinen Blick auf und gab mir zu verstehen, ich sollte sie gehen lassen.

»Es wird Zeit, die Pizza zu bestellen«, sagte er, während er den Ball aufhob. »Wer will was? Pizza Hawaii? Die hatten wir seit einer ganzen Weile nicht mehr.«

»Puh«, sagte Savannah, während sie ihm den Ball aus der Hand riss. »Die hatten wir nicht, weil ich Ananas hasse.«

»Wirklich?«, gab er zurück. »Ich glaube gesehen zu haben, dass du gestern Abend Ananas auf deinen Bananensplit getan hast.«

»Das war, weil Bananensplit süß ist und Ananas auch. Pizza ist nicht süß. Süßes Zeug und nicht süßes Zeug mischt man nicht. Das ist einfach eklig.«

»Aber du tust immer Pflaumensauce auf dein Hühnchen, und das ist nun entschieden ein Fall des Mischens von Süßem und nicht Süßem. Insofern sieht es so aus, als sei deine Logik «

»Oh, hör schon auf.« Sie schmetterte den Ball in seine Richtung. »Ich gehe Pizza bestellen.«

Sie schleuderte ihr Haar zurück und marschierte davon; Jaime schien vollkommen vergessen.

»Gutes Ablenkungsmanöver«, sagte ich. »Du kommst wirklich gut mit ihr klar.«

Er nickte nur und legte den Ball an seinen Platz zurück.

Ich hatte mich oft gefragt, wie es für Lucas sein musste, diese Doppelpackung.

Als er Paige wollte, hatte er auch Savannah nehmen müssen. Wie viele Männer hätten sich mit fünfundzwanzig Jahren auf so etwas eingelassen? Nicht nur die Belastung akzeptiert, die es bedeutete, einen Teenager im Haus zu haben, sondern zugleich auch die Stiefvaterrolle? Ja, okay, ich habe ein paar fünfundzwanzigjährige Typen gekannt, die sicher nichts dagegen gehabt hätten, ein Mädchen im Teenageralter anvertraut zu bekommen, aber bei Lucas war derlei nie auch nur in Frage gekommen.

Vom ersten Tag an war er genau das gewesen, was Savannah brauchte eine Kombination aus Vaterfigur und großem Bruder, der ihre ideologischen Konflikte mit Paige ausglich.

Ich hätte mich gern bei ihm bedankt. Wirklich. Aber mir fiel keine Möglichkeit ein, dies zu tun, ohne ihn in Verlegenheit zu bringen . . . und mich wahrscheinlich auch.

»Ich glaube, es ist ein Geist«, sagte ich, als Lucas zurückkam.

»Hmm?«

»Was da mit der Nixe los ist. Sie hat sich da drin ziemlich merkwürdig aufgeführt, hat ins Nichts gestarrt und sich selbst angefahren. Wenn ich Paiges Fähigkeiten habe, dann muss sie Jaimes haben, und das heißt, sie sieht wahrscheinlich einen Geist. Als ich es erwähnt habe, hat sie sich richtig erschreckt

vielleicht war ihr vorher nicht klar, dass es das war.«

Er nickte. »Es ist möglich. Es könnte auch Jaime selbst sein.«

»Die versucht, sich ihren Körper zurückzuholen, meinst du?«

Wieder ein Nicken. Er sah zu mir hin. »Weiß Paige Bescheid?« Er räusperte sich, um den besorgten Ton aus seiner Stimme zu eliminieren. »Ich meine damit, du hast es ihr ja wohl erklärt, oder? Was du mit ihr gemacht hast?«

»Äh, nein. Ich konnte nicht glaub mir, sonst hätte ich es getan.«

»Sie weiß also gar nicht, was hier vor sich geht.« Er rückte seine Brille zurecht und sah wieder zu mir herüber. »Gibt es eine Möglichkeit, es sie wissen zu lassen? Nach ihr zu sehen?«

»Es ist alles in Ordnung, Lucas. Ich schwör’s dir. Und ich verschwinde, sobald ich kann.«

Ein langsames Nicken. »Gehen wir rein. Der Pizzabote wird nicht lang brauchen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass Savannah vorhat, die Pizza zu bezahlen.«

»Ich hoffe, sie hat Champignons bestellt. Ohne Champignons ist eine Pizza doch keine richtige Pizza.« Ich schüttelte den Kopf. »Das hier wird von Minute zu Minute absurder, findest du nicht?«

»Basketball zu spielen und über Pizza zu streiten, während wir darauf warten, dass eine bösartige QuasiDämonin endlich mit den Mordversuchen anfängt?« Ein winziges Lächeln.

»Absurd? Ganz und gar nicht. Obwohl ich mir wünsche, sie käme allmählich zur Sache. Savannah hat Fluch der Karibik ausgeliehen, und den wollte Paige wirklich sehen.«

»Viel Spaß. Was mich angeht, ich habe von Piraten erst mal genug.«

Er zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Du willst es nicht wissen. Und die Nixe ich glaube allmählich, wir müssen ihr selbst einen Anstoß liefern. Vor allem, wenn sie damit zu tun hat, Geister oder Jaime abzuwehren.

Vielleicht Oops, da kommt sie gerade.«

Die Nixe kam mit langen Schritten um die Hausecke, ohne auch nur einen Blick in unsere Richtung zu werfen.

»Jaime!«, rief ich ihr entgegen. »Wir haben Pizza bestellt. Sie müsste jeden Moment «

»Keinen Hunger«, schnappte sie. »Ich gehe rauf und packe aus.«

Lucas und ich warteten, bis sie verschwunden war, und wechselten dann einen Blick.

»Ich glaube, hier ist ein kräftiger Anstoß vonnöten«, sagte er.

»Vor oder nach der Pizza?«

»Danach. Ich glaube fest daran, dass wir diese Situation zufriedenstellend auflösen können. Für den unwahrscheinlichen Fall jedoch, dass die Dinge sich anders entwickeln, bin ich der Ansicht, dass ich ein Anrecht auf eine letzte Mahlzeit habe.

Selbst wenn es sich dabei um Pizza ohne Ananas handelt.«

»Willst du auch Kekse?«, fragte ich. »Ich hab welche im Keller gesehen.«

»Mit Schokostückchen?«

»Sah so aus.«

»Die versteckt Paige wohl vor mir. Bring welche rauf. Savannah kann sie aufbacken.«

Die Nixe verbrachte die Abendessenszeit in Savannahs Zimmer, wo sie vermutlich den Koffer auspackte. Beim Essen versuchte ich mit Savannah das Gespräch über Jungs wiederaufzunehmen, was mir einen derart entsetzten Blick einbrachte, dass ich für einen Moment glaubte, Jaime stünde mit einem Hackebeil hinter mir. Offenbar redete man nicht über Jungs, wenn Jungs

oder Männer anwesend waren. Lucas schien sehr willens, sich zu beteiligen, aber nach einem mörderischen Blick von Savannah wechselte ich das Thema.

Nach dem Essen räumten Lucas und ich die Geschirrspülmaschine ein und besprachen mit Hilfe eines Abschirmzaubers die nächsten Schritte. Wir würden der Nixe eine letzte Chance geben. Lucas würde Savannah bei ihren Mathehausaufgaben helfen, und ich würde in Paiges Büro zurückkehren.

Ich trampelte so laut die Treppe hinauf, dass die Nixe mich hören musste. Dann rief ich noch von oben hinunter, Lucas solle eine Stunde lang alle Anrufe für mich abwimmeln.

Dreißig Minuten später hörte ich Schritte im Gang.

»Bist du so weit, Trsiel?«, flüsterte ich. »Hoffentlich bist du an Ort und Stelle, diesen QuasiDämon erledigen wir jetzt nämlich.«

Ich griff nach oben in Paiges Haar und tastete nach dem Band; dann nahm ich den Stuhl, schob ihn hinter die Tür und stieg darauf, um mir die nötige Höhe zu verschaffen. Das Leben ist wirklich einfacher, wenn man groß ist.

Während ich auf dem Stuhl balancierte, zog ich mir das Band aus dem Haar, wickelte es mir um die Hände und wartete. Der Türknauf drehte sich. Ich ging in die Hocke, das Band vor mir.

Die Tür öffnete sich, und Lucas kam herein.

49

G laubst du wirklich ,das hätte funktioniert?«,fragte er mit einem Blick auf das Band.

»Zusammen mit einem Bindezauber bestimmt«, antwortete ich, während ich vom Stuhl sprang. »Lass mich raten

unsere Nixe zeigt keinerlei Anzeichen von Mordlust.«

»Sie hat mich gebeten, mir mal Paiges Auto anzusehen.«

»Bitte?«

»Sie sagt, es hätte sich komisch angehört, als sie es heute Nachmittag gefahren hat.«

Ich sackte auf den Stuhl. »Ich glaub das einfach nicht.«

»Sie wollte es mir unbedingt vorführen, obwohl Savannah sie daran ›erinnert‹ hat, dass mein mechanisches Fachwissen auf Motorräder beschränkt ist.«

»Oh, ich verstehe. Sie will dich draußen haben, weg von Savannah und mir.«

»Genau das. Und draußen« eine Bewegung zum Fenster hin »wird es gerade dunkel.«

»Vielleicht machen wir also doch Fortschritte. Aber wenn du «

Ein Schrei gellte durchs Haus.

»Oh Gott«, rief ich. »Savannah!«

Als ich von dem Stuhl aufsprang, jagte Lucas quer durchs Zimmer zum Fenster.

»Sie sind im Wohnzimmer«, sagte er, während er es aufriss.

»Nimm die Treppe. Ich nehme die Haustür. Wer zuerst kommt, lenkt ab. Wer als Zweiter kommt, greift von hinten an.«

Ich war im Gang, als er die letzten Worte sagte; sie klangen gedämpft, weil er gerade zum Fenster hinauskletterte. Wieder ein Schrei. »Du kleines Miststück!«

Etwas schoss um die Ecke zum Wohnzimmer und rammte mich, als ich gerade die letzten Stufen hinunterrannte.

»Runter!«, zischte Savannah und zerrte mich auf die Treppe hinunter.

»Sav. . . «

Sie drückte mir eine Hand auf den Mund und hielt mich fest, während sie zugleich einen Tarnzauber über uns beide sprach.

Die Nixe erschien in der Türöffnung, ein Messer in der Hand.

Blut strömte ihr aus der Nase. Sie wischte sich mit der Hand darüber.

»Wo bist du hin, Miststück?« Sie sah von einer Seite zur anderen. »Komm raus, komm raus, wo immer du steckst!«

Sie lächelte; ihre Stimme war zu einem hohen Singsang geworden, von dem ich wusste, dass er nicht der Nixe gehören konnte. Es hatte sich also wirklich ein Geist angeschlossen aber es war nicht Jaime.

Die Frau drehte sich um und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Savannah sprach einen Abschirmzauber, ohne mich loszulassen.

»Das ist nicht Jaime«, flüsterte sie. »Sie ist irgendwie besessen.

Wir haben dagesessen und geredet, und plötzlich hat sie «

Die Schritte kamen zurück. Savannah wirkte einen neuen Tarnzauber. Sie beschützte mich. Ich wusste, dass es in Wirklichkeit Paige war, die sie schützte, aber dennoch meine kleine Tochter, die auf diese Art die Initiative ergriff, einer Gefahr begegnete, mich beschützte . . . Kris hatte recht. Savannah brauchte meine Hilfe nicht mehr. Sie brauchte sie schon lange nicht mehr.

Die Frau trat in den Gang hinaus und sah sich um, während sie Blut schniefte.

»Du kannst dich nicht verstecken, Zuckerpüppchen«, rief sie.

»Cheri kennt all deine Tricks. Ja, alle Tricks. Sie findet jeden.«

Cheri MacKenzie. Scheiße! Das also war hier passiert. Die parasitische Nixe machte gerade die Erfahrung, die sie anderen verschafft hatte eine ihrer ehemaligen Partnerinnen drängte sich in ihren Körper. Das verkomplizierte die Sache. War die Nixe noch da drin? Was, wenn ich Jaimes Leben riskierte und niemanden fand als Cheri MacKenzie?

Die Frau warf einen letzten Blick den Gang entlang und verschwand wieder. Savannah brach den Tarnzauber, und dabei sah ich Blut durch ihren Ärmel sickern. Ich griff nach ihrem Arm und versuchte den Ärmel hochzuschieben.

»Das ist gar nichts, Paige«, sagte sie, während sie sich losmachte. »Wo ist Lucas?«

Der Knauf der Haustür drehte sich. Savannah machte Anstalten aufzuspringen.

»Wir müssen ihn warnen «, begann sie.

»Er weiß Bescheid. Lass ihn reinkommen und sie ablenken, dann nehmen wir sie uns vor.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt weit, aber es stand niemand draußen. Ich wollte aufspringen, aber dann begriff ich, dass Lucas einen Tarnzauber verwendete. Ich zeigte zum Wohnzimmer und sprach dann meinerseits einen Tarnzauber über Savannah und mich.

Lucas brach den Zauber und öffnete die Tür mit einem Knall.

MacKenzie kam aus dem Wohnzimmer geschossen, sah ihn und blieb mit dem Rücken zu uns mitten im Gang stehen.

»Wo ist sie?«, fragte Lucas, während er mit großen Schritten hereinkam.

»Deine Frau oder deine hübsche kleine Pflegetochter?«, schnurrte Cheri. »Welche interessiert dich denn mehr?«

»Wo sind sie?« Lucas’ Blick glitt zu dem Messer in ihrer Hand hinunter. »Wenn du ihnen etwas getan hast «

»Wirst du was tun? Mir erklären, dass ich ein ungezogenes kleines Mädchen bin, und mich ins Bett schicken? Und dich dann dazulegen? Ich möchte wetten, du hast es dir zumindest überlegt. Bei deiner ungezogenen kleinen Pflegetochter.«

Ich wusste nicht, wer angewiderter ausgesehen hätte Lucas oder Savannah. Ich bedeutete Savannah mit einer Geste, sie solle von links kommen, während ich quer durch den Flur zur anderen Wand glitt.

»Ich habe einen Vorschlag«, sagte Cheri, während sie näher an Lucas herantrat. »Hilf mir, sie zu finden, und du kannst sie haben. Wie alt ist sie, fünfzehn, sechzehn? Und noch Jungfrau, das merke ich. Würdest du «

Lucas schlug zu.

»So viel zum Thema ablenken«, murmelte ich.

Als MacKenzie unter dem Schlag nach hinten taumelte, packte ich sie und schleuderte sie gegen die Wand. Oder hatte es jedenfalls vor. Aber ich steckte in Paiges wenig athletischem Körper, und Jaime war acht bis zehn Zentimeter größer als ich; also fiel das Schleudern eher wie ein kräftiger Schubs aus, MacKenzie prallte von der Wand zurück und stürzte auf mich zu, das Messer erhoben. Lucas riss mich aus dem Weg.

Ich landete auf dem Fußboden und sprach einen Bindezauber. MacKenzie rammte Lucas das Messer in den Oberschenkel.

Ich wiederholte die Formel.

»Funktioniert nicht!«, rief Savannah. »Hab ich auch probiert.

Nimm was anderes!«

Ich versuchte es mit dem Energiestrahl. Es geschah gar nichts.

Scheiße! Den kannte Paige offenbar nicht. Was kannte sie? Denk nach, denk nach . . . Feuerkugel!

Ich wirkte die Formel, gerade als Lucas MacKenzie gegen die Wand schleuderte, und der Feuerball traf die Wand zwischen ihnen und versengte Lucas fast das Gesicht. Er warf mir einen warnenden Blick zu und packte MacKenzie am Ellenbogen, hart genug, dass sie quiekte und das Messer fallen ließ. Als sie sich danach zu bücken versuchte, stürzte ich vor und trat es ins Esszimmer. Paiges Körper mochte sich nicht für blitzschnelle RoundhouseTritte eignen, aber er war durchaus schnell genug für so etwas.

»Oh Herr, warum hast du mich verlassen?«

Wir drehten uns alle zu MacKenzie um . . . aber es war nicht mehr MacKenzie. Sie stand mitten im Flur, die Arme erhoben, das Gesicht tränenüberströmt.

»Habe ich dir nicht gut gedient, Herr?«, rief sie. »War ich nicht deine getreue Dienerin auf Erden? Und dafür soll ich nun bestraft werden?«

»Was zum Teufel «, murmelte Savannah.

»Es ist jemand anderes«, sagte ich.

Die Frau drehte sich zu mir um, und ihre rotgeränderten Augen flammten. »Du warst es, nicht wahr? Du hast mich verraten.«

Sie stürzte sich auf mich. Lucas trat ihr die Beine weg, und sie stürzte. Als er eine Formel zu sprechen begann, sah sie zu ihm auf, die Augen erfüllt von echter Angst.

»Ttut mir nichts«, weinte sie. »Es tut mir leid, es tut mir so leid. Ich wollte das nicht tun. Es war alles ihre Schuld Victorias.

Bitte tut mir nicht mehr weh.«

Lucas zögerte. »Warte«, sagte er, als ich eine Formel zu sprechen begann. »Das ist nicht deine Nixe.«

»Aber eine unschuldige Zeugin ist es auch nicht. Das ist eine von ihren Partnerinnen. Dieses Wehtun, von dem sie da redet

das ist keine Belohnung des Himmels.«

Er zögerte noch, als die Frau plötzlich aufsprang, sich aus unserer Reichweite warf und ins Esszimmer stürzte, auf das Messer zu. Savannah, die ihr am nächsten stand, jagte hinterher.

»Nein!«, schrie ich.

Als Lucas und ich das Zimmer erreichten, hatte die Frau Savannah von hinten gepackt. Savannah fluchte und versuchte sich frei zu winden; dann wurden ihre Augen weit, als die Frau ihr die Messerspitze von unten gegen das Kinn drückte. Lucas und ich erstarrten.

»Was für ein hübsches Kind«, säuselte die Frau, während sie Savannah mit der freien Hand übers Haar strich.

»Lass sie los, Suzanne«, sagte ich.

Simmons sah sich stirnrunzelnd zu mir um. »Du kennst mich? Wie seltsam. Ist das dein Kind?«

Sie musterte mich Paige von oben bis unten und sah dann zu Lucas hin. »Nein. Viel zu alt für eure Tochter. Eine Nichte vielleicht?«

Sie unterbrach sich, und ihre Augen rollten nach oben. Dann lächelte sie. »Oh, wie interessant! Das Mädchen gehört also zu ihr der, die mich getäuscht hat.«

Sie zog das Messer nach vorn zu Savannahs Kehle. Ein haarfeiner Blutstreifen folgte der Spitze. Ich fauchte und wollte mich auf sie stürzen, aber in Simmons’ Rücken schüttelte Lucas den Kopf. Er hatte natürlich recht ich war vier Meter entfernt; die Frau konnte meiner Tochter die Kehle durchschneiden, bevor ich sie erreichte.

»Oh, das wird Spaß machen«, sagte Simmons, in ihren Augen leuchtete derselbe Hunger, den ich auch auf dem Friedhof gesehen hatte. »Nur, wo fange ich an . . . «

Lucas versuchte mir mit einer Handbewegung eine Idee zu vermitteln. Ich antwortete mit einem angedeuteten Nicken.

Lucas zählte mit den Fingern, während seine Lippen die Formel wirkten.

Drei, zwei, eins.

Er schleuderte einen Feuerball, der Simmons am Kopf traf.

Als sie nach vorn stolperte, riss ich Savannah mit einer Rückstoßformel aus Simmons’ Griff, und Lucas packte sie und schob sie hinter sich; dann schnappte er sich das Messer.

Ich rannte durchs Zimmer und packte Simmons am Arm, als sie zu Lucas und Savannah herumfuhr. Ich riss sie mit einem Ruck nach hinten, trat nach ihren Beinen, und sie stürzte.

Während ich versuchte, sie am Boden festzuhalten, sagte Lucas etwas zu Savannah, und sie sprachen beide einen Bindezauber.

Simmons schlug nach mir, und ihre Hand rutschte von meiner Schulter ab. Sie knurrte und versuchte zu treten, konnte aber die Beine kaum noch bewegen.

»Es funktioniert«, rief ich den beiden zu. »Einigermaßen zumindest.«

Ich konnte Simmons jetzt mühelos festhalten. Als ich ihr die Hände um die Kehle legte, blitzten ihre Augen auf und wurden dann blicklos. Ich drückte zu, und ihre Augen schlossen sich. Scheiße! Was, wenn der Bindezauber sie umbrachte? Er funktionierte offensichtlich nicht so, wie er sollte, und

Jaimes Körper bäumte sich auf und hätte mich fast abgeschüttelt. Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf sie, und als ich ihr in die Augen sah, wusste ich, dass Simmons verschwunden war.

»Willkommen zurück«, sagte ich. »Auch wenn du ein bisschen spät dran bist.«

Die Lippen der Nixe verzogen sich, und sie versuchte mich abzuschütteln. Ich drückte fester zu. Aus dem Augenwinkel sah ich Lucas aufspringen.

»Macht weiter mit dem Bindezauber!«, rief ich. »Es macht einen Unterschied!«

Der Zauber band die Nixe nicht wirklich, aber er schwächte ihre Dämonenkräfte. Ich beugte mich über sie und sah ihr in die hervorquellenden Augen, während ich ihr weiter die Kehle zusammendrückte.

»Sollen wir zählen?«, fragte ich. »Ich nehme an, du hast noch etwa dreißig Sekunden.«

»Paige!«, schrie Savannah. »Hör auf damit! Das ist immer noch Jaime. Du kannst sie nicht umbringen!«

Ich griff fester zu. »Lucas, bring sie raus hier. Bitte.«

Savannah hatte die Formel abgebrochen, aber die Nixe wehrte sich kaum noch. Ihre Lider senkten sich, als sie das Bewusstsein verlor.

»Paige! Nein!«

Savannah packte mich an den Schultern, um mich von Jaime fortzureißen. Ich sah auf und ihr in die Augen.

»Ich bin nicht Paige, Baby«, sagte ich. »Ich bin’s.«

Ein verwirrtes Zwinkern. »MMom?«

Und da war meine lang erträumte Wiedervereinigung. Endlich konnte ich meiner Tochter in die Augen blicken und sie zurückblicken sehen, und sie wusste, dass ich es war . . . und ich hatte die Hände um die Kehle ihrer Freundin gelegt und versuchte sie zu Tode zu würgen.

»Du musst gehen, Baby«, flüsterte ich. »Bitte. Ich weiß, was ich tue. Lucas wird es dir erklären. Ich passe auf Jaime auf. Ich verspreche es.«

Sie starrte mich aus weiten Augen an. »Mom?«

Ich riss meinen Blick von ihr los und sah Lucas an, der hinter ihr stand. Er nickte und legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Ich warte draußen«, murmelte er. »Ruf mich, wenn du sie zurückholen musst.«

Er flüsterte Savannah etwas zu, und sie ließ sich von ihm aus dem Zimmer führen. Ich spürte ihren fassungslosen Blick im Rücken, bis sie um die Ecke bogen. Dann sah ich auf die Nixe hinunter und drückte zu. Als ihr Körper schlaff wurde, hielt ich sie fest und wartete auf Trsiel.

Würde ich wissen, wenn Trsiel seine Aufgabe erfüllt hatte?

Ich sah auf Jaimes Gesicht hinunter. Ihre Lippen waren blau angelaufen, und ihre Augen waren glasig. Mist! Ich würde sehr bald mit den Wiederbelebungsmaßnahmen anfangen müssen.

Aber wenn ich zu früh anfing, kam sie vielleicht zu sich, bevor Trsiel die Nixe erwischt hatte.

»Lucas!«

Vielleicht würden mir die Parzen, wenn dies vorbei war, noch ein paar Momente mit meiner Tochter schenken . . .

Die Hintertür klickte. Jaimes Körper begann ein mattes, pulsierendes Licht abzustrahlen. Als Lucas’ Schritte die Stufen von der Hintertür her näher kamen, hatte der Schimmer begonnen, sich von Jaimes Körper zu lösen, wie es in dem Bürgerzentrum geschehen war.

Der Geist der Nixe schien sich zusammenzuballen und nahm zunehmend Ähnlichkeit mit ihrer wirklichen Gestalt an. Lucas kam um die Ecke; er hinkte aufgrund der Messerwunde im Bein. Ich hob eine Hand.

»Moment noch. Es ist fast vorbei. Wo ist Savannah?«

»Draußen«, sagte er, während er neben Jaime in die Hocke ging. Er tastete nach ihrem Puls und sah mich dann an. »Wird sehr schwach. Ich muss wirklich anfangen «

»Warte. Nur noch ein paar Sekunden.« Ich sah mich hastig um. »Verdammt noch mal, Trsiel. Wo bist du?«

»Das ist also die Nixe?«, fragte Lucas, eine Hand an Jaimes Handgelenk gelegt, mit der anderen zeigte er auf den Geist der Nixe.

Ich wollte nicken und hielt dann inne. »Du kannst sie sehen? Oh, Scheiße! Wir dürften sie nicht sehen können. Sie müsste auf der anderen Seite sein, das heißt, Trsiel kann sie nicht «

»Eve! Wir verlieren «

Seine Lippen öffneten sich zu einem lautlosen Fluch, dann beugte er sich hastig über Jaime und begann mit der Wiederbelebung. Der Geist der Nixe wand und krümmte sich. Eine Sekunde lang sah ich ihr Gesicht in aller Deutlichkeit. Ich griff nach ihr, aber meine Hände glitten geradewegs durch sie hindurch. Sie warf den Kopf zurück und lachte. Dann riss sie sich mit einer letzten heftigen Drehung los, schoss zur Decke hinauf und verschwand.

»Himmeldonnerwetter!«

Ich rammte die Faust gegen die Wand. Dann kniff ich die Augen zu und holte tief Luft. Okay, es hatte also nicht funktioniert.

Aber immerhin, Lucas und Paige waren in Sicherheit. Und was die Nixe anging, ich würde sie eben ein andermal fangen, in der Geisterwelt, wo sie mir nicht so leicht entkommen konnte.

Ich sah auf Jaime hinunter.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich. »Was kann ich tun?«

»Ich glaube, sie kommt zurück«, sagte Lucas. »Einen Moment lang «

»Lucas?«

Savannahs Stimme trieb von der Hintertür herüber. Ich hörte ihre Schritte auf dem Küchenfußboden.

»Mom?«

»Ich bin hier, Baby. Komm «

Ein markerschütternder Schrei unterbrach mich. Ich sprang auf und jagte in Richtung Küche.

50

D ie Küche war leer.

»Sie muss draußen sein«, sagte ich, während ich zur Hintertür rannte. »Geh zurück zu Jaime, überzeug dich, dass mit ihr alles in Ordnung ist.«

»Wenn du mich brauchst «, begann Lucas.

»Werde ich rufen.«

Ich rannte zur Hintertür hinaus. Die Sonne war untergegangen, aber die Nachbarn hatten in ihrem Garten so helle Lampen, dass ich nur einen kurzen Blick in die Runde werfen musste, um zu wissen, dass Savannah nicht im Garten war. Ich riss die Tür zu dem Motorradschuppen auf und tat einen Schritt ins Innere, wobei ich versuchte, die offene Hintertür im Auge zu behalten.

Etwas prallte mir in den Rücken. Ich stürzte und landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Zementboden. Knie rammten sich mir ins Kreuz, Finger gruben sich in meine Schultern.

Ich versuchte mich herumzuwerfen, aber die Hände legten sich mir um den Hals und drückten so fest zu, dass mir kaum noch Zeit blieb, den Schmerz zu bemerken, bevor alles ringsum dunkel wurde.

Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Rücken. Savannah starrte auf mich herunter, das Gesicht von Wut und Hass verzerrt.

Eine Sekunde lang wurde mir eiskalt. Sie glaubte, ich hätte Jaime umgebracht vielleicht sogar Paige. Dann sah ich ihre Augen, und mir wurde klar, dass dies nicht meine Tochter war.

Die Nixe beugte sich tiefer herab, die Hände immer noch um meine Kehle geschlossen.

»Wie fühlt sich das an, Hexe? Ich könnte dir gleich jetzt und hier das Rückgrat brechen. Ich hätte es gleich in dem Moment tun können, in dem ich dich gepackt habe. Aber so ist es viel poetischer, nicht wahr? Dich auf die gleiche Art umzubringen, wie du mich umbringen wolltest.«

Ich wand mich, aber ihre Dämonenkraft hielt mich auf dem kalten Boden fest.

»Ich nehme an, ich sollte mich bedanken. Wenn ich gewusst hätte, dass ich den Körper wechseln kann, hätte ich nicht so viel Zeit mit dieser albernen Nekromantin verschwendet.« Sie schloss die Augen und schauderte zusammen. »Dieser Körper ist eines Dämons wirklich würdig. So jung und so mächtig.«

Ich öffnete den Mund, um eine Formel zu sprechen, konnte aber nur keuchen.

»Jetzt wird es auch viel einfacher, die Schuld auf deine Tochter zu schieben, wenn es wirklich ihre Finger sind, die ihrer Pflegemutter die Kehle zerdrücken.«

Ihr Griff wurde fester, und die Welt begann wieder schwarz zu werden. Ich mühte mich darum, bei Bewusstsein zu bleiben, wand mich unter ihr und versuchte wenigstens einen Arm oder ein Bein freizubekommen.

»Warum wehrst du dich eigentlich?«, fragte sie. »Du wirst ja schließlich nicht sterben. Du bist schon tot. Du wirst einfach dorthin zurückgehen, wo du vorher warst. Diese kleine Hexe ist es, die für dein Versagen bezahlen wird. Sie und ihr Mann ermordet von ihrer geliebten «

Die Nixe fuhr hoch, und ihr Griff lockerte sich. Sie sah über meinen Kopf hinweg.

»Warte ab, bis du an der Reihe bist, Magier«, fauchte sie.

Ich bog den Kopf zurück und sah, wie Lucas einen Spaten von der Wand nahm.

»Runter von ihr«, sagte er.

Die Augen der Nixe weiteten sich. »Aber Lucas? Was meinst du «

»Ich weiß, dass du nicht Savannah bist«, sagte er. Seine Stimme klang vollkommen gelassen. »Jetzt mach, dass du von ihr wegkommst.«

Als er den Spaten hob, schlängelte ich mich unter der Nixe heraus. Sie schien es kaum zur Kenntnis zu nehmen, sie lächelte lediglich und stand auf. Lucas holte aus.

»Glaubst du wirklich, dass du das tun kannst?«, fragte sie.

»Und was, wenn du sie umbringst? Du brauchst bloß den richtigen Punkt zu erwischen, und sie fällt um und steht nie wieder auf.«

Lucas zögerte; dann ließ er den Spaten fallen und hob die Hände er wirkte etwas. Und die Nixe stürzte sich auf ihn.

Ich rappelte mich keuchend auf. Die Nixe packte Lucas am Arm und schleuderte ihn gegen die Wand. Sein Kopf traf hart auf, sie ließ seinen schlaffen Körper fallen und wandte sich mir zu.

Ich sprach die Dämonenschutzformel. Die Worte flogen mir bereits von den Lippen, als ein plötzlicher Stoß der Panik durch mich hindurchging. Kannte Paige diese Formel? Und was sonst

Die Nixe erstarrte. Ihre Glieder zuckten, und sie stürzte rückwärts zu Boden. Ich warf mich auf sie, aber sie trat mich aus dem Weg, kam taumelnd auf die Beine und torkelte durch die Hintertür ins Haus.

Ich hörte ihre Schritte die Kellertreppe hinunterstolpern. Perfekt. Aus dem fensterlosen Keller gab es kein Entkommen. Sie würde auf dem gleichen Weg wieder herauskommen müssen.

Der Dämonenschutzzauber hatte Paiges Reserven weitgehend aufgebraucht, und ich rang immer noch nach Atem.

Ich brauchte einen Moment Zeit. Ich sah auf Lucas hinunter.

Auch er würde einen Moment meiner Zeit brauchen.

Ich ging neben ihm in die Knie und tastete nach seinem Puls. Er war kräftig und gleichmäßig. Ich sprach ein paar Heilformeln unmittelbar hintereinander. Damit war der Rest von Paiges magischen Kräften erschöpft, aber ich wusste, dass sie es sich so gewünscht hätte. Dann setzte ich mich auf die Fersen zurück und gab mir Mühe, wieder zu Atem zu kommen.

Die Nixe steckte in Savannah. Um sie aufzuhalten, würde ich das tun müssen, was Lucas nicht hatte tun können meine eigene Tochter angreifen.

Ich arbeitete mich auf die Beine und lief ins Haus.

Auf der letzten Stufe der Kellertreppe hielt ich inne und sah mich um. Auf der linken Seite befanden sich Tiefkühltruhe und Vorratskeller. Rechts lag der Waschmaschinenraum. Hinter mir waren zwei weitere Räume

Ein Aufbrüllen. Als ich aufblickte, sah ich Savannah von der Werkstatt her auf mich zustürmen, einen Hammer in der Hand.

Und ich tat nichts. Ich konnte es nicht. Ich wusste, dass das nicht Savannah war, aber ich sah Savannah mein Kind, das mit erhobenem Hammer auf mich losging, das Gesicht verzerrt vor Hass.

Im letzten Moment sprang ich zur Seite. Der Hammer krachte gegen mein Schulterblatt. Knochen knackten. Paiges Knochen, nicht meine.

Ich versuchte nicht daran zu denken dass jeder Hieb, den ich einsteckte, jede Verletzung, die ich geschehen ließ, später von ihr erlitten werden würde. Bevor die Nixe es aussprach, hatte ich nicht darüber nachgedacht, was es bedeutete, mir diesen Körper zu borgen. Jetzt, als ich dem wirbelnden Hammer auszuweichen versuchte, konnte ich nicht anders, als daran zu denken.

Ich schleuderte eine Feuerkugel, und die Nixe wischte sie zur Seite.

Was kümmerten sie Verbrennungen und Narben und zerschmetterte Knochen? Es war ja nicht ihr Körper. Nur tödliche Formeln würden sie aufhalten, und das war ein Schritt, den ich niemals tun würde, ganz gleich, was passierte. Während sie in Jaimes Körper steckte, hatte es diese Möglichkeit immer gegeben, so sehr ich sie auch bedauert hätte. Aber solange sie den Körper meiner Tochter bewohnte, würde ich nichts tun, das ihr ernsthaft Schaden zufügen konnte. Und solange ich in Paiges Körper steckte, würde ich versuchen, ihr keinen ernsthaften Schaden zuzufügen.

Die Nixe stürzte wieder nach vorne. Ich wich seitlich aus, aber ich hatte mich immer noch nicht ganz an diesen Körper gewöhnt, und als ich die Drehung beendete, stolperte ich. Der Hammer erwischte mich zum zweiten Mal, an der gleichen Stelle wie zuvor. Ich heulte auf und ging zu Boden. Im Fallen griff ich mit der anderen Hand nach dem Hammer und bekam das obere Ende zu fassen. Die Nixe riss ihn zur Seite und mich damit von den Beinen, aber ich ließ nicht los, und der Stiel flog ihr aus der Hand.

Ich landete auf dem Boden und rollte mich ab, wobei ich den glühenden Strahl ignorierte, der durch meine Schulter jagte.

Den Hammer in der Hand, sprang ich wieder auf die Füße.

Als die Nixe wieder angriff, drehte ich den Hammer um und schwang ihn hoch. Meine ursprüngliche instinktive Absicht war gewesen, auf den Oberkörper zu zielen, aber im letzten Moment sah ich das Gesicht meiner Tochter, und ich konnte es nicht tun. Ich schwang ihn abwärts. Bei der plötzlichen Richtungsänderung und meinem einhändigen Griff streifte der Schlag sie lediglich an der Hüfte. Sie packte den Hammer, warf ihn zur Seite und schleuderte mich zu Boden.

In dieser Sekunde, in der ich stürzte, wusste ich, dass es nur eine Möglichkeit gab, Paige und Savannah zu retten.

»Es tut mir leid, Kris«, flüsterte ich, als ich auf dem Boden aufkam.

Die Nixe hielt mich am Boden fest. Ihre Hände legten sich um meine Kehle. Ich schloss die Augen und schickte in Gedanken vier Worte nach oben.

»Ich bin so weit.«

Der Raum füllte sich mit einem Lichtstrahl, so hell, dass er mich blendete. Es folgte ein weiterer Strahl. Dieses Mal traf der Lichtblitz mich und erfüllte mich mit einer weiß glühenden Hitze.

Ich griff mit der unverletzten Hand nach oben, packte den Unterarm der Nixe und riss ihn von meiner Kehle los. Ihre Augen wurden weit. Sie sah mir ins Gesicht, zwinkerte überrascht und zog dann die Oberlippe nach hinten.

»Glaubst du, das wird dir helfen, Engel?«, fragte sie.

»Das will ich doch hoffen«, sagte ich, während ich mich aufzurichten versuchte. »Es hat mich mehr gekostet, als ich mir leisten konnte.«

Sie drückte mich wieder nach unten. Wir kämpften erbittert.

Ich spürte, wie meine neue Kraft in mir kreiste, aber sie reichte nicht aus.

Meine Schulter pochte vor Schmerz, und den einen Arm konnte ich kaum bewegen; ich hatte Mühe, ihre Schläge auch nur abzuwehren. Nach ein paar Minuten hatte ich es geschafft, mich auf sie zu wuchten, aber bevor ich nach ihrer Kehle greifen konnte, packte sie meine Arme und hielt sie fest. Dann sah sie zu mir auf und lächelte.

»Du kannst es immer noch schaffen«, sagte sie. »Du brauchst nichts weiter zu tun, als mich umzubringen. Eine tödliche Formel musst du ja wohl irgendwo in deinem winzigen Hirn stecken haben. Nur zu. Probier’s.«

Oh, ich hatte durchaus eine Formel. Aber nicht die Sorte, von der sie jetzt hoffte, dass ich sie verwenden würde. Als die letzten Worte der Dämonenschutzformel meine Lippen verließen, wappnete ich mich für den Moment, in dem ich die Hände von ihrer Kehle nehmen musste, wenn der Energiestoß sie traf.

Es geschah gar nichts.

Ich versuchte es wieder; meine Zunge verhaspelte sich über den Worten. Aber es war zu spät. Paige kannte diese Formel nicht gut genug, um sie verlässlich wirken zu können, und jetzt hatte ich ihre Kräfte mit einer fehlgegangenen Wirkung vergeudet.

Ich hatte mein Jenseits geopfert, um ein Engel zu werden, und ich konnte immer noch niemanden retten. Ich würde versagen . . . und alles verlieren.

»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte die Nixe lachend.

Sie zog sich an meinen Oberarmen hoch, und mein Körper begann sich von ihrem zu heben. Ich kämpfte darum, sie unten zu halten, aber die Formel hatte nicht nur meine magischen Kräfte erschöpft.

Als ich versuchte, zur Seite zu rollen, packte sie mich und schleuderte mich auf den Rücken. Dann warf sie sich auf mich. Sie landete mit solcher Wucht auf meiner Brust, dass es mir den Atem nahm. Ihr Gesicht senkte sich auf mich herunter.

Ich begann mit einem Bindezauber, ein verzweifelter letzter Versuch, sie

»Warte!«

Die Stimme klang fern, fast unhörbar. Eine Frauenstimme irgendwo in mir selbst.

»Versuch es mit dem hier«, flüsterte sie.

Worte jagten mir durch den Kopf. Der Beginn einer Beschwörung.

Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken. Ich öffnete den Mund und sprach die Worte nach, wiederholte sie so, wie sie mir in den Sinn kamen. Griechisch. Irgendwas mit Wind. Eine Hexenformel.

Die Nixe keuchte. Ihr Kopf flog nach hinten, und ihre Augen weiteten sich ungläubig. Sie beugte sich wieder vor, und ihre Lippen verzogen sich zu einem Fauchen. Ihre Hände glitten zu meiner Kehle und hielten inne. Ihr Mund öffnete und schloss sich, sie rang nach Atem. Ihr Blick traf meinen. Ich sah die Augen meiner Tochter aus ihren Höhlen treten, ihre Lippen blau werden. Und ich konnte es nicht tun. Ich hörte auf zu sprechen.

»Nein!«, flüsterte die Stimme. »Mach weiter!«

Ich zögerte. Ich würde meine Tochter töten. Meine Tochter!

Nein, ich konnte es nicht tun. Ich konnte es nicht riskieren.

Was, wenn

»Schließ die Augen und sprich weiter. Es ist in Ordnung so.«

Ich biss die Zähne zusammen und zwang meine Augen, sich zu schließen.

Dann begann ich von vorn. Ich konnte die Nixe keuchen hören. Die Stimme meiner Tochter keuchen hören. Meine Tochter, die mühsam nach Atem rang, die starb. Ich grub die Nägel fest in die Handflächen und sprach weiter, während jede Faser in mir sich spannte und auf den letzten Atemzug wartete.

Savannah brach über mir zusammen. Sie hatte aufgehört zu atmen. Ich drehte sie auf den Rücken, senkte den Mund auf ihren hinunter.

Dann sah ich, wie der geisterhafte Schimmer rings um sie her zu pulsieren begann. Die Nixe. Zunächst musste ich sie dingfest machen. Nein! Zuerst musste ich meine Tochter retten.

Ich hielt wie erstarrt inne, während aus Savannahs Körper eine gelbliche Aura hervorquoll.

Halt die Nixe auf, und du rettest Savannah.

Ich riss den Blick von meiner Tochter los und kämpfte mich auf die Beine. Meine Lippen bewegten sich, ohne dass ich nachzudenken brauchte, in einer weiteren unbekannten Beschwörungsformel, und das Schwert erschien.

Mit zitternden Händen zwang ich meine Finger, sich um das Heft zu schließen.

Dann trat ich zurück, sah ein letztes Mal auf Savannah hinunter, holte aus und ließ das Schwert auf die Nixe hinuntersausen.

Ich sah es auftreffen. Sah es in sie hineinfahren. Sah, wie sie den Kopf zu einem Aufheulen der Wut nach hinten warf.

Schritte kamen die Treppenstufen hinuntergestürmt. Ich sah auf und bemerkte Lucas, der in den Keller gerannt kam. Ich öffnete den Mund, um ihm etwas zuzurufen. Dann wurde alles um mich dunkel.

51

S avannah!«

Ich riss den Kopf hoch und sah die mittlere Parze an ihrem Spinnrad stehen.

»Wo ist ?«, begann ich, während ich bereits auf sie zustürzte.

Sie hob eine Hand, und ich blieb so unvermittelt stehen, als wäre ich gegen eine Wand gerannt. Mit einer Handbewegung schrieb sie einen Ring aus Licht vor mir in die Luft. Darin sah ich Savannah, die sich aufsetzte und sich den Kopf rieb; Lucas und Paige kauerten neben ihr auf dem Boden. Die Parze machte eine weitere Handbewegung, und das Bild verschwand.

»Geht es ihr gut?«, sagte ich.

»Mit ihr ist alles in Ordnung.«

»Und die Nixe? Hat es funktioniert? Habe ich sie erwischt?«

»Ja, das hast du. Sie ist wieder da, wo sie hingehört.«

Ein paar Sekunden lang stand ich einfach da und versuchte das Ganze in mich aufzunehmen. Als es mir schließlich gelang, fiel mir der Preis wieder ein, den ich für meinen Sieg bezahlt hatte.

»Ich bin jetzt ein Engel, stimmt’s?«, flüsterte ich.

Sie nickte.

»Und ihr könnt das nicht rückgängig machen, oder?«

Ein langsames, trauriges Kopfschütteln.

Ich versuchte das Entsetzen und den Kummer abzuschütteln, die sich in meiner Magengrube ausbreiteten, richtete mich auf und sah ihr ins Gesicht. »Ich habe euch einen Gefallen geschuldet, aber ich bin weit drüber hinausgegangen. Ich habe alles aufgegeben, was ich in dieser Welt hatte, um ihn euch zurückzuzahlen. Ihr habt gesagt, ich würde diese Dimension verlassen müssen, dass ich nicht bei Kristof bleiben kann, aber ich verstehe nicht «

»Du wirst es verstehen«, sagte sie leise. »Für dich wird jetzt alles anders werden, Eve. Ein Engel kann nicht hierbleiben. Das ist keine willkürliche Vorschrift. Es ist eine Notwendigkeit. Du bist jetzt ein Engel, also musst du in ihrer Welt leben.«

»Dann werde ich es auch tun«, sagte eine Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und sah Kristof dort stehen. Ich tat einen Schritt in seine Richtung und prallte gegen eine Barriere. Ich fuhr wieder zu der Parze herum.

»Das war’s dann also? Ich kann nicht mal in seine Nähe?

Herrgott noch mal, das habe ich nicht verdient! Ich habe im Leben vielleicht ein paar fürchterliche Dinge getan, aber das habe ich nicht verdient.«

»Dies ist keine Bestrafung, Eve.«

»Na, es fühlt sich aber so an wie eine.«

Kristof räusperte sich. »Ihr sagt, sie kann nicht hierbleiben.

Das ist okay. Ich gehe mit ihr.«

Die ältere Parze erschien. »So, tust du das? Für dich gibt es dort keinen Platz, Kristof, genauso wenig, wie es für sie noch einen Platz hier gibt.«

Er verschränkte die Arme. »Sie hat ihr Opfer gebracht, jetzt bringe ich meins.«

»Sehr nobel von dir, aber die Antwort ist nein. Wir brauchen dich hier.«

»Wozu? Um Anwalt der Geisterwelt zu spielen? Es gibt Tausende von «

»Du hast unsere Entscheidungen nicht zu hinterfragen, Kristof. Wir haben unsere Gründe und unsere Pläne. Und dein Platz ist hier.« Sie wandte sich an mich. »Und dein Platz ist dort, bei den Engeln. Aber es gibt eine Möglichkeit . . . « Die Lippen der alten Parze verzogen sich eine winzige Spur nach oben, zu etwas, das beinahe ein Lächeln war. »Es gibt immer eine Möglichkeit.«

Kristof trat vor. Aber bevor einer von uns etwas sagen konnte, ging sie nach vorn zum Rand ihrer Estrade, und von dort aus ließ sie sich mit einer kurzen Bewegung der Finger auf den Fußboden hinunter. Ein Schritt, und sie stand neben mir.

Ich zwinkerte überrascht. Sie war winzig; sie reichte mir nicht einmal bis zur Schulter. Sie legte mir eine Hand auf den Arm, und ihre hellen Augen sahen zu mir auf.

»Du sagst, dies fühlt sich an wie eine Bestrafung. Glaubst du wirklich, wir würden so grausam sein, Eve? Ja, wir haben uns gewünscht, dass du dich unseren Engeln anschließt, aber als du abgelehnt hast, haben wir es akzeptiert. Was du dort unten getan hast, das Opfer, das du gebracht hast . . . ich will nicht sagen, dass ich dich unterschätzt habe, weil ich immer gewusst habe, wozu du fähig bist« ein tückisches Lächeln

»bei entsprechender Motivation. Aber dieses Opfer hat keine von uns erwartet. Als du es gebracht hast, haben wir beschlossen, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun würden, um es dir leichter zu machen.«

»Also kann ich bleiben «

»In der Geisterwelt? Nein. Ich fürchte, das ist unmöglich.«

Sie kehrte zu ihrer Estrade zurück, blieb aber vor dem Spinnrad stehen. »Wenn es eins gibt, das du wirklich verstehen solltest, Eve, dann ist es die Natur eines Handels. Man gibt und man nimmt im gleichen Maß. Das ist es, was wir dir anbieten können.«

Die kindliche Parze erschien. »Kennst du die Geschichte von Persephone und Demeter?«

»Ein griechischer Mythos, der den Wechsel der Jahreszeiten erklärt, glaube ich«, antwortete ich.

»Genau das. Hades, der Herrscher der Unterwelt, wollte Persephone zur Braut, also entführte er sie. Ihre Mutter flehte die anderen Götter um Hilfe an, und sie trafen eine Abmachung mit Hades. Persephone würde die Sommer auf der Erde und die Winter in der Unterwelt verbringen. Wie hört sich das an?« Ihr hübsches Gesicht verzog sich. »Na ja, nicht ganz so vielleicht, aber so was Ähnliches.«

Bevor ich antworten konnte, ergriff die mittlere Schwester das Wort.

»Du hast jetzt eine Aufgabe, Eve, und wir erwarten von dir, dass du sie erfüllst. Du hast außerdem noch ein anderes Leben zu führen, und wir wollen, dass du auch das tun kannst. Die Hälfte des Jahres wirst du mit den Engeln verbringen, und die andere Hälfte wirst du hier verbringen, mit Kristof und als Geist.«

Ich sah zu Kristof hinüber. Er lächelte.

»Angenommen.«

Epilog

D ieBibelerzähltuns,dassGottdieErdeinnerhalbeiner Woche geschaffen hat. Ich weiß nicht allzu viel über Religionsgeschichte, aber daran erinnere ich mich noch. Was die Frage danach angeht, ob es stimmt das überlasse ich den Gelehrten. Ich weiß nur, dass innerhalb einer Woche eine Menge passieren kann. Aus einem Geist, der sich nach seiner Tochter sehnt, kann in dieser Zeit ein himmlischer Kopfgeldjäger auf der Spur eines mordgierigen QuasiDämons werden. Und aus einem widerwilligen Streiter für Recht und Ordnung kann ein Vollzeitengel werden, der sich in einem ewigen Kontrakt dazu verpflichtet, der Gerechtigkeit zu dienen. Bei anderen Gelegenheiten sind die Veränderungen nicht ganz so auffällig, aber auf ihre Art ebenso lebensverändernd.

Es war eine Woche her, seit ich die Nixe zur Strecke gebracht hatte. Ich hielt mich immer noch in der Geisterwelt auf die Parzen hatten mir einen letzten Monat dort zugestanden, in dem ich mich auf den Übertritt in die Engelwelt vorbereiten konnte. Ich wusste immer noch nicht, womit ich dort zu rechnen hatte. Ich hatte bereits zwei Tage voller schrottiger Orientierungskurse hinter mich gebracht, aber das meiste davon waren Listen von Regeln gewesen, die einfach zu lang waren, als dass irgendjemand sie sich hätte merken können, der nicht über das vollkommene Gedächtnis eines reinblütigen Engels verfügte . . . oder jedenfalls war das die Entschuldigung, die ich anführen würde, wenn ich anfing, sie zu brechen.

Am Ende der Woche hatten die Parzen Trsiel und mir unseren ersten Auftrag zugeteilt. Nichts sonderlich Schwieriges, nur eine Routinesache wir sollten uns ein paar Heimsucher vornehmen , aber es bestand entschieden Aussicht auf Spaß dabei. Doch bevor ich mich ans Werk machte, hatte ich noch etwas zu erledigen.

Kristof begleitete mich bis in den hinteren Garten von Paiges und Lucas’ Haus. Ich stand dort eine Weile, sah zu dem Haus hinauf, erinnerte mich daran, wie es darin roch, wie es sich angefühlt hatte, dort zu sein, wirklich dort zu sein, versuchte es in meinem Gedächtnis zu verankern. Dann ließ ich langsam Kris’ Hand los und ging zur Hintertür.

Als ich eintrat, fand ich Paige und Lucas in der Küche. Lucas stand mit dem Rücken an die Anrichte gelehnt, ein Geschirrtuch über der Schulter; Paige lehnte sich an ihn und hielt seine Hände, das Gesicht zu ihm gehoben. Sie sprachen im Flüsterton miteinander.

»Hallo, Leute«, sagte ich leise. »Ich wollte nur schnell vorbeikommen und mich bedanken. Ich weiß schon, dass ihr mich nicht hört, aber ich wollte es trotzdem sagen. Danke für alles.

Ihr macht das fantastisch mit ihr. Absolut fantastisch.«

Lucas lachte leise über irgendetwas, das Paige gerade gesagt haben musste, und strich ihr eine Locke aus dem Gesicht.

Die Hintertür flog krachend auf.

»Irgendwer zu Hause?«, brüllte jemand laut genug, um das Haus erzittern zu lassen.

Ich drehte mich um und sah einen jungen Mann mit hellbraunem Haar, breiten Schultern und einem noch breiteren Grinsen. Ein vertrautes Gesicht, zumindest in diesem Haus.

»Adam!« Paige machte sich von Lucas los und drehte sich um, und Adam packte sie und umarmte sie, wobei er sorgfältig darauf achtete, ihre verletzte Schulter nicht zu strapazieren.

»Das ist eine Überraschung. Ich hatte erst am Montag mit dir gerechnet.«

»Die eigentliche Überraschung kommt erst noch.« Adam zwinkerte Lucas über ihren Kopf hinweg zu. »Seid ihr bereit für dieses Ratstreffen am Montag? Jaime kommt doch auch, oder?

Hat sie sich von dieser Geschichte erholt, die sie da mitgemacht hat?«

Ich glitt zur Tür hinaus, während sie noch redeten.

»Macht es gut, Leute«, flüsterte ich. »Ich wünsche euch alles Gute. Ihr habt es verdient.«

Ich traf Savannah in ihrem Zimmer an; sie trug Jeans und einen BH und telefonierte, während sie zugleich ein mit TShirts übersätes Bett studierte.

». . . Paige übers Wochenende wegfahren«, sagte sie. »Romantischer Ausflug, große Überraschung und so weiter.« Sie machte eine Pause und schnaubte dann. »Yeah, schön wär’s. Ich bleibe hier nicht allein, bevor ich achtzehn bin. Kannst du dir das vorstellen? Also haben sie Adam angeheuert.«

Sie nahm zwei TShirts vom Bett und hielt sie nacheinander vor sich hin, während sie ihr Spiegelbild studierte, dann schleuderte sie beide mit angewiderter Miene auf den Boden.

»Yeah, yeah, er ist niedlich, aber er ist sogar noch älter als Paige.« Pause. »Sechsundzwanzig.« Sie verzog das Gesicht. »Das ist eklig! Nie im Leben.«

Sie griff nach einem weiteren TShirt, murmelte ins Telefon:

»Moment« und zog es sich über den Kopf. Es war mindestens zwei Größen zu klein. Sie sah in den Spiegel, überprüfte das Ergebnis von allen Seiten, nickte zufrieden und griff dann mit einer Hand nach der Haarbürste, mit der anderen wieder nach dem Telefon.

»Ich muss los, Baby«, sagte ich, als sie sich das Haar zu bürsten begann, während sie zugleich weiter mit ihrer Freundin schwatzte. »Ich werde nicht mehr vorbeikommen so wie früher, das wollte ich dir bloß sagen. Du weißt, das bedeutet nicht, dass irgendwas sich verändert hätte. Du bist immer noch das Beste, das ich je getan habe. Aber du hast dein Leben, und jetzt habe ich vielleicht endlich auch meins.«

Jemand klopfte zweimal an die Tür.

»Was?«, brüllte Savannah.

»Bist du vorzeigbar?«, rief Adam von draußen. »Ich komme nämlich rein.«

Während Savannah hastig Lipgloss auftrug, rappelte Adam an der Klinke. Sie stürzte quer durchs Zimmer und riss die Tür auf.

»Was zum Teufel bildest du dir eigentlich ein?«, wollte sie wissen. »Das hier ist mein Zimmer. Du kannst hier nicht einfach reinkommen.«

Er verdrehte die Augen. »Oh, ich wollte dich sowieso bloß auf Trab bringen.« Er kam hereingeschlendert und sah sich um.

»Ich sehe schon, du hast nicht aufgeräumt, seit ich das letzte Mal hier war.«

»Hey, das ist mein Zimmer! Mach, dass du rauskommst!«

Er drehte sich um, um genau das zu tun, und sie packte ihn am Arm.

»Kriege ich nicht mal eine ordentliche Begrüßung?«, fragte sie. »Mann, bist du unhöflich.«

Ich schüttelte den Kopf und lächelte, als ich mir das Geplänkel anhörte.

»Armes Kind«, sagte ich. »Es geht einfach nicht weg, stimmt’s?« Ich ging an ihnen vorbei zur Tür. »Ich muss gehen, aber ich werde von Zeit zu Zeit mal nach dir sehen.« Ich zögerte, dann trat ich dichter an Savannah heran und beugte mich vor, um sie auf die Wange zu küssen. »Ich weiß, dass mit dir alles in Ordnung ist, Baby. Es ist nicht nötig, dass ich mich dauernd davon überzeuge.«

Ich ging hinaus in den Flur. Savannah machte ein empörtes Geräusch, und Adam lachte. Ich ging zum Treppenabsatz und zögerte. Ein letzter Blick. Nur ein einziger Blick noch Ich straffte die Schultern und ging die Treppe hinunter, durch die Küche und hinaus in den Garten, wo Kristof auf mich wartete.

Dank.

W ieimmersteheichtiefinderSchuldjedesMenschen, der mir dabei geholfen hat, dieses Buch von einer ersten aufblitzenden Idee zu einem vollständigen Roman werden zu lassen. Dank ohne Ende schulde ich somit meiner Agentin Helen Heller und meinen Herausgeberinnen Anne Groell bei Bantam US, Anne Collins bei Random House Canada und Antonia Hodgson bei Time Warner UK.

Mein besonderer Dank gebührt dieses Mal auch den Moderatoren meiner Website, die mir eine Menge Arbeit in meinem stetig wachsenden Forum abgenommen haben Ian, John, Julia, Katrina, Laura, Raina, Sonny, Taylor und Tina. Vielen, vielen Dank ohne euch würde ich nicht mehr die Zeit finden, wirklich zu schreiben.

Document Outline

Einband

Frankreich 1666

1

2

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5

Massachusetts 1892

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8

9

San Francisco 1927

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12

13

14

15

Cleveland 1938

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17

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19

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Edinburgh 1962

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Epilog

Dank.